Lösung Fall 3

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Fall 3 - Lösungsskizze
Schwerpunkte des Falles: Meinungsfreiheit, Drittwirkung von Grundrechten.
Hinweise zum Fall: Der Fall ist dem Lüth-Urteil nachgebildet (BVerfGE 7, 198 ff.). Vergleiche dazu
Schulze-Fielitz, Jura 2008, 52 ff. Als Grundlage für die Lösungsskizze diente der Fall „Cruisaders“
von Herrn Prof. Dr. Andreas von Arnauld.
Zur Vertiefung: Augsberg/Viellechner, Die Drittwirkung der Grundrechte als Aufbauproblem, JuS
2008, 406 ff.; Epping/Lenz, Das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 I 1 GG), Jura 2007, 881 ff.;
Guckelberger, Die Drittwirkung der Grundrechte, JuS 2003, 1151 ff.; Nolte/Tams, Grundfälle zu Art. 5
I 1 GG, JuS 2004, 111 ff., 199 ff., 294 ff.
Aktuell: BVerfG, Beschluss v. 4.11.2009 – 1 BvR 2150/08 („Wunsiedel“), NJW 2010, 47 ff.;
aufbereitet für das Studium von Hufen, JuS 2010, 558; lesenswerte Urteilsbesprechung von Lepsius,
Jura 2010, 527 ff. (Im Wunsiedelbeschluss geht es um die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG,
insbesondere um den Begriff des allgemeinen Gesetzes und eine Ausnahme von diesem Erfordernis
für propagandistische Gutheißungen des Nationalsozialismus.).
Lösung
V kann Verfassungsbeschwerde erheben. Sie hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und
begründet ist.
A. Zulässigkeit
Die Verfassungsbeschwerde müsste gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8 a,
90 ff. BVerfGG zulässig sein.
I. Beschwerdefähigkeit
V ist als natürliche Person Träger von Grundrechten und damit „jedermann“ im Sinne von
§ 90 Abs. 1 BVerfGG. Er ist somit beschwerdefähig.
II. Beschwerdegegenstand
Es müsste ein tauglicher Beschwerdegegenstand vorliegen. Dies ist nach Art. 93 I Nr. 4a GG
i.V.m. § 90 I BVerfGG jede Maßnahme der öffentlichen Gewalt. Der Begriff der
„öffentlichen Gewalt“ umfasst Maßnahmen aller grundrechtsgebundenen Gewalten i.S.v.
1
Art. 1 III GG und ist daher weiter als derjenige in Art. 19 IV GG. Hier liegt ein
letztinstanzliches zivilgerichtliches Urteil als Akt der öffentlichen Gewalt (Judikative) vor.
Dieses ist zulässiger Beschwerdegegenstand gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG.
III. Beschwerdebefugnis
Gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG müsste V behaupten, in einem seiner Grundrechte oder
grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein. Dies setzt voraus, dass nach dem Vorbringen
des V eine Verletzung von Grundrechten als möglich erscheint und V selbst, gegenwärtig
und unmittelbar betroffen ist.
1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung
Die
Grundrechtsverletzung
müsste
als
möglich
erscheinen.
Möglich
ist
eine
Grundrechtsverletzung immer dann, wenn sie nach keiner Betrachtungsweise offensichtlich
ausgeschlossen ist.
a) Bedeutung der Grundrechte im Privatrechtsverkehr
Die Verletzung von Grundrechten wäre zunächst ausgeschlossen, wenn die Gerichte gar
nicht verpflichtet waren, bei der Entscheidungsfindung auf Grundrechte des V Rücksicht zu
nehmen. V wendet sich hier gegen das Urteil eines Zivilgerichts, das angerufen war, um
einen Rechtsstreit zwischen Bürgern zu entscheiden. Insofern ist fraglich, ob das Gericht
Grundrechte, die eigentlich das Verhältnis zwischen Bürgern und dem Staat bestimmen, bei
der Entscheidung beachten musste. Dazu müssten Grundrechte im Privatrechtsverkehr
überhaupt von Bedeutung sein. Abgesehen von ausdrücklichen Anordnungen, etwa in Art. 9
III 2 GG, ist diese Frage umstritten und wird unter dem Schlagwort der „Dritt- oder
Horizontalwirkung der Grundrechte“ diskutiert.
Zunächst ließe sich mit Blick auf die ursprüngliche, primäre Funktion der Grundrechte als
staatsgerichtete Abwehrrechte vertreten, dass Grundrechte im Privatrechtsverkehr keinerlei
Bedeutung haben. Dann hätten die Gerichte auch nicht auf Grundrechte des V achten
müssen. Eine Grundrechtsverletzung ist nach diesem Ansatz somit nicht möglich.
Das Bundesarbeitsgericht (BAGE 1, 185, 191 ff.) vertrat dagegen früher eine andere
Extremposition, nämlich, dass den Grundrechten im Privatrechtsverkehr unmittelbare
Wirkung zukomme. Danach seien Grundrechte nicht mehr nur Abwehrrechte gegen den
Staat. Sie seien vielmehr eine Verkörperung von Höchstwerten, die das gesamte
2
Gemeinschaftsleben bestimmen. Ein neuerer Begründungsansatz (Lücke, JZ 1999, 377 ff.)
entnimmt Art. 19 III GG eine unmittelbare Wirkung von Grundrechten. Danach umfasse die
dort vorgesehene „Geltung“ auch die Grundrechtsverpflichtung; und zwar umfassend auch
für natürliche Personen, da es keinen sachlichen Grund gebe die Grundrechtsbindung
lediglich auf juristische Personen zu beziehen. Nach diesen Ansätzen hätten die Zivilgerichte
die Grundrechte des V bei der Entscheidungsfindung schon deswegen berücksichtigen
müssen, weil V und die X-GmbH als Private den Grundrechten auch verpflichtet sind.
Die herrschende Auffassung dagegen geht von einer mittelbaren Drittwirkung der
Grundrechte aus: Diese sind zwar primär Abwehrrechte gegen den Staat, strahlen aber als
Elemente einer objektiven Werteordnung durch Generalklauseln und unbestimmte
Rechtsbegriffe, die insoweit als Einfallstore dienen, in das Privatrecht aus. Mit dem Begriff
der „guten Sitten“ wird in § 826 BGB auf einen unbestimmten Rechtsbegriff abgestellt, zu
dessen Ausfüllung auf die Werteordnung des Grundgesetzes zurückgegriffen werden muss.
Danach waren von dem Gericht Grundrechte des V bei der Entscheidungsfindung zu
berücksichtigen.
„Im Privatrechtsverkehr entfalten die Grundrechte ihre Wirkkraft als
verfassungsrechtliche Wertentscheidung durch das Medium der Vorschriften, die
das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, damit vor allem auch durch
die zivilrechtlichen Generalklauseln (…). Der Staat hat auch insoweit die
Grundrechte des Einzelnen zu schützen und vor Verletzungen durch andere zu
bewahren (…). Den Gerichten obliegt es, diesen grundrechtlichen Schutz durch
Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu
konkretisieren.“ (BVerfGE 103, 89 [100])
Gegen das Bundesarbeitsgericht sprechen zunächst Art. 1 III GG und ein Umkehrschluss aus
Art. 9 III 2 GG. In Art. 1 III GG kommt eine fundamentale Unterscheidung zum Ausdruck:
„Während der Bürger prinzipiell frei ist, ist der Staat prinzipiell gebunden.“ 1 Die
Grundrechte
legen
–
als
vorstaatliche
Rechte
verstanden
–
dem
Staat
Rechtfertigungspflichten auf, während der Bürger grundsätzlich in seinem Tun frei ist.2 Ihm
können durch den Gesetzgeber (rechtfertigungsbedürftige) rechtliche Schranken auferlegt
werden. Damit sind Grundrechte ihrem Wesen nach schon gar nicht unmittelbar auf das
Verhältnis zwischen Bürgern anwendbar. Vielmehr stünde eine mit der Grundrechtsbindung
einhergehende
Rechtfertigungspflicht
den
durch
die
Grundrechten
geschützten
Freiheitsräumen des Bürgers diametral entgegen: Grundrechtliche Freiheit ist die Freiheit
von Rechtfertigungszwängen.
Im Fraport-Fall formuliert das Bundesverfassungsgericht eindringlich: „Art. 1
Abs. 3 GG liegt dabei eine elementare Unterscheidung zugrunde: Während der
Bürger prinzipiell frei ist, ist der Staat prinzipiell gebunden. Der Bürger
1
2
BVerfG, U. v. 22.02.2011 – 1 BvR 699/06 (Fraport), Rn. 48.
Pieroth/Schlink, Rn. 44.
3
findet durch die Grundrechte Anerkennung als freie Person, die in der Entfaltung
ihrer Individualität selbstverantwortlich ist. Er und die von ihm gegründeten
Vereinigungen und Einrichtungen können ihr Handeln nach subjektiven
Präferenzen in privater Freiheit gestalten, ohne hierfür grundsätzlich
rechenschaftspflichtig zu sein. Ihre Inpflichtnahme durch die Rechtsordnung ist
von vornherein relativ und - insbesondere nach Maßgabe der
Verhältnismäßigkeit - prinzipiell begrenzt. Demgegenüber handelt der Staat in
treuhänderischer Aufgabenwahrnehmung für die Bürger und ist ihnen
rechenschaftspflichtig. Seine Aktivitäten verstehen sich nicht als Ausdruck
freier subjektiver Überzeugungen in Verwirklichung persönlicher Individualität,
sondern bleiben in distanziertem Respekt vor den verschiedenen Überzeugungen
der Staatsbürger und werden dementsprechend von der Verfassung umfassend an
die Grundrechte gebunden.“
Gegen die Annahme, dass Grundrechte im Privatrechtsverkehr keinerlei Bedeutung hätten,
spricht die Funktion der Grundrechte als Elemente einer objektiven Werteordnung. „Dieses
Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei
entfaltenden
menschlichen
Persönlichkeit
und
ihrer
Würde
findet,
muß
als
verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung,
Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt
es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf
in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.“ 3 Deshalb hat
der (selbst gemäß Art. 1 III GG unmittelbar gebundene Richter4) die Grundrechte bei der
Anwendung von privatrechtlichen Generalklauseln zu berücksichtigen.
Hinweis: An dieser Stelle gilt es, sich noch einmal den Unterschied zwischen
„unmittelbarer Grundrechtsgeltung im Privatrecht“ und „mittelbarer
Drittwirkung“ zu vergegenwärtigen. Bei unmittelbarer Grundrechtsgeltung
könnte Privatperson A von Privatperson B ein bestimmtes Verhalten unmittelbar
wegen eines Grundrechts verlangen. Im Falle der mittelbaren Drittwirkung stützt
A sein Verlangen jedoch nicht direkt auf das Grundrecht, sondern auf eine
zivilrechtliche Vorschrift, bei deren Auslegung die Bedeutung des Grundrechts
zu berücksichtigen ist. Dogmatisch ist die „mittelbare Drittwirkung“ daher
letztlich ein Fall der grundrechtskonformen Auslegung einfachen Gesetzesrechts.
Unmittelbar kommen Grundrechte dagegen nur zur Anwendung, wenn auf einer
Seite der Staat privatrechtlich handelt (vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 185 ff.,
Einzelheiten strittig).
Vor diesem Hintergrund erscheint nicht ausgeschlossen, also möglich, dass das Gericht bei
der Auslegung der Generalklausel des § 826 BGB – also des Begriffs der „Sittenwidrigkeit“
– die Bedeutung und Tragweite der Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG als
Element einer objektiven Werteordnung nicht ausreichend berücksichtigt hat.
b) Anspruch auf Einhaltung der objektiven Werteordnung
BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth.
Insofern ist der Begriff der „mittelbaren Drittwirkung“ missverständlich. „Mittelbar“ ist die Drittwirkung allein für die
Privaten. Vgl. Epping, Rn. 333; Michael/Morlok, Rn. 484.
3
4
4
Nach der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung sind die Grundrechte im Rahmen der
Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln zu berücksichtigen, da sie Teil der objektiven
Werteordnung
des
GG
sind.
Im
Rahmen
der
Beschwerdebefugnis
der
Verfassungsbeschwerde ist jedoch eine subjektive Rechtsverletzung (§ 90 I BVerfGG:
„seiner Grundrechte“) zu behaupten. Dass die „objektive Werteordnung“ solche subjektiven
Rechte verleiht, ist zumindest nicht selbstverständlich. Allerdings ist der Bezug auf den
Einzelnen den Grundrechten auch als objektive Werte immanent. Zudem wäre eine
Drittwirkung ohne Durchsetzungsmacht des Einzelnen kaum effektiv.5 Die Rspr. des BVerfG
hat daher die objektive mittelbare Grundrechtswirkung mit einer subjektiven Komponente
versehen. Danach hat jeder Bürger einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass der
Zivilrichter bei der Auslegung der zivilrechtlichen Generalklauseln den objektiven Gehalt der
Grundrechte auch berücksichtigt. Kommt der Zivilrichter dem nicht nach, hat er mit seinem
Urteil Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt. Eine Verletzung des V in seiner
Meinungsfreiheit ist daher möglich, so dass er beschwerdebefugt ist.
2. selbst, gegenwärtig, unmittelbar betroffen
Als Adressat des Urteils ist V selbst und unmittelbar betroffen. Das rechtskräftige Urteil
verpflichtet den V dauerhaft zur Unterlassung; somit ist er auch gegenwärtig betroffen.
IV. Rechtswegerschöpfung / Form und Frist
Den Rechtsweg hat V in Einklang mit § 90 Abs. 2 BVerfGG erschöpft. V müsste für eine
Verfassungsbeschwerde die Form- und Begründungsvorschriften der §§ 23 Abs. 1, 92
BVerfGG beachten, ebenso die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG.
VI. Ergebnis zu A.
Eine Verfassungsbeschwerde des V wäre bei Beachtung der Form-/Fristvorschriften zulässig.
B. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde wäre auch begründet, wenn das Urteil den V in seinem
Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verletzt.
5
So in Bezug auf Schutzpflichten Augsberg/Viellechner, JuS 2008, 406 (411).
5
I. Prüfungsmaßstab
Im Rahmen der Prüfung letztinstanzlicher Gerichtsurteile stellt sich die Frage nach dem
Prüfungsmaßstab
des
BVerfG.
Es
geht
insoweit
um
die
Abgrenzung
der
Verfassungsgerichtsbarkeit zur einfachen Gerichtsbarkeit. Einerseits stellt nach dem ElfesUrteil des BVerfG jedes fehlerhafte Urteil eine rügefähige Verletzung von Art. 2 I GG dar,
weil es nicht mehr von der gesetzlichen Grundlage gedeckt ist. Jeder Gesetzesverstoß wäre
danach auch ein Grundrechtsverstoß. Das wird jedoch der Verfassungsbeschwerde als
außerordentlichem
Rechtsbehelf
nicht
gerecht:
Das
BVerfG
ist
keine
„Superrevisionsinstanz“. Es beschränkt sich daher auf die Überprüfung von Verletzungen
„spezifischen Verfassungsrechts“ und prüft nicht, ob die Urteile mit einfachem Recht
übereinstimmen; dies bleibt den Fachgerichten vorbehalten. Das BVerfG kontrolliert nur, ob
„Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von
der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen
und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht
sind“
(sog. Hecksche
Formel).
Die Verletzung
spezifischen
Verfassungsrechts ist in folgenden Fallgruppen anzunehmen:
1.
2.
Das Fachgericht hat nicht erkannt, dass Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte einschlägig sein
Die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts kommt in folgenden Fallgruppen
könnten.
in Betracht:
Das Fachgericht hat die Bedeutung einschlägiger Grundrechte oder grundrechtsgleicher Rechte
grundsätzlich verkannt,
indemFachgericht
es
1. Das
hat nicht erkannt, dass
grundrechtsgleiche
Rechte
einschlägig sein
a. eine grundsätzlich falsche Gewichtung vorgenommen
hatkönnten.
oder
Grundrechte
oder
2. Das
Fachgericht hat
diebestimmt
Bedeutung
den Umfang
des Schutzbereiches
falsch
hat. einschlägiger Grundrechte oder
grundrechtsgleicher Rechte grundsätzlich verkannt, indem es
Die Entscheidung des Fachgerichts ist objektiv willkürlich (Willkürverbot, Art. 3 I GG).
o Eine grundsätzlich falsche Gewichtung vorgenommen hat oder
Das der Entscheidung zugrunde liegende Gesetz ist verfassungswidrig.
o Den Umfang des Schutzbereiches falsch bestimmt hat.
Durch das fachgerichtliche Verfahren selbst wurden (Justiz-)Grundrechte verletzt.
3. Die Entscheidung ist objektiv willkürlich (Maßstab: Art 3 Abs. 1 GG).
b.
3.
4.
5.
4. Das zugrunde liegende Gesetz ist verfassungswidrig.
Die Fallgruppen 1-3 betreffen den Urteilsinhalt. Dem dritten Fall liegt letztlich ein Trick zugrunde: Unter dem
5. Durch das fachgerichtliche Verfahren selbst wurden (Justiz-) Grundrechte
„vorgeschobenen Prüfungsmaßstab“ (Schlaich/Korioth, Rn. 300) des Art. 3 I GG nimmt das
verletzt.
Bundesverfassungsgericht eine Notkompetenz bei offenbaren Unrichtigkeiten in Anspruch (hierzu und zu den
Die Fallgruppen
Urteilsinhalt.
dritten
Fall liegt
anderen Fallgruppen: Schlaich/Korioth,
Rn. 1-3
286betreffen
ff. bzw.). den
In den
FallgruppenDem
3 und
5 vollzieht
das letztlich
ein Trick zugrunde: Unter dem „vorgeschobenen Prüfungsmaßstab“
Bundesverfassungsgericht (Schlaich/Korioth,
nicht die fachgerichtliche
sondern
ihm die
Rn. Entscheidung
300) desnach,
Art.
3 macht
I GG
nimmt das
Notkompetenz
beiSchlaich/Korioth,
offenbaren Unrichtigkeiten
Verfahrensleitung oder dasBundesverfassungsgericht
Urteil selbst zum Vorwurfeine
(zu dieser
Fallgruppe
Rn. 321 ff.).in
Anspruch (hierzu und zu den anderen Fallgruppen: Schlaich/Korioth, Rn. 286
Die Fallgruppen 1 und 2 betreffen die bisher in der Arbeitsgemeinschaft behandelten Fälle. Auch Fallgruppe 4
ff.). In den Fallgruppen 3 und 5 vollzieht das Bundesverfassungsgericht nicht die
lässt sich regelmäßig unproblematisch
im bisher
bekannt Schema
Die Fallgruppen
und 5insind
fachgerichtliche
Überprüfung
anhandbehandeln.
von Grundrechten
nach 3(wie
denin
anderen
Fallgruppen),
macht
ihm die Verfahrensleistung
oder das Urteil
eine Prüfung des jeweiligen
Grundrechts
– Art. 3 sondern
I GG oder
Justizgrundrechte
– zu integrieren.
selbst zum Vorwurf (zu dieser Fallgruppe Schlaich/Korioth, Rn. 321 ff.). Die
Fallgruppen 1, 2, 4 und 5 lassen sich daher anhand des üblichen Schemas zur
Prüfung von Grundrechten behandeln; in der Fallgruppe 3 ist die Prüfung in Art.
3 I GG zu integrieren. Weil aber in der Sache die Vertretbarkeit einer Auslegung
des zugrunde liegenden einfachen Rechts Thema ist, wird diese Konstellation
eher nicht Gegenstand einer Grundrechtsklausur werden.
6
II. Verletzung in Art. 5 I 1 GG
Möglich wäre eine Verletzung in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
1. Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG
Zunächst müsste der Schutzbereich der Meinungsfreiheit eröffnet sein.
a. persönlicher Schutzbereich
Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ist ein „Jedermannsrecht“ und sein persönlicher Schutzbereich für V
somit eröffnet.
b. sachlicher Schutzbereich
Zweifelhaft ist aber, ob die Äußerungen des V vom sachlichen Schutzbereich dieses
Grundrechts erfasst sind.
Eine Meinung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ist jede wertende Stellungnahme.
Kennzeichnend ist ein Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im
Rahmen der geistigen Auseinandersetzung. Die Aussagen des V enthalten eine Wertung
hinsichtlich der Person des C und dessen Verhalten sowie darüber, wie das Publikum hierauf
zu reagieren habe. Es handelt sich bei den Aussagen des V damit um eine Meinung in diesem
Sinne.
Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG schützt u.a. die Kundgabe und Verbreitung der Meinung in Wort und
Schrift, so dass sowohl Aufruf als auch Flugblattaktion als Meinungsäußerung im Sinne von
Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu betrachten sind.
Allerdings schützt Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG die freie Meinungsäußerung um eines freien
Diskurses, eines freien Austausches und Kampfes der Meinungen willen. V will mit seinem
Boykottaufruf dagegen gerade verhindern, dass die Zuschauer sich mit dem Schaffen von C
auseinandersetzen. Insofern könnten Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu einer
einengenden Auslegung des Schutzbereiches verpflichten. Hier ist jedoch zu beachten, dass
V mit dem Boykottaufruf niemanden zwingt, dem neuen Film von C fernzubleiben. Es bleibt
der freien Entscheidung jedes Einzelnen überlassen, ob er sich den Film ansehen will oder
nicht. Außerdem steht es der X-GmbH und C frei, den Aufruf zu erwidern und somit einen
Meinungsaustausch zu beginnen. Damit ist die Äußerung des V vom Schutzbereich der
Meinungsäußerungsfreiheit erfasst.
7
Hinweis: Ob ein Boykottaufruf von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, hängt von
den Umständen des Einzelfalles ab. Ein „einfacher“ Boykottaufruf – wie hier –
ist von der Meinungsfreiheit umfasst, da er gerade den Prozess der
Meinungsbildung fördert (BVerfGE 7, 198 – Lüth). Die Grenzen der
Meinungsfreiheit sind jedoch erreicht, wenn sich der Boykottaufruf solcher
Mittel bedient, die den Angesprochenen die Möglichkeit nehmen, ihre
Entscheidungen in voller innerer Freiheit zu treffen. Ein Boykottaufruf
verbunden mit der Ausübung wirtschaftlichen Drucks, der für den Betroffenen
infolge der wirtschaftlichen Machtstellung des anderen Teils schwere Nachteile
bewirkt, ist nicht auf den Prozess der Meinungsbildung gerichtet. Er ist daher
nicht mehr vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst.
Dieser Unterscheidung liegen zwei wichtige BVerfG-Urteile zugrunde, die
unbedingt geläufig sein sollten. Das Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198) betraf
folgenden Sachverhalt: Der Hamburger Senatsdirektor Lüth hatte zum Boykott
eines Films von Veit Harlan aufgerufen, weil dieser in der Nazizeit als Regisseur
des antisemitischen Propagandafilms „Jud Süß“ bekannt geworden war. Im
Blinkfüer-Urteil (BVerfGE 25, 256) war der Boykottaufruf mit wirtschaftlichem
Druck verbunden und fiel daher nicht mehr in den Schutzbereich der
Meinungsfreiheit: Der Axel-Springer-Verlag hatte dazu aufgerufen, keine
Zeitschriften mehr zu verkaufen, die das ostzonale Fernsehprogramm abdruckten
und damit gedroht, Zeitungshändlern ansonsten die eigenen
(marktbeherrschenden) Produkte vorzuenthalten. Die Blinkfüer enthielt das
Fernsehprogramm der DDR.
2. Eingriff
Es müsste weiter ein Eingriff vorliegen. Eingriff ist nach dem modernen Begriffsverständnis
jede dem Staat zurechenbare Grundrechtsbeeinträchtigung. Die Beeinträchtigung des V wird
zwar eigentlich durch die X-GmbH bewirkt. Jedoch hat das Gericht wegen der mittelbaren
Drittwirkung der Grundrechte die Pflicht, den Grundrechten des V im Rahmen der
Auslegung Geltung zu verschaffen (s.o.). Das Gericht hat V zur Unterlassung verurteilt und
ihm damit eine in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallende Tätigkeit unmöglich
gemacht. Darin liegt eine vorhersehbare Grundrechtsbeeinträchtigung.
Hier ist Vorsicht geboten! Die Darstellung der Drittwirkung im üblichen
Schema entspricht der üblichen Praxis jedenfalls in Verurteilungssituationen.
Jedenfalls ist aber die Mittelbarkeit der Beeinträchtigung herauszustellen.
Das BVerfG formuliert im Lüth-Urteil: „So führt der vom Landgericht
angenommene bürgerlich rechtliche Anspruch der Klägerinnen durch das Urteil
des Gerichts zu einem die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers
beschränkenden Ausspruch der öffentlichen Gewalt.“
Eine andere Auffassung ist freilich vertretbar: Man kann die mittelbare
Drittwirkung auch in der Verurteilungssituation als einen Unterfall der
Schutzpflichten begreifen und das Zivilurteil daher immer am Untermaßverbot
prüfen (so Epping, Rn. 346, 359).
Man kann mit guten Gründen daran zweifeln, ob ein Zivilrechtsurteil einen
Eingriff darstellt. Jedenfalls zwingendes Zivilrecht (inkl. § 826 BGB) stellt aber
auf gesetzlicher Ebene einen Eingriff dar (Pieroth/Schlink, Rn. 193; zu § 826:
Dreier, in: ders., Rn. 99 vor Art. 1 GG; a.A. Epping, Rn. 350 ff.). Dieser
Eingriffscharakter ginge in einer Schutzpflichtenprüfung unter. Insbesondere
käme in dieser Prüfung die Frage, ob es sich bei § 826 BGB um ein allgemeines
Gesetz im Sinne des Art. 5 II GG handelt, überhaupt nicht vor. Allenfalls wäre
der Eingriffsaufbau also im Rahmen vertraglicher Beziehungen zu überdenken.
8
Üblich ist in der Verurteilungskonstellation die Eingriffsprüfung, in der
Klagabweisungskonstellation wohl die Schutzpflichtenprüfung (vgl. auch
Michael/Morlok, Rn. 484; zur Prüfung von Schutzpflichten im Allgemeinen
Epping, Rn. 137). Denn in einer Konstellation, in der die Klage (möglicherweise
grundrechtswidrig) abgewiesen wurde und daher der Kläger
Verfassungsbeschwerde erhebt, ist es ohnehin ungleich schwieriger von einem
Eingriff zu sprechen (ablehnend Epping, Rn. 346; Augsberg/Viellechner, JuS
2008, 406, 408 halten es aber für möglich). Dennoch sollte ein Eingriff angeprüft
und für diese Konstellation abgelehnt werden (Epping, Rn. 359).
Alle verschiedenen Aufbauvarianten wägen Augsberg/Viellechner, JuS 2008,
406 ff. ab. Wichtig: Selbstverständlich darf auch in einer Drittwirkungsklausur
kein Wort zum Aufbau verloren werden.
3. Rechtfertigung
Der Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein. Dies wäre der Fall, wenn das Zivilgericht eine
verfassungskonforme gesetzliche Grundlage im Einzelfall verfassungskonform angewandt
hätte.
a. Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes
Die Rechtsgrundlage des Urteils, § 826 BGB, müsste verfassungsgemäß sein.
aa. Übereinstimmung mit der Schrankenregelung des Art. 5 II GG
Dazu müsste er zunächst der Schrankenregelung des Art. 5 II GG genügen. Die Grundrechte
aus Art. 5 Abs. 1 GG sind dem Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG unterstellt.
Vorliegend kommt allein die Tatbestandsalternative der „allgemeinen Gesetze“ in Frage, da
das Urteil zugunsten der X-GmbH ergangen ist und insoweit nicht der Schutz der Ehre von C
bezweckt wurde. § 826 BGB als maßgebliche Gesetzesnorm müsste demnach ein
allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG sein. Fraglich ist zunächst die Definition
der „allgemeinen Gesetze“.
Bei unbefangenem Herangehen an den Wortlaut „allgemeine Gesetze“ könnte man auf die
Idee kommen, dass damit Gesetze gemeint sind, die für alle gelten. Dass diese Überlegung
unrichtig ist, zeigt die geschriebene Schrankenregelung des Verbots des Einzelfallgesetzes in
Art.
19
I
1
GG.
Ein
solches
Begriffsverständnis
würde
über
einfache
Schrankenanforderungen also nicht hinausgehen.
So hat dann die sog. Abwägungslehre versucht, „allgemeine Gesetze“ als solche zu deuten,
die den Schutz eines Rechtsguts verfolgen, welches im Vergleich mit der Meinungsfreiheit
einem höheren Allgemeininteresse dient. Diese Abwägung der verfolgten Interessen ist
9
jedoch nichts anderes als eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, welche ohnehin vorzunehmen
ist. Dies spricht gegen diesen Ansatz.
Ein weiterer Ansatz ist die sog. Sonderrechtslehre. Danach sind „allgemeine Gesetze“ solche,
die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit an sich richten bzw. sich nicht gegen eine
bestimmte Meinung richten. Dieser Ansatz ist „umgehungsanfällig“, da der Gesetzgeber
durch gezielte Verfolgung bestimmter an sich rechtfertigungsfähiger Gesetzesziele scheinbar
unbeabsichtigt bestimmte Meinungen verbieten könnte.
Da diese Lehren isoliert betrachtet Schwächen aufweisen, hat das BVerfG sie im Lüth-Urteil
zusammengefasst (sog. Kombinationsformel) und versteht unter allgemeinen Gesetzen
solche, die sich weder gegen die Meinungsfreiheit an sich noch gegen bestimmte Meinungen
richten sowie dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu
schützenden Rechtsguts dienen. § 826 BGB dient ganz allgemein dem Schutz vor
vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigungen, gleich ob diese durch eine Äußerung oder auf
andere Weise bewirkt werden. Er schützt zudem das Vermögen, das auch ohne Rücksicht auf
eine bestimmte Meinung anderweitig Schutz genießt. Es sind also beide „Komponenten“ der
Kombinationsformel des BVerfG erfüllt. Danach liegt dem Eingriff mit § 826 BGB ein
allgemeines Gesetz zugrunde.
bb. Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes im Übrigen
§ 826 BGB ist verfassungsgemäß. Als eine der zentralen Vorschriften des BGB hat er durch
jahrzehntelange Rechtsprechung Konturen erhalten, die nicht im Widerspruch zum
Grundgesetz
stehen.
Insbesondere
kann
er
aufgrund
seiner
Offenheit
auch
grundrechtskonform im Lichte der Meinungsfreiheit ausgelegt werden.
b. Verfassungsmäßigkeit der Einzelentscheidung
Die richterliche Einzelentscheidung auf Grundlage des § 826 BGB müsste schließlich einen
verhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht des V aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG darstellen. Das
wäre dann nicht der Fall, wenn das Fachgericht bei seiner Gesetzesauslegung die Bedeutung
der Meinungsfreiheit grundsätzlich verkannt hat. Im Lüth-Urteil hat das BVerfG die
konstituierende Bedeutung der freien Meinungsäußerung für die freiheitlich-demokratische
Gesellschaft betont. Wegen der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts darf aus der
Anwendung der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG nicht eine vollständige
Beschränkung der Meinungsfreiheit folgen. Vielmehr muss jede Einschränkung der
10
Meinungsfreiheit ihrerseits im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5
Abs. 1 S. 1 GG betrachtet werden (sog. Wechselwirkungslehre).
Anmerkung: Die Wechselwirkungslehre verbindet den Grundsatz der
verfassungskonformen Auslegung des Gesetzesrechts (d.h. hier also im Lichte
der Meinungsfreiheit) mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei
Grundrechtseingriffen. Dies macht die Wechselwirkungslehre in der Falllösung
nur schwer handhabbar. Sie kann jedoch grds. auf drei Ebenen eine Rolle
spielen: (1) auf der Sinn- bzw. Deutungsebene. Bei mehrdeutigen Äußerungen,
sind diese grds. wohlwollend im Sinne der Meinungsfreiheit auszulegen. (2) Auf
der Normauslegungsebene ist eine im Rahmen der Tatbestandsmerkmale der
betreffenden Gesetze vorzunehmende Abwägung zwischen der Bedeutung der
Meinungsfreiheit und andererseits des Rechtsguts, in dessen Interesse sie
eingeschränkt worden ist vorzunehmen. (3) Schließlich betrifft die
Normanwendungsebene die Gewichtung der Beeinträchtigung, die dem
entgegenstehenden Rechtsgut auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der
anderen Seite droht. Dabei sind alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen.
Die dritte Ebene ist inzwischen in der Verhältnismäßigkeit aufgegangen.
Vgl. zum Ganzen Epping, Rn. 243 ff. oder Pieroth/Schlink, Rn. 640 f.
Es ist also zu fragen, ob bei der Auslegung des Gesetzes – auf der Normauslegungsebene –
das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht genügend berücksichtigt und dadurch spezifisches
Verfassungsrecht
(s.o.)
verletzt
wurde.
Dabei
ist
zwischen
der
vollkommenen
Nichtbeachtung der Grundrechtsrelevanz (aa.) und der grundsätzlichen Verkennung der
Grundrechte (bb.) zu unterscheiden.
aa. Nichtbeachtung
Möglich ist nach dem Sachverhalt schon die vollkommene Nichtbeachtung der
Grundrechtsrelevanz. Allerdings fehlen dazu jegliche Angaben.
bb. grundsätzliche Verkennung
Jedenfalls könnte das Gericht die Bedeutung der Grundrechte im konkreten Fall verkannt
haben. Der Aufruf des V ist vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit gedeckt (s.o.). Fraglich
ist, von welchem Gewicht die durch das Urteil erfolgte Beeinträchtigung ist und in welchem
Verhältnis sie zu der Beeinträchtigung der X-GmbH durch die Äußerungen steht. Einerseits
ist V nur verpflichtet, zukünftig derartige Äußerungen zu unterlassen. Seine Äußerungen
hatten dagegen durchaus einen beträchtlichen Effekt: Laut Sachverhalt sind die Einnahmen
der X-GmbH als Folge des früheren Boykottaufrufs der Jungen Union spürbar
zurückgegangen. Damit steht zu erwarten, dass auch die neuerliche Aktion die
wirtschaftlichen Interessen der X-GmbH in nicht bloß unerheblichem Maße beeinträchtigen
und mittelbar auch der Film- bzw. Kunstfreiheit einen gewissen Schaden zufügen wird, die
von einem freien und florierenden Filmmarkt lebt.
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Auch der Filmverleiher kann sich auf die Filmfreiheit berufen (Schulze-Fielitz,
in: Dreier, GG, Art. 5 I, II, Rn. 113; Hufen, § 29, Rn. 2 f.) Ebenso ist von der
Kunstfreiheit der Wirkbereich mit erfasst, so dass auch die Vermittler geschützt
sind. Für im Fernsehen gezeigte Filme ist die Rundfunkfreiheit, nicht die
Filmfreiheit einschlägig. Versteht man zudem die vorbehaltlose Kunstfreiheit als
lex specialis zur Filmfreiheit, verbleibt für diese nur noch der in keiner Weise
künstlerische Film, der nicht im Fernsehen zu sehen ist (Hufen, § 29, Rn. 4).
Dementsprechend ist die Filmfreiheit in der Rspr. des BVerfG bisher ohne
Bedeutung geblieben.
Auf der anderen Seite ist aber zu beachten, dass die Filmfreiheit den Filmschaffenden keinen
Anspruch darauf gibt, dass ihre Filme auch gesehen werden. Selbst wenn man außer Acht
lässt, dass V hier sogar ausdrücklich dazu aufgefordert hat, einen anderen Film zu besuchen
und somit sein Aufruf nicht darauf zielte, der Filmbranche als solcher zu schaden: Die
bewusste und freiwillige Entscheidung des Menschen, einen Film nicht sehen zu wollen (aus
welchen Gründen auch immer), kann die Filmfreiheit nicht verletzen. V hat aber nur an die
potentiellen Zuschauer appelliert und sie nicht mit Zwang vom Besuch des Films abgehalten.
Was das wirtschaftliche Interesse der X-GmbH betrifft, so muss ein Unternehmen, das Filme
eines bekannten und bekennenden Scientology-Mitglieds verleiht, damit rechnen, dass auch
der von ihr verliehene Film in die in Europa vehement geführte Diskussion um die
Scientology-Sekte hineingezogen wird. Dies hätte die X-GmbH bei ihren wirtschaftlichen
Erwartungen von vornherein einkalkulieren müssen.
Es muss auch beachtet werden, dass V mit seinem Aufruf keine persönlichen Ziele verfolgt,
sondern aus einem Gefühl gesellschaftlicher Verantwortung heraus gehandelt hat. Die
konstituierende Bedeutung der freien Meinungsäußerung für die freiheitlich-demokratische
Gesellschaft macht einen freien Austausch der Meinungen erforderlich, so dass
Meinungsverschiedenheiten nicht mit staatlichen Verboten, sondern in allererster Linie im
freien Spiel von Rede und Gegenrede auszutragen sind. Die X-GmbH hätte die Möglichkeit
gehabt, mit Sachargumenten gegen den Aufruf der Jungen Union anzugehen.
Betrachtet man das Unterlassungsurteil gegen V damit im Lichte der besonderen
wertsetzenden Bedeutung der freien Meinungsäußerung für ein freiheitliches und
demokratisches Gemeinwesen, so erscheint der durch das angegriffene Urteil bewirkte
Eingriff in die Grundrechtssphäre des V als diesem nicht zumutbar. Das Urteil verkennt
daher die Bedeutung der Meinungsfreiheit grundsätzlich.
Teilweise wird auch in Drittwirkungsfällen einfach eine normale Prüfung der
Verhältnismäßigkeit durchgeführt. Das passt aber nicht ganz zur Begründung der
mittelbaren Drittwirkung.
Wie hier: Augsberg/Viellechner, JuS 2008, 406 (409f.). Die Drittwirkung macht
deutlich, dass man Schemata nicht immer blind übernehmen sollte, sondern sie
als wertvolle Hilfestellung verwenden aber stets kritisch hinterfragen sollte (vgl.
schon oben zum Eingriff sowie abermals Augsberg/Viellechner, JuS 2008, 406,
414).
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4. Zwischenergebnis
V ist durch das Urteil in seiner Meinungsfreiheit verletzt.
III. Ergebnis Begründetheit
Eine Verfassungsbeschwerde des V wäre deswegen begründet.
C. Ergebnis
Eine Verfassungsbeschwerde des V gegen das Unterlassungsurteil wäre zulässig und
begründet und hätte daher Aussicht auf Erfolg.
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