MATERIALIEN ZUR WOYZECK-AUFFÜHRUNG IN AACHEN Die nachfolgenden Seiten enthalten einige Informationen zur Vorbereitung auf die Theateraufführung von Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ am Theater Aachen. Da es sich bei der in Aachen dargebotenen Fassung um eine (musikalisch und inszenatorisch) bearbeitete Stück-Fassung handelt, erfolgen zunächst einige grundlegende Bemerkungen zum „Regietheater“ sowie zu der in Aachen gezeigten Fassung des Stückes. Anschließend werden drei Kritiken wiedergegeben: zwei zur deutschen Erstaufführung dieser Fassung sowie eine zur Aachener Inszenierung. Den Abschluss dieser Materialien bildet eine kurze Kritik zur CD mit der Musik, die Tom Waits für die vorliegende Stück-Fassung komponiert hat. Die entsprechenden (englischsprachigen) Songtexte, die in die Inszenierung eingestreut sind, können den mitfahrenden Schülerinnen und Schülern vor der Aufführung in Kopie ausgehändigt werden. Regietheater und werkgetreue Inszenierung Seit den Anfängen der Theaterkultur im antiken Griechenland werden dramatische Werke im Wesentlichen für die Darbietung auf einer Bühne verfasst. Dabei war es im Grunde schon immer so, dass Autoren mitunter auch literarische Stoffe aufgriffen, die in der Vergangenheit bereits von anderen Autoren verwendet worden waren und denen sie in ihrer eigenen dramatischen Dichtung ein neues Gepräge gaben. Die Stoffe der „Antigone“ (ursprünglich von Sophokles verfasst; uraufgeführt 442 v. Chr.; später z.B. adaptiert von Jean Anouilh – 1942 – , Bertolt Brecht – 1947 – und Rolf Hochhuth – 1963) und der „Iphigenie“ (ursprünglich von Euripides 411-412 v. Chr. verfasst; in Goethes Fassung 1786 als Versdrama vollendet) sind dafür gute Beispiele. Die Frage, inwieweit ein bestehendes Stück vom Regisseur und/oder vom Dramaturgen jedoch für die Bühnenaufführung modifiziert und eingerichtet werden darf, ist allerdings jüngerer Herkunft. Der Begriff des „Regietheaters“ wurde in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zunächst in Rezensionen als abwertende Bezeichnung für Inszenierungen verwendet, die sehr deutlich die Handschrift des jeweiligen Regisseurs erkennen ließen, insofern sie deutliche textliche und/oder handlungstechnische Abweichungen von der dichterischen Vorlage enthielten. Es wurde kritisiert, dass durch Auslassungen und Hinzufügungen textlicher oder inhaltlicher Passagen der eigentliche Gehalt des Stückes verkürzt oder verzerrt würde. Im Gegenzug verteidigten sich die betroffenen Regisseure und Dramaturgen mit dem Hinweis darauf, dass ihre – bewusst und reflektiert vorgenommenen – Veränderungen dem Ziel dienten, den jeweiligen Stoff für die aktuelle Wirklichkeit fruchtbar zu machen. Bis heute ist es bei den Rezipienten (und zwar sowohl bei Rezensenten als auch beim Theaterpublikum) umstritten, inwiefern das „Regietheater“ einen legitimen Platz neben der werkgetreuen Inszenierung beanspruchen kann. Allerdings hat der Begriff des Regietheaters grundsätzlich seine eindeutig negativen Konnotationen längst verloren. Auch ist davon auszugehen, dass ein sehr großer Prozentsatz der zeitgenössischen Inszenierungen an bedeutenden Theaterbühnen eher dem Regietheater zuzuordnen ist. Ihrem Selbstverständnis nach sind zeitgenössische Regisseure und Dramaturgen zumeist nicht nur „reproduzierende“ Künstler; sie erheben vielmehr den Anspruch, mit ihren Inszenierungen eine eigenständige Kunstform auszufüllen. Aufgrund seiner fragmentarischen Gestalt erscheinen Inszenierungen von Georg Büchners „Woyzeck“ im Sinne dieses Regietheaters mehr noch als bei anderen – vollständigen – Stücken tendenziell gerechtfertigt. Bekanntermaßen liegt der Text lediglich in (mehreren, voneinander abweichenden) Handschriften vor; die von Büchner beabsichtigte endgültige Reihenfolge der Szenen ist wissenschaftlich lediglich zu erschließen, aber keinesfalls objektiv gesichert. Als das Drama 1879 – also 42 Jahre nach Büchners Tod – erstmals erschien, hatte Emil Franzos, der Herausgeber, den Text stark überarbeitet; an den Anfang setzte er die „Rasierszene“. Die in heutigen Leseausgaben vorhandene Reihenfolge ist das Ergebnis aufwändiger Texterschließung. Unterdessen gab es 1921 unter dem Titel „Wozzeck“ bereits eine Opern-Fassung des Stoffes (von Alban Berg); im Jahre 1930 (unter demselben Titel) einen ersten Kinofilm. Der Woyzeck-Stoff wurde in der Folgezeit noch mehrfach neu verfilmt, unter anderem in der Inszenierung von Werner Herzog (1979). Die am Theater Aachen dargebotene Inszenierung beruht auf einer Bearbeitung des Woyzeck-Stoffes durch den berühmten amerikanischen Regisseur Robert Wilson in Kooperation mit dem IndependentMusiker Tom Waits und dessen Ehefrau Kathleen Brennan. Wilson hatte Waits und Brennan gewinnen können, Songs zu dem Stück zu schreiben, die in die Inszenierung eingebunden wurden. Mit weltweiter Beachtung wurde die Wilson/Waits/Bennan-Adaption des Woyzeck-Stoffes im Jahre 2000 in Kopenhagen uraufgeführt. 2002 fand die deutsche Erstaufführung dieser Fassung am Theater Oberhausen statt. Das Theater Aachen ist eine der wenigen deutschsprachigen Spielstätten, die von Wilson/Waits/Brennan die Genehmigung erhielten, das Stück in dieser Fassung aufzuführen. „Woyzeck“ ist nicht die erste gemeinsame Theaterarbeit von Wilson, Waits und Brennan. Zuvor schufen sie auch jeweils eine moderne Fassung von „Der Freischütz“ nach Carl Maria von Weber („The Black Rider, 1990) sowie von „Alice im Wunderland“ nach Lewis Caroll (Alice, 1992). Die englischsprachigen Lieder von Tom Waits umkreisen zentrale Stimmungen, Motive und Tendenzen des Woyzeck-Stoffes. Musikalisch bewegen sich die Stücke, wie ein Musikkritiker befand, „zwischen Broadway und Blues, zwischen Dixieland und Cabaret“; sie enthalten gleichermaßen Rock-, JazzChanson-Elemente, experimentieren mit Instrumenten und (Dis-)Harmonien, wodurch sie gerade die Zersplitterung und die Gebrochenheit der in „Woyzeck“ dargestellten Welt eindrucksvoll untermalen. Viele Stücke lassen auch eine deutliche musikalische Nähe zu Kurt Weill erkennen, jenem Komponisten, der für Bertolt Brecht im 20. Jahrhundert zahlreiche Theatermusiken geschaffen hat. REZENSIONEN ZUR DEUTSCHEN URAUFFÜHRUNG: DEUTSCHLANDRADIO, September 2002 Der zärtliche Kehlenschnitt Oberhausen zeigt als erstes Theater nach der Uraufführung die "Woyzeck“-Opera von Tom Waits Von Stefan Keim Nach der Uraufführung der "Woyzeck"-Opera durch Robert Wilson vor acht Jahren in Kopenhagen war das Stück nicht für neue Inszenierungen freigegeben. Jetzt bringt Regisseur Joan Anton Rechi am Theater Oberhausen die Mischform aus Schauspiel und Musiktheater neu auf die Bühne. Georg Büchners todtrauriges Theaterfragment und die Verlorenheitsmusik von Tom Waits passen großartig zusammen. "All the world is green" singen Woyzeck und Marie. Sie nehmen sich in die Arme. Jetzt könnte alles anders werden, hier muss kein Mord passieren. Die beiden zerbeulten Seelen, denen Tom Waits einen zärtlichen Song in die Kehlen legt, könnten doch einfach miteinander fortgehen. Aber der Text erzählt von der Vergeblichkeit: "Let's pretend we can bring back the old days". Sie können halt nur so tun, als wären die alten Zeiten nicht längst vorbei. Sie sind es, und Woyzeck schlitzt Maries Kehle auf, während er sie fest im Arm hält. Zärtlich lässt er den zuckenden Körper zu Boden sinken, während die Musik weiterläuft. "The band is playing our song". Büchners todtrauriges Theaterfragment und die Verlorenheitsmusik von Tom Waits passen großartig zusammen. Nach der Uraufführung durch Robert Wilson vor acht Jahren in Kopenhagen war das Stück nicht für neue Inszenierungen freigegeben. Das Theater Oberhausen gab sich nicht damit zufrieden. Der neue Intendant Peter Carp will während seiner ersten Spielzeit Mischformen aus Schauspiel und Musiktheater ausprobieren. Die deutsche Erstaufführung des Waits-"Woyzeck" ist inhaltlich wie vom Publicity-Effekt her eine perfekte Eröffnung. Die Dramaturgen haben sich bis zu Tom Waits selbst durchgearbeitet und erhielten nicht nur die Genehmigung. Der Großmeister des gutturalen Gesangs komponierte einige Songs fertig, die er für die Uraufführung noch nicht notiert hatte. In Oberhausen arrangierte der Theatermusiker Otto Beatus die Partitur für eine sechsköpfige Band und pointierte das Raue, Erdige, Zersplitterte dieser Musik ebenso wie die am Herzen zerrende Schönheit der Balladen. Eine heruntergekommene Spelunke hat Bühnenbildner Alfons Flores auf die Drehbühne gestellt. Die Band spielt auf dem Dach, der Hauptmann lässt sich in diesem Stundenhotel rasieren, Huren laufen lasziv durch die Räume. Neonleuchten tauchen die Szene in verschiedene, künstlichkalte Farben. Die Kaschemme leuchtet in der Dunkelheit, zieht die Menschen an, als seien sie Fliegen, die keine Ahnung haben, dass sie in diesem Licht verbrennen können. Jürgen Sarkiss ist ein groß gewachsener, kräftiger Woyzeck, kein Leidensmann, der um Mitleid buhlt. Dieser Kerl ist so kaputt, dass er sein Baby im Kinderwagen mit der Bettdecke ersticken will, weil es zu lange schreit. Trotzdem berühren seine verschütteten Gefühle, wenn er von seinem "Coney Island Girl" singt. Zu den Emotionen muss sich der Zuschauer in dieser kalten, harten Welt erst durcharbeiten. Regisseur Joan Anton Rechi, der wie das gesamte Regieteam oft mit Calixto Bieito arbeitet, zeichnet die Figuren mit sozialer Genauigkeit, ohne in die Nähe des Naturalismus zu geraten. Der Doktor (Henry Meyer) experimentiert an Woyzeck herum, weil er Blut spuckt, das Ende naht und in ihm die irrationale Hoffnung sitzt, er könnte das Geheimnis des ewigen Lebens finden. Nora Buzalka zeigt Marie als frustrierte junge Mutter, die sich selbst hasst, weil sie Woyzeck mit dem gut aussehenden Tambourmajor betrügt. Rechis Inszenierung nähert sich in den Spielszenen wieder Büchners Text, während Robert Wilson in der Uraufführung freier mit den Vorgaben umging. Rechis Konzept erinnert an Calixto Bieitos Inszenierung von Brechts "Dreigroschenoper", ist deshalb aber nicht weniger schlüssig. Auf der Bühne mischen sich altes und neues Oberhausener Ensemble als hätten sie schon immer zusammen gespielt, alle Schauspieler singen ausgezeichnet. Die Bezeichung "Opera" ist nicht übertrieben, denn Tom Waits behandelt seine Songs wie Arien, vertieft die Gefühle, während die Handlung still steht. Wenn die Musik verklingt, lässt Regisseur Rechi Schweigen und Leere zu. Man ahnt die Hohlheit der Welt, die Woyzeck empfindet. Ein starker Start in Oberhausen. Notizen aus der Rheinprovinz, September 2002 (zitiert nach: www.kulturraumverdichtung.de) Tom Waits’ Woyzeck am Theater Oberhausen Acht Jahre nach der Uraufführung ist am Theater Oberhausen jetzt erstmals in Deutschland die beachtliche Adaption von Büchners Drama Woyzeck als Singspiel mit Musik von Tom Waits und Songtexten von Kathleen Brennan zu sehen. Irgendwo auf der Verliererstraße in den Staaten gibt’s ein schäbiges, kleines Stundenhotel, Sexnesse hat ein Witzbold das Ding getauft. Ein paar Nutten verrichten hier ihre Geschäfte, ein schmieriger Zuhälter, der sich seltsamerweise „Hauptmann“ nennen lässt, und ein heruntergekommener Arzt leben hier, und manchmal kommt ein GI vorbei und lässt sich das Notwendige besorgen. In dieser Trostlosigkeit und im oberen Stockwerk spielt derweil eine Combo Musik von Tom Waits: God’s away on business. Ein Hausmeistergehilfe, Woyzeck heißt der, mitunter rasiert er die Gäste, wird vom Doktor auf eine abstruse Diät gesetzt: nurmehr von Erbsen hat er sich zu ernähren. Er hat Wahnvorstellungen, kein Wunder, hier kann man nur zum Wahnsinnigen oder zum Säufer werden: Misery’s the River of the World. Was ihn noch in dieser Welt hält, ist einzig die Liebe zu Marie. Mit ihr ist die Welt manchmal noch grün. Marie ist ein bisschen blond, würde ganz gut in eine dieser Nachmittagstalkshows passen, aber ich verstehe schon, was er an ihr hat. Bis Marie ihn mit diesem dumpfbackigen, aber virilen GI betrügt. Jetzt wird die Welt nicht mehr grün werden. Der gerichtliche Gutachter stellt fest: Am 21. Juni des Jahres 1821, Abends um halbzehn Uhr, brachte der Friseur Johann Christian Woyzeck, ein und vierzig Jahre alt, der sechs und vierzig jährigen Witwe des verstorbenen Chirurgus Woost [...] in dem Hausgange ihrer Wohnung auf der Sandgasse, mit einer abgebrochnen Degenklinge, [...] sieben Wunden bei, an denen sie nach wenigen Minuten ihren Geist aufgab [...]. Das taugt vielleicht für eine mindere Folge von Richter Alexander Hold, sicher aber für eines der bedrückendsten Dramen der deutschen Theatergeschichte, das Georg Büchner Anfang 1837 fast fertig gestellt hätte, wenn er nicht unversehens unter Einfluss einer Typhusinfektion, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, seinerseits den Geist aufgegeben hätte (was die größte Tragödie der deutschen Theatergeschichte ist). Zu Büchners Dramenfragment über den Fall Woyzeck hat also Tom Waits Musik geschrieben (zum größten Teil auf der CD Blood Money von 2002 anhörbar), seine Frau Kathleen Brennan hat die Songtexte gemacht und Robert Wilson hat das seinerzeit für die Bühne eingerichtet: Im Jahr 2000 wurde diese Büchneradaption in Kopenhagen uraufgeführt. Dem neuen Intendanten des Theaters Oberhausen, Peter Carp, ist es gelungen, seine erste Spielzeit mit dem Coup der deutschen Erstaufführung dieses Singspiels einzuleiten. Und wie man hört, ist das Trio Waits/Brennan/Wilson alles andere als freigiebig mit der Vergabe der Aufführungsrechte. Die Oberhausener Inszenierung, deren Regie Joan Anton Rechi verantwortet, hat ungeheuer starke Momente. Hauptdarsteller Jürgen Sarkiss macht einen grandiosen Woyzeck, angemessen verstrahlt, unendlich verloren, mit dem Charme eines Daniel Auteuil in seinen besten Rollen und der Verzweiflung eines – nun, eines Woyzeck eben. Ein Tanz der Dämonen, der Woyzeck in die Mordtat treibt, vom Ensemble in Stöckelschuhen und Horrorfilmmasken getrampelt, vorher eine sehr hübsche Revuenummer: It’s just the way we are boys. Die Songs sind so, wie man sie von Waits kennt, mal voll brüllender Anklage gegen das Leben, mal pathetische Selbstbehauptung gegen das Leben, mal sentimentale Verklärung der Liebe (oder des Lebens). Das holt das Monströse des Stücks zurück in das Menschliche, also Monströse. Das Publikum war jedenfalls restlos begeistert, oder fast restlos, weil irgendetwas stimmt da nicht. Jedesmal wenn die Akteure anheben in ihrem Oberhausener Englisch einen dieser Songs zu geben, fällt die Inszenierung auseinander (Jürgen Sarkiss ist hier die Ausnahme). Dann steht die Musik neben dem Drama, das passt schon, will aber nicht eins werden – und plötzlich ist dann beides sehr weit weg. Aber gewiss, ich bin zu empfindlich, wenn es um Büchner geht. Wer in der Rheinprovinz unterwegs ist, sollte sich diesen Woyzeck nicht entgehen lassen. REZENSION ZUR AUFFÜHRUNG AM THEATER AACHEN Grenz-Echo, Eupen (Belgien), 21. 9. 2011 Saisonstart mit »Woyzeck« als Musik-Schauspiel im Theater Aachen Satte Klangfarben für Strandgut des Lebens Von Sibylle Offergeld Aachen Eine kühne Bühnenschräge, abstruse Typen, die wie Ratten aus Löchern klettern, eine clownartig geschminkte Figur, der die Haare zu Berge stehen und viel Tragik in Wort und Ton: »Woyzeck« als Klangbild im Theater Aachen. Wie der Muntermacher im Zirkus empfängt Philipp Manuel Rothkopf in der Rolle der im Schmerz suhlenden Kreatur die Theatergemeinde beim Saisonstart. Nebenan, beinahe in Augenhöhe, rüstet die Band »Fanfare Tinnitusz« mit Chef Ludger Singer zum ersten musikalischen Paukenschlag. Und schon geht es packend, stampfend, fetzig los zur atmosphärisch satten Musik des amerikanischen Sängers, Songschreibers, Komponisten und Akteurs Tom Waits. »Misery ist the river of the World« (»Elend ist der Fluss der weiten Welt«) klingt es mitreißend. Ein furioser Auftakt. Kreativität Regisseurin Bernadette Sonnenbichler hat das Opus des kreativen Trios Robert Wilson, Tom Waits und dessen Ehefrau Kathleen Brennan als Schauspiel mit Musik nach Georg Büchners vorexpressionistischem Fragment mit starken Konturen inszeniert. Es geht um den bitteren Bodensatz des Lebens, wo es animalisch wabert, wo Hilflosigkeit zur Aggression wird und der Blick zum Himmel ein suchender bleibt. Figuren wie der Infanterist Woyzeck, seine Geliebte Marie, der Kamerad Andres oder ein Hauptmann treiben entwurzelt umher. Das Leben hat sie zusammengewürfelt. Wie sie in einer Aura der Anti-Ästhetik betont Stärke und Individualität demonstrieren, hat die Regie mit viel Hingabe zum Detail ausgearbeitet. Was manchem zu bemüht schrill erscheinen mag, ist eine Milieuzeichnung mit Stakkato, Fermate, Akzent. Woyzeck (Philipp Manuel Rothopf, starkfarbig in Schauspiel und Gesang) verdient ein Zubrot als medizinisches Versuchsobjekt in den Fängen einer irren Ärztin. Gekonnt zeichnet Elke Borkenstein die Figur der hemmungslosen Frau Doktor in bewusst überdrehter Persiflage. Marie (Nadine Kiesewalter) ist urwüchsig, grazil und anrührend zugleich. Stimmig-markant spielt Karsten Meyer den Hauptmann mit Krücke und Beinschiene, den Angst packt, wenn er an die Ewigkeit denkt. Benedikt Voellmy gibt dem Tambourmajor ein sonor-viriles Profil als Sänger und Akteur. Tonrausch Auch Andres (Thomas Hamm), Margreth (Bettina Scheuritzel) und Karl (Felix Strüven) überzeugen mit Bühnenpräsenz in einer stark gewürzten Collage musikalisch illustrierter Porträts voller Groteske, Sehnsucht und einer Art Poesie des Obskuren. Die Musik entfaltet eine spannungsreiche Variationsbreite zwischen Lyrik, Tonrausch und wildem Tempo. Das Bühnenbild (Jens Burde) ist eindringlich-streng und funktionell zugleich. Die Kostüme von Tanja Kramberger sind allen Charakteren auf den Leib geschneidert. Starken Beifall für das Ensemble gab es am Schluss der rund zweistündigen Aufführung und einen Sonderapplaus für Rothkopfs Gestaltung der vielschichtigen Figur des Woyzeck, der die Geheimsprache des Lebens enträtseln will und der tötet, was er am meisten liebt. ___________________________________________________________________________________ AUS EINER CD-KRITIK zu Waits‘ Woyzeck-Musik auf der CD „Blood Money“: www.intro.de, 24.2.2002 Bourbon im Theatergraben Von Martin Büsser (…) Ähnlich sensibel geht Waits mit der "Woyzeck"-Vorlage um, diesem an sich großartigen Text, der es so gar nicht verdient hat, als Schullektüre vergällt zu werden. Büchners zutiefst kritisches Drama, in dem die deutschen Autoritäten von Militär bis Medizin als bloße Abziehbilder ihrer eigenen Disziplinen keine Spur von Menschlichkeit mehr erkennen lassen (und das schon um 1837 geschrieben!), wird von Waits auf sehr deutsche Weise umgesetzt. Deutsch meint in diesem Fall, dass er sich der Musik der Zwanziger annimmt, dem Swing, dem Kabarett-Schlager und dem Stil von Brecht/Weill. Mit den Stimmen also, die kurz darauf von den Nazis verboten wurden, bearbeitet Waits einen Stoff aus dem 19. Jahrhundert, der selbst schon als Warnung vorm Nationalsozialismus gelesen werden kann. Allen Vorbehalten zum Trotz: Selten ist Theatermusik so musikalisch ausgefallen, also sensibel darum bemüht, den Stoff nicht einfach zu untermalen, sondern für ihn eine eigene Musiksprache zu finden. Dass diese sich natürlich innerhalb der ureigenen Parameter von Tom Waits bewegt, also zwischen Broadway und Blues, Dixieland und Cabaret, versoffenem Schlager und Folk, ist in diesem Fall sogar ein Gewinn. Von anderen aufs Theater abonnierten Musikern, Blixa Bargeld zum Beispiel, hätte ich mir eine so gelungene, weil letztlich doch unprätentiose Umsetzung nicht vorstellen können.