Verbesserung des Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen

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Verbesserung des Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen und Analphabeten
– Drucksache 17/12380 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Wir haben zwei wichtige Änderungen im Wahlrecht auf den Weg gebracht, und zwar gemeinsam mit
den Oppositionsparteien, einen sogar mit allen fünf Fraktionen. Wir halten es für sinnvoll, den sensiblen
Bereich des Wahlrechts auf möglichst breiter Mehrheit einvernehmlich zu beschließen. Bis vor kurzem
konnte man denken, die SPD teile diese Meinung. So sagte Frau Kollegin Fograscher in ihrer letzten
Wahlrechtsrede am 31. Januar 2013, dass es zielführend sei, Wahlrechtsänderungen unter Beteiligung
aller Fraktionen zu verhandeln. Nun legt die SPD einen Antrag zu einer Wahlrechtsänderung vor, ohne
über dieses Thema vorher mit irgendjemandem gesprochen zu haben. Sie folgen nun den Grünen, die
bereits im Januar die Absprache der Berichterstatter zum Wahlrecht gebrochen haben.
Sie hätten die Möglichkeit gehabt, in den Gesprächsrunden zum Wahlrecht auch diesen Vorschlag
anzubringen. Im Gegenteil hat die SPD gerade im Bereich des Wahlrechts für Menschen mit
Behinderungen zugestimmt, erst die Studie im Rahmen des Nationalen Aktionsplans abwarten zu wollen.
In dieser Studie geht es darum, dass die Situation von Wählern mit Behinderungen genau untersucht wird,
um daraus sinnvolle Schlüsse im Hinblick auf mögliche Verbesserungen zu ziehen. Sie erwähnen in Ihrem
Antrag die Wichtigkeit der Studie, und nun warten Sie die Ergebnisse nicht ab. Stattdessen nun dieser
Alleingang und dieser Schnellschuss. Das ist doch nichts anderes als Wahlkampf auf Kosten der
Menschen mit Behinderungen. Das ist im Grunde unerträglich.
Dabei handelt sich um ein ernstes Thema. Die Menschen, die von funktionalem Analphabetismus
betroffen sind, sehen sich vielfältigen Problemen im Alltag ausgesetzt. Sie bedürfen einer guten
Förderung und effektiven Unterstützung. Daher hat die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern,
Kommunen und Partnern aus der Wohlfahrtspflege letztes Jahr eine Vereinbarung über eine gemeinsame
Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland beschlossen. Seit 2006
sind 70 Millionen Euro durch die Bundesregierung in den Förderschwerpunkt Alphabetisierung investiert
worden. Es wird also viel getan für die Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche.
Im Bereich des Wahlrechts wird vollumfänglich sichergestellt, dass Menschen mit funktionalem
Analphabetismus und Menschen mit Behinderungen am Wahlakt teilnehmen können. Die Wahllokale sind,
soweit möglich, barrierefrei und die Wähler über die Zugangsmöglichkeiten informiert. Alle Wähler
können die Unterstützung einer Hilfsperson in Anspruch nehmen. Diese assistiert bei dem praktischen
Vorgang der Wahl, wie beim Lesen und Kennzeichnen des Wahlzettels und beim Einwurf in die Urne.
Ein sehbehinderter Wähler kann eine spezielle Schablone benutzen, um sein Kreuz zu machen. Dabei
stehen die Mitglieder des Wahlvorstandes als vertrauenswürdige Hilfspersonen zur Verfügung, sodass die
Anonymität des Wählers gewahrt bleiben kann. Ebenso gelten solche Bestimmungen für die Briefwahl.
Das Bundesinnenministerium hat zugesichert, auf diese Regelungen der Bundeswahlordnung dahin
gehend einen aufmerksamen Blick zu werfen, ob sich noch Verbesserungen hinzufügen lassen.
Auch im Vorfeld der Wahl, bei der politischen Willensbildung, wird an Menschen mit Behinderungen
und mit funktionalem Analphabetismus in besonderer Weise gedacht. So sind Informationen über die
Wahl und über die Tätigkeiten des Bundestages und der Bundesregierung in einfacher Sprache
zugänglich, was das Verstehen auch für Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche erleichtert.
Wenn die SPD eine bessere Umsetzung der UN-Behindertenkonvention fordert, wäre es doch
angebracht gewesen, einmal in das Dokument hineinzuschauen. Dort geht es in Art. 29 um die Teilhabe
am politischen und öffentlichen Leben. Es heißt, dass sichergestellt sein soll, dass die Wahlverfahren, einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind. Die
Regelung erlaubt -ausdrücklich, dass sich der Wähler zum Zwecke der Stimmabgabe im Bedarfsfall auf
Wunsch bei der Stimmabgabe durch eine Person seiner Wahl unterstützen lässt. Die UNBehindertenrechtskonvention, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am demokratischen
Prozess vorschreibt, wird also umfassend erfüllt.
Die SPD suggeriert in ihrem Antrag, dass Behinderungen ein Grund seien, vom Wahlrecht
ausgeschlossen zu sein. Das ist falsch. Wir haben die Debatte kürzlich aus Anlass des Antrags der Grünen
geführt. Daher will ich die Argumente gar nicht lang und breit wiederholen.
Es entspricht der UN-Behindertenrechtskonvention, dass ein Ausschluss vom Wahlrecht dann geboten
ist, wenn eine politische Willensbildung und -äußerung durch Krankheit oder Behinderung unmöglich
gemacht ist. Dies war auch bei der Verabschiedung der Konvention unter den Vertragsstaaten
allgemeiner Konsens, und es war völkerrechtlich anerkannt. Daher sind Menschen, für die eine Betreuung
in allen Angelegenheiten auf Dauer auf richterlichen Beschluss hin angeordnet wurde, nicht
wahlberechtigt. Der Kreis der Betroffenen ist denkbar klein.
Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, dass derjenige, der in keiner Weise
in der Lage ist, am politischen Kommunikationsprozess teilzunehmen, gerade nicht in einem
demokratischen Rechtsstaat am Wahlrecht teilhaben darf.
Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht von der „freien Willensäußerung“ der Menschen mit
Behinderungen. Wo diese nicht gegeben sein kann, ist es also legitim, das Wahlrecht zu beschränken. Der
Staat kann die Willensbildung nicht einfach voraussetzen. Politische Willensbildung ist eine
Grundvoraussetzung für eine demokratische Wahl; das sollte doch Konsens sein.
Bei Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche liegt die Sachlage natürlich ganz anders. Zur
Wahrnehmung des Wahlrechts gibt es neben der beschriebenen Unterstützung beim Wahlakt direkt noch
viele weitere Hilfen, die die Teilnahme an einer Wahl unterstützten.
Hervorheben möchte ich die Aktion des Deutschen Volkshochschul-Verbandes, der spezielle Übungen
unter der vom Bildungsministerium geförderten Seite „ich-will-lernen.de“ zur letzten Bundestagswahl
angeboten hat. Die vertonte Internetseite erklärt den -Benutzern, wie man wählen kann, wie ein
Wahlzettel aussieht, wie der Urnengang abläuft, wie man Briefwahlunterlagen beantragen kann und auch,
worum es bei der Wahl geht und was der Bundestag eigentlich macht.
In den Alphabetisierungskursen wurde im Vorfeld das Thema Bundestagswahl gesondert behandelt.
Zudem können sich Analphabeten, die nicht an einem Kurs teilnehmen wollen oder können, vertraulich an
ihre Volkshochschule vor Ort wenden und erhalten dort anonyme, schnelle und kostenfreie Unterstützung
auf persönlicher Ebene. Nach Angaben des Volkshochschul-Verbandes stieß auch dieses Angebot auf
reges Interesse.
Diese von der Bundesregierung geförderten Angebote sind niedrigschwellig und können auch von
Menschen angenommen werden, die Sorge haben, dass ihr verborgener Analphabetismus entdeckt werden
könnte.
Die Menschen, über die wir hier reden, sind nicht dumm. Sie wissen sich zu helfen und können sich
selbstbestimmt aus allen diesen Angeboten und Möglichkeiten das Richtige für sich herauszusuchen. Die
Bundesregierung wird weiterhin die Menschen mit funktionalem Analphabetismus unterstützen und
fördern.
Die vorgeschlagenen Änderungen des Antrags der SPD-Fraktion halten wir für unnötig und nicht
sachgerecht.
Die geltenden Regelungen zur Hilfestellung bei Wahrnehmung des Wahlrechts für Menschen mit
Behinderungen und Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche sind sehr gut und helfen wirklich den
Menschen. Wir wollen diese Maßnahmen dabei fortdauernd überprüfen, um sie gegebenenfalls zu
optimieren. Daher ist die eingangs erwähnte Studie im Rahmen des Nationalen Aktionsplans auch so
entscheidend. Erst wenn diese vorliegt, macht es wirklich Sinn, über Änderungen nachzudenken.
Die von der SPD vorgeschlagenen Änderungen, wie die Verwendung von Fotos und Parteisymbolen,
sehen wir sehr kritisch. In Ländern mit einer Alphabetisierungsquote von unter 50 Prozent ist solch ein
bunter Stimmzettel üblich; hier in der Bundesrepublik sollte davon doch Abstand genommen werden.
Kandidatenfotos und Parteilogos können die Wahlentscheidung aller Wähler beeinflussen. Wahlkampf
muss sich außerhalb der Wahllokale abspielen und darf nicht noch in der Wahlkabine stattfinden. Gerade
neue Parteien nutzen aufwendig gestaltete Logos, die nach marketingtechnischen Gesichtspunkten
entwickelt werden. Auf Wahlplakaten ist dies natürlich legitim. Auf dem Stimmzettel hat dies nichts zu
suchen. Die Abgabe der Stimme darf nicht zu einem Wettbewerb der schönsten Kandidatenfotos werden.
Den Menschen mit funktionalem Analphabetismus bringt dies alles nichts. Wie konkrete Hilfe aussieht
und Sinn gibt, habe ich bereits beschrieben.
Gabriele Fograscher (SPD):
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes lautet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden.“
In Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention zur politischen Teilhabe von Menschen mit
Behinderung verpflichten sich die Vertragsstaaten, „sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen
gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben
können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht
und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden.“ Nach Art. 38 GG steht jedem
deutschen Bürger und jeder deutschen Bürgerin nach Vollendung des 18. Lebensjahres das aktive und
passive Wahlrecht zu.
Nach dem Bundeswahlgesetz und dem Europawahlgesetz sind allerdings all jene Menschen vom
aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein
Betreuer oder eine Betreuerin bestellt ist. Ebenfalls ausgeschlossen sind Menschen, die eine Straftat im
Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben und aufgrund dessen in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebracht sind.
Diese Wahlausschlüsse bedürfen, nicht nur im Hinblick auf die UN-Behindertenrechtskonvention, einer
politischen Neubewertung.
Derzeit stehen in Deutschland knapp 15 000 Menschen unter Vollbetreuung und haben deshalb nach
§ 13 Abs. 2 Bundeswahlgesetz das Wahlrecht verloren. Wenn jemand unter Betreuung in allen
Angelegenheiten steht, lässt das aber keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die tatsächliche Einsichts- und
Wahl-fähigkeit zu. Wird ein Betreuer oder eine Betreuerin für alle Angelegenheiten bestellt, wird dabei
nicht geprüft, ob die oder der Betroffene das Wesen einer Wahl -versteht oder nicht. Diesen
Automatismus, also Voll-betreuung ist gleich Verlust des Wahlrechts, gilt es, aufzubrechen.
Auch führt die Vorschrift des § 13 Abs. 2 BWG zu widersprüchlichen Ergebnissen. Liegen alle
Voraussetzungen für eine Vollbetreuung vor, hat der oder die Betroffene aber vorab eine
Vorsorgevollmacht erstellt und somit bestimmt, wer seine oder ihre Angelegenheiten regeln soll, so ist er
bzw. sie ebenso wenig „einsichtsfähig“, wie jemand, dessen Betreuung angeordnet wurde. Der Person mit
Vorsorgevollmacht wird aber das Wahlrecht nicht aberkannt.
Gleiches gilt für Menschen, die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Haben sie
eine Straftat begangen, bei der sie zur Tatzeit schuldunfähig waren, ist die Folge nach § 13 Abs. 3
Bundeswahlgesetz der Verlust des Wahlrechts. Patientinnen und Patienten mit demselben Krankheitsbild,
die keine Straftat begangen haben, behalten das Wahlrecht.
Gegen diese Widersprüche richtet sich die Kritik des Deutschen Instituts für Menschenrechte und vieler
Behindertenverbände. Deshalb schlage ich vor, dass wir versuchen, interfraktionell, wie es beim
Wahlrecht üblich ist, eine Lösung zu finden.
Die Bundesregierung hat sich laut Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
vom September 2011 verpflichtet, eine „Studie zur tatsächlichen Situation behinderter Menschen bei der
Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts“ bis Ende 2012 vorzulegen. Diese Studie liegt bis heute
nicht vor, ja sie ist noch nicht einmal in Auftrag gegeben – ein großes Versäumnis der Bundesregierung.
Mit ersten Ergebnissen ist wohl erst 2014 zu rechnen. Das hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf
meine schrift-liche Frage bestätigt.
Nicht nur wir als SPD-Bundestagsfraktion sehen hier Handlungsbedarf. Auch der Bundesrat befasst
sich derzeit in den Ausschüssen mit einer Entschließung zur Verbesserung des Wahlrechts behinderter
Menschen.
Da auch alle Wahlgesetze der Bundesländer diese Wahlrechtsausschlüsse für Menschen unter
Vollbetreuung und die meisten auch für Straftäter, die in einem psychiatrischen Krankenhaus
untergebracht sind, -beinhalten, sollten wir als Bundesgesetzgeber hier Vorreiter sein und das Wahlrecht
für diese Menschen verbessern. Ich bin mir sicher, dass die meisten Bundesländer unserem Beispiel
folgen werden.
Mit solchen Änderungen wären wir nicht die Ersten in Europa. Bereits Österreich, Finnland, die
Niederlande, Spanien, Großbritannien, Italien und Schweden haben ein inklusives Wahlrecht. Daran
sollten wir uns orientieren.
Was wir nicht wollen, ist eine Änderung im Betreuungsrecht. In Deutschland besitzt jeder das
Wahlrecht, der das 18. Lebensjahr vollendet hat und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Es findet
keine Prüfung der Einsichts- und Wahlfähigkeit statt. Eine Änderung im Betreuungsrecht würde zur
Prüfung der Wahlfähigkeit von Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, führen. Wer sollte das nach
welchen Kriterien tun? Das wäre ein Systembruch, der neue Fragen aufwirft. Das wollen und werden wir,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, nicht mit-machen.
Eine weitere Personengruppe, die uns sehr am Herzen liegt und weitaus größer ist, sind die Menschen
mit Lese-Rechtschreib-Schwäche.
Die Studie „leo. – Level-One“ hat 2010 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
als erste Studie in Deutschland die Größenordnung des Analphabetismus unter der erwerbsfähigen
Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren untersucht. Danach leben in Deutschland etwa 7,5 Millionen
Menschen, die als funktionale Analphabeten gelten. Das sind gut 14 Prozent der Bevölkerung. Etwa zwei
Drittel von ihnen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, jedoch keine zusammenhängenden
Texte. 2,3 Millionen Menschen unter den funktionalen Analphabeten, also etwa 4 Prozent der
erwerbsfähigen Bevölkerung, können zwar einzelne Wörter lesend verstehen oder schreiben, aber keine
ganzen Sätze. 300 000 Menschen können nicht einmal ihren Namen schreiben.
Für diese Menschen ist der Wahlvorgang eine besondere Herausforderung. Um eine selbstbestimmte
Teilnahme an Wahlen auch ohne den Weg der Briefwahl und Unterstützung durch Wahlhelferinnen und
Wahlhelfer zu ermöglichen, schlagen wir eine Neugestaltung der Stimmzettel vor: Bei der Erststimme
sollte neben dem Namen des Kandidaten oder der Kandidatin eine Bildmarke abgedruckt werden. Hier
würde sich zum Beispiel das Foto des Wahlplakates eignen, damit der Wiedererkennungseffekt am
größten ist. Bei der Zweitstimme sollte neben dem ausgeschriebenen Namen der Partei das Parteilogo
abgebildet sein.
Auch wenn aufgrund dieser Bild- und Wortbildmarken der Wahlzettel etwas größer werden sollte, so ist
das in unseren Augen vertretbar; denn wir erleichtern damit nicht nur den Menschen mit LeseRechtschreib-Schwäche den Wahlgang, sondern auch vielen älteren Menschen.
Um diese Änderung für die nächste Bundestagswahl in Kraft setzen zu können, schlage ich vor, dass
sich die Berichterstatter aller Fraktionen kurzfristig zu einem Berichterstattergespräch treffen.
Mehr als 7,5 Millionen Menschen sollten es uns wert sein, zügig eine Verbesserung für sie im
Wahlrecht zu diskutieren und zu beschließen.
Gabriele Molitor (FDP):
Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist Grundlage unserer Demokratie. Dieses Recht haben
selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung. Die deutsche Verfassung schützt dieses Recht durch
die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl in Art. 38 des Grundgesetzes. Grundsätzlich
hat danach jeder Bürger das Wahlrecht. Nur unter sehr engen Voraussetzungen sind Einschränkungen
möglich.
Diese Einschränkungen werden zurzeit heftig diskutiert. Denn spätestens seit Inkrafttreten der UNBehindertenrechtskonvention sind wir aufgerufen, Ungleichbehandlungen abzubauen. Doch um was geht
es bei der Diskussion genau? Derzeit sind Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, denen infolge einer
richterlichen Entscheidung ein Betreuer in allen Angelegenheiten zur Seite gestellt wurde, oder
Menschen, die schuldunfähig eine Straftat verübt haben und deshalb in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebracht sind. Nach herrschender juristischer Meinung beruhen diese Regelungen auf
der Überlegung: Wer wählt, soll in vollem Umfang selbstständig handlungs- und entscheidungsfähig sein.
Im vergangenen Jahr wurde in der öffentlichen -Debatte und aus den Reihen der Vereine und Verbände
behinderter Menschen verstärkt die Meinung laut, die genannten Gründe für einen Wahlrechtsausschluss
im Bundeswahlgesetz seien als Diskriminierung von -Menschen mit Behinderung zu verstehen. Vor diesem
Hintergrund war es auch der FDP-Bundestagsfraktion ein Anliegen, gemeinsam mit allen Fraktionen im
Deutschen Bundestag dieses wichtige und komplexe Thema zu beraten. Anstatt aber gemeinsam an einer
Lösung zu arbeiten, bringen nun die Fraktionen der Grünen und der SPD ihre Anträge ein. Dies ist
bedauerlich, da so die Chance vertan wurde, ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen.
Ich wünsche mir, dass wir präzise sind, wenn wir über das Wahlrecht diskutieren. Lassen Sie mich ein
Beispiel nennen: Ein Mensch, der im Wachkoma liegt, kann seinen Willen nicht bekunden. Ich frage Sie,
wie soll es dann möglich sein, dass er selbstbestimmt wählt? Allein dieses Beispiel zeigt die Komplexität
dieser Frage.
Ich denke, von einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung kann hier jedenfalls nicht die
Rede sein, auch wenn das Deutsche Institut für Menschenrechte das gerne behauptet. Denn auch heute
dürfen Menschen zum Beispiel mit einer geistigen Behinderung bereits wählen. In der Praxis führt diese
Möglichkeit aber auch zu Problemen. So sagte mir ein für Wahlen zuständiger Verwaltungsmitarbeiter,
dass ihn nach dem Versand von Wahlbenachrichtigungen oft Anrufe von Eltern erreichten, die sich
wunderten, dass ihr geistig behinderter Sohn oder ihre geistig behinderte Tochter zur Wahl zugelassen
sei. Diese Eltern bezweifeln, dass ihre Kinder zu einer freien und eigenständigen Willensbekundung in der
Lage sind.
Die Fraktionen der Grünen und der SPD fordern nun, alle Ausschlussgründe ersatzlos zu streichen.
Hier muss jedoch eine Abgrenzung erfolgen. So kann bei schuldunfähigen und als allgemeingefährlich eingestuften Tätern durchaus davon ausgegangen -werden, dass die nötige Einsichtsfähigkeit in die
Bedeutung der Wahl und in politische Zusammenhänge fehlt. Bei Menschen, die aus Krankheitsgründen
oder aufgrund ihrer Behinderung in allen Lebensbereichen Betreuung benötigen, liegt der Fall allerdings
anders.
Diese Totalbetreuung wird äußerst selten angeordnet und in jedem Einzelfall vom
Vormundschaftsrichter, auch im Hinblick auf den damit verbundenen -Verlust des Wahlrechts,
abgewogen. Allerdings gibt es hier Grauzonen. Nicht jeder Betroffene, der den -Charakter und die
Bedeutung der Wahl nicht verstehen kann, ist vom Wahlrecht ausgeschlossen. Andererseits ist es möglich,
dass in Einzelfällen Betroffene fähig wären, zu wählen, die es aufgrund der Totalbetreuung nicht dürfen.
Der automatische Wahlrechtsausschluss kann also zu Unausgewogenheit führen. Hier müssen wir
ansetzen und Lösungen erarbeiten.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist dabei klar: -Voraussetzung für eine freie Wahlentscheidung muss
die klare Willensbekundung sein. Nur so kann auch einem Missbrauch des Wahlrechts vorgebeugt
werden. Der richtige Ansatzpunkt für eine Reform liegt für uns deshalb im Betreuungsrecht.
Hier muss dann auch klar geregelt werden, dass nicht Betreuer, Angehörige und Mitarbeiter im
Pflegeheim die Wahlentscheidung treffen, sondern die wahlberechtigten Menschen. Dieses Einfallstor für
Missbrauch muss geschlossen werden. Ausschlaggebend ist beim Wahlrecht, seinen Willen frei zu
bekunden. Den Vorwurf, hier werde diskriminiert, halte ich für vollkommen unangebracht.
Mit der nötigen Sorgfalt sollten nun alle Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam überlegen,
wie der Wahlrechtsausschluss bei Totalbetreuung besser gestaltet werden kann. Die Ergebnisse der im
Nationalen Aktionsplan angekündigten Studie zur aktiven und passiven Beteiligung von Menschen mit
Behinderungen an Wahlen sollten abgewartet und ihre Handlungsempfehlungen in die Diskussion mit
einbezogen werden.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist eine Politik der Inklusion und politischen Teilhabe eine
Selbstverständlichkeit. Unser Ziel ist es, die Lebensbedingungen behinderter Menschen weiter dauerhaft
zu verbessern. Menschen mit Behinderung in ihrer politischen Teilhabe zu stärken und zu unterstützen,
wie in Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, ist ein wichtiges Ziel, dem wir uns auch
über die Wahlrechtsdiskussion hinaus widmen.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Das ist ein spannender Antrag von der SPD; denn hier sagen Sie: Es gibt nicht nur einen
Wahlrechtsausschluss de jure, sondern auch de facto. Nicht nur per Gesetz, nicht nur am Wahltag,
sondern im politischen Alltag überhaupt werden Bürgerinnen und Bürger behindert. Sie können ihre
Rechte nicht wirklich ausüben, weil sie nicht oder kaum lesen und schreiben können. Das betrifft nicht nur
den Wahlakt, sondern alle politischen Prozesse.
Umso verwirrter war ich, als ich die Beschlussempfehlung zur Änderung des Bundeswahlgesetzes aus
dem Innenausschuss las. Im allseits beliebten Omnibusverfahren legte die Linke einen Änderungsantrag
zum fraktionsübergreifenden Antrag zur Änderung des Wahlgesetzes vor. Wir forderten, die Abs. 2 und 3
des § 13 Bundeswahlgesetz zu streichen, wie die Grünen in ihrem Gesetzentwurf vom Januar und die SPD
in ihrem heutigen Antrag.
Was aber geschah gestern im Innenausschuss? Unseren Änderungsantrag lehnten SPD und Grüne
gemeinsam mit CDU/CSU und der FDP ab. Sieht so die dringende „politische Neubewertung“ des
Wahlrechtsausschlusses für Menschen unter sogenannter Totalbetreuung aus, von der die SPD-Kollegin
Frau Fograscher in der Debatte am 31. Januar 2013 sprach? Geht es vielleicht nur um eine Bewertung
und nicht wirklich um eine gesetzliche Änderung – zumindest nicht für die Bundestagswahl 2013?
Liest man den SPD-Antrag genauer, kann man zu diesem Schluss kommen: Sie wissen, dass die
Bundesregierung die für 2012 versprochene Studie zur aktiven und passiven Wahlbeteiligung von
Menschen mit Behinderungen nicht mehr vor der Wahl vorlegen wird. Entsprechend haben die SPDKollegen die Bundesregierung in der Debatte am 31. Januar 2013 selbst zitiert.
Sie wissen auch, dass die Bundesregierung keinen Gesetzentwurf mehr vorlegen wird; auch das hat die
Regierung mehrfach deutlich ausgesprochen – und das, obwohl die stellvertretende Fraktionsvorsitzende
von CDU/CSU, Ingrid Fischbach, am 26. Oktober 2012 während der Veranstaltung „Menschen mit
Behinderung im Deutschen Bundestag“ erklärte: Das -uneingeschränkte Wahlrecht „ist eine Stelle, wo
Verbesserungen nötig sind, wenn wir Inklusion ernst meinen“.
Die SPD fordert nun einen Gesetzentwurf zur Erleichterung der Stimmabgabe und ein Konzept für
Kampagnen zur Information und Teilnahme an Wahlen von eben dieser Regierung, und sie fordert, „bis
Mitte 2013 über das Veranlasste zu berichten“. Aber Sie wissen schon heute: Kurz vor der Sommerpause
bedeutet, dass bis zur Wahl nichts mehr passiert.
Selbstverständlich: Die Linke unterstützt den Antrag der SPD ebenso wie den Gesetzentwurf der
Grünen zum Wahlrecht für Menschen mit Behinderung. Umso weniger akzeptiere ich, dass Sie von SPD
und Grünen gestern im Innenausschuss gegen Ihre eigenen Forderungen stimmten, nur weil sie von den
Linken eingebracht wurden. Für mich ist das Heuchelei!
Lassen wir die Moral beiseite! Mit dem Wahlrecht darf man nicht spielen. Es ist das vornehmste und
allgemeinste Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Jede Behinderung an der Wahl, ob gesetzlich oder
praktisch, berührt das politische Selbstverständnis unseres Staates. Es geht um die einfache Frage, ob alle
einzeln an der Wahl teilnehmen können oder nicht. Deshalb beschädigt derjenige die Hoheit dieses
Rechtes, der, je nach Interessenlage, an einem Tage beantragt, das Recht zu ändern, und am nächsten
Tage diesen Antrag verwirft.
Politische Halbheiten beschädigen die Demokratie nicht weniger als Geheimbeschlüsse. Halbherzig ist
auch, wie der vorliegende Antrag Wahlerleichterungen für Menschen, die kaum lesen und schreiben
können, einfordert. Das Problem beginnt doch schon mit der Wahlbenachrichtigung, und die Möglichkeit,
Hilfe in der Wahlkabine anzunehmen, besteht auch für diese Menschen schon jetzt.
In der Wahlausübung behindert sind auch andere Menschen. Doch sagt der Antrag nichts über
barrierefreie Wahllokale oder zur Checkliste des Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit anlässlich
der Landtagswahl in Niedersachsen. Dort sind konkrete Kriterien für barrierefreie Wahlabläufe
entwickelt worden. Es wäre sicher schnell zu prüfen, ob und wie diese Checkliste bundesweit zu
verallgemeinern wäre.
Auch hinsichtlich des Wahlrechtes gilt für die Linke: Wir brauchen den klaren politischen Willen zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Selbstbestimmung und die volle politische Teilhabe von
Menschen mit Behinderung.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist ein politisches Grundrecht. Wenn es um das
Wahlrecht von Menschen mit Unterstützungsbedarf geht, muss also die Frage im Mittelpunkt stehen, wie
die notwendige Unterstützung realisiert werden und wie im Zuge dieser Unterstützung möglicher
Missbrauch verhindert werden kann.
In der Bundeswahlordnung und im Bundeswahlgesetz ist aus diesem Grund die Möglichkeit zur
Unterstützung für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung und für Menschen, die nicht lesen
können, bereits vorgesehen. Auch in der Europawahlordnung ist dies der Fall. Das Bundeswahlgesetz und
das Europawahlgesetz machen aber auch Vorgaben, die -bestimmte Personengruppen vom Wahlrecht
ausschließen. Darüber wurde hier bereits hinlänglich gesprochen. Als Begründung für diesen Ausschluss
wird fast immer angeführt, diesen Personengruppen fehle die Fähigkeit zur Wahl.
Es wurde bereits vor drei Wochen in der Debatte um den Gesetzentwurf meiner Fraktion darauf
hingewiesen, dass beim Wahlrechtsausschluss, so wie er gegenwärtig gesetzlich normiert ist, die
individuelle Fähigkeit zur Wahl überhaupt nicht geprüft wird. Ich halte eine Wahlfähigkeitsprüfung auch
für eine denkbar schlechte Lösung. Welche objektiven Kriterien sind geeignet, zu bestimmen, ob eine
Person in der Lage ist, eine Wahl zu treffen? Welche Personengruppen sollen sich einer solchen
Wahlfähigkeitsprüfung unterziehen? Wer kann diese Prüfungen durchführen? Abgesehen davon, dass wir
auf diese Fragen keine befriedigenden Antworten finden werden, sind das auch nicht die Fragen, mit
denen ich mich beschäftigen möchte.
Ganz im Gegenteil: Ich möchte die Vorkehrungen, die wir in Bundeswahlordnung, Bundeswahlgesetz
und Europawahlgesetz bereits getroffen haben, so ausbauen, dass auch Menschen mit erhöhtem
Unterstützungsbedarf ihre Wahl treffen können, wenn sie dies möchten. Und ich möchte darüber
sprechen, wie wir die Gefahr des Missbrauchs, die ja beispielsweise auch im Zusammenhang mit der
Briefwahl besteht, eindämmen. Es stünde uns gut zu Gesicht, den Fokus darauf zu legen, wie wir
Bürgerinnen und Bürger besser unterstützen können, anstatt zu debattieren, welche Begründungen und
Mechanismen wir finden können, um Menschen von der Wahl auszuschließen.
Ganz anders sieht das offenbar der Kollege Krings. Wie ich heute in einigen Zeitungen lesen durfte,
scheint ihm nicht plausibel, dass „ein Mensch, der nicht mal selbstständig eine Zeitung kaufen kann, eine
Wahlentscheidung treffen soll“. Viel weniger plausibel scheint mir, wie jemand sich guten Gewissens
Volksvertreter nennen kann, der einen derart lapidaren Umgang mit den politischen Grundrechten der
Bürgerinnen und Bürger pflegt. Ist Dr. Günter Krings der Ansicht, dass der ältere Herr, der nicht
mehrmals am Tag die Treppen zu seiner Wohnung steigen kann und sich deswegen von seiner Nachbarin
die Zeitung mitbringen lässt, keine Wahlentscheidung treffen sollte? Vermutlich nicht. Dass er sich
ernsthaft mit den bereits bestehenden Möglichkeiten zur Unterstützung bei der Wahl auseinandergesetzt
hat, ist aber nicht zu vermuten. Warum er sich trotzdem bemüßigt fühlt, die Welt mit Aussagen zu
beglücken, die einen Schritt hinter bestehende Regelungen zurückfallen, bleibt sein Geheimnis.
Bürgerinnen und Bürger, die wählen dürfen, geben ihre Stimme einer oder mehreren politischen
Parteien. Einige machen ihren Stimmzettel bewusst ungültig, einige wählen gar nicht. Menschen, die
wählen dürfen, wählen nach eigenen Maßstäben vernünftig oder unvernünftig. Sich für eine dieser
Möglichkeiten zu entscheiden, ist das gute Recht aller wahlberechtigter Bürgerinnen und Bürger. Es gibt
keinen nachvollziehbaren Grund, warum Menschen mit Unterstützungsbedarf dieses Recht entzogen wird.
Ich freue mich, dass die SPD der Initiative meiner Fraktion nun mit einem eigenen Antrag gefolgt ist
und offenbar auch unsere Problemeinschätzung teilt. Welcher Weg der beste ist, müssen wir nun im
parlamentarischen Prozess klären. Meine Fraktion möchte zu dieser Frage eine öffentliche Anhörung
durchführen, und ich hoffe, Sie sehen dem Gespräch mit Sachverständigen mit ebenso großem Interesse
entgegen wie ich.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12380 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Dann ist das so
beschlossen.
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