Word File - kunsthaus bregenz

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Resonanzraum für Erinnerung und Emotion. Susan Philipsz und der Film Nuit et brouillard
Linda Schädler
Es gibt Filme, die brennen sich unwiderruflich ins Gedächtnis ein. Hat man ihre Bilder einmal
gesehen, lassen sie sich nicht mehr vom inneren Auge ablösen. Nuit et brouillard gehört dazu.1
Als der französische Regisseur Alain Resnais Mitte der 1950er Jahre von der Produktionsfirma
Argos Film mit dieser Arbeit beauftragt wurde, stand ihm eine schwierige Aufgabe bevor. Der
Krieg lag gerade einmal zehn Jahre zurück, und seine Aufarbeitung hatte eben erst begonnen.
Man war noch im Begriff, das Geschehene geschichtlich zu erfassen. Der Film sollte das System
der Konzentrationslager zum Thema haben – die Architektur, die innere Struktur sowie die
kaltblütige Organisation von der Deportation über die Zwangsarbeit bis zur Ermordung der
Inhaftierten.
Resnais entschied sich für eine damals ungewöhnliche Komposition und Dramaturgie. Er
wählte Bilder von historischen Dokumenten, Schwarz-Weiß-Fotografien und -Filmaufnahmen
aus französischen sowie ausländischen Filmarchiven und ergänzte sie – und das war neu –
nachträglich mit von ihm gefilmten Sequenzen in Farbe, die er in Auschwitz-Birkenau und
Majdanek gedreht hatte.2 Mit dieser Montagetechnik konnte Resnais die Einschreibung von
Geschichte in einer Landschaft hervorheben. Er zeigte auf, dass es keine neutrale Landschaft
gibt, sondern dass sie stets von historischen Ereignissen geprägt sind – selbst wenn diese nicht
mehr sichtbar sind. Die verwendeten Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Krieg zeigen die
damaligen Gräuel schonungslos, wohingegen die Farbfilm-Sequenzen dieselben Orte zur Zeit des
Drehs, Mitte der 1950er Jahre, präsentieren: Es sind architektonische Überreste oder
inzwischen verödete Wiesen und Landstriche. Erst wenn man sich der Übeltaten erinnert, treten
diese wie in einem Nachbild vor unser inneres Auge und überlagern sich mit den
Farbaufnahmen von Resnais. (Abb. 1)
Die Künstlerin Susan Philipsz hat sich in ihrem neuen Werk mit diesem Film beschäftigt,
und obwohl ich von den Bildern gesprochen habe, die sich in unser Gedächtnis eingebrannt
haben, setzt sie nicht auf das Visuelle. Zentral ist bei ihr nicht die Kraft jener Abbilder, vielmehr
1
Ich beziehe mich in meinen Ausführungen auf die französischsprachige Version, die 1955
produziert wurde. Wiederaufgelegt in der Serie The Criterion Collection, Nr. 197, DVD-Video, 31
Min., 2003. Der Titel aller drei deutschsprachigen Fassungen, lautet Nacht und Nebel. (Die erste
von 1956 enthält die berühmte Nachdichtung von Paul Celan, Erstaufführung: 1.7.1956
anlässlich der Filmfestspiele in Berlin).
2
Der Einbezug von Farbaufnahmen sprengte das ursprüngliche Budget bei Weitem. Siehe z. B.
Sylvie Lindeperg, „Nacht und Nebel“. Ein Film in der Geschichte, Berlin 2010 (franz. EA 2007), S.
68–69.
1
konzentriert sie sich in ihrer Installation auf die Wirkung des Klangs. Die Ausstellungsräume des
Kunsthaus Bregenz bleiben leer (abgesehen von den Lautsprechern, die Philipsz von der Decke
hängen lässt, und einigen wenigen Fotografien von Briefumschlägen). Dennoch sind die Räume
nicht im eigentlichen Sinne leer, sie werden mit Sequenzen aus der Filmmusik von Nuit et
brouillard gefüllt.
Philipsz hat einzelne Instrumentalstimmen aus den Musikstücken Hanns Eislers
extrahiert, die er zum großen Teil eigens für Resnais’ Film komponiert hatte. Diese ließ sie im
Vorfeld von Musikern spielen und machte davon Tonaufnahmen. So breitet sich der Klang einer
Bassklarinette, Trompete, Violine oder Klarinette jeweils auf einem Stockwerk des Kunsthauses
aus (Abb. 2). Manchmal ist nur ein einzelnes Instrument zu hören, dann wieder herrscht in
einem Stockwerk mehrere Minuten Stille, oder es vermischen sich die Klänge über die drei
Geschosse des Kunsthauses hinweg miteinander – je nachdem, wo sich der Besucher befindet,
tritt ein anderes Instrument in den Vordergrund. Die schottische Künstlerin hat die Musik
Eislers zeitlich kaum merklich gedehnt – die Musikstücke werden etwas langsamer gespielt als
im Original – und vor allem: sie hat sie kompositorisch und räumlich aufgebrochen. Es gibt
keinen wahren beziehungsweise keinen idealen Standort mehr, von dem aus das Publikum die
Komposition als geschlossene Einheit wahrnehmen kann. Wir als Betrachterinnen und
Betrachter – oder genauer: als Lauschende – blicken nicht mehr aus sicherer Distanz auf ein
Werk (wie etwa bei einem Gemälde), sondern befinden uns immer schon innerhalb des
Kunstwerks, durch das wir uns bewegen. Das ganze Kunsthaus ist Klangkörper; der Raum und
die Musik sind nicht mehr voneinander zu trennen. Wer sich zudem zum Jüdischen Friedhof in
Hohenems begibt, vernimmt dort den einsamen Ton einer Flöte. Es ist ein zartes musikalisches
Band, das die Orte miteinander verbindet (Abb. 3).
Musik als indexikalische Spur
Wie in anderen Werken nimmt Susan Philipsz auch hier bereits existierende Musikstücke zum
Ausgangspunkt und wie in anderen Werken aus jüngerer Zeit beschäftigt sie sich mit
Kompositionen, die in einem bestimmten Bezug zu vergangenen Kriegen oder Konflikten stehen.
Es sind Ereignisse, die inzwischen Geschichte geworden sind und deren Überlieferung sich
vorzugsweise auf Bilder, Schrift oder Sprache stützt. Musik und insbesondere die
Instrumentalmusik werden bei der traditionellen Darstellung von Geschichte nur selten
einbezogen,3 obwohl sie meines Erachtens gerade aufgrund ihrer emotionalen Wirkungskraft
3
Ausnahmen bilden Publikationen, die sich mit nationaler Identitätsstiftung von Musik
beschäftigen, z.B. der Sammelband Klang – Ton – Musik. Theorien und Modelle
(national)kultureller Identitätsstiftung, hg. von Wolf Gerhard Schmidt, Jean-François Candoni
2
eine andere Form der Erinnerung und folglich der Geschichte initiieren könnten. Denn Musik gilt
im Allgemeinen als affektintensive Gattung, die über das Auditive längst vergangene Zeiten
wenn nicht direkt, so doch vermittelt erfahrbar machen kann. Expressive Intonationsmuster wie
auch Tempo, Modulationen und Rhythmus vermögen Emotionen auszulösen, ohne dass
zwingend ein sinnstiftender Gesangstext als Grundlage dienen muss. Auch in Philipsz’
Installation werden die physischen Bewegungen, die der Besucher beim Gang durch das
Kunsthaus vollzieht, durch eine psychische Involviertheit überlagert, die sich aus der Präsenz
und Sinnlichkeit der Klänge ergibt. Die Töne, die über Lautsprecher zu hören sind, geistern
losgelöst von den spielenden Musikern durch die leeren Räume des Kunsthauses. Zugleich sind
die Musiker, einer indexikalischen Spur vergleichbar, mit ihrem Atem oder ihren Streich- und
Zupfbewegungen indirekt präsent, sobald die Instrumente erklingen. Sie sind die abwesenden
Anwesenden. Doch mehr als um sie als Personen geht es um ihr Spiel und um die Emotionen, die
sie über ihr Spiel zum Ausdruck bringen. Philipsz’ Kunstwerke sind – so möchte ich postulieren
– der Opernstimme vergleichbar, die von der Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel als
„kulturgeschichtliche Erinnerungsspur“ definiert worden ist.
Wie in der Beschreibung der Opernstimme Weigels ist aber auch bei Philipsz die Musik
nicht einzig als Ausdruck von Gefühlen und Leidenschaften zu begreifen. Sie ist gleichzeitig „ein
Nachhall von Affekten einer vergangenen Kultur“ im Hier und Jetzt.4 Bei Philipsz sind es oft
Gefühle des Verlusts oder der Trauer, hervorgerufen durch ein bestehendes Musikstück, das sie
neu arrangiert oder genauer: dekonstruiert. Zuweilen werden solche Emotionen direkt im
gesungenen Liedtext angesprochen. Immer klingen sie auch über die spezifische
Verwendungsweise, die Funktion des Musikstücks an – und schließlich über die untrennbar
damit verknüpfte Melodie und Intonation.
Dezidiert mit dem Inhalt eines Vokalstücks beschäftigte sich Philipsz in ihrer SoundInstallation When Day Closes (2010; Abb. 4). Sie bezieht sich auf die spezielle Form der TuonelaSchlaflieder aus Finnland, in denen der Tod des eigenen Kindes als Erlösung dargestellt wird.
Die Künstlerin wählte das Tuonela-Lied Song of My Heart aus Aleksis Kivis Novelle Die sieben
Brüder (1870), das später von Jean Sibelius für einen Chor vertont wurde. Die Mutter, so hört
man im Lied, wünscht sich sehnlich, dass ihr Kind in eine andere, bessere Welt kommt, die sie in
und Stéphane Pesnel, Hamburg 2014, darin insbesondere der Beitrag von Nicola Gees, „Das
Wesen hören. Ideologien des Klanglichen von 1750 bis heute“, S. 97–116.
4
Sigrid Weigel, „Die Stimme als Medium des Nachlebens: Pathosformel, Nachhall, Phantom,
kulturwissenschaftliche Perspektiven“, in: Doris Kolesch und Sybille Krämer (Hg.), Stimme.
Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt am Main 2006, S. 16–29, hier S. 26.
3
Tuonela – finnisch für Hades oder Unterwelt – verkörpert sieht.5 Philipsz, die keine Ausbildung
in Gesang besitzt, singt dieses Lied selbst. Ihre aufgenommene, über Lautsprecher verbreitete
und daher körperlose Stimme klingt intim und persönlich, verletzlich und fragil. Der einsame
Gesang strömte anlässlich der Präsentation in Helsinkis Bahnhofhalle von der gewölbten Decke.6
Das Gefühl von Sehnsucht, Trauer und Verlust wird hier einerseits über den tragischmelancholischen Inhalt, andererseits über die spezifische Intonation und die Herauslösung einer
Frauenstimme transportiert. Die Bahnhofshalle, dieser Ort des Überganges, wird von Philipsz‘
Stimme erfüllt. Ihre Ortlosigkeit unterstreicht die Gefühle, die von der Künstlerin
vergegenwärtigt und von den Besuchern empfunden werden.
Musik – so wird im Allgemeinen postuliert – vermag das Publikum im Vergleich zur
Distanz schaffenden optischen Wahrnehmung unmittelbarer sinnlich und emotional zu
beeindrucken. Zwar wurden diese Eigenschaften mit der Entwicklung der Seriellen Musik und
der Minimal Music in den 1950er und 1960er Jahren kurzzeitig hinterfragt, doch wird ihr
insbesondere seit den 1970er Jahren wieder vermehrt ein räumlich-akustisches Affektpotenzial
zugeschrieben.7 Und so wird das Publikum auch in den Installationen von Philipsz durch die
Musik berührt, die sich mit dem Präsentationsraum verschränkt beziehungsweise ihn auslotet.
Anders als etwa im angesprochenen When Day Closes lässt die Künstlerin in der Bregenzer
Installation – wie auch in ihren anderen Werken, in denen es um vergangene Kriege und
Konflikte geht – über die Akustik historische Ereignisse und Orte anklingen. Gerade aus dieser
konkreten Referenz entsteht ein komplexes Geflecht aus Klang und Raum, Vergangenheit und
Gegenwart. „Klang“, so die Künstlerin, „ist zwar im materiellen Sinne unsichtbar, aber etwas sehr
Intuitives und Gefühlvolles. Klang kann gleichzeitig einen Raum abstecken und die Erinnerung in
Gang setzen.“8
Raum und Erinnerung verschränkte sie bereits in ihrer Installation Study for Strings für
die dOCUMENTA 13, als 2012 am Hauptbahnhof in Kassel – als historischem Ort der Deportation
5
Pirjo Kukkonen, „The Kanteletar as poetic text and discourse in the semiotics of culture“, in:
Snow, Forest, Silence. The Finnish Tradition of Semiotics, hg. von Eero Tarasti, Bloomington 1999,
S. 336–356, hier S. 347–348.
6
In einem zweiten Teil der Arbeit vom Herbst 2009 mit dem Titel After Closedown waren
spätnachts die von Philipsz gesungenen Gutenachtlieder aus zwei Horrorfilmen im finnischen
Fernsehen zu hören (The Wicker Man von 1973 sowie Rosemary’s Baby von 1968).
7
Siehe dazu auch: Hartmut Grimm, „Affekt“, in: Ästhetische Grundbegriffe, Historisches
Wörterbuch in sieben Bänden, Karlheinz Barck u .a. (Hg.), Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 16–
48, hier S. 17–18.
8
Susan Philipsz, in: Leaflet zur Ausstellung im Theseustempel (Kunsthistorisches Museum
Wien), 29. April bis 4. Oktober 2015, Wien 2015.
4
– ein auf einzelne Töne reduziertes Musikstück des Tschechen Pavel Haas zu hören war. Die
Studie für Streichorchester des jüdischen Komponisten, der ab 1941 in Theresienstadt inhaftiert
war, wurde vom deutschen Regime für den Propagandafilm Theresienstadt missbraucht (Abb. 5).
Und die Künstlerin verschränkt Raum und Erinnerung auch in ihrem fortlaufenden Projekt War
Damaged Musical Instruments, das sie seit 2014 verfolgt. Für diese Sound-Installation suchte sie
in Museen historische Blasinstrumente, die zu Kriegszeiten beschädigt worden waren und
seither in Sammlungen konserviert sind – eine Trompete etwa mit deutlich erkennbarem
Einschussloch (Abb. 6). Philipsz präsentiert in ihrer Kunst nicht die Instrumente selbst (obwohl
die Spuren der Zerstörung von großer Aussagekraft sind), sondern beauftragte Musiker, auf
ihnen zu spielen. Allerdings war den Instrumenten zuweilen kaum ein Ton zu entlocken, oftmals
ist vor allem der Atem der Musiker und weniger ein Klang zu vernehmen. Die Töne werden
mehrere Sekunden gehalten, die gespielten Sequenzen wechseln mit ungefähr gleich langen
Pausen ab, was ihnen etwas Zögerliches, Verletzliches und Verlorenes verleiht. Die zugrunde
liegende Melodie lässt sich nicht mehr erkennen, da Philipsz sie bis an der Rand der Abstraktion
auflöst. Es handelt sich um das militärische Signal The Last Post, dessen Funktion sich im Laufe
der Jahrhunderte verändert hat. Ursprünglich gespielt um anzuzeigen, dass die Inspektion der
Wachposten in den Heereslagern vorüber war, entwickelte es sich zu dem Signal, das den auf
dem Schlachtfeld verwundeten oder von der Truppe getrennten Soldaten das Ende eines
Kampfes anzeigte. Schließlich wurde es zum letzten Gruß an die gefallenen Soldaten bei
Beerdigungen und Gedenktagen.9 (Berühmt ist die Tradition in der belgischen Stadt Yper, wo
The Last Post seit 1928 täglich in Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges gespielt
wird.) Im Zuge der veränderten Funktion hat sich das Aufführungstempo ebenfalls zunehmend
verlangsamt.
Philipsz, die sich vor allem für den zweiten Verwendungszweck interessiert, hat das
musikalische Militärritual neu arrangiert und auf einzelne Instrumente reduziert. Es ist also ein
Musikstück, das einmal nicht das Bild des tapferen, potenten Kriegers im Kampf verherrlicht,
sondern im Gegenteil Orientierungshilfe für die Verwundeten und damit für die Schutz- und
Wehrlosen nach einer Schlacht ist. Dieses Anti-Heroische und Verletzliche unterstreicht sie,
indem sie nur zögerliche Töne erklingen lässt und dafür Instrumente verwendet, die nicht mehr
voll funktionstüchtig sind: Die Kraft und damit die viel gepriesene Mannesstärke sind auch auf
dieser Ebene geschwunden; nichts verweist auf einen Sieg. Stattdessen lauscht das Publikum
vereinzelten Klängen, die das ohnehin gefühlsbeladene The Last Post noch deutlicher
emotionalisiert. Ausgelöst wird ein Gefühl des Verlusts, der Trauer und der Nachdenklichkeit.
Nicht nur die Melodie hat hier Geschichte geschrieben, es handelt sich um historische
9
Zur Entwicklung dieses Musikstücks siehe: Alwyn W. Turner, The Last Post. Music,
Remembrance and the Great War, London 2014.
5
Blasinstrumente, die aufgrund ihrer Beschädigungen und aufgrund ihres Fundorts dezidiert
einem geschichtlichen Ereignis verbunden sind, ja, sie verweisen auf Geschichte und sind
gleichzeitig Geschichte (Abb. 7).
Der Ton im Film
In Bezug auf den Dokumentarfilm Nuit et brouillard spreche ich davon, dass sich die Bilder nicht
mehr vom inneren Auge ablösen lassen. Resnais hatte jedoch ganz bewusst den Ton integriert
und ihn zu einem ebenso wichtigen Element seines Werks gemacht wie die Bilder. Da sind
einerseits die Stimme, die aus dem Off zu hören ist, und andererseits die Musik, die zu
vernehmen ist – beides zentrale Aspekte, die sich ebenfalls in unser Gedächtnis einbrennen.
Dabei vollführt der Sprecher eine Performance. Er kommentiert, er klagt an, nimmt vorweg,
blickt zurück – und all dies in wechselndem Tempo und in unterschiedlicher Betonung, sodass
er dem Fluss der Bilder gerecht wird, ohne sich unterzuordnen. Es ist die Stimme des
Schriftstellers Jean Cayrol, der selbst zwei Jahre in den Arbeitslagern Mauthausen-Gusen östlich
von Linz interniert war. Zusammen mit seinem Bruder war er in einer sogenannten „Nacht-undNebel-Aktion“ gefangen genommen und deportiert worden, eine Bezeichnung, die Heinrich
Himmler, der Reichsführer der SS, von Richard Wagners Ring der Nibelungen übernommen
hatte. War es dort Alberich, der sich in Das Rheingold den geraubten Tarnhelm mit den Worten
„Nacht und Nebel – niemand gleich!“ überstülpte und sich unsichtbar machte, so übertrug
Himmler die Bezeichnung auf ein Dekret, das er am 7. Dezember 1941 erließ. Es richtete sich
gegen Personen, die des Widerstands verdächtigt wurden. Nacht-und-Nebel-Verhaftete
verschwanden spurlos in den Lagern des nationalsozialistischen Regimes. Ihre
Familienangehörigen blieben über ihr Schicksal im Ungewissen, und auch den Inhaftierten war
jegliche Kontaktaufnahme verboten.10 Cayrol kam 1945 frei und veröffentlichte im Jahr darauf
verschiedene Gedichte unter dem Titel Poèmes de la nuit et du brouillard, in denen er seine Zeit
in der französischen Résistance wie auch in den Lagern verarbeitete.11 Resnais, der den
biografisch gefärbten Gedichtband kannte, hatte Cayrol zugleich „ in seiner doppelten
Eigenschaft als Schriftsteller und Überlebender der Deportation ausgesucht“.12 Oder präziser:
sich für einen Überlebenden einer Nacht-und-Nebel-Aktion entschieden.
10
Siehe dazu z. B. Nikolaus Hirsch, „Mountain as Prison. The Hinzert Document Centre“, in:
Engadin Art Talks, hg. von Cristina Bechtler, Hans Ulrich Obrist und Beatrix Ruf, Zürich 2013, S.
146–153, hier S. 149.
11
Publiziert in: Jean Cayrol, Œuvre poétique, Paris 1988, S. 161–212.
12
Sylvie Lindeperg, wie Anm. 2, S. 150. Allerdings verschlug es Cayrol beim Schauen der Film-
Arbeitskopie völlig die Sprache. Er verfasste daraufhin ohne weitere Sichtung einen Text, der
6
Dennoch: Cayrols Stimme lässt Susan Philipsz ebenso wenig in ihrem installativen Werk
anklingen wie das Gefilmte. Sie konzentriert sich vielmehr auf die Instrumentalmusik von Hanns
Eisler. Resnais hatte Eisler ebenfalls aufgrund seiner Doppelrolle als geschätzter Komponist und
aufgrund seiner Biografie gewählt. (Der Regisseur war der Ansicht, dass „bei einem Film wie wir
ihn uns vorstellten, der Name eines deutschen Musikers unserem Unternehmen so etwas wie
eine moralische Bürgschaft geben würde .“.13) Der ehemalige Schönberg-Schüler Eisler hatte ein
bewegtes Leben. Er brach zeitweilig mit seinem Lehrer, da er nicht apolitische Musik wie jener,
sondern engagierte Stücke komponieren wollte. Schon 1933 verließ er Deutschland, wurde zu
einem prägenden Protagonisten des Antifaschismus in Frankreich, bis er 1938 nach Mexiko und
später in die USA auswanderte. Eisler ist mit seinem Engagement in der Résistance und seinem
jüdischen Hintergrund also immer auch Teil jener Geschichte, um die es Resnais in seinem
Dokumentarfilm ging. Auch später blieb sein Leben vom Wechselspiel der Politik beeinflusst:
Nach zehn Jahren in den USA wies ihn die McCarthy-Regierung aufgrund seiner
kommunistischen Einstellung wieder aus. Über Wien gelangte Eisler nach Ostberlin, wo er zu
einer geschätzten Persönlichkeit des DDR-Regimes wurde. Selbst während seiner Zeit in
Übersee war er fortwährend von den Behörden Deutschlands, Österreichs und der Vereinigten
Staaten beobachtet und alle Briefe strikt kontrolliert worden. Philipsz, die sich in ihrer SoundInstallation Part File Score (2014) mit Eislers FBI-Überwachung beschäftigt hatte, ist 2015 in
den USA auf einige dieser zensierten Korrespondenzen gestoßen. Sie stellt Fotografien der von
den Behörden gestempelten Umschläge in Bregenz aus – und verweigert mit diesen
abfotografierten Dokumenten ebenso wie mit ihrer Klanginstallation eine traditionell
verstandene Abbildhaftigkeit (Abb. 8). Ihr Werk illustriert nicht ein historisches Ereignis,
sondern verweist über historische Dokumente und Melodien darauf.
Die Musik Eislers ist die einzige kontinuierliche Stimme des Films (Abb. 9). Sie verbindet
die heterogenen Materialien, die Resnais verwendet hat,14 und hält sie zusammen – ohne dass
der Komponist den Film mit seiner Musik im traditionellen Sinne illustrierte. Es war Resnais
wichtig, einen eigenständigen Kommentar zu schaffen, der Nuit et brouillard begleitet15 und ihm
jedoch nicht auf die Bilder abgestimmt war. Erst mithilfe von Chris Marker gelang es, einen
stimmigen Beitrag zu produzieren. Siehe dazu auch: Sylvie Lindeperg, ebd., S. 149.
13
Gespräch zwischen Alain Resnais und Edouard Pfrimmer, in: Sinn und Form, Sonderheft Hanns
Eisler, Berlin (Ost) 1964, S. 371–375, hier S. 372.
14
Sylvie Lindeperg, wie Anm. 2, S. 169.
15
Hanns Eisler, „Statement über die Untersuchungen von Musik und Film“ (1941–1942), in:
Hanns Eisler. Musik und Politik. Schriften (I) 1924–1948, Textkritische Ausgabe von Günter Mayer,
Leipzig 1973, S. 463–469, hier S. 465. Zu seinen Kompositionsprinzipien siehe auch: Theodor W.
Adorno und Hanns Eisler, Komposition für den Film, Frankfurt am Main 2006.
7
eine zusätzliche Dimension verleiht. Mit den herkömmlichen Regeln hatte er gebrochen. Bei ihm
spielte man nicht laut und pompös, je schockierender das Gezeigte war, sondern leise und mit
wenigen Instrumenten. Resnais war begeistert: „... er führte mir vor, wie man die Musik
benutzen kann, um eine Art zweite Empfindung zu erzeugen, etwas Zusätzliches,
Gegensätzliches. So kann man beispielsweise bei den dramatischsten Momenten des Bildes die
Musik bis zum Äußersten vereinfachen, und umgekehrt arbeitet man sie groß aus, von dem
Augenblick an, in dem das Auge nicht mehr gefesselt wird. Dadurch entsteht gewissermaßen
eine Balance, in der sich der Zuschauer während der Filmvorführung zwischen dem Sehen und
Hören befindet. Ich glaube wohl, dass ich die Vorliebe für dieses Balancieren von Eisler habe.“16
(Abb. 10)
Diese Balance bricht Philipsz in ihrem Werk auf, indem sie den visuellen Teil des Films
gänzlich ausblendet und sich auf die Akustik konzentriert. Dabei hat sich die Künstlerin für
einen Dokumentarfilm mit extremer Wirkkraft entschieden. Der Film war vor allem von zwei
Organisationen initiiert worden, die in Frankreich eine Aufarbeitung der Kriegsereignisse
vorantrieben. Einerseits das Comité d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale, das
Dokumentbestände zusammentrug und historische Studien zum Krieg erstellte, andererseits das
Réseau du souvenir, das sich dem Gedenken der ehemaligen Widerstandskämpfer verschrieben
hatte. Resnais’ Dokumentarfilm löste sofort große Sensibilitäten bei den kriegsbeteiligten
Parteien aus und hat inzwischen selbst Geschichte geschrieben. Kurzfristig war er 1956 aus dem
Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes zurückgezogen worden, der Film
wurde in den 1950er und 1970er Jahren mehrfach auf Deutsch synchronisiert (wobei der Inhalt
vom jeweiligen ost-west-deutschen nationalen Kontext beeinflusst war) und mehrere
Archivaufnahmen sind schließlich im Laufe der Jahrzehnte herausgelöst und in anderen
Dokumentarfilmen wiederverwendet worden. Dadurch haben sich Funktion und Aussage
verändert. Aufgrund der Interessen der beiden Auftraggeber (vor allem des Réseau du souvenir)
stand im Film ursprünglich nicht explizit die Judenverfolgung im Zentrum, was später oft zu
Kritik führte. Nichtsdestotrotz wurde der Film im Laufe der Zeit zunehmend als Dokumentation
über den Holocaust und die Judenvernichtung gelesen.17
Echo aus vergangener Zeit
16
Gespräch zwischen Alain Resnais und Edouard Pfrimmer, wie Anm. 13, S. 373.
17
Zur Rezeption siehe ausführlich: Sylvie Lindeperg, wie Anm. 2, S. 181–318, sowie Ewout van
der Knaap, „Nacht und Nebel“. Gedächtnis des Holocaust und internationale Wirkungsgeschichte,
Göttingen 2008, S. 31–32.
8
Das Extrahieren der einzelnen Instrumentalstimmen lässt in Philipsz’ Installation nur ein
Bruchstück von Eislers Orchesterstücken für Streicher, Bläser und Trommeln übrig. Und so
lauscht man im Kunsthaus Bregenz dem warmen Klang einer einzelnen Klarinette oder
Bassklarinette, hört das zarte Zupfen und das zuweilen herzzerreißende Streichen der Geige,
vernimmt die spitzen Einsprengsel der Trompete und auf dem Friedhof Hohenems die
fließenden Töne der Flöte. Bereits Eislers Gesamtkomposition vermittelt ein Gefühl von
Ohnmacht, Trostlosigkeit und Tragik. Wenn Philipsz nun die Instrumente daraus herausbricht,
so betont sie diese Grundstimmung weiter. Jedes der herausdestillierten Instrumente klingt wie
ein zartes Echo aus vergangener Zeit, in dem immer auch Emotionen mitschwingen (Abb. 11).
Eine der Emotionen ist die Trauer.18 Die Künstlerin bezieht sich im Bregenzer Werk – wie
auch in vielen anderen Arbeiten – dezidiert auf historische Ereignisse oder Melodien, die eng mit
Verlust und folglich mit jenem Gefühl verbunden sind. Als der Psychoanalytiker Sigmund Freud
sich 1915 mit dieser Emotion beschäftigte, unterschied er Trauer und Melancholie und
definierte Erstere als Reaktion auf Verlust. Er begreift sie als Aufforderung, alle Libido aus den
Verknüpfungen mit der verlorenen Person oder dem verlorenen Objekt abzuziehen. Obwohl er
zugesteht, dass dieser Prozess einen großen Aufwand an Zeit und Energie erfordert, ist er
überzeugt, dass sich der Affekt nach einer gewissen Zeit abschwächt, dass er vollständig
überwunden und durch jemand oder etwas anderes ersetzt werden kann. Inzwischen ist die
absolute Ersetzbarkeit, dieser „Restlosigkeitsgestus“,19 hinterfragt worden wie auch die klare
Trennung von Trauer und Melancholie. Seine strikte Gegenüberstellung – „[b]ei der Trauer ist
die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst“,20 – wird insofern
kritisiert, als Trauer ebenfalls das Selbst angreift. Zudem ist Freuds Definition der Trauer als
aktiver, vom Trauernden ausgehender Prozess durch die Ansicht abgelöst worden, dass Trauern
immer beides ist: Prozess und Zustand.21
Suchende vor- und zurückweichende Bewegungen sind naheliegender als Freuds
Vorstellung einer klaren Gerichtetheit – auch bei der amerikanischen Philosophin Judith Butler,
18
Diese Ausdrucksform wird am häufigsten mit Philipsz’ Werk in Verbindung gebracht. Siehe z.
B. Peio Aguirre, „When the body speaks“, in: Susan Philipsz, There is Nothing Left Here, Ausst.kat.
Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela 2008, S. 113–135, S. 115, oder:
Manuel Segade, „I Know „It’s over“, in: Susan Philipsz, There is Nothing Left Here, ebd., S. 89–97,
hier S. 89.
19
Christian Schneider, in: Ulrike Jureit und Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen einer
Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010, S. 177.
20
Sigmund Freud, „Trauer und Melancholie“, in: ders., Psychologie des Unbewussten, hg. von
Alexander Mitscherlich u. a., Bd. 3, Frankfurt am Main 2000 [EA 1915], S. 197–212, S. 200.
21
Christian Schneider, wie Anm. 19, S. 182.
9
die das Trauern nicht bloß als Loslösung der emotionalen Bindungen an jemanden oder etwas
Verlorenes versteht. Trauern bedeutet ebenfalls, sich einer Veränderung zu unterziehen, deren
Ergebnis man nicht im Voraus wissen kann, deren Ergebnis man nicht beherrschen kann. Man
ist „außer sich“ und „nicht eins mit sich“,22 und indem sich die Person zu fragen beginnt, wer sie
ohne den anderen ist, steht das „Ich“ stets in einer untrennbaren Bindung zu einem „Wir“. Das
persönliche Schicksal lässt sich nicht vom gesellschaftlichen Abtrennen und kann dadurch auch
eine politische Dimension erhalten: „Viele Menschen glauben, große Trauer wirke
privatisierend, sie führe uns in eine einsame Situation zurück und sei in diesem Sinne
entpolitisierend. Ich denke jedoch, sie gibt uns ein Gefühl für politische Gemeinschaft einer
komplexeren Ordnung. Sie tut das zunächst einmal, indem sie die Beziehungsbande zum
Vorschein bringt.“23 Damit verweist Butler zum einen darauf, dass jeder Körper aufgrund seiner
sozialen Verwundbarkeit politisch verfasst ist24, und zum anderen, dass gerade in Zeiten von
Kriegen und Konflikten nicht jedes Menschenleben betrauert wird, ja dass es sogar einem
dezidiert politischen Akt gleichkommt, wen man betrauert und wessen Tod man verschweigt.25
Die Trauer wird nicht mehr nur vom Leiden des einzelnen Individuums aus betrachtet, sondern
in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang überführt.
Insbesondere diese Verschränkung von einem „Ich“ und einem „Wir“ klingt in Philipsz’
Werk an. Schon in Resnais’ Film hat bei der Entscheidung für den Komponisten Eisler dessen
biografischer Hintergrund mitgespielt. Die Künstlerin betont diese Verschränkung von
Persönlichem und Gesellschaftspolitischem weiter. Sie spielt über die Briefumschläge auf Eislers
Biografie an und verschränkt Fotografien dieser Dokumente explizit mit dem Klang aus dem
Film über die nationalsozialistischen Konzentrationslager, welche unvorstellbare menschliche
Tragödien sowie Verluste von einem nicht gekannten Ausmaß mit sich brachten.
Wenn ich nun von Verlusten spreche, so ist damit auch das Gefühl von Trauer und die
Erinnerung an etwas unwiederbringlich Verschwundenes verbunden. Denn Trauern bedeutet
die Aktivierung von Erinnerung, unserer eigenen Erinnerung: sowohl an Orte wie auch an
Ereignisse und das, was übrig bleibt. Philipsz spielt nun in ihrem Werk auf denjenigen
Dokumentarfilm an, der am Anfang einer langjährigen Diskussion um eine Erinnerungs- und
Trauerkultur steht, wie sie insbesondere in Deutschland geführt wurde: Wie sollte man als
22
Judith Butler, „Gewalt, Trauer, Politik“, in: dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt
am Main 2005 (engl. EA 2004), S. 36–68, hier S. 45.
23
Judith Butler, ebd., S. 39.
24
Judith Butler, ebd., S. 37.
25
Judith Butler, ebd., z.B. S. 47 und 49.
10
Nachfahren der Täter um die Opfer trauern? In welcher Form sollten sie erinnert werden? Diese
Fragen beschäftigen bis heute.26
Geht man nun durchs Kunsthaus Bregenz und folgt den Klängen aus Philipsz’ Installation
wird deutlich, dass es hier um historische Ereignisse geht, die erinnert werden wollen und
müssen. Es wird auch deutlich, dass hier eine andere Form der Erinnerung evoziert wird als in
der Geschichtswissenschaft. Die Künstlerin bezieht sich zwar dezidiert auf einen historischen
Zeitabschnitt von größter Tragik, zeichnet jedoch nicht ein möglichst vollständiges und
vermeintlich neutrales Bild davon. Diese Sicht auf die Geschichte hat sich schon vor geraumer
Zeit als unmöglich herausgestellt. Philipsz verwehrt eine klare Orientierung, obwohl es im
Museum im wörtlichen Sinne weder dunkel noch neblig ist. Bei ihr gibt es keine eindeutige oder
vorgegebene Betrachterposition mehr, die aus sicherer Distanz einen Überblick bietet. Man ist
immer innerhalb der Installation, das heißt im übertragenen Sinne: Man ist als Individuum stets
zugleich Teil der Geschichte – je nach Position treten allerdings gewisse Dinge deutlicher hervor
als andere. Es kommt auf den Betrachtungswinkel an, der sowohl die sinnliche Wahrnehmung,
die dabei empfundenen Emotionen als auch den Akt der Interpretation betrifft.
Anamorphotische Verzerrung
Da Philipsz in ihrem Werk vom historischen Dokumentarfilm Nuit et brouillard ausgeht, ist
dieser Film stets als Subtext in ihrer Sound-Installation vorhanden. Er dient als Folie, auf die sich
ihr Werk bezieht, ohne es zu illustrieren. Indem die Künstlerin die wirkmächtigen Bilder und
den gesprochenen Kommentar ausklammert, führt sie die Aufmerksamkeit der Besucher und
Besucherinnen weg von einer traditionellen Form der Überlieferung, die sich auf Inhalt und
Sinnzuschreibung konzentriert. Sie ermöglicht einen ungewohnten Blick (um hier einen
visuellen Begriff zu benutzen) und eröffnet neue, unkonventionelle Zugänge, die explizit
Emotionen einschließen.
Wie erwähnt reduziert sie die Komposition von Eisler auf einzelne Instrumente und
verteilt die von Musikern im Vorfeld gespielten und aufgezeichneten Töne auf unterschiedliche
Räume des Kunsthaus Bregenz. Daraus ergibt sich nicht bloß eine Fragmentierung des
Instrumentalstücks, sondern präziser: eine anamorphotische Verzerrung der ursprünglichen
Musikstücke und der damit verknüpften Geschichte.27 Die Anamorphose als optische Technik ist
zur Zeit der Renaissance und Hochblüte der Zentralperspektive entstanden. Die wohl
26
Siehe dazu z.B.: Ulrike Jureit und Christian Schneider, wie Anm. 13 Sie hinterfragen die
opferidentifizierte Gedenkkultur, die sich in den letzten Jahrzehnten ausgeformt hat.
27
Zur Anamorphose und ihrer Anwendung auf Gegenwartskunst siehe Linda Schädler, James
Coleman und die Anamorphose. Der „Blick von der Seite“, Diss., München 2013.
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berühmteste Anamorphose ist im Gemälde Die Gesandten (1533; Abb. 13) von Hans Holbein d. J.
dargestellt – einem Werk, mit dem sich Philipsz in der Reihe Soundscapes der National Gallery in
London ebenfalls künstlerisch beschäftigt hat. Jenes Gemälde zeigt die beiden Gesandten vor
einem Regal, das mit astronomischen, mathematischen, aber auch geografischen und
musikalischen Instrumenten bestückt ist. Philipsz interessierte sich in Air on a Broken String
(2015; Abb. 14) für die in Holbeins Werk abgebildete gerissene Saite, die sie als Symbol für die
Anspannung zwischen der Kirche und dem Staat liest. Sie ließ eine Violonistin auf drei statt der
üblicherweise vier Saiten spielen und übertrug den Klang per Lautsprecher in die National
Gallery.
Im Zusammenhang mit der Sound-Installation im Kunsthaus Bregenz interessiert mich an
Holbeins Werk die undefinierbare Schliere im unteren Bildteil. Sie lässt sich einzig aus einem
höchst untypischen Betrachtungswinkel am äußeren rechten Rand des Gemäldes entzerren und
damit entschlüsseln. Erst aus dieser Position erkennt man, dass es sich um einen Schädel
handelt, was bedeutet, dass nur die physische Bewegung des Publikums diese sukzessive
Verwandlung dieser Schliere in einen konkreten Gegenstand bewirken kann. Dies verändert das
Verhältnis von Publikum und Werk grundlegend, da sich dieser Teil des Bildes je nach
Betrachterstandort als Schliere oder als Schädel zeigt. Gleichzeitig führt die besagte Stelle die
Konventionen der Zentralperspektive an ihre Grenzen; die Anamorphose tritt als
ordnungsstörender Faktor auf, denn durch die Störung werden Struktur und geometrisches
Konstruktionsprinzip der Zentralperspektive erst recht sichtbar gemacht. Es geht hier nicht nur
um Inhalt und Motiv, sondern zugleich um die Art und Weise, wie etwas dargestellt und
betrachtet wird. Herkömmlich verankerte Wahrnehmungsmuster und Rezeptionsformen
werden gestört und hinterfragt.
Die Eigenheit der Anamorphose, eine herkömmliche Betrachtungsweise (die
Zentralperspektive) herauszufordern, jedoch stets auf sie bezogen zu bleiben und nicht
unabhängig davon zu operieren, ist im übertragenen Sinne auch auf die Sound-Installationen
von Philipsz anwendbar. Die Künstlerin schafft ihre Werke nicht voraussetzungslos aus dem
Nichts, sondern bezieht sich über akustische Anspielungen auf eine latent vorhandene Folie –
hier auf den Dokumentarfilm Nuit et brouillard –, von der sich ihre künstlerische Umsetzung
abhebt. Die kaum merkliche temporale Dehnung, aber auch die räumliche Verteilung von Eislers
Musikstücken sind Strategien, mit denen sie Darstellungsmodi von historischen Ereignissen
Verschiebungen aussetzt und vom Betrachterstandpunkt abhängig macht. Wie bei der
Anamorphose wird man sich auch bei Philipsz gerade durch die subtilen Veränderungen der
Konstruktionsprinzipien bewusst. Zugleich wird über die Vereinzelung der
Instrumentalstimmen (eine weitere anamorphotische Verschiebung) die affektive Wirkung der
Musik verstärkt. Philipsz’ Sound-Installation ist daher beides zugleich: konzeptuell und sinnlich-
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emotional. Darüber hinaus bleibt ihr Werk stets subtil auf Resnais’ Dokumentarfilm bezogen
und schreibt ihm wie bei einer Anamorphose weitere Bedeutungsebenen ein.
Historischen Ereignissen und Orten nähert sich die Künstlerin in ihren Werken auf
unterschiedliche Weise, ja von jeweils unterschiedlichen Winkeln – eine Herangehensweise, die
man sogar ebenfalls als anamorphotisch bezeichnen könnte. Einmal sind es Instrumente, die
aufgrund ihrer Beschädigung und ihres Fundortes selbst ganz eigentlich Geschichte sind (War
Damaged Musical Instruments), dann wieder schreibt ein Musikstück, das von den Machthabern
zu Propagandazwecken missbraucht wird, Geschichte (Study for Strings) und schließlich ist es
bei Night and Fog ein Dokumentarfilm, der einen wichtigen Anstoß zur Erinnerungs- und
Trauerkultur gegeben hat.
Bei all diesen Werken schafft Philipsz räumlich angelegte Sound-Installationen, die nicht
auf eine einfache Entschlüsselung des Inhalts reduziert werden können. Im Gegenteil: Sie
entziehen sich explizit einer rasch erkannten und eindeutigen Interpretation, da die Künstlerin
den Ausgangspunkt ihrer Arbeit nur mehr verschlüsselt beziehungsweise dekonstruiert und
verfremdet anklingen lässt. Es handelt sich um eine Inszenierung von Verbergen und
Erscheinen, die im übertragenen Sinne auf die Schwerpunktlegung in der Geschichtsschreibung
anspielt. Gerade dieses Ambivalente bewirkt zudem, dass das Publikum während der sinnlichen
Wahrnehmung auf die eigene Interpretationsleistung zurückgeworfen wird, ohne dass eine
rasche und endgültige Deutung möglich würde. Es geraten andere Aspekte in den Blick: Die
Klänge, die in den unterschiedlichen Geschossen im Kunsthaus Bregenz zu hören sind, locken
die Betrachterinnen und Betrachter durch die verschiedenen Räume, ja sie werden von den
Tönen förmlich angezogen. Von jedem Standort (und jedem Zeitpunkt) aus nehmen sie die
Installation anders wahr, sodass die räumlich und akustisch verzerrten Klänge die relative
Betrachterposition direkt veranschaulichen und zugleich zum Thema machen. Gerade weil die
Künstlerin ein musikalisch vermitteltes historisches Ereignis zum Ausgangspunkt nimmt, schafft
sie zudem eine enge Beziehung zwischen Erinnerung und Emotion. Musik und Klang stehen als
Zeitphänomene in einem besonders engen Verhältnis zum Erinnern. Sie lassen sich nicht
außerhalb eines Kontinuums erleben, vielmehr ist Hören quasi identisch mit Sich-Erinnern,28
und Erinnern ist wiederum nicht von Emotion zu trennen,. So ist Phillipsz’ Sound-Installation
Night and Fog ein Resonanzraum für Erinnerung und Emotion, der das Publikum sinnlich
berührt und zugleich interpretativ herausfordert.
28
Gerhard R. Koch, „Alles, was tönt, zeugt von Erinnerung. Die Musik, Zeit-Kunst par excellence,
kommt auch in der Zukunft von der Vergangenheit nicht los“, in: Ausst.kat. Das Gedächtnis der
Kunst, Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart, Ausst.kat. Schirn Kunsthalle
Frankfurt, Frankfurt am Main, Ostfildern 2000, S. 257–263, hier S. 257.
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