Verbesserung des Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen und Analphabeten – Drucksache 17/12380 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Wir haben zwei wichtige Änderungen im Wahlrecht auf den Weg gebracht, und zwar gemeinsam mit den Oppositionsparteien, einen sogar mit allen fünf Fraktionen. Wir halten es für sinnvoll, den sensiblen Bereich des Wahlrechts auf möglichst breiter Mehrheit einvernehmlich zu beschließen. Bis vor kurzem konnte man denken, die SPD teile diese Meinung. So sagte Frau Kollegin Fograscher in ihrer letzten Wahlrechtsrede am 31. Januar 2013, dass es zielführend sei, Wahlrechtsänderungen unter Beteiligung aller Fraktionen zu verhandeln. Nun legt die SPD einen Antrag zu einer Wahlrechtsänderung vor, ohne über dieses Thema vorher mit irgendjemandem gesprochen zu haben. Sie folgen nun den Grünen, die bereits im Januar die Absprache der Berichterstatter zum Wahlrecht gebrochen haben. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, in den Gesprächsrunden zum Wahlrecht auch diesen Vorschlag anzubringen. Im Gegenteil hat die SPD gerade im Bereich des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen zugestimmt, erst die Studie im Rahmen des Nationalen Aktionsplans abwarten zu wollen. In dieser Studie geht es darum, dass die Situation von Wählern mit Behinderungen genau untersucht wird, um daraus sinnvolle Schlüsse im Hinblick auf mögliche Verbesserungen zu ziehen. Sie erwähnen in Ihrem Antrag die Wichtigkeit der Studie, und nun warten Sie die Ergebnisse nicht ab. Stattdessen nun dieser Alleingang und dieser Schnellschuss. Das ist doch nichts anderes als Wahlkampf auf Kosten der Menschen mit Behinderungen. Das ist im Grunde unerträglich. Dabei handelt sich um ein ernstes Thema. Die Menschen, die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind, sehen sich vielfältigen Problemen im Alltag ausgesetzt. Sie bedürfen einer guten Förderung und effektiven Unterstützung. Daher hat die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und Partnern aus der Wohlfahrtspflege letztes Jahr eine Vereinbarung über eine gemeinsame Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland beschlossen. Seit 2006 sind 70 Millionen Euro durch die Bundesregierung in den Förderschwerpunkt Alphabetisierung investiert worden. Es wird also viel getan für die Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche. Im Bereich des Wahlrechts wird vollumfänglich sichergestellt, dass Menschen mit funktionalem Analphabetismus und Menschen mit Behinderungen am Wahlakt teilnehmen können. Die Wahllokale sind, soweit möglich, barrierefrei und die Wähler über die Zugangsmöglichkeiten informiert. Alle Wähler können die Unterstützung einer Hilfsperson in Anspruch nehmen. Diese assistiert bei dem praktischen Vorgang der Wahl, wie beim Lesen und Kennzeichnen des Wahlzettels und beim Einwurf in die Urne. Ein sehbehinderter Wähler kann eine spezielle Schablone benutzen, um sein Kreuz zu machen. Dabei stehen die Mitglieder des Wahlvorstandes als vertrauenswürdige Hilfspersonen zur Verfügung, sodass die Anonymität des Wählers gewahrt bleiben kann. Ebenso gelten solche Bestimmungen für die Briefwahl. Das Bundesinnenministerium hat zugesichert, auf diese Regelungen der Bundeswahlordnung dahin gehend einen aufmerksamen Blick zu werfen, ob sich noch Verbesserungen hinzufügen lassen. Auch im Vorfeld der Wahl, bei der politischen Willensbildung, wird an Menschen mit Behinderungen und mit funktionalem Analphabetismus in besonderer Weise gedacht. So sind Informationen über die Wahl und über die Tätigkeiten des Bundestages und der Bundesregierung in einfacher Sprache zugänglich, was das Verstehen auch für Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche erleichtert. Wenn die SPD eine bessere Umsetzung der UN-Behindertenkonvention fordert, wäre es doch angebracht gewesen, einmal in das Dokument hineinzuschauen. Dort geht es in Art. 29 um die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben. Es heißt, dass sichergestellt sein soll, dass die Wahlverfahren, einrichtungen und -materialien geeignet, zugänglich und leicht zu verstehen und zu handhaben sind. Die Regelung erlaubt -ausdrücklich, dass sich der Wähler zum Zwecke der Stimmabgabe im Bedarfsfall auf Wunsch bei der Stimmabgabe durch eine Person seiner Wahl unterstützen lässt. Die UNBehindertenrechtskonvention, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am demokratischen Prozess vorschreibt, wird also umfassend erfüllt. Die SPD suggeriert in ihrem Antrag, dass Behinderungen ein Grund seien, vom Wahlrecht ausgeschlossen zu sein. Das ist falsch. Wir haben die Debatte kürzlich aus Anlass des Antrags der Grünen geführt. Daher will ich die Argumente gar nicht lang und breit wiederholen. Es entspricht der UN-Behindertenrechtskonvention, dass ein Ausschluss vom Wahlrecht dann geboten ist, wenn eine politische Willensbildung und -äußerung durch Krankheit oder Behinderung unmöglich gemacht ist. Dies war auch bei der Verabschiedung der Konvention unter den Vertragsstaaten allgemeiner Konsens, und es war völkerrechtlich anerkannt. Daher sind Menschen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten auf Dauer auf richterlichen Beschluss hin angeordnet wurde, nicht wahlberechtigt. Der Kreis der Betroffenen ist denkbar klein. Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, dass derjenige, der in keiner Weise in der Lage ist, am politischen Kommunikationsprozess teilzunehmen, gerade nicht in einem demokratischen Rechtsstaat am Wahlrecht teilhaben darf. Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht von der „freien Willensäußerung“ der Menschen mit Behinderungen. Wo diese nicht gegeben sein kann, ist es also legitim, das Wahlrecht zu beschränken. Der Staat kann die Willensbildung nicht einfach voraussetzen. Politische Willensbildung ist eine Grundvoraussetzung für eine demokratische Wahl; das sollte doch Konsens sein. Bei Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche liegt die Sachlage natürlich ganz anders. Zur Wahrnehmung des Wahlrechts gibt es neben der beschriebenen Unterstützung beim Wahlakt direkt noch viele weitere Hilfen, die die Teilnahme an einer Wahl unterstützten. Hervorheben möchte ich die Aktion des Deutschen Volkshochschul-Verbandes, der spezielle Übungen unter der vom Bildungsministerium geförderten Seite „ich-will-lernen.de“ zur letzten Bundestagswahl angeboten hat. Die vertonte Internetseite erklärt den -Benutzern, wie man wählen kann, wie ein Wahlzettel aussieht, wie der Urnengang abläuft, wie man Briefwahlunterlagen beantragen kann und auch, worum es bei der Wahl geht und was der Bundestag eigentlich macht. In den Alphabetisierungskursen wurde im Vorfeld das Thema Bundestagswahl gesondert behandelt. Zudem können sich Analphabeten, die nicht an einem Kurs teilnehmen wollen oder können, vertraulich an ihre Volkshochschule vor Ort wenden und erhalten dort anonyme, schnelle und kostenfreie Unterstützung auf persönlicher Ebene. Nach Angaben des Volkshochschul-Verbandes stieß auch dieses Angebot auf reges Interesse. Diese von der Bundesregierung geförderten Angebote sind niedrigschwellig und können auch von Menschen angenommen werden, die Sorge haben, dass ihr verborgener Analphabetismus entdeckt werden könnte. Die Menschen, über die wir hier reden, sind nicht dumm. Sie wissen sich zu helfen und können sich selbstbestimmt aus allen diesen Angeboten und Möglichkeiten das Richtige für sich herauszusuchen. Die Bundesregierung wird weiterhin die Menschen mit funktionalem Analphabetismus unterstützen und fördern. Die vorgeschlagenen Änderungen des Antrags der SPD-Fraktion halten wir für unnötig und nicht sachgerecht. Die geltenden Regelungen zur Hilfestellung bei Wahrnehmung des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche sind sehr gut und helfen wirklich den Menschen. Wir wollen diese Maßnahmen dabei fortdauernd überprüfen, um sie gegebenenfalls zu optimieren. Daher ist die eingangs erwähnte Studie im Rahmen des Nationalen Aktionsplans auch so entscheidend. Erst wenn diese vorliegt, macht es wirklich Sinn, über Änderungen nachzudenken. Die von der SPD vorgeschlagenen Änderungen, wie die Verwendung von Fotos und Parteisymbolen, sehen wir sehr kritisch. In Ländern mit einer Alphabetisierungsquote von unter 50 Prozent ist solch ein bunter Stimmzettel üblich; hier in der Bundesrepublik sollte davon doch Abstand genommen werden. Kandidatenfotos und Parteilogos können die Wahlentscheidung aller Wähler beeinflussen. Wahlkampf muss sich außerhalb der Wahllokale abspielen und darf nicht noch in der Wahlkabine stattfinden. Gerade neue Parteien nutzen aufwendig gestaltete Logos, die nach marketingtechnischen Gesichtspunkten entwickelt werden. Auf Wahlplakaten ist dies natürlich legitim. Auf dem Stimmzettel hat dies nichts zu suchen. Die Abgabe der Stimme darf nicht zu einem Wettbewerb der schönsten Kandidatenfotos werden. Den Menschen mit funktionalem Analphabetismus bringt dies alles nichts. Wie konkrete Hilfe aussieht und Sinn gibt, habe ich bereits beschrieben. Gabriele Fograscher (SPD): Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes lautet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ In Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention zur politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung verpflichten sich die Vertragsstaaten, „sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, sei es unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter oder Vertreterinnen, was auch das Recht und die Möglichkeit einschließt, zu wählen und gewählt zu werden.“ Nach Art. 38 GG steht jedem deutschen Bürger und jeder deutschen Bürgerin nach Vollendung des 18. Lebensjahres das aktive und passive Wahlrecht zu. Nach dem Bundeswahlgesetz und dem Europawahlgesetz sind allerdings all jene Menschen vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer oder eine Betreuerin bestellt ist. Ebenfalls ausgeschlossen sind Menschen, die eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben und aufgrund dessen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Diese Wahlausschlüsse bedürfen, nicht nur im Hinblick auf die UN-Behindertenrechtskonvention, einer politischen Neubewertung. Derzeit stehen in Deutschland knapp 15 000 Menschen unter Vollbetreuung und haben deshalb nach § 13 Abs. 2 Bundeswahlgesetz das Wahlrecht verloren. Wenn jemand unter Betreuung in allen Angelegenheiten steht, lässt das aber keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die tatsächliche Einsichts- und Wahl-fähigkeit zu. Wird ein Betreuer oder eine Betreuerin für alle Angelegenheiten bestellt, wird dabei nicht geprüft, ob die oder der Betroffene das Wesen einer Wahl -versteht oder nicht. Diesen Automatismus, also Voll-betreuung ist gleich Verlust des Wahlrechts, gilt es, aufzubrechen. Auch führt die Vorschrift des § 13 Abs. 2 BWG zu widersprüchlichen Ergebnissen. Liegen alle Voraussetzungen für eine Vollbetreuung vor, hat der oder die Betroffene aber vorab eine Vorsorgevollmacht erstellt und somit bestimmt, wer seine oder ihre Angelegenheiten regeln soll, so ist er bzw. sie ebenso wenig „einsichtsfähig“, wie jemand, dessen Betreuung angeordnet wurde. Der Person mit Vorsorgevollmacht wird aber das Wahlrecht nicht aberkannt. Gleiches gilt für Menschen, die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Haben sie eine Straftat begangen, bei der sie zur Tatzeit schuldunfähig waren, ist die Folge nach § 13 Abs. 3 Bundeswahlgesetz der Verlust des Wahlrechts. Patientinnen und Patienten mit demselben Krankheitsbild, die keine Straftat begangen haben, behalten das Wahlrecht. Gegen diese Widersprüche richtet sich die Kritik des Deutschen Instituts für Menschenrechte und vieler Behindertenverbände. Deshalb schlage ich vor, dass wir versuchen, interfraktionell, wie es beim Wahlrecht üblich ist, eine Lösung zu finden. Die Bundesregierung hat sich laut Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vom September 2011 verpflichtet, eine „Studie zur tatsächlichen Situation behinderter Menschen bei der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts“ bis Ende 2012 vorzulegen. Diese Studie liegt bis heute nicht vor, ja sie ist noch nicht einmal in Auftrag gegeben – ein großes Versäumnis der Bundesregierung. Mit ersten Ergebnissen ist wohl erst 2014 zu rechnen. Das hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf meine schrift-liche Frage bestätigt. Nicht nur wir als SPD-Bundestagsfraktion sehen hier Handlungsbedarf. Auch der Bundesrat befasst sich derzeit in den Ausschüssen mit einer Entschließung zur Verbesserung des Wahlrechts behinderter Menschen. Da auch alle Wahlgesetze der Bundesländer diese Wahlrechtsausschlüsse für Menschen unter Vollbetreuung und die meisten auch für Straftäter, die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind, -beinhalten, sollten wir als Bundesgesetzgeber hier Vorreiter sein und das Wahlrecht für diese Menschen verbessern. Ich bin mir sicher, dass die meisten Bundesländer unserem Beispiel folgen werden. Mit solchen Änderungen wären wir nicht die Ersten in Europa. Bereits Österreich, Finnland, die Niederlande, Spanien, Großbritannien, Italien und Schweden haben ein inklusives Wahlrecht. Daran sollten wir uns orientieren. Was wir nicht wollen, ist eine Änderung im Betreuungsrecht. In Deutschland besitzt jeder das Wahlrecht, der das 18. Lebensjahr vollendet hat und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Es findet keine Prüfung der Einsichts- und Wahlfähigkeit statt. Eine Änderung im Betreuungsrecht würde zur Prüfung der Wahlfähigkeit von Menschen, die unter Vollbetreuung stehen, führen. Wer sollte das nach welchen Kriterien tun? Das wäre ein Systembruch, der neue Fragen aufwirft. Das wollen und werden wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, nicht mit-machen. Eine weitere Personengruppe, die uns sehr am Herzen liegt und weitaus größer ist, sind die Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche. Die Studie „leo. – Level-One“ hat 2010 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung als erste Studie in Deutschland die Größenordnung des Analphabetismus unter der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren untersucht. Danach leben in Deutschland etwa 7,5 Millionen Menschen, die als funktionale Analphabeten gelten. Das sind gut 14 Prozent der Bevölkerung. Etwa zwei Drittel von ihnen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, jedoch keine zusammenhängenden Texte. 2,3 Millionen Menschen unter den funktionalen Analphabeten, also etwa 4 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, können zwar einzelne Wörter lesend verstehen oder schreiben, aber keine ganzen Sätze. 300 000 Menschen können nicht einmal ihren Namen schreiben. Für diese Menschen ist der Wahlvorgang eine besondere Herausforderung. Um eine selbstbestimmte Teilnahme an Wahlen auch ohne den Weg der Briefwahl und Unterstützung durch Wahlhelferinnen und Wahlhelfer zu ermöglichen, schlagen wir eine Neugestaltung der Stimmzettel vor: Bei der Erststimme sollte neben dem Namen des Kandidaten oder der Kandidatin eine Bildmarke abgedruckt werden. Hier würde sich zum Beispiel das Foto des Wahlplakates eignen, damit der Wiedererkennungseffekt am größten ist. Bei der Zweitstimme sollte neben dem ausgeschriebenen Namen der Partei das Parteilogo abgebildet sein. Auch wenn aufgrund dieser Bild- und Wortbildmarken der Wahlzettel etwas größer werden sollte, so ist das in unseren Augen vertretbar; denn wir erleichtern damit nicht nur den Menschen mit LeseRechtschreib-Schwäche den Wahlgang, sondern auch vielen älteren Menschen. Um diese Änderung für die nächste Bundestagswahl in Kraft setzen zu können, schlage ich vor, dass sich die Berichterstatter aller Fraktionen kurzfristig zu einem Berichterstattergespräch treffen. Mehr als 7,5 Millionen Menschen sollten es uns wert sein, zügig eine Verbesserung für sie im Wahlrecht zu diskutieren und zu beschließen. Gabriele Molitor (FDP): Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist Grundlage unserer Demokratie. Dieses Recht haben selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung. Die deutsche Verfassung schützt dieses Recht durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl in Art. 38 des Grundgesetzes. Grundsätzlich hat danach jeder Bürger das Wahlrecht. Nur unter sehr engen Voraussetzungen sind Einschränkungen möglich. Diese Einschränkungen werden zurzeit heftig diskutiert. Denn spätestens seit Inkrafttreten der UNBehindertenrechtskonvention sind wir aufgerufen, Ungleichbehandlungen abzubauen. Doch um was geht es bei der Diskussion genau? Derzeit sind Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, denen infolge einer richterlichen Entscheidung ein Betreuer in allen Angelegenheiten zur Seite gestellt wurde, oder Menschen, die schuldunfähig eine Straftat verübt haben und deshalb in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Nach herrschender juristischer Meinung beruhen diese Regelungen auf der Überlegung: Wer wählt, soll in vollem Umfang selbstständig handlungs- und entscheidungsfähig sein. Im vergangenen Jahr wurde in der öffentlichen -Debatte und aus den Reihen der Vereine und Verbände behinderter Menschen verstärkt die Meinung laut, die genannten Gründe für einen Wahlrechtsausschluss im Bundeswahlgesetz seien als Diskriminierung von -Menschen mit Behinderung zu verstehen. Vor diesem Hintergrund war es auch der FDP-Bundestagsfraktion ein Anliegen, gemeinsam mit allen Fraktionen im Deutschen Bundestag dieses wichtige und komplexe Thema zu beraten. Anstatt aber gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten, bringen nun die Fraktionen der Grünen und der SPD ihre Anträge ein. Dies ist bedauerlich, da so die Chance vertan wurde, ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen. Ich wünsche mir, dass wir präzise sind, wenn wir über das Wahlrecht diskutieren. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Ein Mensch, der im Wachkoma liegt, kann seinen Willen nicht bekunden. Ich frage Sie, wie soll es dann möglich sein, dass er selbstbestimmt wählt? Allein dieses Beispiel zeigt die Komplexität dieser Frage. Ich denke, von einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung kann hier jedenfalls nicht die Rede sein, auch wenn das Deutsche Institut für Menschenrechte das gerne behauptet. Denn auch heute dürfen Menschen zum Beispiel mit einer geistigen Behinderung bereits wählen. In der Praxis führt diese Möglichkeit aber auch zu Problemen. So sagte mir ein für Wahlen zuständiger Verwaltungsmitarbeiter, dass ihn nach dem Versand von Wahlbenachrichtigungen oft Anrufe von Eltern erreichten, die sich wunderten, dass ihr geistig behinderter Sohn oder ihre geistig behinderte Tochter zur Wahl zugelassen sei. Diese Eltern bezweifeln, dass ihre Kinder zu einer freien und eigenständigen Willensbekundung in der Lage sind. Die Fraktionen der Grünen und der SPD fordern nun, alle Ausschlussgründe ersatzlos zu streichen. Hier muss jedoch eine Abgrenzung erfolgen. So kann bei schuldunfähigen und als allgemeingefährlich eingestuften Tätern durchaus davon ausgegangen -werden, dass die nötige Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung der Wahl und in politische Zusammenhänge fehlt. Bei Menschen, die aus Krankheitsgründen oder aufgrund ihrer Behinderung in allen Lebensbereichen Betreuung benötigen, liegt der Fall allerdings anders. Diese Totalbetreuung wird äußerst selten angeordnet und in jedem Einzelfall vom Vormundschaftsrichter, auch im Hinblick auf den damit verbundenen -Verlust des Wahlrechts, abgewogen. Allerdings gibt es hier Grauzonen. Nicht jeder Betroffene, der den -Charakter und die Bedeutung der Wahl nicht verstehen kann, ist vom Wahlrecht ausgeschlossen. Andererseits ist es möglich, dass in Einzelfällen Betroffene fähig wären, zu wählen, die es aufgrund der Totalbetreuung nicht dürfen. Der automatische Wahlrechtsausschluss kann also zu Unausgewogenheit führen. Hier müssen wir ansetzen und Lösungen erarbeiten. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist dabei klar: -Voraussetzung für eine freie Wahlentscheidung muss die klare Willensbekundung sein. Nur so kann auch einem Missbrauch des Wahlrechts vorgebeugt werden. Der richtige Ansatzpunkt für eine Reform liegt für uns deshalb im Betreuungsrecht. Hier muss dann auch klar geregelt werden, dass nicht Betreuer, Angehörige und Mitarbeiter im Pflegeheim die Wahlentscheidung treffen, sondern die wahlberechtigten Menschen. Dieses Einfallstor für Missbrauch muss geschlossen werden. Ausschlaggebend ist beim Wahlrecht, seinen Willen frei zu bekunden. Den Vorwurf, hier werde diskriminiert, halte ich für vollkommen unangebracht. Mit der nötigen Sorgfalt sollten nun alle Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam überlegen, wie der Wahlrechtsausschluss bei Totalbetreuung besser gestaltet werden kann. Die Ergebnisse der im Nationalen Aktionsplan angekündigten Studie zur aktiven und passiven Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an Wahlen sollten abgewartet und ihre Handlungsempfehlungen in die Diskussion mit einbezogen werden. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist eine Politik der Inklusion und politischen Teilhabe eine Selbstverständlichkeit. Unser Ziel ist es, die Lebensbedingungen behinderter Menschen weiter dauerhaft zu verbessern. Menschen mit Behinderung in ihrer politischen Teilhabe zu stärken und zu unterstützen, wie in Art. 29 der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, ist ein wichtiges Ziel, dem wir uns auch über die Wahlrechtsdiskussion hinaus widmen. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Das ist ein spannender Antrag von der SPD; denn hier sagen Sie: Es gibt nicht nur einen Wahlrechtsausschluss de jure, sondern auch de facto. Nicht nur per Gesetz, nicht nur am Wahltag, sondern im politischen Alltag überhaupt werden Bürgerinnen und Bürger behindert. Sie können ihre Rechte nicht wirklich ausüben, weil sie nicht oder kaum lesen und schreiben können. Das betrifft nicht nur den Wahlakt, sondern alle politischen Prozesse. Umso verwirrter war ich, als ich die Beschlussempfehlung zur Änderung des Bundeswahlgesetzes aus dem Innenausschuss las. Im allseits beliebten Omnibusverfahren legte die Linke einen Änderungsantrag zum fraktionsübergreifenden Antrag zur Änderung des Wahlgesetzes vor. Wir forderten, die Abs. 2 und 3 des § 13 Bundeswahlgesetz zu streichen, wie die Grünen in ihrem Gesetzentwurf vom Januar und die SPD in ihrem heutigen Antrag. Was aber geschah gestern im Innenausschuss? Unseren Änderungsantrag lehnten SPD und Grüne gemeinsam mit CDU/CSU und der FDP ab. Sieht so die dringende „politische Neubewertung“ des Wahlrechtsausschlusses für Menschen unter sogenannter Totalbetreuung aus, von der die SPD-Kollegin Frau Fograscher in der Debatte am 31. Januar 2013 sprach? Geht es vielleicht nur um eine Bewertung und nicht wirklich um eine gesetzliche Änderung – zumindest nicht für die Bundestagswahl 2013? Liest man den SPD-Antrag genauer, kann man zu diesem Schluss kommen: Sie wissen, dass die Bundesregierung die für 2012 versprochene Studie zur aktiven und passiven Wahlbeteiligung von Menschen mit Behinderungen nicht mehr vor der Wahl vorlegen wird. Entsprechend haben die SPDKollegen die Bundesregierung in der Debatte am 31. Januar 2013 selbst zitiert. Sie wissen auch, dass die Bundesregierung keinen Gesetzentwurf mehr vorlegen wird; auch das hat die Regierung mehrfach deutlich ausgesprochen – und das, obwohl die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU, Ingrid Fischbach, am 26. Oktober 2012 während der Veranstaltung „Menschen mit Behinderung im Deutschen Bundestag“ erklärte: Das -uneingeschränkte Wahlrecht „ist eine Stelle, wo Verbesserungen nötig sind, wenn wir Inklusion ernst meinen“. Die SPD fordert nun einen Gesetzentwurf zur Erleichterung der Stimmabgabe und ein Konzept für Kampagnen zur Information und Teilnahme an Wahlen von eben dieser Regierung, und sie fordert, „bis Mitte 2013 über das Veranlasste zu berichten“. Aber Sie wissen schon heute: Kurz vor der Sommerpause bedeutet, dass bis zur Wahl nichts mehr passiert. Selbstverständlich: Die Linke unterstützt den Antrag der SPD ebenso wie den Gesetzentwurf der Grünen zum Wahlrecht für Menschen mit Behinderung. Umso weniger akzeptiere ich, dass Sie von SPD und Grünen gestern im Innenausschuss gegen Ihre eigenen Forderungen stimmten, nur weil sie von den Linken eingebracht wurden. Für mich ist das Heuchelei! Lassen wir die Moral beiseite! Mit dem Wahlrecht darf man nicht spielen. Es ist das vornehmste und allgemeinste Recht der bürgerlichen Gesellschaft. Jede Behinderung an der Wahl, ob gesetzlich oder praktisch, berührt das politische Selbstverständnis unseres Staates. Es geht um die einfache Frage, ob alle einzeln an der Wahl teilnehmen können oder nicht. Deshalb beschädigt derjenige die Hoheit dieses Rechtes, der, je nach Interessenlage, an einem Tage beantragt, das Recht zu ändern, und am nächsten Tage diesen Antrag verwirft. Politische Halbheiten beschädigen die Demokratie nicht weniger als Geheimbeschlüsse. Halbherzig ist auch, wie der vorliegende Antrag Wahlerleichterungen für Menschen, die kaum lesen und schreiben können, einfordert. Das Problem beginnt doch schon mit der Wahlbenachrichtigung, und die Möglichkeit, Hilfe in der Wahlkabine anzunehmen, besteht auch für diese Menschen schon jetzt. In der Wahlausübung behindert sind auch andere Menschen. Doch sagt der Antrag nichts über barrierefreie Wahllokale oder zur Checkliste des Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit anlässlich der Landtagswahl in Niedersachsen. Dort sind konkrete Kriterien für barrierefreie Wahlabläufe entwickelt worden. Es wäre sicher schnell zu prüfen, ob und wie diese Checkliste bundesweit zu verallgemeinern wäre. Auch hinsichtlich des Wahlrechtes gilt für die Linke: Wir brauchen den klaren politischen Willen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Selbstbestimmung und die volle politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, ist ein politisches Grundrecht. Wenn es um das Wahlrecht von Menschen mit Unterstützungsbedarf geht, muss also die Frage im Mittelpunkt stehen, wie die notwendige Unterstützung realisiert werden und wie im Zuge dieser Unterstützung möglicher Missbrauch verhindert werden kann. In der Bundeswahlordnung und im Bundeswahlgesetz ist aus diesem Grund die Möglichkeit zur Unterstützung für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung und für Menschen, die nicht lesen können, bereits vorgesehen. Auch in der Europawahlordnung ist dies der Fall. Das Bundeswahlgesetz und das Europawahlgesetz machen aber auch Vorgaben, die -bestimmte Personengruppen vom Wahlrecht ausschließen. Darüber wurde hier bereits hinlänglich gesprochen. Als Begründung für diesen Ausschluss wird fast immer angeführt, diesen Personengruppen fehle die Fähigkeit zur Wahl. Es wurde bereits vor drei Wochen in der Debatte um den Gesetzentwurf meiner Fraktion darauf hingewiesen, dass beim Wahlrechtsausschluss, so wie er gegenwärtig gesetzlich normiert ist, die individuelle Fähigkeit zur Wahl überhaupt nicht geprüft wird. Ich halte eine Wahlfähigkeitsprüfung auch für eine denkbar schlechte Lösung. Welche objektiven Kriterien sind geeignet, zu bestimmen, ob eine Person in der Lage ist, eine Wahl zu treffen? Welche Personengruppen sollen sich einer solchen Wahlfähigkeitsprüfung unterziehen? Wer kann diese Prüfungen durchführen? Abgesehen davon, dass wir auf diese Fragen keine befriedigenden Antworten finden werden, sind das auch nicht die Fragen, mit denen ich mich beschäftigen möchte. Ganz im Gegenteil: Ich möchte die Vorkehrungen, die wir in Bundeswahlordnung, Bundeswahlgesetz und Europawahlgesetz bereits getroffen haben, so ausbauen, dass auch Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf ihre Wahl treffen können, wenn sie dies möchten. Und ich möchte darüber sprechen, wie wir die Gefahr des Missbrauchs, die ja beispielsweise auch im Zusammenhang mit der Briefwahl besteht, eindämmen. Es stünde uns gut zu Gesicht, den Fokus darauf zu legen, wie wir Bürgerinnen und Bürger besser unterstützen können, anstatt zu debattieren, welche Begründungen und Mechanismen wir finden können, um Menschen von der Wahl auszuschließen. Ganz anders sieht das offenbar der Kollege Krings. Wie ich heute in einigen Zeitungen lesen durfte, scheint ihm nicht plausibel, dass „ein Mensch, der nicht mal selbstständig eine Zeitung kaufen kann, eine Wahlentscheidung treffen soll“. Viel weniger plausibel scheint mir, wie jemand sich guten Gewissens Volksvertreter nennen kann, der einen derart lapidaren Umgang mit den politischen Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger pflegt. Ist Dr. Günter Krings der Ansicht, dass der ältere Herr, der nicht mehrmals am Tag die Treppen zu seiner Wohnung steigen kann und sich deswegen von seiner Nachbarin die Zeitung mitbringen lässt, keine Wahlentscheidung treffen sollte? Vermutlich nicht. Dass er sich ernsthaft mit den bereits bestehenden Möglichkeiten zur Unterstützung bei der Wahl auseinandergesetzt hat, ist aber nicht zu vermuten. Warum er sich trotzdem bemüßigt fühlt, die Welt mit Aussagen zu beglücken, die einen Schritt hinter bestehende Regelungen zurückfallen, bleibt sein Geheimnis. Bürgerinnen und Bürger, die wählen dürfen, geben ihre Stimme einer oder mehreren politischen Parteien. Einige machen ihren Stimmzettel bewusst ungültig, einige wählen gar nicht. Menschen, die wählen dürfen, wählen nach eigenen Maßstäben vernünftig oder unvernünftig. Sich für eine dieser Möglichkeiten zu entscheiden, ist das gute Recht aller wahlberechtigter Bürgerinnen und Bürger. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum Menschen mit Unterstützungsbedarf dieses Recht entzogen wird. Ich freue mich, dass die SPD der Initiative meiner Fraktion nun mit einem eigenen Antrag gefolgt ist und offenbar auch unsere Problemeinschätzung teilt. Welcher Weg der beste ist, müssen wir nun im parlamentarischen Prozess klären. Meine Fraktion möchte zu dieser Frage eine öffentliche Anhörung durchführen, und ich hoffe, Sie sehen dem Gespräch mit Sachverständigen mit ebenso großem Interesse entgegen wie ich. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/12380 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen.