Chronologie der deutschen Literatur

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Chronologie der
deutschen Literatur
Althochdeutsche Literatur
8. Jahrhundert
Merseburger Zaubersprüche
um 750
Die Texte
Die beiden magischen Sprüche aus vorchristlicher
germanischer Zeit wurden im 9. Jahrhundert in einen
Kodex des Merseburger Domkapitels, der kirchliche
Texte enthält, eingetragen (Cod. 136, S. 85 und 85r).
Beide sind in stabreimenden Langzeilen in
ostfränkischem Dialekt verfaßt. Der mythologische
Hintergrund ist bei beiden Texten bis heute weitgehend
ungeklärt.
Merseburger Zaubersprüche
Textgrundlage:
Althochdeutsche Literatur
Herausgegeben, übersetzt
und mit Anmerkungen versehen
von Horst Dieter Schlosser
Frankfurt am Main 1970, S. 252-255
_____________________________________________
__________________________
Erster Merseburger Zauberspruch
Eiris sazun Idisi,
sazun hera duoder.
suma hapt heptidun,
suma clubodun
suma heri lezidun,
umbi cuoniouuidi:
insprinc haptbandun,
inuar uigandun! –
.H. [Hagalrune ?]
Zweiter Merseburger Zauberspruch
Phol ende Uuodan
uuorun zi holza.
du uuart demo Balderes uolon
thu biguol en Sinthgunt,
thu biguol en Friia,
Sunna era suister,
Uolla era suister;,
thu biguol en Uuodan,
sose benrenki,
sin uuoz birenkit.
so he uuola conda:
sose bluotrenki,
sose lidirenki,
ben zi bena,
lid zi geliden,
bluot zi bluoda,
sose gelimida sin! –
Merseburger Zaubersprüche
Textgrundlage:
Althochdeutsche Literatur
Herausgegeben, übersetzt
und mit Anmerkungen versehen
von Horst Dieter Schlosser
Frankfurt am Main 1970, S. 252-255
_____________________________________________
__________________________
Erster Merseburger Zauberspruch
Eiris sazun Idisi,
sazun hera duoder.
suma hapt heptidun,
suma clubodun
suma heri lezidun,
umbi cuoniouuidi:
insprinc haptbandun,
inuar uigandun! –
.H. [Hagalrune ?]
Zweiter Merseburger Zauberspruch
Phol ende Uuodan
uuorun zi holza.
du uuart demo Balderes uolon
thu biguol en Sinthgunt,
thu biguol en Friia,
Sunna era suister,
Uolla era suister;,
thu biguol en Uuodan,
sose benrenki,
sin uuoz birenkit.
so he uuola conda:
sose bluotrenki,
sose lidirenki,
ben zi bena,
lid zi geliden,
bluot zi bluoda,
sose gelimida sin! –
Wessobrunner Gebet
um 790
Das Werk
Das Wessobrunner Gebet ist in einer um 814 im
südlichen Bistum Augsburg entstandenen lateinischen
Sammelhandschrift überliefert (Bay. Staatsbibliothek
München, Signatur: Clm 22053, III, Bl.65v/66r). Der
Text besteht aus zwei Teilen: einem stabreimenden
Fragment eines Schöpfungsgedichts und einer
Gebetsformel in Prosa. In den ersten fünf Zeilen des
Gedichts wird die christliche Genesis mit Elementen
germanisch-heidnischer Kosmogonie dargestellt. Die
erste Niederschrift dieses für die Heidenmission
bestimmten Textes könnte - als Adaption einer
angelsächsischen Vorlage - aus Fulda stammen und
etwa 790 entstanden sein.
Das Wessobrunner Gebet
Textgrundlage:
Althochdeutsche Literatur
Herausgegeben, übersetzt
und mit Anmerkungen versehen
von Horst Dieter Schlosser
Frankfurt am Main 1970, S. 28
De poeta.
Dat gafregin ih mit firahim
Dat ero ni uuas
noh paum
firiuuizzo meista,
noh ufhimil,
noh pereg ni uuas,
ni ‹sterro› nohheinig
noh sunna ni scein,
5
noh der maręo seo.
noh mano ni liuhta,
Do dar niuuiht ni uuas
enti do uuas der eino
manno miltisto,
inan
cootlihhe geista.
enteo ni uuenteo,
almahtico cot,
enti dar uuarun auh manake mit
enti cot heilac.
Cot almahtico, du himil enti erda gauuorahtos enti du
mannun so manac coot forgapi: forgip mir in dino
ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon, uuistóm enti
spahida enti craft, tiuflun za uuidarstantanne enti arc za
piuuisanne enti dinan uuilleon za gauurchanne.
9. Jahrhundert
kasseler Gespräche
um 810
Die Texte
In einer Kasseler Handschrift theologischen Inhalts
(Cod. Cassell. theolog. 4° 24, wohl aus Fulda
stammend) sind sachlich geordnet Glossen eingetragen,
die zum Teil mit dem St. Galler Vocabularius
übereinstimmen. Sie beinhalten auch einige kurze
Gesprächssätze und lassen sich auf etwa 810 datieren.
Text:
Althochdeutsches Lesebuch
Herausgegeben von Wilhelm Braune
und Ernst A. Ebbinghaus,
Tübingen 1968, S. 8 f.
_____________________________________________
Gloss. III, 9, 17-19:
Skir min fahs.
Skir minan hals.
Skir minan part.
Gloss. III, 12, 24-66:
Sage mir uueo namun habêt desêr man.
Uuanna pist dû ?
Uuanna quimis ?
Fona uuelîheru lantskeffi sindôs ?
Foor, fôrun, farant.
Quâmut ?
Quâmum.
Uuâr uuârut ?
Uuaz sôhtut ?
Sôhtum daz uns durft uuas.
Uuaz uuârun durfti ?
Manago.
Durft ist uns dîna huldî za hapênne.
Firnimis ?
Ni ih firnimu.
Ih firnimu.
Firnâmut ?
Firnemamês.
Caputî ?
Capaot.
Ih auar capiutu.
Dû capiut anti ih tôm.
Uuanta ni tôis ?
Sô mac uuesan.
Gloss. III, 12, 67-13,11:
Spâher man. sapiens homo.
toler. stultus
Tole sint Uualhâ, spâhe sint Peigira;
luzîc ist spâhi in Uualhum,
mêra hapênt tolaheitî denne spâhi.
Stulti sunt Romani, sapienti sunt Paioari,
modica est sapientia in Romana,
plus habent stultitia quam sapientia.
Gloss. III, 13, 15-19:
Hogazi cogita
pî dih selpan de temet ipsum.
Ih hogazta ego cogitavi
simplun semper
fona mir selpemo de me ipsum.
Petruslied
um 900
Das Werk
Das Petruslied ist neben dem Georgslied das einzig
erhaltene Beispiel althochdeutscher Heiligenpoesie. Die
Strophen bestehen aus zwei binnengereimten
Langzeilen und enden mit einem ebenfalls vierhebigen
Refrain «Kyrie eleyson, Christe eleyson». Der Text
wurde um 900 von einer anonymen Hand in
altbairischer Sprache auf das untere Ende der
Schlußseite einer um 870 in Freising angefertigten
Abschrift des Genesiskommentars von Hrabanus
Maurus geschrieben. Über den Textzeilen stehen
Neumen, die den Verlauf der Melodie skizzieren. Der
Hymnus diente wohl als Prozessions- oder
Wallfahrtlied. Der Vers «daz er uns firtânên giuuerdo
ginâdén» findet sich auch in Otfrids Evangelienbuch
«tház er uns firdánen giwerdo ginádon» (1, 7, 28),
wobei offen ist, wer von wem den Vers übernommen
hat, auch wäre ein Rückgriff beider auf eine ältere
Tradition denkbar.
Petruslied
Textgrundlage:
Deutsche National-Litteratur, 1. Band:
Die älteste deutsche Litteratur bis um das Jahr 1050.
Hrsg.: Paul Piper, Berlin/Stuttgart: W. Spemann 1900
_____________________________________________
_________________________________
Bayerische Staatsbibliohek, Clm 6260, fol. 158v
Omnipotens dominis cunctis sua facta rependit (von
anderer Hand)
Unsar trohtîn hât farsalt
daz er mac ginerian |
kyrie eleyson.
sancte pêtre giuualt,
ze imo dingênten man.
christe eleyson. |
Er hapêt ouh mit vuortun
dar in mach er skerian |
himilriches portûn;
den er uuili nerian.
kirie eleison.
christe eleison. |
Pîttêmês den gotes trût
daz er uns firtânên
kirie eleyson.
allâ samant uparlût,
giuuer|do ginâdén.
christe eleison.
Unser Herr hat überliefert
Gewalt,
dem heiligen Petrus
daß er kann erretten
zu ihm hoffenden Mann.
Herr, erbarme dich!
Christus, erbarme dich!
Er hält auch mit (seinen) Worten
Pforte,
dahinein mag er scharen
Herr, erbarme dich!
den er will erhalten.
Christus, erbarme dich!
Bitten wir den Gottes Trauten
daß er uns Verlorenen
Herr, erbarme dich!
des Himmelreiches
allesamt überlaut,
geruhe gnädig zu sein.
Christus, erbarme dich!
―――――――――――――――
10. Jahrhundert
Notker Labeo
um 950 - 1022
Der Autor
Notker III., Labeo oder Teutonicus genannt, geboren um
950, war Leiter der Klosterschule von St. Gallen. Für
diese Lehrtätigkeit übersetzte und kommentierte er
antike Literatur zu den artes liberales in
althochdeutscher Prosa unter reicher Verwendung
lateinischer und griechischer Fremdwörter. Er
entwickelte auch eine phonetisch konsequente
Rechtschreibung
des
Deutschen
(Notkersches
Anlautgesetz) für seinen volkssprachlichen Unterricht.
Am 29. Juni 1022 ist er in St. Gallen an der Pest
gestorben.
Kommentierende
Psalmenübersetzung
Text:
Die Werke Notkers des Deutschen
(Altdeutsche Textbibliothek 32. 33. 34. 37. 40. 42. 43)
Hrsg.: Edward H. Sehrt/Taylor Starck , Halle 1934ff.
Abbildungen:
St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 21, 70; 21, 242
Psalm 22
Psalm 69
Psalm 138
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_______________
Psalmus David XXII
(Psalm 22)
1
Dominus regit me et nihil mihi deerit.
Truhten selbo rihtet mih, chît aecclesia de christo, unde
nîehtes ne brístet mir.
2
In loco pascuae ibi me collocavit.
In déro stéte dar uuéida ist, hábet er mih kesezzet. Er
habet mir in lege et prophetis (an eo unde an uuizzegon)
kéistlicha fûora gegében.
Super aquam refectionis educavit me.
Er hábet mih kezógen bi démo uuazere dero labo. Daz
ist baptismum (tóufi), mit démo diu sêla gelábot uuírdet.
3
Animam meam convertit.
Hábet mîna sêla fóne úbele ze gûote bechêret.
Deduxit me super semitas iustitiae propter nomen suum.
Léita mih after dîen stîgon des rehtes, umbe sînen
námen, nals umbe mîne frêhte.
4
Nam etsi ambulavero in medio umbrae mortis.
Gange ih óuh hîer in míttemo scáteuue des tôdes, daz
chît inter hereticos er scismaticos (under geloub-írren
unde síto-uángiren), die bilde des tôdes sint.
Non timebo mala quoniam tu mecum es.
Noh danne nefúrhte ih mir des léides, daz sie mih
keargeroên, uuanda du sáment mir bist, uuanda du in
minemo herzen bist.
Virga tua et baculus tuus ipsa me consolata sunt.
Din rûota unde din stáb, daz chît, dîne fíllâ unde dîne
chéstiga, de hábent mih ketrôstet, nals keléidegot,
uuanda ih fóne in gebezerot pin.
5
Parasti in conspectu meo mensam, adversus eos qui
tribulant me.
Nah dien chéstigon ríhtost du mir tíske, daz ih keâzzet
uuurde mit stárcherun fûoro danne diu milih sî uuíder
dîen, die mih pînont. Du brahtost mih fóne inperfectione
(undurnohte) ze perfectione (durnohte), dia chraft kâbe
du mir uuíder in.
Inpinguasti in oleo caput meum.
Sálbotost min muot mit kéistlichero fréuui.
Et poculum tuum inebrians, quam preclarum est.
Vnde uuîo harto mâre din trang ist, daz mennisken
irtrénchet, unde sie tûot ergezen iro êrerun lústsami. Daz
poculum ist gratia (genâda) sancti spiritus.
6
Et misericordia tua subsequetur me omnibus diebus
vitae meae.
Vnde din gnâda fóllegât mir alle tága mînes lîbes. Si
hûotet min unz ih lébo.
Ut inhabitem in domo domini, in longitudine dierum.
Daz ih dára-nah in celesti (dero hímiliscun) ierusalem
bûe, in lengi dero tágo, die in plurali numero (in
mánigzalo) éinen dag êuuigen bezéichenet.
Psalmus David LXIX
(Psalm 69)
1
Vox martyrum ad Christum.
2
Deus in adiutorium meum intende. Domine ad
adiuvandum me festina.
Got sih ze mînero helfo. Île. Uuára zuô? Mir ze
hélfenne. Sús chéde mánnelîh, so chéde er állero mêist
dánne er in nôte si. Dísa díge hábe gemeîna sáment
martyribus. Vuanda oûh ímo persecutionis niêht
nebrístet, úbe er guôt uuíle sîn. Cottidiana (tágelîche)
scandala (uuerra) chéllent animam iusti (des rehten
muôt), nelîde er oûh neheîne tormenta corporis (uuîzze
lîchamin).
3
Confundantur et revereantur qui querunt animam meam.
Scámeg uuérden, unde in uórhtun chômen, diê mîna sêla
suôchent, non ad limitandum (nals ze bíldonne) sed ad
perdendum (sunder ze ferliêssene). Sô uuégoe
mánnoloíh sînen fíenden, sús uuóla uuúnsce ín.
Avertantur retrorsum et erubescant qui cogitant mihi
mala.
Tána uuérden geuuéndet hínter rúkke unde mîden síh,
diê mir úbelo uuéllen. Nâh kángen siê, nals fóre, diê dîa
ecclesiam prauis consiliis (Christis sámenunga mit
úbelen râten) írren uuellen. Also Petrus úbelo uuolta
fóre gân, do ín christus uuanta, sús chédendo. Redi retro
me satanas (iruuínt híndir mih fiánt).
4
Avertantur statim et erubescentes qui dicunt mihi euge
euge.
Tána chêren siê sâr scámege, diê mir zuô chédend
adulando (slech sprachondo): vvola vvola (uuola tuôsto
uuola tuôsto). Daz sint diê, diê in úntriûuuon den mán
lóbont, gratiam (huldi) suôchendo nals ueritatem
(uuarheit). Diê sint diê frêisígosten persecutores
(âhtara).
5
Exultent et iocundentur in te omnes qui querunt te, et
dicant, semper magnificetur dominus, qui diligunt
salutare tuum.
Fréuuen sih, unde geuuúnnesámôt uuérden an dír, diê
dih suôchent, unde sús chéden, diê dînen háltare
mínnont christum. Vuieo? Truhten uuérde iéo
gemíchellichot. In sól man míchellichon, áber sih selben
nesol niêman míchellichon. Vuiêo sól ér chéden fóne
ímo selbemo?
6
Ego vero egenus et pauper sum.
Ih pín dúrftig unde arm. Ziú sól, ube ímo sîna súnda
fergében sint? Vuanda iz chît. Video aliam legem in
membris meis repugnantem legi mentis mee (ih kesiêho
eîn andra êa an mînen lîden uuíderbréchenta mînis
muotis eô). Dánnân ist er siêh, unde arm.
Deus adiuva me.
Gót hílf mir. Daz chíd dû díccho, daz sî dír in muôte
und in munde, des neirdriêzze díh.
Adiutor meus esto domine ne tardaveris.
Chíd oûh dâr míte. Hélfâre mîner uuís dû trúhten, des
netuuéle dû. Daz ist uox martyrum, daz si uox (stimma)
omnium (allero).
Psalmus David CXXXVIII
(Psalm 138)
Secundum Augustinum Christus ad patrem de se ipso
loquitur:
1
Domine probasti me et cognovisti me.
Hêrro mîn dû besûohtost mih in passione únde
bechandôst mih. Daz chît: tâte, daz mih ándere
bechénnent.
2
Tu cognovisti sessionem meam et resurrectionem
meam.
Du bechándôst min nídersízzon in tôde únde mîn ûfstân
nah tôde.
(Aut ex persona sui corporis loquitur:)
Dû bechándôst mîna níderi in paenitentiam. dô ih in
éllende uuas, únde mîna ûfirríhteda do ih chám unde
áblaz keuuán.
3
Intellexisti cogitationes meas de longinquo.
Dû bechándost mîne gedáncha férrenân do ih idolorum
culturam begonda léidezen.
Semitam meam et limitem meum investigasti.
Mina leîdûn stîga, an déro ih kîeng fóne dir, unde daz
ende, daz mortalitas ist, ze déro ih follecham, daz
irspêhotost dû: iz neuuas ferborgen fóre dír.
4
Et omnes vias meas praevidisti.
Unde alle mîne uuéga, in dien ih írrôta, fóreuuíssost dû.
Du hangtost mir sîe ze gânne, ube ih hína nemahti, daz
ih iruuúnde ze dir.
Quoniam non est dolus in lingua mea.
Uuanda nu neíst trúgeheit in minen uuórten.
5
Ecce, domine, tu cognovisti omnia novissima et antiqua.
Du uueîst mîniu iúngesten ding, dô ih tôdig uuard, unde
diu alten ding, do ih sundon gestûont.
Tu finxisti me et posuisti super me manum tuam.
Dû scáffotost mih, do ih sundota, ze arbeîten, in dîen ih
fore neuvas unde legetost mih ána dîna hant, uuanda dô
drúhtost du mih.
6
Mirificata est scientia tua ex me.
Fone mînen sculden ist mir uuúnderlîh unde únsémfte
uuorden din bechénneda.
Invaluit non potero ad illam.
Si ist mir ze stárch, ih nemag iro zûo, aber du maht mih
iro genáhen.
7
Quo ibo a spiritu tuo?
Uuára mag ih fore dînemo geîste des diu uuerlt fol íst?
Also iz chit: Spiritus domini repleuit orbem terrarum.
Et quo a facie tua fugiam?
Unde uuára fliêho ih fóre dír? Uuara mag ih indrínnen
dînero abolgi?
8
Si ascendero in caelum, tu illic es.
Héue ih mih hóho, dâr drúcchest du mih uuídere.
Si in infernum descendero, ades.
Pirgo ih mih, daz ih mînero sundon iéhen neuuíle, dû
geiíhtest mih íro.
9
Si recipiam pennas meas in directum et habitabo in
extrema maris (id est saeculi).
Ube ih mîne féttacha (daz chit: amorem dei et proximi)
ze mir nímo in geríhti unde ih púuuo daz chit: râmen
mit kedingi ze ende dírro uuérlte, so dies iudicii ist,
uuanda dar ist ende dísses uuerltméres, ze déro uuîs
indrinno ih dînero abolgi.
10
Etenim illuc manus tua deducet me et tenebit me
dextera tua.
Dára ze demo ende bringet mih dîn hant unde dîn
zeseuua habet mih, daz ih ín den mére nesturze, êr ih ín
uberfliege.
11
Et dixi: fortasse tenebrae conculcabunt me.
Unde chad ih fórhtendo: ódeuuâno fínisterîna trêttônt
mih . unde írrent mih. Uuaz sint die finstri ane díser lîb?
Et nox illuminatio in deliciis meis.
Unde bedíu ist min naht, daz chit: min lîb lîeht uuorden
an minero lússami, daz ist: Christus. Er chám in disa
naht, daz er sie irlîehti.
12
Quia tenebrae non tenebrantur a te.
Uuanda fón dir, Christe, nefinstrent dir fínstri nube fone
démo, der sîne sunda bírget unde iro neiiehet. Der
zuífaltôt diê finstri.
Et nox tamquam dies illuminabitur.
Unde rehtemo man uuirt diu naht sámo lîehte so der tag,
daz chit: aduersitas netárot imo nieht mêr danne
prosperitas.
Sicut tenebrae eius ita et lumen eius.
Imo gant prospera unde aduersa gelicho.
13
Quia tu possedisti renes meos, domine.
Uuanda dû habest pesézzen, mîne láncha, du nehengest
mir únchíusce gelúste.
Suscepisti me ex utero matris meae.
Dû habest mih kenómen uzer mînero muoter uuombo.
Daz ist díu zâliga Babylonia, dero chint Ierusalem
caelestem neminnont.
14
Confitebor tibi, domine, quoniam terribiliter mirificatus
es.
Ih iîeho dir, tróhten, daz du egebâro uns uuunderlih
uuorden bist.
Mira opera tua, deus, et anima mea cognoscet nimis.
Daz ist one díu, uuanda diniu uuerch uuunderlih sint,
gót, unde siu nu min sêla harto uuóla bechénnet, souuio
ih in fore nieht zuo nemahti.
15
Non est absconditum os meum, s. a te, quod fecisti in
abscondito.
Dir ist únferbórgen min stárchi die du mir tâte tougeno.
Fóne dero chad Paulus: Non solum autem sed et
gloriamur in tribulationibus.
Et substantia mea in inferioribus terrae, id est: in carne.
(Item ex persona capitis:)
Unde ist min sela in dero tiefi des lîchamen, doh iro diu
starchi gegében si.
16
Inperfectum meum uiderunt oculi tui.
Mînen úndúrnohten, Petrum gesáhen diniu oûgen. Er
gehiez, daz er geleîsten nemahta, doh kesáh in gót, also
iz chit: Et respexit dominus Petrum.
Et in libro tuo omnes scribentur.
Unde an dinemo bûoche uuerdent sie alle gescriben,
perfecti unde inperfecti.
Per diem errabunt.
An Christo míssenément sîe, uuanda sie in écchert
hominem uuanent uuésen, unde ferlâzent ín in passione.
Et nemo in eis.
Unde iro neheîn nefollehábet sih ze imo. Noh derdar
chad: Tecum usque ad mortem.
17
Mihi autem valde honorificati sunt amici tui, deus.
Aber dîne friûnt uuórdene nâh mînero passione sint sie
mir fílo êrháfte.
Valde confortati sunt principatus eorum.
Iro apostolatus ist harto gefestenôt.
18
Et numerabo eos et super harenam multiplicabuntur.
Unde zello ih sîe unde ist íro mêr danne méregriêzes. So
mánig uuirdet déro nah mînero passione, dero fore
nehein neuuas.
Exsurrexi et adhuc tecum sum.
Ih pin irstanden nâh tôde, unde noh pin ih, fáter, sament
dir. Noh nebin ih in chunt nube écchert dir.
19
Si occideris, deus, peccatores, viri sanguinum, declinate
a me.
(Constructio: Si occideris, deus, peccatores, accipient in
vanitate civitates suas. Quia dices in cogitatione: «Viri
sanguinum, declinate a me.»
20
quia dices in cogitatione: «accipient in vanitate civitates
suas.»)
Ube du, got, sláhest, daz chit: plendest die súndigen, so
besuîchent sie íro folgeâra in úppigheite, uuanda du
chist stíllo in dero gûoton gedánche: skeident iûh,
mánslekken, fone mir. Got lêret, daz sih kûote skeîden
fone úbelen in iro uuerchen unde sie doh kemínne sîn;
fone diu ist dero irslágenon, ih meîno: dero irblanton
lêra uanitas. Uueliu ist diu lera ane daz sîe íro gelîchen
lêrent, die iro burge sint, házen die réhten? Zíu tûont sîe
daz? Uuanda in íro gûoti ubeli gedúnchet. Uuéle sint
uiri sanguinum ane die, qui oderunt fratres suos?
21
Nonne eos, qui oderant te, domine, odio habui? et super
inimicos tuos tabescebam?
Ziu skeîdent sîe sih fone mir, samoso ih ubel si ?
Nehazeta ih die dih hazent trohten? unde neséreuuêta ih
umbe dine fienda. uuanda mir iro unreht ando uuas fúre
dih?
22
Perfecto odio oderam illos.
In durnohtemo háze házeta ih sîe. Daz chit: ih házeta sîe
rehto, uuanda ih iro úbeli házeta nals sîe selben.
Inimici facti sunt mihi.
Sie sint mir fíent uuanda ih iro unreht házeta.
23
Proba me, deus, et scito cor meum.
Pesuoche du mih, got, ube ih daz kesculdet hábe, daz sie
sih skeîdên fóne mir, unde uuizîst du min hérza, uuanda
sie iz uuízen neuuéllen.
Scrutare me et cognosce semitas meas,
Scródo mih unde bechénne mîne stîga
24
et vide, si via iniquitatis in me est.
unde sih, ube in mir unreht fád si.
Et deduc me in via aeterna.
Unde rihte mih ze démo euuîgen uuége, Christo an
démo nehéin únreht neist.
Mittelhochdeutsche Literatur
11. Jahrhundert
Der Ältere Physiologus
um 1070
Der Autor
Der Physiologus, dieses «Volksbuch des europäischen
Mittelalters» geht auf eine griechisch-christliche
Vorlage zurück, die wohl gegen Ende des zweiten
Jahrhunderts entstanden ist. Um 1070 hat ein
Unbekannter den Physiologus einer lateinischen
Version - der sogenannten Dicta Chrysostomi - ins
Deutsche übersetzt, vielleicht im Kloster Hirsau. Von
diesem «Älteren Physiologus» haben sich zwölf der
ursprünglich wohl 27 Kapitel erhalten.
<De leone>
Hier begin ih einna reda umbe diu tier, uuaz siu gesliho
bezehinen. Leo bezehinet unserin trohtin turih sine
sterihchi, unde bediu uuiret er ofto an heligero gescrifte
genamit. Tannan sagita Iacob, to er namæta sinen sun
Iudam. Er choat «Iudas min sun ist uuelf des leuin». Ter
leo hebit triu dinc ann imo, ti dir unserin trotinin
bezeichenint. Ein ist daz: so ser gat in demo uualde un
er de iagere gestincit, so uertiligot er daz spor mit
sinemo zagele, ze diu, daz sien ni neuinden. So teta
unser trotin, to er an der uuerilte mit menischon uuas, ze
diu, daz ter fient nihet uerstunde, daz er gotes sun uuare.
Tenne so der leo slafet, so uuachent sinu ougen. An diu,
daz siu offen sint, dar anna bezeichenit er abir unserin
trotin, als er selbo quad an demo buhohe cantica
canticorum «Ego dormio et cor meum uigilat». Daz er
rasta an demo menisgemo lihamin un er uuahcheta an
der gotheite. So diu leuin birit, so ist daz leuinchelin tot,
so beuuard su iz unzin an den tritten tag. Tene so chumit
ter fater unde blaset ez ana, so uuirdit ez erchihit. So
uuahta der alemahtigo fater sinen einbornin sun uone
demo tode an deme triten tage.
II
<De pantera>
Ein tier heizzit pantera un ist miteuuare un ist manegero
bilido un ist uile scone un ist demo drachen fient. Tes
sito ist so gelegin, so ez sat ist misselihes, so legit iz sih
in sin hol unde slafæt trie taga. Tene so stat ez uf unde
furebringit ummezlihche lutun unde hebit so suzzen
stanc, daz er uberuuindit alle bimentun. Tene so diu tier
uerro unde naho tie stimma gehorrint, so samenont siu
sih unde uolgen imo turih di suzzi des stanhes. Unde der
dracho uuiret so uordtal, daz er liget, alsor tot si, under
der erdo. Pantera diu bezeichenet unsirin trotin, ter al
manchunne zu zimo geladita turih tie suzi sinero
genadon. Er uuas miteuuare, also Esaias chat «Gaude et
letare, Hierusalem, quia rex tuus uenit tibi
mansuetus&gaquo;. Er uuas, alsor manigero bilido
uuare, turih sinen manicualten uuistuom unde durih tiu
uunder, diu er uuorhta. Er uuas schone den imen io
uurde. After diu, do er gesatot uuard mit temo harme
unde mit temo spotte unde mit uillon der Iudon un er
gecrucigot uuard, to raster in demo grabe trie taga, also
dir tet panttera, un an demo triten tage dorstun er uon
dien toton, vnde uuard daz sar so offenlihin gehorit uber
alle disa uuerilt, unde uberuuand den drachin, den
mihchelin tieuel.
III
<De unicorni>
So heizzit ein andir tier rinocerus, daz ist einhurno, un
ist uile lucil un ist so gezal, daz imo niman geuolgen
nemag, noh ez nemag ze neheinero uuis geuanen
uuerdin. So sezzet min ein magitin dar tes tiris uard ist.
So ez si gesihit, so lofet ez ziro. Ist siu denne uuarhafto
magit, so sprinet ez in iro parm unde spilit mit iro. So
chumit der iagere unde uait ez. Daz bezeichenet unserin
trotin Christin, der dir lucil uuas durih di deumuti der
menischun geburte. Daz eina horin daz bezeichenet
einen got. Also demo einhurnin niman geuolgen nemag,
so nemag ouh nehein man uernemin daz gerune unsiris
trotinis, noh nemahta uone nehenigemo menislichemo
ougin geseuin uuerdin, er er uon der magede libe
mennesgen lihhamin finc, dar er unsih mite losta.
IV
<De hydro>
In demo uuazzere Nilo ist einero slahta natera, diu
heizzit idris un ist fient demo korcodrillo. denne so
beuuillet sih diu idris in horuue unde sprinet imo in den
munt unde sliuffet in in. so bizzet siun innan, unzin er
stirbit, unde uerit siu gesunt uz. Ter corcodrillus
bezeichenet tot unde hella. Tu idris bezechenet unsirin
trohtin, der an sih nam den menischen lihhamin, ze diu,
daz er unsirin tot feruuorfe un er hella rouboti under
sigehaf heim chame.
V
<De sirenis et onocentauris>
In demo mere sint uunderlihu uuihtir, diu heizzent
sirenæ unde onocentauri. Sirenæ sint meremanniu unde
sint uuibe gelih unzin ze demo nabilin, dannan uf
uogele, unde mugin uile scono sinen. So si gesehint
<man> an demo mere uarin, so sinen sio uilo scono,
unzin si des uunnisamin lides so gelustigot uuerdin, daz
si inslafin. So daz mermanni daz gesihit, so uerd ez in
unde brihit si. An diu bezeinet ez den fiant, der des
mannis muot spenit ze din uueriltlihen lusten.
Ter onocentaurus, er ist halb man, halb esil, unde
bezeichinet di dir zuiualtic sint in ir zunon un in iro
herzon, unde daz pilide des rehtis habin un ez doh an ir
uuerchin niht eruullint.
VI
<De hyaena>
Ein tier heizzit igena un ist uuilon uuib, uuilon man,
unde durih daz ist ez uile unreine. solihe uuarin, di der
erist Crist petiton un after diu abgot beginen. Daz
bezeichenet di der neuuedir noh ungeloubige noh rehte
geloubige nesint. Von diu chat Salomon «Di dir
zuiualtic sint in iro herzin, die sint ouh zuiualtic in iro
uuerchin».
VII
<De onagro>
Ein tier heizzit onager, daz ist ein tanesil, der nerbellot
nih, uuar uber daz futer eischoie, unde an demo
zuenzigostimo tage mercin sorbellot er zuelf stunt tages,
zuelf stunt nahtes: dar mag min ana uuizzen, daz denne
naht unde tac ebinlanc sint. Ter onager bezeichenet ten
fient; der tac undiu naht bezeichenet di dir rehto
uuerchon sulin tages unde nahtes.
VIII
<De elephante>
So heizzit ein tier eleuas, daz ist ein helfant, ter hebit
mihela uerstannussida an imo unde nehebit neheina
lihhamhaftiga geruna. Tenne soser chint habin uuile, so
uerit er mit sinemo uuibe ze demo paradyse, dar diu
mandragora uuasset, daz ist chindelina uurz: so izzit der
helfant tie uurz unde sin uuib. Vnde so siu after diu
gehiæn, so phaet siu. Tene so siu berin sol, gat siu in
eina gruba uolla uuazzeres unde birit dar durih den
drachen, der iro uaret. Ter helfant unde sin uuib
bezeichenent Adam unde Euun, ti dir dirnun uuarin, er
si daz obiz azzin, daz in got uerbot, unde fremede
uuaren uon allen unrehlihon gerunon. Unde sar so siu
daz azzin, so uurdin sio uertribin an daz ellende tes
kagænuuartigen libes. Tiu gruba uolliu uuazzeres
bezeichenet, daz er chat «Saluum me fac, deus».
IX
De avtvla
Ein dier heizzet autula, daz ist so harto gezal, daz imo
nihein iagere ginahen nemag, unde hebet uile uuassiu
horen unde uile langiu, unde alle die zôge, die imo
uuiderstant an sinemo loufte, die segot ez abo mit dero
uuassi sinero horne. Den ez aber durstet, so gat hez zi
einmo uuazzere, heizzet Eufrates, unde drinket: da bi
stant ouh lielline gerta, so beginnet ez da mite spilen
unde beuuindet diu horen so uasto, daz ez sih nieht
erlosen nemag. So kumet der uueidæman unde slehet ez.
Daz dier bezeihchenet den man, der dir giuuarnot ist mit
allen dugeden, mit minne, mit driuuon, mit allero
reinnussedo, den dir diuual nieht bidregen nemag, uuane
uber sih selbo gihefte mit uuine unde mit hôre unde mit
allen dien beuuollennussedon, die demo diuuele
lihchent.
X
De serra
In demo mere ist einez, heizzet serra, daz hebet vile
lange dorne an imo. Sosez div schef gesihet, so rihted ez
vf sine uedera unde sinen zagel vnde uuil die segela
antderon. Denez so eine vuile geduot, so vuird ez sa
môde unde globet sih. Daz mere bezeihchenet dise
uuerelt, du schef bizeichenent die heiligen boten, die dir
uberuoren unde vberuundan alliu diu uuideruuartdiu
giuuel dirro uuerelde; diu serra bizeichenet den, der dir
ist unstades muodes, der dir eine uuile schinet annen
rehden uuerchan unde aber an dien nieht neuollestet.
XI
De vipera
Ein sclahda naderon ist, heizzet uipera, fone dero zelet
phisiologus, so siu suanger uuerdan scule, daz er sinen
munt duoge in den iro: so uerslindet siu daz semen unde
uuird so ger, daz siu imo abebizet sine gimaht under sa
tod liget. So danne div iungide giuuahssent in iro
uuanbe, so durehbizzent sie si unde gant so vz. die
naderun sint gagenmazzot dien Iudon, die sih iu
beuuullan mit unsuberen uuerchan vnde durehahton iro
fader Christum unde iro muoter die heiligun
christanheid. Ouh gibudet uns got in einemo euangelio,
daz uuir also fruota sin same die selben naterun. Dria
slahta nateron sint. ein slahta ist, so siu aldet, so suinet
iro daz gisune: so uastad siu uerceg dago unde uierceg
nahto, so loset sih alliu ire hut abo; so suohchet siu
einen locherohten stein unde sliuffet dar dureh unde
streifet die hud abo unde iunget sih so. Ein ander slahta
ist, so siu uuile drinkan, so uzspiget siu zerest daz eiter.
Den uurm sculen uuir biledon: so uuir uuellen drinkan
daz geistliche uuazzer, daz uns giscenket uuirt fone
demo munde unserro euuarton, so sculen uuir uzspiuuen
zaller erist alle die unsuberheit, da mite uuir beuuollen
sin. Diu dritta slahta ist, so diu den man gesihet
nakedan, so fluhet siu in, gesihet siu in aber giuuatoten,
so springet si annen in. Alsamo unser fater Adam, unz
er nakeder uuas in paradyso, do negimahta der diufal
nieht uuider imo.
XII
De lacerta
So heizzet einez lacerta unde ist also zorftel, also diu
sunna, unde fliugat. so daz altet, so gebristet imo des
gesunes an beden ougon, daz ez sa die sunnvn gisehan
nemag. so gat ez an eina heissci zeinero uvende, diu der
ostert bikeret ist, unde kivset ein loh vnde sihet da dureh
gegen dero sunnvn, unzin siniv ougan entlvhtet
uverdant. Also duo du, christanig man: so dir
bedvnkelet uuerde din gesune, so svohche die
hosterlihchun stat vnde den sunnen des rehtes, dinen
schephare, der dir ist ganemmet oriens, daz din herze
intlvide dureh sinen geist vnde daz er dir . . .
12. Jahrhundert
Frau Ava
um 1060 - 1127
Die Autorin
Frau Ava ist die erste namentlich bekannte Dichterin in
deutscher Sprache. Am Schluß des «Jüngsten Gerichts»
nennt sie ihren Namen und berichtet von ihren beiden
Söhnen. Sie ist wohl identisch mit der «inclusa Ava»,
die 1127 in Melk gestorben ist.
Das Jüngste Gericht
Nu sol ich rede rechen vil vorhtlîchen
von dem jungisten tage, alse ich vernomen habe,
5
unde von der êwigen corone, die got gibet ze lône
swelhe wole gestrîten an dem jungisten zîte.
Finfzehen zeichen gescehent, sô die wîsten jehent.
wir nevernâmen nie niht mêre von sô bitterme sêre.
sô bibenet allez daz der ist, sô nâhet uns der heilige
Crist
15
An dem êrsten tage sô hebet sich diu chlage,
sô wirt daz zeichen dâ ze stunt, diu wazer smiegent sich
an den grunt
vierzech clafter iz în gêt, einen tach iz alsô gestêt.
An dem anderen tage, daz sule wir iu sagen,
sô gêt iz aver wider ûz, vil hôhe leinet iz sich wider ûf.
25
sô biginnet iz bellen mit michelen wellen,
daz iz alle die hôrent, die den sin dare chêrent.
uber elliu diu rîche, sô stêt iz vorhtlîchen.
An dem driten tage, alse ich vernomen habe,
sô wider fliuzet ob der erde daz wazer al ze berge.
35
wider gêt im der strâm, daz sihet wîp unde man.
sô trûret allez daz der ist, wande daz urteile nâhen ist.
An dem vierden tage sô hevet sich diu chlage,
sô hevet sich von grunde viske unde allez merwunder.
ob dem mere si vehtent, vil lûte si brahtent.
45
sô wirt des luzel rât swaz flozen unde grât hât.
An dem vinften tage sô wirt ein mêre chlage.
sô hevet sich daz gevugele, daz ê flouch under himele
ûfen daz gevilde, iz sî zam oder wilde.
si wuofent unde weinent mit michelem gescreie.
55
si bîzzent unde chrouwent, ein ander si houwent.
des tages harte zergât, swaz vettech unde chlâ hât.
Sô chumet vil rehte mit sêre tach der sehste.
der himel sich verwandelôt, er wirt tunchel unde rôt.
an dem mânen unde an dem sunnen siht man michel
wunder.
65
der tach wirt alse vorhtlich, in die erde bergent si sich.
An dem sibenten tage sô wirt der luft al enwage.
sô vihtet an daz trum, die winde an daz firmamentum,
diu wazer dar widere diezent under dem himele.
[an dem mânen unde an dem sunnen sihet man michel
wunder.]
75
sô hôret man dicke doner unde blicke.
sô chrimmet sich ze wâre der arme suntâre,
deme sîn gewizzede daz saget, daz er gotes hulde niene
habet.
An dem ahtoden tage sô wirt diu erde elliu enwage.
an der stunde si erweget sich von grunde.
85
sô nemach niwiht des gestan, des ûf der erde sol gân.
sô trûret wîp unde man, si nemach getrôsten nieman.
An dem niunten tage, alse ieh vernomen habe,
brestent die steine, daz gescihet vor dem urteile.
si chlibent sich envieren, sô zergêt iz allez sciere,
95
daz vurhtet wîp unde man unde swer sich iht verstên
chan.
An dem zehenten tage, vil luzel sul wir daz chlagen,
sô zevallent die burge, die durch ruom geworht wurden.
berge unde veste, daz muoz allez zebresten.
sô ist got ze wâre ein rehter ebenâre.
105
An dem einleften tage, des sul wir unsich wol gehaben,
sô zergêt vil sciere, da diu werlt mit ist gezieret:
golt unde silber unde ander manech wunder,
nusken unde bouge, daz gesmîde der frouwen,
goltvaz unde silbervaz, chelche unde chirchscaz.
115
sô muoz daz allez zergân, daz von listen ist getân.
nu wizet, daz iz wâr ist,
valewisk.
iz zergêt unde wirt ein
An dem zwelften tage, sô hilfet uns daz vihe chlagen.
sô diu tier gênt ûz dem walde wider daz vihe ûf dem
velde,
vil lûte si rêrent, sô si zesamene chêrent
125
mit lûteme gescreie ingegen dem urteile.
An dem drîzehenten tage sô nemach sich niemen wol
gehaben.
sô tuont sich diu greber ûf, diu gebaine machent sich
dâr ûz
alle gemeine ingegen dem urteile.
iz ist allen den forhtlîch, die gewizzen sint der sunden
ane sich.
135
An dem vierzehenten tage sô wirt diu biterste chlage.
sô gênt diu liute alle ûz, ir nebestêt neheinez in deme
hûs.
si wuofent unde weinent mit lûteme gescreie.
in dem selben dinge sô zergênt in die sinne.
sô nemach nieman gesagen dienôt, diu ist in den tagen,
145
uber swen got des verhenget, daz sich sîn leben dar
gelenget.
Sô chumet der vinfzehente tach, sô nâhet uns der gotes
slach.
sô sculn alle die ersterben, die der ie geborn wurden,
alle gemeine vor dem urteile.
sô hevent sich vier winde in allen den enden.
155
ein fiur sich enbrennet, daz dise werlt verendet.
daz liuteret iz allez. sô brinnet stein unde holze,
wazzer unde buhele, die der sint under dem himele.
sô chumt der jungiste tach alsô sciere sô ein brâslach.
Sô choment von Christe die vier êvangeliste.
165
daz gebeine si chukent, die tôten si wekent.
sô samenent sich mit êren lîp unde sêle.
daz ist vil wunnechlîch, die guoten sint dem sunnen
gelîch.
die engel vuorent scône daz criuce unde die corône
vor Christe an daz tagedinch, daz werdent sorchlîchiu
dinch.
175
Sô chumet Christ der rîche vil gewaltichlîchen,
der ê tougen in die werlt quam: dâ sihet in wîp unde
man.
im ist sîn scare vil breit, wâ er die versmâcheit leit
von sînen vîanden, dâ wil er iz anden.
Sô chumet got in den luften in sîner magencrefte.
185
sô rihtet er rehte dem hêrren unde dem chnehte,
der frouwen unde der diuwe; sô ist ze spâte diu riuwe,
die wir haben solden, ob wir genesen wolden.
sô werdent die vil harte gêret, die hie von der werlt
chêrent.
die sizent dâ ineben gote in der scare der zwelfpoten.
195
wande si durch gotes minne verchurn werltlîche wunne.
die sint alle geheiligôt, die wirseren sint erteilôt.
Sô wirdet der vil guot rât, die die werlt gezogenlîchen
hânt,
die gotes nie vergâzen, dô si ze wirtscefte sâzen.
doch wil ich iu sagen da bî, wie der leben sol getân sîn.
205
Si sulen got minnen von allen ir sinnen,
von allem ir herzen, in allen ir werchen.
si sulen wârheit phlegen, ir almuosen wol geben,
mit mâzen ir gewant tragen, mit chûske ir ê haben,
bescirmen die weisen, die gevangen lôsen.
215
si sulen den vîanden vergeben,
phlegen,
gerihtes âne miete
den armen tuon gnâde, die ellenden vâhen.
si sulen ze chirchen gerne gên. bîhte unde buoze bestên.
Swer niht vasten nemege, der sol sîn almuosen geben.
nemege er des niht gewinnen, sînen besemen sol er
bringen,
225
dâ mite er sich reine, der ist aller sâligiste, der sîne
sunde weinet.
Swer daz mit triwen begât, des wirt dâ vil guot rât.
ze dem sprichet der gotesun: «var ze miner zeswen!
venite benedicti! mines vater rîche ist iu gerihtet.»
Daz gescihet an dem jungisten zorne da sceidet sich diu
helewe von dem chorne,
235
diu guoten ze der zesewen, daz sint die genesenen,
di ubelen ze der winstern, si werdent al gewindet
an dem vrône tenne, dar denche, swer sô welle!
Sô sprichet got mit grimme ze sînen widerwinnen.
er zeiget in sîne wunden an den vuozen unde an den
henden.
245
vil harte si bluotent,
gebieten.
si nemegen dâ niht widere
von sîneme rehte sprichet er in zuo:
newolt ir niht tuon.
«mînes willen
ir hêtet mîn vergezzen, ir negâbet mir trinchen noch
ezzen,
selede noch gewâte, ubel waren iuwere getâte.
dem tievele dienotet ir mit flîze,
êwigen wîze.»
mit im habet diu
255
Dâ ist der tievel von helle
gesellen,
mit manegeme sînem
sô vâhet er die armen, vil luzel si im erbarment.
mit chetenen unde mit seilen, er bintet si algemeine.
er fuoret si mit grimme zuo anderen sînen gesinden
in den êwigen tôt, âne twâle lîdent si iemer nôt.
265
mit peche unde mit swebele dâ dwinget si furder des
tieveles ubele.
Dâ nehilfet golt noch scaz. ê bedahten wir iz baz!
dâ ist viur unde swebel. wir sturben gerne unde muozen
leben.
durst unde hunger, aller slahte wunder,
frost unde siechtuom gêt uns alle tage zuo.
275
fiurîn gebende dwinget uns die hende,
machet uns die vuoze harte unsuoze.
mit viurvarwen seilen bindet man si beide.
man scenchet uns den wîn, des wir gerne ubere mohten
sîn,
ezzich unde gallen sam si viures wallen.
285
ezzen haizen si uns gebent, daz ist pech unde swebel.
vil grôz wirt unser smerze, die wurme ezzent uns daz
herze.
daz ist uns gewizzenheit, diu tuot uns alsô michel leit.
[Si stechent uns zedem nabele. mit eisnînen gabelen.
ir angesiht tuot uns vil wê guot wær uns mohte wir
zergên.
295
durch smæh geluste stechent sí uns an di bruste.
eínen worm haizzet aspis, des sult ir sin vil gewis.
der ander basiliscus, der gilt unrehtez huos.
diu wír ofte taten, do wir sín stat heten.
aítter daz grune, des git er uns genuge.
305
er spiet ez índen munt. er tuot uns alt sunde chunt.
die wir níht chlagten den bîhtern di wir haten.
daz gesun der ubeln geiste daz ist witze aller meist.
vil michel weínen mít allen nôten ettwene sehent si di
toten.
in abrahames parme daz habent si ze harme.]
315
Sô der tievel danne gevert, vile wol unser dinch vert.
sô scînet uns scône diu edele persône.
sich zaiget got mit minnen allen sînen chinden.
sô sint die arbeite fure, sô singe wir zwire
alleluja, daz frôsanch, wir sagen got gnâde unde danch,
325
wir loben gotes êre mit lîbe unde mit sêle.
Sô vâhet ane, daz ist wâr, Jubileus, daz guote wunnejar.
sô beginne wir minnen di inren sinne,
vernunst unde ratio, diu edele meditatio.
dâ mit erchenne wir Crist, daz er iz allez ist.
335
sô habe wir vil michel wunne, sô sî wir siben stunde
scôner denne der sunne.
zuo der selben scône sô gibet uns got ze lône
eine vil stâtige jugent unde manige hêrlîche tugent.
wir suln starche werden. wolten wir di berge
zebrechen alse daz glas, ze wâre sag ich iu daz,
345
die craft habent dâ diu gotes chint, die hie mit flîzeo
guot sint.
Dâ habe wir daz êwige lieht,
nieht.
neheines siechtuomes
dâ ist diu veste winescaft, diu milteste trûtscaft,
diu chunechlîche êre, die haben wir iemer mêre.
daz unsagelîche lôn in dem himeliscen trôn
355
habent die gotes erben, die dâ nâch wolten werven.
enphliehe wir hie die sunde, wir sîn dâ sneller denne
die winde.
Nu vernemet alle dâ bî: dâ sît ir edele ulule frî,
dâ nedwinget iuch sunde noch leit, dâ ist diu ganze
frîheit.
dâ ergezet uns got sciere aller der sêre,
365
die wir manege stunde liten in ellende.
Dâ ist daz êwige leben, daz ist uns alzoges gegeben,
Crist, unser hêrtuom,
wîstuom.
unser vernunst unde unser
der ist gechêret an in, vil edele ist unser sin.
unser herze unde unseriu ougen
tougen.
sehent die gotes
375
vil zierlîch wirt daz selbe lieht, iz newirt zerganclîch
nieht.
Daz habent allez diu gotes chint, diu hie diemuote sint,
diu ir scephâre lobent unde hie ir vîanden vergebent.
diu versmâhent hie nidene, swie sô sî dâ ze himele
mit gote geren ze habene, dâ ist vil guot ze lebene.
385
dâ wirt ir geloube ain wârheit, ir gedinge mit habenne
ein sicherheit,
ir minne vil innechlîche, si sint den engeln gelîche.
daz habent si âne ende. nu weset vil wol gesunde
in der selben râwe, dar muozet ir chomen. Amen.
Dizze buoch dihtôte zweier chinde muoter.
395
diu sageten ir disen sin. michel mandunge was under in.
der muoter wâren diu chint liep, der eine von der werlt
sciet.
nu bitte ich iuch gemeine, michel unde chleine,
swer dize buoch lese,
wunskende wese.
daz er sîner sêle gnâden
unde dem einen, der noch lebet unde der in den arbeiten
strebet,
405
dem wunsket gnâden und der muoter, daz ist AVA.
Ulrich von Zatzikhoven
um 1200
Der Autor
Das Leben des Ulrich von Zatzikoven bleibt im Dunkel.
Wohl kaum ist er identisch mit einem 1214 urkundlich
erwähnten Leutpriester im schweizerischen Kanton
Thurgau. Sein «Lanzelet», wohl nach 1192 entstanden,
ist in einer Wiener und in einer Heidelberger
Handschrift (Hs. W, 13. Jahrhundert, bzw. Hs. P, um
1420) vollständig überliefert. Außerdem haben sich vier
Fragmente erhalten. Generationen von Germanisten war
der Versroman empörend unmoralisch und ein
verdammenswertes Machwerk. Erst in jüngster Zeit
erfolgt eine Neubewertung. So durch Wolfgang
Spiewok: «Was Ulrich geschaffen hat, ist ein original
deutscher Versroman..., eine der deftigsten Satiren der
Zeit, Satire wider das Ideologem der sogenannten
«Hohen Minne» (oder der «Fin amor» der Franzosen),
Satire wider den darin angelegten hypertrophen
Frauenkult.» Schon um 1230 urteilte Rudolf von Ems in
seinem «Alexander»: «Von Zazichovn her Uolrich/ sol
ouch an witzen bezzern mich,/ der uns daz mære und
die getât/ künstlîche getihtet hât/ wie Lanzelet mit
werdekeit/ mangen hôhen prîs erstreit.» (v. 3199-3204).
Lanzelet
________________________
Vers 1 - 666
Prolog. König Pant, Vater des Lanzelet und tyrannischer
Herrscher in Genewis. Sein Tod bei einem Aufstand der
Untertanen. Flucht der Mutter mit dem kleinen
Lanzelet. Seine Entführung durch eine Wasserfee auf
eine nur von Frauen bewohnte Insel. Die Erziehung des
Lanzelet. Sein Wunsch, die Welt zu erfahren. Rüstung
und Aufbruch. Des «tumben Tors» Begegnung mit dem
Zwerg. Unterweisung in den Ritterkünsten durch den
Burgherrn Johfrit.de Liez.
Vers 667 - 1356
Begegnung mit den Rittern Kuraus und Orphilet.
Gemeinsamer Zug zur Burg des gestrengen
Galagandreiz. Liebesnacht mit dessen brünstiger
Tochter. Lanzelets Kampf mit Galagandreiz und dessen
Tod. Durch die Heirat mit der Tochter Landesfürst.
Vers 1357 - 2249
Heimlicher Aufbruch zu neuen Taten. Gefangennahme
und Kerkerhaft bei dem Burgherrn Linier von Limors.
Sieg über den Riesen, die Löwen und über Linier selbst
bei einer Kampfprobe. Heirat mit Ade, der Nichte
Liniers und wiederum Landesherr.
Vers 2250 - 3474
Erneuter Aufbruch. Zweikampf mit Walwein, dem
Artusritter. Sieg beim Turnier in Djofle. Ablehnung der
Einladung von König Artus.
Vers 3475 - 4673
Ritt zur Burg Schatel-le-mort. Der Zauber des Mabuz,
des Sohns der Wasserfee. Auf dessen Geheiß Tötung
des Iweret, Feind der Wasserfee. Heirat mit dessen
Tochter Iblis.
Vers 4674 - 5678
Die Botin der Wasserfee mit der Nachricht über
Lanzelets Herkunft und seinen Namen. Lanzelet am Hof
seines Onkels Artus. Kampf mit dem König Valerin.
Dessen Unterwerfungsgelöbnis. Das Fest am Artushof.
Lanzelet in der Hand der Königin von Pluris.
Vers 5679 - 6562
Der Zaubermantel der Wasserfee. Lanzelots Befreiung
aus der Hand der Königin von Pluris durch die Ritter
Walwein, Karjet, Erec und Tristant.
Vers 6563 - 7444
Entführung von Artus' Gattin Ginover durch den König
Valerin. Seine uneinnehmbare Burg Verworrener Tann.
Hilfeversprechen des Zauberers Malduc unter der
Bedingung, Erec und Walwein an ihn auszuliefern.
Eroberung von Valerins Burg, sein Tod und die
Befreiung Ginovers.
Vers 7445 - 8468
Eric und Walwein im Kerker auf Malducs Burg vom
Tode bedroht. Befreiung der beiden durch Lanzelet und
seine hundert Ritter. Tod des Malduc. Freudenfest am
Artushof. Die in einen Drachen verzauberte Dame
Elidia. Ihre Kußerlösung durch Lanzelet. Lanzelets
Rückkehr auf den Thron von Genewis. Wiedersehen mit
seiner Mutter.
Vers 8469 - 9444
Rückkehr an den Artushof. Übernahme der Herrschaft
im Land seiner Frau Iblis. Die Krönungsfeierlichkeiten
in Dodone. Lanzelet als umsichtig regierender König in
Dodone. Das Ende von Lanzelet und Iblis nach langer,
glücklicher Zeit. Epilog.
13. Jahrhundert
Gottfried von Straßburg
um 1210
Der Autor
Die Lebensumstände des Gottfried von Straßburg liegen
im Dunkeln. Sein profundes Wissen läßt auf eine
Ausbildung an einer Klosterschule oder Universität
schließen. Über seine spätere berufliche Betätigung wahrscheinlich in Straßburg - gibt es nur Vermutungen.
Vieles spricht dafür, daß «meister Gotfrid» dem
Straßburger Stadtbürgertum und nicht dem Adel oder
der Geistlichkeit angehörte. Die Niederschrift des
Tristan erfolgte wohl zwischen 1205 und 1210. Als
Vorlage diente ihm der Tristan des Thomas
d'Angleterre, der um 1170 entstanden und nur
fragmentarisch überliefert ist. Gottfrieds Werk blieb
unvollendet und bricht mit Vers 19548 ab.
Sprüche
Die folgenden beiden Sprüche, die unter dem Namen
Ulrichs von Lichtenstein überliefert sind, werden heute
Gottfried von Straßburg zugewiesen.
I
Liut unde lant diu möhten mit genâden sîn
wan zwei vil kleiniu wortelîn «mîn» und «dîn»,
diu briuwent michel wunder ûf der erde.
wie gânt si früetend und wüetend über al
5
und trîbent al die werelt umbe als ein bal:
ich waene ir krieges iemer ende werde.
diu vertâne gîte
diu wahset allez umbe sich dâ her sît Êven zîte
und irret elliu herze und elliu rîche.
10
weder hant noch zunge
dien meinent noch enminnent niht wan valsch und
anderunge;
lêr unde volge liegent offenlîche.
II
Gelücke daz gât wunderlîchen an und abe:
man vindet ez vil lîhter danne manz behabe;
ez wenket dâ man ez niht wohl besorget.
swen ez beswaeren wil, dem gît ez ê der zît
5
und nimt ouch ê der zîte wider swaz ez gegît.
ez tumbet den swem ez ze vil geborget.
fröide gît den smerzen:
ê daz wir âne swaere sîn des lîbes und des herzen,
man vindet ê daz glesîne gelücke.
10
daz hât kranke veste:
swenn ez uns under ougen spilt und schînet aller beste,
sô brichet ez vil lîhte in kleiniu stücke.
Süezkint der Jude von Trimperg
um 1280
Der Autor
Von Süezkint dem Juden von Trimperg (wohl Trimberg
bei Bad Kissingen), wie er in der Großen Manessischen
Liederhandschrift genannt wird, sind zwölf Sangsprüche
in sechs Tönen überliefert. Sie dürften in der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sein. Süezkint ist
der einzige bezeugte jüdische Dichter der deutschen
Literatur des Mittelalters. Über sein Leben als fahrender
Sänger ist nichts bekannt.
Die Sangsprüche
_______________________
I
(1)
Swer adellîchen tuot, den wil ich hân für edel,
swie, man sîns adels achtet nicht gen eime zedel:
nu sicht man doch bekomen rôsen von dem dorne
swâ sich gemischet vil untugende zuo dem adel,
5
dâ mag daz adelkleit wol werden zeinem hadel:
nicht guot wirt mel dâ vil getreffs ist under korne.
swâ adel tuot adellîche tât,
der adel liutert immer;
swâ adel arkeit vil begât,
10
er houwet guot gezimmer.
swer nicht sî von hôhem namen
und sich untugende welle schamen,
dar zuo sîn selbes dinc zem besten kan gezamen,
den heize ich edel, swier nicht sî von adel der geborne.
(2)
Kein bezzer latewêrje nie gemachet wart,
dann ich iuch lêre und künde, sinneclîcher art,
gesunt ze lasters wunden und ze schanden süchten.
mit fünf bîmenten rein sol sî gemenget sîn
5
triuw unde zuht, milt unde manheit hœrt dar în;
dâ bî sol mâze et bülvern, smecken mit genüchten.
diu latewêrje ist êre genant,
ein balsme ob allen spîsen.
mit ir wirt schanden nôt entrant,
10
si zimt nicht den unwîsen.
swem si wonet stæte bî,
der ist vor houbetschanden frî.
wol im des lîp der latewêrjen büchse sî:
sîn reinez lop, sîn hôher nam wirt blüejen unde früchten.
(3)
Swenn ich gedenke waz ich was ald waz ich bin
ald waz ich werden muoz, sôst al mîn fröide hin,
und wie die tage mîns lebennes loufen von mir swinde.
und ist daz niht ein jâmer siuftebernder nôt
5
daz ich von tage ze tage fürchten muoz den tôt,
wie er mich bringe in der unreinen würme gesinde?
wie solte ich dâ bî frô gesîn?
sô ich daz als betrachte,
sô hân ich an dem herzen mîn
10
sîn michels grôzer achte,
wie mîn sêl dort kummer dol:
mit sünden was mir ê sô wol.
almechtig herre, dû bist aller gnâden vol:
nu hilf mir daz mîn sêle dort vor dir genâde vinde.
II
Gedenke nieman kan erwern den tôren noch den wîsen;
dar umbe sint gedenke frî ûf aller hande sache.
herz unde sinne dur gemach
dem menschen sint gegeben.
5
gedenke sliefen dur den stein, dur stahel und durch îsen.
gedanc klein achtet wie diu hant diz unde daz gemache.
swie man gedenke nie gesach,
si doch nâch horte streben.
gedanc ist sneller über velt
10
denn der blic eines ougen.
gedanc glust bringt nâch minne gelt,
nâch der gesichte tougen.
gedanc kan wol ob allen arn
hôch in dien lüften sweben.
III
(1)
Küng herre, hôchgelopter got, waz dû vermacht!
du liuchtest mit dem tage und vinsterst mit der nacht,
dâ von diu welt vil fröiden unde ruowe hât.
küng, aller êren dir noch nie gebrast,
5
wie den tag du zierest mit der sunnen glast
und ouch die nacht, der dînes mânen liecht wol stât.
du hêrst den himel mit den stern,
sîn schônheit iemer mag gewern.
du hâst ze geben gâbe vil der nicht zergât.
(2)
Ir mannes krône ist daz vil reine kiusche wîp,
wan iemer in wol êret ir vil werder lîp.
er sælic man dem dâ diu guote sî beschert;
der mag ân zwîvel mit ir sîniu jâr
5
willeclich vertrîben stille und offenbâr.
er sich mit ir ie sünden unde schanden wert.
mit hôher stæte ist sî bedacht,
ir liecht fiur löschet nicht in nacht,
ir hôhez lop mit volge der meisten menge vert.
IV
(1)
Swie vil daz mensche zuo der welte guotes habe
und ez gedenket wie ez scheiden muoz dar abe
ze leste mit dem tôd, sô mag ez trûren sêre.
dâ vor nicht frumt rîchtuom, gebulr von hôher art,
5
wîsheit, gewalt, daz müeze an des tôdes vart.
ez darf dâ für nicht suochen weder rât noch lêre.
kein meister in nigromanzî
wart nie sô wîser ræte
daz er ie wurde des tôdes frî,
10
noch heilig wîs prophête.
dur den grôzen ungewin
ich dicke gar betrüebet bin,
daz nieman weiz nu wâ diu sêle kumet hin,
sô tôt den lîp ermant daz er von leben kêre.
(2)
Vil manger muoz bescheiden wesen dur die nôt
der unbescheiden wære, wan daz im gebôt
sîn meisterschaft daz er unfuoge müeste lâzen.
dâ bî sô næme ouch menger gerne den gesuoch;
5
daz lieze er nicht dur got noch dur der liute fluoch,
wan daz er hât des houbetguotes al ze mâzen.
und daz der esel hæte horn,
die liute er nider stieze;
möcht kokedrille sînem zorn,
10
nieman ez leben lieze;
stüende an wolfen gar diu kür,
vil schâfe man dar an verlür;
diep wolte daz beslozzen wurde niemer tür;
der bœse wolte daz der biderbe wær verwâzen.
(3)
Hât rîcher mel, der arme dâ bî eschen hât;
dar an gedenke ein wîser man, daz ist mîn rât,
und lâze im nicht den armen sîn ze smâch ze fründe:
vil lîchte kumt diu stunde daz er sîn bedarf;
5
dâ von sî rîcher gen dem armen nicht ze scharf.
kuo sunder hagen nicht wol getuon den sumer künde.
swie man den esel hât unwert,
doch was er ie gereite
swâ sô man sînes dienstes gert,
10
daz er in nie verseite.
het nieman zarmuote pflicht,
der rîchtuom wære ein wicht:
wer solt dann dienen, ob der arme wære nicht?
guot was ie bast, daz man den sac dâ mit verbünde.
V
(1)
Wâhebûf und Nichtenvint
tuot mir vil dicke leide:
her Bîgenôt von Darbîân
der ist mir vil gevære.
5
des weinent dicke mîniu kint,
bœs ist ir snabelweide.
si hât si selten sat getân,
Izzûf, diu froidenbære.
in mînem hûs her Dünnehabe
10
mir schaffet ungeræte,
er ist zer welt cin müelich knabe:
ir milten, helfent mir des bœsewichtes abe,
er swechet mich an spîse und ouch an wæte.
(2)
Ich var ûf der tôren vart
mit mîner künste zwâre,
daz mir die herren nicht went geben.
des ich ir hof wil fliehen
5
und wil mir einen langen bart
lân wachsen grîser hâre:
ich wil in alter juden leben
mich hinnân fürwert ziehen.
mîn mantel der sol wesen lanc,
10
tief under einem huote,
dêmüeteclich sol sîn mîn ganc
und selten mê ich singe in hovelîchen sanc,
sîd mich die herren scheiden von ir guote.
VI
Ein wolf vil jæmerlîchen sprach
«wâ sol ich nû belîben,
sîd ich dur mînes lîbes nar
muoz wesen in der âchte.
5
dar zuo sô bin ich her geborn, diu schult diun ist nicht
mîn.
vil manic man hât guot gemach
den man sicht valscheit trîben
und guot gewinnen offenbar
mit sündeclîcher trachte.
10
der tuot vil wirser danne ob ich mir næme ein genselîn.
jon habe ich nicht des goldes rôt
ze gebenn umb mîne spîse.
des muoz ich rouben ûf den lîb durch hungers nôt.
der valsche in sîner wîse
15
ist schedelîcher vil dann ich und wil unschuldig sîn.»
14. Jahrhundert
Heinrich von Mügeln
um 1320 - nach 1371
Der Autor
Über Heinrich von Mügeln ist wenig bekannt. Geboren
ist er wohl um 1320. Er nennt sich selbst: «Ich
Hainreich von Müglein, gesessen pey der Elbe in dem
land zü Meissen». Die Herkunftsbezeichnung Mügeln
kann auf drei Orte dieses Namens bezogen werden. Als
erstaunlich gelehrter «leie» war er vielleicht seit 1346
berufsmäßiger Dichter am Hofe Karls IV. in Prag, dann
bei Ludwig I. von Ungarn, bei Rudolf IV. von
Österreich und schließlich bei Hertneid von Pettau, dem
Landesmarschall der Steiermark. Gestorben ist er nach
1371, das Todesdatum ist nicht bekannt.
Der meide kranz
Der Text folgt der Ausgabe:
Heinrich von Mügeln,
Der meide kranz,
herausgegeben von Willy Jahr,
Borna-Leipzig 1908
___________________________________
In lop der höchsten wirdikeit,
die nie der himmel überschreit
noch nimmer ummesweifen kan,
ich tummer fa zu tichten an.
5.
got erster urhap aller ding:
des himmels sterne, zirkel, ring,
erd, engel, mer, nature stark
floß durch dins milden herzen sark.
der ding ein ummegende sweif,
10.
naturen hant dich nie begreif,
das sie dir, schepfer, gebe stat.
kein sin erspüren mak din pfat,
wie ader wo din wesen ist:
das ist verborgen aller list.
15.
Natura wenet doch, wie du
in osten, here, wonest nu,
sint dem das erste wegn sich nam,
davon geburt den tiren quam.
nicht das du sist nach bunde da:
20.
kein maß der zit dich mißet gra.
naturen bundes bistu fri,
ouch stürt koin dink din edeli.
du bist ouch aller formen an,
wie formen orden uß dir ran:
25.
pin unde müde bistu ler.
zu dir stet aller geiste ger.
drifaldik, doch eins wesens got,
unwegelich gar sunder spot,
vernunst dich nicht begrifet min,
30.
doch muß von not ein keiser sin:
darnach sint fürsten, darnach wart
des ritters und gebures art.
sust bistu, got, ein anefank:
durch dines herzen klamme drank
35.
naturen art in rechter saß.
du linge, zirkel, winkelmaß:
nach dir sich alles wesen mißt;
ouch von dem zentrum fürt din list
die lingen zu dem ummesweif.
40.
wie menschen sin dich nie begreif,
in dingen du doch bist bekant:
dich murer bi der mur ich fant
und doch dich leider nie gesach.
min oug ist sam der ülen swach,
45.
das nicht der sunnen mak gesen
und küset doch irs lichtes bren.
sust, her, in dingen kenn ich dich,
die du, got, schepfest mechtiklich
und gibst in leben unde nar,
50.
die sust ertrenkte todes mar.
ich ruf dich sam das küchel an
des raben, das er hat gelan,
das an dir eine suchet trost:
es ruft dich an und wirt erlost.
55.
sust löse, got, die sinne min
von strenger unvernünste lin,
das ich gesprechen müg ein ticht,
davon der name werd gericht
der tochter und der ammen din,
60.
die dich gebar an alle pin.
die selben maget ruf ich an
zu stür uf mines tichtes ban,
darnach den waren gottes frünt,
künk Karlen, das sin leben künt:
65.
er mochte brechen und enbricht:
des gap im got sin war gericht,
das er in volle geben mak
der tugnde lon und bruches slak.
Hie ist des buches anefank,
geticht uß meisters sinne krank.
Das buch das heißt der meide kranz,
70.
die got gebar an allen schranz
und bleip doch küscher vil dann e:
das für tet nicht dem busche we,
den Moises sach brinnen vor:
got in irs reinen herzen ror
75.
sin wort zu fleische werden liß,
das Luciferes guft verstiß,
eins armen sinnes ist der man,
der stete ticht nach alder ban
und selber findet nüwes nicht:
80.
alsust der meister lere spricht.
uf den spruch ein nüwes ticht
ich schepf uß sinnes wage sicht
in lop dem keiser Karlen ho,
durch schult in allen landen, wo
85.
gelesen wirt min krankes ticht,
sint mich sin gabe hat gericht:
wie das min kunst unwirdik was,
doch mild er nach genaden maß.
sins arn und sines leuwen mut
90.
lacht, wann er adellichen tut.
die der keiser beide fürt
dem wißen leuwen stet gesnürt
der sterz zwefaldik in dem schilt,
der swarze ar in goltgefilt.
95.
der leu bedütet Bemerlant,
der ar zu Rome milde fant,
trüw, ere, recht, genaden tich:
des helt sin hant der werlde rich.
Wip saßen in der sele sal,
100.
der ere nie gefil zutal:
sie waren schon und übergut,
wem eine durch sin herze wut
mit ires süßen blickes gank,
zuhant der waren minne strank
105.
den selben bant in winheit rich.
der werlde lib ist ir unglich.
ich ticht ir noch ensing ir nicht:
uf irem stige nimant richt,
sie krigen um die wirdikeit,
110.
der ere tadel nie versneit,
welch undr in sold die wirde han.
das an den keiser wart gelan,
sint im got und naturen ticht
der erden und des mers gericht
115.
gap, so vil ouch der künste list,
das im damit gegeben ist
die wisheit, das er mak verstan,
welch undr in süll die wirde han.
Hie künt Philosophi ir list,
waruf ir grunt gebuwet ist,
dem werden keiser Karlen rich,
des frides und genaden tich.
Die erst Philosophia hiß,
120.
die ir ein urteil werden liß.
da sie vor den keiser trat,
sie sprach: «naturen urteil hat
min ticht gegebn übr alle tir,
die uß den elementen vir
125.
sint: wie sie müßen liden pin
und mugen ewik nicht gesin;
wie kalt noch hitzik si die sper
des himmels, doch sie hitzet ser
die dink nach ires loufes art.
130.
wie mensch uß sinem wider wart;
wie alles wegen si in zit:
du leser, nach dem sinne schrit
und sprich, uß nichte werde nicht,
als miner künste meister spricht.
135.
wie himmel, engel, erd gesacht
von gotte si und nicht gemacht;
und wie das got hab keine stat,
und wie der engel wegen gat
gein im nach der naturen ler,
140.
und wonet uß der achten sper.
und wie die sel die erste tat
des libes ist (der glider hat)
und hand ist leben in gewalt
und darbet last und der gestalt.
145.
wie ewik si irs lebens louf,
sint sie uß gottes herzen trouf.
wie uß dem himmel si nicht stat,
wie er nicht ledigs in im hat,
und wie die erst materge si
150.
zu nemen alle formen fri,
wiß, in gewalt, und doch in tat
sie bi ir keine forme hat:
sie nem ouch keiner formen nicht,
wer sie uf formen art gericht;
155.
und was si der naturen grunt.
ich mach ouch alle sitten kunt,
uß den sich ware tugent souk:
kunst ane sitten nicht entouk.
sust macht min wares ticht bekant,
160.
das alle kunst sich uß mir want.
des treit ein hus die hende min,
in dem ist angest, not und pin.
des si gefragt der keiser fri,
ab ich der künste mutter si,
165.
und ab ich in der kronen stan
sal nu der maget ane ban,
die gottes kindes junk genas,
das alt vor allen dingen was.»
Hie künt Gramatica ir art,
durch was das sie hie funden wart.
Die ander kunst Gramatica
170.
sprach zu dem waren keiser da:
«ich bin ein mutter früchte rich:
welch kint uß miner brüste tich
trinket, das erkennet wol,
wie es sin latin reden sol.
175.
buchstaben, namen unde wort
und alle teil han ich gelart:
uß den teilen wirt gesmit
der rede lip und ir gelit.
nam ist das erste teil genant:
180.
dink ane nam ist unbekant.
nam ist mins ingesigels rink,
damit gezeichent sint die dink.
wie man die namen brechen sal
nach iren fellen hin zutal:
185.
man sprichet: Petrus kummet her,
Petri des ist der rote sterr,
und Petro sal man geben brot,
Petrum se ich dort in not,
o Petre, flüch von Petro her:
190.
in allen namen halt die mer.
wie nach dem namen vornam get,
wan er oft vor den namen stet:
wo dinges nam unkundik was,
da sprach man der, die unde das.
186.
und wie das wort bedütet tat,
die zuwort ie volendet hat.
und wie das participium
uß zweierlei naturen kumm,
uß namen und uß wortes art:
200.
sulch mere wunder nie gewart,
und wie das die coniunctio
nam unde wörter bindet so:
her Heinrich unde Jutte get,
wo Peter bi her Paulen stet:
205.
bi ist ein prepositio,
ach ist ein interiectio:
die klaget leit und forchte vil,
smerz unde freud und wunders zil.
sust macht min wares ticht bekant,
210.
das ich der rede münze fant:
des ge ich stet in richer lust,
zwei kint ich ner an miner brust.
des si gefragt der keiser stark,
ab ich si aller künste sark,
215.
und ab ich in der kronen stan
nu sal der maget ane ban,
in der herze sam ein lam
der leuwe von dem himmel quam.»
Die kunst hie kündet Loica,
waruf irs tichtes zimmer sta.
Die dritte kunst hiß Loica:
220.
die hilt sich zu dem keiser na.
bleich unde mager ir gestalt,
in scharfen sprüchen was sie balt;
ein tuben truk ir rechte hant,
ein slang sich durch ir linken want.
225.
sie sprach: «in aller rede gar
ich kenne wol falsch unde war.
ich trige, mich betrüget nicht,
vil nüwer fünd ich han geticht,
wie man die urteil bilden sal
230.
gein swacher Sprüche widerswal,
das red uß rede folgen muß
nach wises herzen lingen schuß.
wie namen wort nach willen sin
bedütende: sich wie den win
233.
ein reif bedüt und schellet wit
von win, der in dem faße lit,
universale heißt min list,
dink in der sel, des predgen ist
von dingen vil, die schelend sin
240.
in zal, gestalt: nim zeichen min:
wann ich dich frag: was ist der stir?
mensch, ochse, fisch, du sprichst: ein tir:
tir als ein künn: der name sal
gemeinlich predgen von in al
245.
nach eigen und nach underscheit
die ler dich in sin künde leit:
der esel ist unredelich,
(sin wider helt her Friderich)
gar lecherlich sin har gekrült;
250.
der ochse eigentlichen brült.
wiß heiß ich zufal unde swarz,
daruß der narre tribet scharz.
der fünfer wesen und ir kunst
worcht in die sele die vernunst.
255.
sie sint dink uß der sele nicht,
als wan der alden meister spricht,
min stik uf aller künste ban
leitet: ich disputiren kan
von aller hande künst beginst.
280.
ab du das, keiser, recht besinst,
so mag ich wol die wirde han,
ab mirs din überwirde gan.
ich bin ein kunst der redlichkeit,
die kindes unvernunst versneit:
265.
des mag ich in der kronen stan
der meit, der kint wol reden kan
und überdisputiret hat
die meister uß der helle stat.»
Sich wie das isen jungen tut
des hammers und der flammen glut:
sust junget wort Rethorica,
vor grop gekleit in wete bla.
Die virde kunst Rethorica
270.
gink vor den werden keiser da.
bla sam lasure was ir wat,
darin gar meisterlich gesat
vil manche blum von golde rich:
nie ich gesach des kleides glich;
275.
nimant es ouch vergelden kan,
sint es vernunst der sele span.
sie sprach: «uf tichten mir ist kunt
in aller sprach matergen funt:
wie man sie lengen, kürzen pflit,
280.
wie man sie enget unde wit
nach wises herzen lingen art,
das tichtes bu ste ane schart,
und wie man eigentlichen sal
die farben in des tichtes gral
285.
strichen mit sines pinsels ort,
das tichtes bild icht ste vermort:
nim zeichen diser kranken schrift:
des zornes flamm weckt mordes gift.
wo zornes swert des keisers reist,
290.
da ist der finde guft verweist,
in leides norden ouch zuhant
ir freuden summer wird gewant.
ab schult erwecket sinen zorn,
uß sent er siner rache dorn,
295.
damit er bruches sturm verhert
und rechtes zinn sin fride wert,
wo aber schult genaden gert,
zu wachse wirt sins zornes swert:
das vor sneit grimmer dann ein für,
300.
das gibet schult genaden stür. wer tichten kan, der merket jo,
wie das hie leuft transsumptio.
der farben sechs und drißik sin
der wörter nach der lere min,
305.
die sinne vir und zweinzik han:
manch tichter ir nicht zwelfe kan:
damit er felschet mine kunst:
sin tichten wirdik ist der brunst.
er smit uß falscher münzen art,
310.
dem nie min lere kundik wart
des tichtes zimmer ist min werk.
o keiser, cristentumes berk,
in minen glesten wirstu stan,
wann dich der werlde rich verlan.
315.
ich bin ein stern der richen kron
der meit, die vor sach in dem tron
Johannes sten in richer lust,
da er slif uf des heren brust.»
Hie kündet Arismetica,
wie das ir kunst uf zelen ga.
Die fünfte Arismetica
320.
die sprach zu keiser Karlen da:
«ein iglich kunst die treit min kleit,
als ichs ir nach genaden sneit:
buchstaben hat Gramatica
in zal, ir sprüche Loica,
325.
der rethor farben hat in zal,
der musicus fa unde sol,
Geometria hat ir punt
in zal: so hat der ziffer funt
Astrologiam wol gericht,
330.
als mir vernunst der künste bicht.
des himmels stern und meres griß
und alls das rechenunge hiß,
das floß durch mines herzen rink:
nach mir nature buwet dink.
335.
ein dink vor allen dingen was,
daruß sich alles zelen maß.
eins ist kein zal, wißt ane wank,
doch ist es zal ein anefank.
vil mancher hande ist die zal,
340.
als es min kunst bewisen sal:
wo zweier gank uß einem reist,
die zal der ordenunge heißt;
uß drien vir und fürbaß me,
die zal helt sulches ordens e.
345.
wie man die zal denarius
stetlich mit zehen zelen muß,
und wie das zuwort habe zal,
als zeimal zwir man sprechen sal;
senarium nach minem sin
350.
mit sechsen sal man zelen hin.
wie drilich virlich bürdik ist,
wie das man meren sal mit list.
ich teil, ich zu und abe tu.
o warer keiser, merke nu:
355.
welch fürste, koufman min enpirt,
des nutz in schaden ist verirt:
ab im unkundik ist min ban,
sin kouf, verkouf muß schaden han.
han ich davon icht wirdikeit?
360.
das weiß vernunst des keisers breit.
ich zalt uß gottes herzen gar
der engel und der geiste schar.
des mag ich in der kronen stan,
sint ich nach zal gegeben han
365.
hie gottes kinde sin gelit,
das in das herze wart gesmit
der meit, von eines wortes kraft
mit geistes füchtikeit durchsaft.»
Geometria kündet hie,
wie das sie pflak der maße ie,
und leret das den keiser gut:
darnach er frides maße tut.
Die sechste kunst, ich tu bekant,
370.
Geometria was genant.
die truk ein rut von golde rot,
damit sie sich zu meßen bot.
die selbe zu dem keiser sprach:
«ich mak wol sin der künste dach,
375.
sint das min zirkel in sich sloß
alles das uß naturen floß,
des himmels sterne, speren, kreiß,
wie hoch sie sint, min zirkel weiß;
wie tif, wie hoch, wie wit, wie lank,
380.
in formen sie min zirkel twank.
das mer und erd nach maßes trift
uß minem zirkel wart gerift.
für, flamm ich meß und ouch die luft,
dem fegefür und hellegruft
385.
den meß ich irer tüfe zil.
darinne wonen tire vil,
die keiner maß sint undertan,
wan sie nicht der matergen han:
ich meße nicht wan das da hat
390.
matergen same hie gesat.
welch dink der maß ergibet sich,
das mak man teilen ewiklich:
ein iglich lip, seit dir min list,
zu meßen und zu teilen ist.
395.
ich meße ouch der sunnen rat,
wie wit das uf den wolken gat
der regenbogen unde blibt,
wo im ein zil min linge schribt.
kurz unde lank nach minem sin
400.
die lingen von dem zentrum hin
ich leite zu dem ummesweif
uf aller speren zirkelreif
von punt zu punt in rechter saß
die ling uf alle winkelmaß.
405.
nie lip an mine linge wart:
da got sin kint in menschen art
sant, ich maß im sin gelit
nach rechter lingen art gesitt.
darum es müst ein wunder sin,
410.
wer nicht der künste wirde min:
Handschrift der Universitätsbibliothek Heidelberg
(Cod. Pal. Germ. 14, Bl. 14v)
sint das min zirkel, lingen ban
den schepfer der naturen kan
meßen sam ein ander dink,
des bin ich aller künste rink
415.
und mak ouch in der kronen stan
der meide gottes ane ban,
sint ich den sichtiklichen maß,
der vor uß allem zirkel was.»
Uns leret Musica hie schon,
wie sich gebirt ein iglich don.
Die sibnde, Musica genant,
420.
die truk ein harf in irer hant.
sie sprach: «min kunst ist richer lust:
ich tote freud uß menschen brust
ruf unde weck uß sorgen tif,
die vor in leides banden slif.
425.
freud unde lust wer gar verbut,
hett ich nicht funden gamma ut,
re unde fa und ouch das mi,
sol unde la. - gesenge dri
ich tu gar meisterlich bekannt,
430.
wie man sie singet in der hant.
der erste naturalis heißt,
nach dem beduralis reist,
bemollis stet der dritte ist:
der hat uf döne fremde list.
435.
und wie man eigentlichen kan
die dön erkennen sunder wan,
das ist den kindern min bekant
wie sie min wares künnen fant:
die noten die da loufend sin
440.
in die oktaven uß der prim,
der wise, wiße sunder wan,
die ist genant diapason.
die wise diapente sal
han uß der quinten iren fal:
445.
so sal sich uß der quarten lan
die wise diatesseron.
kunt sint die semitonia,
doch kennt ir nicht der esel gra. die pfaffen die sint mine knecht,
450.
und wolden sies besinnen recht,
so wer ir lesen gar ein wicht,
hort man mich in dem kore nicht.
wo das ich swig, da ist der ban:
des sint in fürsten undertan. 455.
falseten, linde, grop und scharf,
min pinsei alle dön entwarf. des si gefragt der keiser gut,
sint ich uß leide ritters mut
ruf, das er folget freuden ban,
460.
ab ich die wirde sülle han.
min sank was ewik von der meit,
durch die dem menschen leben teit:
min don der sluk und brach die luft,
biß das ich in des herzen gruft
465.
lokte got, als es im zam,
und menscheit von der meide nam.
des mag ich in der kronen stan,
sint ich die wird ersungen han.»
Die Astronomie mit einem Sextanten
(Handschrift der Universitätsbibliothek Heidelberg,
Cod. Pal. Germ. 14, Bl. 14v)
Astronomi, der künste kern,
lert himmels lauf und ouch der stern.
Darnach Astronomia quam,
470.
in richem kleid als es ir zam:
das was mit sternen gar durchsat,
als es gots finger hat genat.
sie sprach: «was tat zukünftik ist,
das offent miner künste list:
475.
Christi geburt nach menschen art
kundik den küngen von mir wart;
wann hunger, sterben kummen sal,
von strite mensche wann zutal
gemeinlich fallen muß durch not,
480.
das ich der werld ie vor enpot:
es offent des cometen list
oft (wie der nicht ein sterne ist).
wie das zwefaldik si der louf
des himmels, der uß gotte trouf:
485.
der erste louf von orient
des himmels hin gein occident:
nie kein wegen, als ich las,
vor tegelichem wegen was.
eins andern loufs die sterne pflegn.
490.
die sich gein oriente wegn:
die achte spere sunder spar
leuft sechs und drißik tusent jar,
Saturnus drißk, zwelf Jupiter,
Mars zwei, gelöube mir der mer,
495.
ein jar die sunne loufen muß,
acht stunden minner hat Venus,
Mercurius dri virtel jar,
der man vir wochen sunder spar,
wie man den polum articum
500.
findet und ouch antarticum.
ouch ler ich miner künste kint,
wie das der zeichen zwelfe sint.
und wie die sunn darinne get.
Aquarius der erste stet,
505.
Ster, Fische, Ochse, Gemini,
nach dem krouch der Krebeß ie.
der Leuwe, Meit und Scorpio,
die Wage mit dem Schützen so,
der Steinbok muß das letzte sin:
510.
das ist Saturni hüselin.
sust weiß ich louf und sternen art.
von mir got menschen kundik wart.
welch arzt hie miner künst enpirt,
mit dem die sichen sint verirt.
515.
des mag ich in der kronen stan
der meit, die dri personen span
uß einem worte sunder pin:
nicht brach ir glas der sunnen schin.»
Uns kündet Phisica nu, wie
der kranke sich mak stüren hie.
Die nünd was Phisica genant:
520.
das leben truk ir rechte hant,
die linke hant die truk den tot
den tiren von naturen not.
sie sprach: «das leben ist ein wegn:
die wil ich se das tir sich regn,
525.
so merk ich, das des lebens geist
mit kraft in tires herzen reist,
ich merk ouch wie ein iglich tir
sich sacht uß elementen vir,
uß erd, uß luft, uß wag, uß für:
530.
darnach ich geb dem tire stür,
ab dürre, fücht adr überkalt
adr hitze hab das tir ersnalt,
das sich sin leben neigen wil,
min kunst es uf sin erstes zil
535.
leitet, so das es sich enthelt.
wo aber eins zu wit sich spelt
uß der naturen wage snall,
das tir muß fallen hin zutal:
naturen urteil das gebot;
540.
des lebens roup heißet der tot.
got selber miner künste stap
den tiren hie zu stüre gap,
das die behalden sal min kunst,
die sust verdempfte todes dunst.
545.
du kranker, in min schule kum:
ich ler dich, wie reubarbarum
mak fegen alle colera,
und ist dem ersten stapfen na
in wurzen, die da hitzik sin:
550.
der krank sie nutzet ane pin.
die salbei helt die ander stuf:
welch arzt es weiß, der ist kein luf.
uf der dritten stufen ouch
wil stete wonen knobelouch:
555.
er derret unde hitzet dich
und ist dir selden frumelich.
der pfeffer und der safferan,
die wollen uf der virden stan:
wer überswenke nutzet die,
560.
der mak nicht lange bliben hie.
naturen urteil hat geteilt:
von wider wider wirt geheilt.
ich bin naturen hüterin:
brunn adels, keiser, das besin,
565.
das man vor mine schule quam
und salben gottes kinde nam.
des mag ich wird und ere han
und ewik in der kronen stan.»
Hie Alchimia kündet das,
wie in naturen grunde was
mensch, esel, pfert und ochse glich:
des wirt uß kupfer gimme rich.
Die zende Alchimia hiß,
570.
die ir ein urteil werden liß.
sie sprach: «ich bin der künste kunst,
wie das mich flüt der toren gunst:
ein iglich kunst ist in ir war,
ab sie der tore nicht erfar:
575.
es ist kein dink, des sache nicht
recht elich orden hab geticht:
die kunst die ist unschuldik dran,
ab Heinrich nicht wol tichten kan.
in der naturen grunde nicht
580.
schelt kupfer, golt, nature spricht:
ein iglich erz geboren wart
uß swebels und queksilbers art:
des himmels blik und ouch die stat
zin unde golt gescheiden hat
585.
das laß dir nicht ein wunder sin:
kint, wer der sam des vaters din
gegoßen in ein ander stat,
ein ander form du hettst gehat:
die stat gebürt ein anefank
590.
ist sam der vater ane wank.
die farben ler ich dich von erst,
darnach zu den höchsten kerst.
uß swebel und queksilber wirt
zinober: daran nimant irt,
595.
ab ers kan malen in den topf;
lasure flicht den selben zopf
mit salze armoniaco:
die farben ler ich alle so.
du merkest warheit miner kunst,
600.
dempft dich nicht unvernünste dunst.
das silber wandel ich in golt
uß miner richen künste solt:
alun ich nem und minium,
mit salze armoniacum,
605.
tutiam und den grünspan,
sal nitri muß ich darzu han.
ich sag: das ist der ware wek,
ab du kanst finden minen stek:
(der esel bi dem brunn erdürst,
610.
des sin vernunst nicht hat gefürst).
sust silber, gold ich machen kan,
den alle kunst ist undertan;
der werlde zir und ir gelit
sich uß mir wirket unde smit.
615.
des mag ich in der kronen stan,
sint ich das golt gemachet han
der maget, in der herzen touf
gots kint von einem worte trouf.»
Kunst gottes, Metaphisica,
künt, wie der engel wegen ga.
Die eilft hiß Metaphisica
620.
die was vor der naturen gra.
uß der selben rechten hant
sich schonde der naturen want.
die selbe sprach: «und wer ich nicht,
so wer nie kunst noch dink geticht:
625.
min kunst hat alle dink gesacht,
die andern künste sint gemacht
von dingen und uß dingen gen,
und möchten ane dink gesten
mit nichte, wiße sunder wan,
630.
davon sie mir sint undertan.
ich, gottes kunst, wer min enpirt,
von dem ist selikeit gefirt.
ich saß in gottes herzen rink,
e ie geschepfet wurde dink.
635.
ich lere nicht wan einen got:
wer gotte setzt, das ist ein spot.
nim zeichen warer lere min:
es muß von not ein keiser sin,
darnach sint fürsten, darnach wart
640.
des ritters und gebures art.
sust ist ein got unwegelich:
der speren geiste wegen sich
gein im nach miner künste guß.
under mir der naturen fluß
645.
ist, über mir der ware got,
unwegelich gar sunder spot.
got sam ein ende weget fri,
kein dink nicht stürt sin edeli:
zu im stet aller geiste ger,
650.
pin unde müde sint sie ler;
ir ußsatz der ist nicht getan
uß formen und matergen ban:
uß gottes herzen ist ir satz.
des himmelriches freuden schatz,
655.
welch geist den nicht beschouwet dort,
des klag wirt endelos gehort.
ouch ist das von der lere min,
wie das der engel achte sin,
die alle speren wegn in tat.
660.
recht sam ein end wegt gottes rat,
von dem man eigentlichen spricht:
got ist und anders worte nicht.
Nimant kunst mak geleren min,
er müße dann durchlüchtet sin
665.
von gottes geiste sunder wan.
des mag ich in den kronen stan
der maget und der mutter klar,
der genzlich dint der engel schar.»
Gelouben sunder zwifels art
hie lert Theologia zart.
Darnach Theologia quam.
670.
mit siben hornen stunt ein lam
an irer brust, sie sprach: «min list
künt, wie das got drifaldik ist,
eins wesens und personen dri.
mer, himmel, engel, erde fri
675.
der selb in sines wortes ruf,
die creature ganz geschuf.
und wie sin wort zu fleische wart
(und spilt sich nie von gottes art)
in ires reinen herzen ror,
680.
der meit, die küscher vil dann vor
bleip nach gebürt und bliben muß:
da dempfte got naturen fluß.
wie gottes kint naturen zins
gap, wie das krüze hilt der flins,
685.
daran das kint gezwicket wart:
ein stram uß sines herzen schart
mit überswenken ünden quam:
davon sich reiß der helle tam.
das kint den echter sust ersleich,
690.
durch bruch der von dem himmel weich:
der sich da muste binden lan,
der falles strik uß bruche span.
sin giftik dampf hett uns ertot,
wer an das krüze nicht gelot
695.
der meide kint und gottes wort:
sich keiser, das han ich gelart,
und wie der leuwe von Juda
sin totes welf erweckte da:
wie Jonas in dem fische was,
700.
dri tage ganz und doch genas:
sust rette er sin wares kint
von grimmes todes bunde sint
wie gottes kint die cristenheit
un kleit mit siben heilikeit;
705.
und wie der win wirt gottes blut;
das brot in fleisch sin wandel tut:
wer daran findet zwifels funt,
des fal hat endelosen grunt.
wie got zu richten kummen wirt:
710.
welch man der regel dann enpirt
und ist versumt in rechtes schul,
der wirt in Flegetontis pful
gesult mit manchen plagen hart,
im helfe dann die maget zart,
715.
von der ich ie getichtet han.
des mag ich in der kronen stan,
wan adelar, leuw unde lam
von einem worte sloß ir wamm.»
Hie fragt der keiser sinen rat,
sint er gehort die künste hat.
Der keiser gink in einen rat.
720.
er sprach: «so wise red ir hat
gehöret noch erfreischet nie,
als uns die meide künden hie:
in sitten ist ir wisheit groß.
der fremden sinne bin ich bloß,
725.
das ich von grunde müg verstan,
was die und die gesaget han.
darum so habt zu rate pflicht,
das icht min urteil und gericht
gestraft von der naturen wirt,
730.
sint das sie keiner witz enpirt.
mir tut min warer sin bekant:
sie hat Natura her gesant,
das sie erfar mins sinnes rat,
(sint mich ir ticht gebuwet hat)
735.
ab ich der eren wirdik si:
darum mir rat, ir fürsten fri.
ab ich das urteil fünde nicht,
so wurd geswechet min gericht:
was wisheit möcht ich dann gehan,
740.
könd ich nicht wibes red vorstan.
daruf ir sult gedenken all,
und lert mich, wie ich teilen sal,
welch undr in süll die wirde han,
sint das es an mich ist gelan.
745.
das widersag ich in zuhant
und send sie in naturen lant,
das sie die maget kröne rich,
ab ich das urteil finde glich.»
Der rat zu teilen weret sich
das urteil vor dem keiser rich.
Der rat der sprach: «du bist der bunt,
750.
ein spigel, zirkel, lingen funt,
nach dem sich rat, frid, ere mißt,
sint du ein brunn des adels bist.
uß dir ouch alles adel sprüßt:
das fürbaß die nature güßt
755.
in künge, fürsten, ritterschaft:
irs adels stam din adel saft.
du geben salt, nicht nemen rat,
sint dich got und Natura hat
gebut der werlde höchstes dink:
760.
des sal din sin sin sam ein rink,
der aller sin gar ummefar
und menschen sinne gebe nar.
darum es wer ein tummer sin,
sestu uß fremdes sinnes zinn.
765.
künk ane sin gelichet ist
dem blinden, den eins hundes list
muß leiten adr ein junges kint
ader ein stap, der selb ist blint»
sust werte sich der wise rat:
770.
das in vernunst geheißen hat.
Den meister dises buches fragt
der keiser: der sich sust entsagt:
Der keiser sprach: «von Mögelin
Heinrich, was dunket dich gesin?
welch undr in hab die wirdikeit?»
er sprach: «min sin zu enge schreit,
775.
das er die wisheit nie erlif.
din wirde hoch, breit unde tif
die sal von schulden das verstan,
welch undr in sal die wirde han.»
er sprach: «du salt nicht ledik sin:
780.
ich wil vernunst nu hören din.»
der ersten wold er gen den sik:
da winkt im sines herzen blik,
das wird und er und lobes art
der letzten von dem keiser wart.
785.
idoch der andern wirdikeit
gebot des keisers nicht versneit:
er liß sie in der kronen stan,
doch musten sie zu hinderst gan.
Hie teilt der ware keiser rich
das urteil nach der warheit glich.
Der keiser sprach: «sint das min rat
790.
mir rates stür versaget hat,
so muß ich nach dem besten sin
das urteil selber teilen hin.»
er sprach: «mich dunkt: die erste meit
von stören und geberen seit,
795.
und wozu hat nature pflicht,
daruf sie buwet ir geticht;
die letzte, wer des hersche gar
und ouch naturell gebe nar. die ander meit die nutzet wort,
800.
und teil der red sie hat gelart.
eins worts sie hat vergeßen doch,
(damit die letzt ir gibet schach)
das in der meit zu fleische wart
und spilt sich nie von gottes art. 805.
die dritte, die die slangen treit,
der trigen manchen hat verleit,
das er des lammes gar vergaß,
das uf der letzten brüste saß. die virde sechzik farben setzt,
810.
damit sie blümet und veretzt,
was rostes in dem tichte lak:
die letzte, wie des himmels slak
vertreip und blumte gottes blut,
das durch sins herzen pforten wut. 815.
bereit uf zal die fünfte was.
sie zalte loup und ouch das gras,
des himmels stern und meres griß:
die letzte, wie der künk im liß
slan wunden durch uns ane zal,
820.
damit er stiß den fluch zutal. die sechste aller maße pflit:
wie tif, wie hoch, wie breit, wie wit
der himmel, mer und erde si:
die letzte, wie der künik fri
825.
sich meßen liß uf einen schrank,
damit er unser not verdrank. die sibnde meit die wirket schon
in quinten, quarten manchen don,
wie uf die lingen und zutal
830.
ein iglich note klimmen sal:
eins dones sie doch konde nicht,
den an dem krüze hat geticht
der meide kint und gottes wort
und uns die letzte hat gelart. 835.
die achte lert der sterne gank
und wie die zirkel haben schrank,
wie die planeten sin gesipt:
die letzte, wer die stern gestipt
hab in des himmelriches gral
840.
und mak sie rißen hin zutal. der nünden kunst ist hoher list:
sie heilet, was zu heilen ist;
wo todes blik das tir erspet,
das sie gar ungesalbet let:
845.
die letzte von dem arzte seit,
des kraft dem toten leben treit. die zende silber machen kan,
golt, farben; doch ich selden han
gesen der selben kinder rich:
850.
die letzte zu dem schatze glich
des himmels füret mit der hant,
den man nie ane trüwe fant. die eilften lobt ich immer me:
nu dunkt mich, wie ir tichten ste
855.
swerlich gein dem gelouben min:
sie lert mich, wie acht engel sin:
die letzte engel ane zal
setzet: der ich geleuben sal.
nie falschen spruch ich in ir fant:
860.
darum üch allen si bekant,
das sie die wirde sülle han.»
das urteil fürsten, ritter, man
da lobten und die wisheit groß,
die uß des keisers herzen sproß.
Der keiser nach dem besten sin
Naturen sent die meide hin.
865.
Da sust das recht geteilet was,
vernunst der keiser nicht vergaß:
er gap den meiden gabe rich
und sprach: «ir sullet faren glich
von mir in der Naturen lant,
870.
und tut der frouwen min bekant,
was ich üch hie geteilet han.
und mak das urteil da bestan,
so bit sie, das sie kröne die,
der ich die wirde reichte hie,
875.
das ir die andern undertan
sint. so wil ich üch einen man
ouch geben uß dem rate min:
der selb sal üwer fürer sin.
er weiß wol der Naturen lant:
880.
der ritter Sitte ist genant.
und folgt ir sinem spore glich,
so mugt ir faren sicherlich.
wann ir kumt in Naturen stat,
der ritter da ein swester hat,
885.
die ist gar rich und heißet Zucht:
bi der ir findet all genucht.
da selbest sult ir abestan,
und bit die frouwen mit üch gan
zu der Natur: das ist min rat.
890.
wo Sitte, Zucht nicht mit üch gat,
ir blibt versumet gar der mer,
wo ir der zweier blibet ler.
Natura spricht, es si ein ban,
wer kunst wil ane sitten han;
895.
kunst ane zucht sie achtet nicht,
wann sie hat alle kunst geticht.»
Hie urloub unde gabe glich
den meiden gap der keiser rich.
Urloup die meide namen da.
des Sitten spor sie furen na
und quamen in das schönste lant,
900.
das blik vernünst nie schöners fant.
in des landes mittel lak
ein burk. der ersten pforten pflak
ein rise groß und ungehür:
der liß uß sinem halse für
905.
in grimm übr alle berge gen:
die meid in forchten bliben sten
und torsten zu der pforten nicht,
das tor gein norden was gericht.
sie gingen fürbaß an ein tor:
910.
da stunt ein ander rise vor,
der was durchsichtik unde groß;
ein stram im durch sin kele floß,
der was gar tif, breit unde lank.
(gein westen was des tores gank.)
915.
sin stimme was gar fientlich.
die meid begunden fürchten sich
und ilten an das dritte tor:
da stund ein ander rise vor,
der was den meiden gar unkunt:
920.
zwelf wind er liß durch sinen munt,
das sie dar mochten kummen nicht.
das tor gein süden was gericht.
sie gingen an das virde tor;
da lak in grüner wete vor
925.
ein rise stark und lobelich,
mit boumen groß er dakte sich.
das virde tor gein osten gink:
der selbe rise des verhink,
das sie der bürge neten baß. 930.
da durch die pforten kommen was
der Sitte mit der meide schar,
die Zucht sie funden offenbar,
als in der keiser rich verjach,
die Zucht enpfink sie unde sprach:
935.
«was bracht üch edeln frouwen her?»
die frouwen seiten ir die mer,
was irs gescheftes sache was.
die frouwe tugnde nicht vergaß:
sie sprach: «so wil ich bi üch sin:
940.
ir nemet keinen schaden min.
quemt ir zu der Naturen dar
an mich, ir blibt versumet gar.»
Hie mit den künsten gink die Zucht
vor die Natur in richer frucht.
Die Zucht gink mit den meiden da.
da sie dem huse quamen na,
945.
darinne die Nature saß,
ein anger vor dem huse was:
daruf gepflanzet mannik boum.
frucht leite der Naturen zoum
durch ire sproßen meisterlich;
950.
der ramen este kleiten sich
mit mancher hande loube da.
die blumen blank, die brun, die bla,
und alles, das da farben heißt,
damit der anger was bereißt,
955.
die kurz, die lank, die lenger was,
als sie Naturen linge maß.
des touwes sprengel durch sie gink:
sin saf der blumen kele fink.
was man von zirde mochte sagn,
960.
das sach man gar den anger tragn.
da was ouch keiner hande we.
volsprechen möcht ich nimmerme,
was salden in dem huse was,
darinne die Nature saß:
965.
nie sinnes rechenunge fant,
ab es vergolden alle lant
möchten der werlt. manch edel stein
in der Naturen kron erschein,
das sich uß lichte schapfte licht.
970.
in irem huse nimant sicht.
man hort ouch aller stimmen schal:
die uf, so swank sich die zutal.
dem hören wart da spise rich
gegeben von den stimmen glich:
975.
gar übersüße was ir sank,
das nie kein mensche wart so krank,
das süche möchte twingen da,
wann es der freude queme na.
Hie künt des buches meister balt,
wie die Nature wer gestalt.
Ein maget in dem trone saß,
980.
der aneblik so schone was,
das mensche nie so schone wart:
uß ir floß aller schonde art.
von siben sternen was ir kron:
rich in der sterne mittel schon
985.
der crisolt und der adamas
gar meisterlich gefelzet was,
ouch in dem kranze sunder wan
der rubin und topasion,
der saffir und manch edel stein.
990.
ir har in bruner farb erschein,
ir löckel reid und dabi lank,
darin sich reifte goldes blank,
ir bran geornt in rechter far,
ir ougen sam die sterne klar;
995.
wohin die meit warf iren blik,
da wart verschanzet sorgen strik.
ir nase nach der lingen art
vorn ufgewelbet sunder schart;
der edlen formen münze, stunt
1000.
ir wengel nach des zirkels funt;
ir munt in röte stunt erhabn.
des leben hink in zwifels klobn,
vor freud ab er genese dann,
wann sie in liplich blikte an.
1005.
ir kinn, ir hals blank und ir kel,
ir arme waren sinewel,
ir finger lank und nicht zu klein:
ein zeptrum truk die maget rein.
ir brüste uf das herze glich
1010.
gesmücket stunden lobelich.
mir zimet nicht zu sagen das,
wie das sie were niderbaß.
ir gurt von golde was ein snur:
des sinnes grabestickel fur
1015.
uf iren heften hin und dar:
was schone heißt, das was da gar:
lib, adel, lust, freud ane zil.
in ires mantels falden vil
tir, fische, mensche wonte da.
1020.
der gründe was ir feile na,
wann anefank die grün bedüt:
uß dingen dink Natura züt
und ist des wegens anefank.
ouch stunt uf irer achsel schrank
1025.
die sunne und der mande klar
und luchten ir zu dinste dar.
was sinnes pinsel künste treit,
die was gar an den tron geleit.
Hie ruft die künste die Natur
liplichen in irs trones mur.
Da sie der meide wart gewar,
1030.
sie winkt in unde rif in dar
und sprach: «das dütet fremde mer,
das ir sit alle kommen her.»
die meide sprachen züchtiklich:
«uns hat gesant der keiser rich
1035.
zu dir, das du die meit gemeit
salt krönen, die das lemlin treit
an irer brust mit siben horn,
vor uns er sie hat ußerkorn
und hiß uns fürbaß dinen ir.
1040.
darum wir kommen sint zu dir.»
sie sprach: «darzu ich keine pflicht
alleine mak gehaben nicht,
es queme dann der tugnde schar
und sie mir hülfen krönen gar.»
Hie sendet die Nature gar
ir boten nach der tugnde schar.
1045.
Natura sante da zuhant
ir boten in der tugnde lant
und liß den tugnden künden gar,
wie das Theologia dar
wer kommen mit den künsten al,
1050.
die man von schulden krönen sal,
und hiß sie kummen durch gebot
die tugnde sprachen sunder spot:
«durch kein gebot wir kummen dar:
wir sint von der Naturen gar
1055.
gescheiden: got uns hat geticht,
darum sie mak gebiten nicht.
Natura gänzlich ist gewert,
wes sie zu bete von uns gert:
ab sie wil dinst von schulden han,
1060.
von uns sie wird gesumt daran.
das sult ir widersagen ir,
das sust geantwurt haben wir.»
die boten das vernamen sidr
und ilten zu Naturen widr
1065.
und seiten ir die mere glich.
des wundert sich Natura rich
und sprach: «nu faret wider dar
und bit die tugentlichen schar,
das sie her kummen uf den ban,
1070.
ab es min ticht bewisen kan,
das sie und ouch ir wesen gar
sint kommen uß mins herzen mar,
das sie zu minem dinste pflicht
nu haben nach der ersten schicht.
1075.
wo ich das nicht bewisen kan,
ich sal sie dinstes wol erlan.
got dinte mir und sante zins
hoch uß des himmelriches flins:
des wundert ser die sinne min,
1080.
von wem das sie gefriet sin.
darum so bit sie kummen her,
das wir volenden dise mer:
wann ich gekrön die maget rich,
gein in so wil ich meisterlich
1085.
bewisen vor den künsten dann,
das sie ir wesen von mir han.»
Hie sent ir boten wider dar
Natura nach der tugnde schar.
Die boten furen wider dar.
da sie die tugnde funden gar,
sie sprachen: «die Nature bit,
1090.
das üwer herze ste gefrit,
und wirdet üch zu kummen dar,
das man die maget kröne klar,
wann das geschit, so wil sie dann
gein üch bewisen, ab sie kan,
1095.
das ir von schult gebunden sit.
bewist ir, wer üch hab gefrit,
so gert sie keines dinstes nicht.»
die tugnde sprachen in der schicht:
«wir faren dar gar williklich.»
1100.
ein wagen wart gar lobelich
bereit: da gab die Warheit dar
die dichsel, Kraft die achse zwar,
das erste rat Gerechtikeit,
das ander Frid, Barmherzikeit
1105.
das dritt, so gap die Milde dar
das virde rat von golde klar;
die Sune bant den wagen glich,
so gap die Zucht die decke rich;
fünf ros Vernunst gap in den wagn:
1110.
richlich man sach die meide zogn.
Hie seit von der Vernünste pfert
das buch, wer des zu hören gert.
Das erste ros das hiß das Sen:
rot was sin farbe, hör ich jen.
das selb wart nimmer loufes sat:
es manchen hie verfüret hat,
1115.
das er reit in der helle grunt:
es liß in da und bleip gesunt.
das selbe ros vil tugnde hat;
kein mensche siner füße pfat
1120.
noch sinen trit erkisen kan:
das gras es trit uf keiner ban.
ouch es gar snelles loufes pflak,
man dorft im geben keinen slak:
wann die Vernunst die geisel swank,
1125.
zuhant es in dem silen sprank.
an keinem berg es widerstiß. Das ander pfert das Hören hiß.
wer dem den zügel laßen wil,
wann es leuft uf das krumme zil,
es treit in in der helle gruft
1130.
und leufet wider in die luft.
vil na es sam das erste was,
doch es sin sprünge treger maß.
das selbe ros ouch snelle lif:
kein bruch der luft wart nie so tif,
1135.
es sprank darüber ane fal;
zu berg es lif und ouch zu tal.
doch nimant rechte merkt sin pfat,
wo es den fuß gesetzet hat.
das ros trank keines wages fliß,
1140.
wan der sich uß den wolken liß:
sin futer was der lüfte slak,
das pfert nicht ander weide pflak. -
Das dritte ros was stete gut;
doch wer im liß den sinen mut,
1145.
es truk in hin in kurzer zit,
da Lucifer gefangen lit.
wann es den stram der lüfte zouch,
vil manchen underscheit es rouch
der dinge, der es nie gesach.
1150.
wie das sin hufe waren flach,
doch man sin lützel merkte dann,
wann es sin spise wolde han:
sin schaden keine wise melt,
ouch etzt es nicht der lüfte felt;
1155.
sin farbe glich was in der schicht,
als wann sich luft in nebel flicht
das Richen hiß das selbe pfert. Das vird was großes geldes wert.
das ros die Behim lobten ouch:
1160.
gar ser es an dem naßen zouch;
in fraße pflag es sprünge vil:
wer im den zügel laßen wil
und es zu halden nicht gerucht,
dem ist von gotte wol verflucht.
1165.
süß unde sur es smecken kan,
und hett es die vernunst gelan,
es wer gefallen in den grunt. Des fünften namen tu ich kunt.
das selbe große sterke hat:
1170.
wer im des willen sin gestat,
es treit in oft in kummer groß,
das er blibt aller salden bloß.
doch lif es in der banen recht:
wo das der wek was holsterecht
1175.
ader die stige waren scharf,
das ros sich uß der banen warf.
wol unde we es prüfen kan.
und hett das selbe ros getan.
die andern pfert in keiner schicht
1180.
den wagn gezogen hetten nicht.
das selbe ros das Fülen hiß.
Natur es nimmer irren liß:
darum es was gespannen vor. sie quamen an das erste tor:
1185.
davor so lak ein rise groß,
der für uß sinem halse schoß.
Vernunst die tugnde fragten all,
was wunders das bedüten sal.
Vernunst Bericht der tugnde schar
des huses und der wunder gar.
Vernunst die sprach: «der man bedüt
1190.
(dem flamm uß sinem halse flüt)
das für: von sines zirkels maß
ist aller elementen sloß.
sin schibe nimmer stille stet,
sin fluß uß der naturen get.
1195.
welch elemente sich verirt
in sinen kreiß, es flammen wirt».
sie lißen da die pforten stan
und furen, da ein wißer man
dort stunt, der gar durchsichtik was,
1200.
und fragten: «was bedütet das?»
Vernunst die sprach: «üch künt min list:
der wiße man das waßer ist:
das ist durchsichtik unde klar.
die erd es ummereifet gar
1205.
und muß ouch in dem zirkel stan,
darin es hiß Natura gan:
den kreiß es nimmer übertritt,
manch wunder ist darin gesmit
uf der naturen aneboß.
1210.
des menschen sin ist des zu bloß,
das er den underscheit verstan
un müge, den die wunder han».
dabi die selbe rede bleip.
Vernunst den wagen fürbaß treip
1215.
und furt sie an das dritte tor.
da stund in blauwer wete vor
ein man, der fientlichen blis:
zwelf wind er uß dem munde liß,
den hagel, sne, schur unde regn.
1220.
die meid begunden aber fregn:
«was düt des richen wunders guft?»
Vernunst die sprach: «es ist die luft.
den wak in ires flügels huf
gein berg in kraft sie füret uf,
1225.
und in der flügel münze sur
sie wellet hagel unde schur:
wann sie verstößet ir gefidr,
so senkt sie die zu tale widr».
sie furen an das virde tor.
1230.
da lak in grüner wete vor
ein man der ewiklichen slif.
manch tir uf sinem halse lif
und bark sich in des mannes wat,
die im natur gespunnen hat.
1235.
recht sam der kle, loup unde gras
des mannes kleit geferbet was.
die meide fragten alle glich:
«was muß das wunder düten rich?»
Vernunst die sprach: «üch seit min list:
1240.
der man, des slafen ewik ist,
das ist die erd, wann uf ir nu
die tir gemeinlich suchen ru.
der salamander in dem für
nicht lebet sunder erden stür,
1245.
noch in der luft gamalion,
und sold der fisch die erde lan,
tar er nicht von ir nemen nar,
des wags er wer versumet gar.
sie ist der elementen grunt,
1250.
ir zukunft wart Naturen kunt».
Hie stet uf die Nature klar
und get nu gein der tugnde schar.
Natura gein den meiden gink
und sie gar williklich enpfink
und furt sie in irs sales tron.
der was so rich und ouch so schon:
1255.
was man von schond ie vor gelas,
recht sam ein nacht es gein im was.
igliche sitzen an ir stat
Natura züchtiklichen bat.
ouch hatte got uf ir gewant
1260.
geschriben mit sin selbes hant,
das man offentlichen las,
wie die und die genennet was.
die künste saßen sunderlich
und ouch die tugnde lobelich.
1265.
zu mittelst in der selben schul
erhaben stunt ein richer stul,
daruf Theologia saß.
die tugnde sprachen sunder haß,
gemeinlich mit der künste pflicht:
1270.
«die meit wir sullen krönen nicht,
sie künd uns danne, wie das got
drifaldik sie an allen spot,
wie er die menscheit an sich nam
von einer meid, als im gezam,
1275.
und wie das sunder falschen rum
bleip unversert der magetum,
darin das kint geboren wart,
gefleischet got in menschen art.»
Theologia künt, wie das
got drilich ist und ewik was.
Theologia das vernam,
1280.
das sust nach irer lere klam
der tugend und der künste schar.
sie sprach: «un wil ich offenbar
üch künden, wie das mak gestan,
das dri person ein wesen han,
1285.
und wie das wort fleisch an sich nam,
das uß der drier samen quam,
die alles fleisches waren fri
und fleischten doch ir edeli.
dri zeichen die nature git,
1290.
die doch got sehepfer übertrit:
kern, schale mit des ramen soum,
die dri die sachen einen boum,
doch ir nature das nicht irt,
uß in wie sich die frucht gebirt:
1295.
die frucht die let gar ane schranz
kern, schale, stam des boumes ganz,
wie sie uß irem samen wut:
ir milde der naturen tut
ein ander forme sunder wan.
1300.
sust von dem kind ir sult verstan,
wie es die reine meit gebar
und uß ir brüsten reichte nar:
von einem worte sunder spot
es fleischte sich und bleip doch got.
1305.
gots wesen davon keinen schart
leit, wie der sun gefleischet wart.
und fint ir daran zwifels funt,
so falt ir ewik ane grunt.
Das ander zeichen si üch das,
1310.
das irs gemerken müget baß:
für, flamm und ouch sins zunders art,
die dri ein spere hat gespart,
dadurch ein licht Natura richt:
sust menschen art in got sich flicht.
1315.
das für gar unverseret stat,
wie luft in sine schiben gat,
sie blibet für: so sich das fleisch
besloß in dri personen meisch,
der wesen doch unschendik ist,
1320.
der vater hat in keiner frist
gegangen vor dem kinde sin:
wo für, da flamm und ouch der schin.
Ouch zeichen der naturen ist,
set, wie des hohen gottes list
1325.
und die natur geordnet han,
das dri in einer sele stan
und alle dri eins wesens sin.
nu merket diese lere min:
vernunst, gedechtniss unde will,
1330.
gericht uf eines wesens zil,
wo die die sele solde lan,
kein wesen möchte sie gehan:
eins wesens sint die selben dri
unspeldik mit der sele fri:
1335.
sie sint die sel, die sel ist sie,
die sich gescheiden möchten nie.
sust dri personen gottes sint
verstrikt in eines wesens lint:
unscheidelich ist ir natur
1340.
geflochten in des herzen mur
der meit von eines wortes hant,
das von dem himmel wart gesant.
uß gott, bi gott und got es was,
das kint, des hie die meit genas.
1345.
in klag muß ewiklichen stan
sin ruf, der zwifel fint daran.»
Natura, künst und tugnde rich
dem ticht hie nigen alle glich.
Die tugend und der künste schar
des tichtes forme nigen gar
und die Natur, und gink zuhant,
1350.
da sie die richsten kronen fant,
die alle schond gar übertrit,
wann sie got selber hat gesmit,
und kronte da die maget rich,
zwelf sternen in der kronen glich
1355.
da stunden; ewik war ir schin. hie sal des buches ende sin.
Das ander buch das heb ich an,
wie tugent in dem mittet stan
sal und ußslißen nimmer das,
was wisheit in dem zirkel maß.
Hie in des buches anefan
zu disputiren hebet an
Natura mit den tugnden gar
1360.
und wil bewisen offenbar,
das sie ir wesen uß ir han,
und hebet sust zu reden an:
«welch dink sich uß dem andern sacht,
des wirdikeit von nöten swacht
1365.
gein dem das es gesachet hat.
die gröste red bewiset stat,
die minner Aristotiles
in Ethicorum setzet des.
er spricht: ‹uß werke tugent wirt,
1370.
des wirken die natur gebirt;
uf erden nie kein werk geschach,
sin were jo natur ein sach›.
die ander rede scharf und sur
die wachet ouch vor die natur:
1375.
welch dink das ander gwinnen kan
fri, unde fri es mak gelan,
das dink mer wirde hat dann das,
das von im sust gewunnen was.
die gröste red bewiset ist,
1380.
die minner setzt des meisters list
in Ethicorum unde spricht:
‹das laster und der tugnde ticht
in willekor des menschen stan:
er mak sie wirken unde lan.
1385.
in klarheit der naturen stet
oft dink das beider nicht beget›.»
die dritte rede stark und scharf
der pinsel der Natur entwarf.
sie sprach: «nu merkt die rede klar,
1390.
damit ich üch besliße gar:
selbstendikeit, wir wißen all.
mer wirde hat wann der zufal.
her Heinrich möchte wol gesten,
se man die röte von im gen;
1395.
ab er ouch swerze were ler,
idoch er wol ein mensche wer.»
Natura mit der rede lint
verstricken wil der tugnde kint,
das sie ir wesen uß ir han
1400.
und ir durch schult die wirde lan.
Uns hie bewist der tugend art,
das uß ir die nature wart.
Gein der Naturen reden hie
die tugend und bewisen, wie
sie der Naturen edler sin,
und tun das mit der rede schin:
1405.
«was da volbrengt ein ander dink,
das selb ist sines adels rink.
Natur volbracht von tugent wart:
des höher ist der tugend art.
kunt ist die gröste rede des,
1410.
die minner Aristotiles
in Ethicorum hat geticht,
wann er da offentlichen spricht:
‹wer tugent hat, der wirt volbracht
und ouch sin werk von tugnde macht›.
1415.
die ander red sich sust gebirt:
durch was ein dink gelobet wirt
und im ouch wird und ere git,
naturen art es übertrit.
die tugent ere wirken kan:
1420.
des sal sie vor Naturen stan.
die gröste red ist offenbar,
die minner macht der meister war
in Ethicorum, da er spricht:
‹man lobt uns von naturen nicht,
1425.
sunder durch tugent lobes art
dem menschen hie gegeben wart.›
die dritte red ist wiser frucht:
wer von naturen tugent, zucht,
so das ir influß gebe die,
1430.
so wer nimant zu loben hie.
warumme sold ich loben den,
ab tugent wurd von im gesen
und in doch twüng natur dazu?
damit ich wil beslißen nu,
1435.
das tugnde fluß von gotte ist
und nicht uß der Naturen list.»
Theologia wirt gelan
der krik von beider sit getan.
Der krik von beider sit getan
Theologia wart gelan:
wem sie nach rechtes tichtes funt
1440.
die wirde reichte da zustunt,
der sold sie haben ewiklich.
sie sprach: «nu wil ich sunderlich
erforschen, wes die tugnde pflegn.
darnach so reich ich gottes segn
1445.
Naturen ad der tugnde schar,
darnach ir tichten machet war.»
sie sprach: «nu sag an sunder list,
du Wisheit, was din tichten ist,
sint das du salt die erste sin.
1450.
so laß das werk mich hören din.
das ich von grunde müg verstan,
wem ich die wirde sülle lan.»
Die Wisheit kündet, wie ir kint
in sünde nie gefallen sint.
Die Wisheit sprach: «ich künt min ticht:
in vir sich alle tugent flicht,
1455.
in mich und in gerechtikeit,
in sterk und ouch in meßikeit,
uß den sich gottes forcht gebar,
die allem heile gibet nar:
dabi man merken sal min kint.
1460.
die sunder gottes forchte sint,
den ist verborgen mine ban.
zu gotte nimant kummen kan,
der miner stüre nicht enhat
ich ummereifet han das rat
1465.
des himmels, da got alle dink
liß flißen durch sins herzen rink.
min schond übr alle himmel hort;
ich wach an gottes herzen pfort,
das nimant kummen mak darin,
1470.
er brenge dann das zeichen min,
gedechtniss, und bedenke das,
wie nie min snur uf schaden maß.
vernunst und die vorsichtikeit
zu wat ich minen kinden sneit:
1475.
welch man der selben wat enpirt,
der ist mins weges gar verirt.
er muß von gotte selik sin,
der finden sal die stige min:
man get darinne sunder we.
1480.
mich kante nicht von Ninive
der künk: des leit er kummer sint:
er wart gelichet einem rint.
wer mich verlet, der let sin heil,
ab mich der tore findet feil,
1485.
gar selden kouft er min geticht:
min süße frucht im smecket nicht,
süß und der süre underscheit
dem lon, dem andern pin bereit:
sust arger wille nicht verstan
1490.
die wege siner salden kan
in dingen, die zu tune sint:
vernunst der arge wille blint
des menschen nu gemachet hat.
kint, wiltu hören minen rat?
1495.
mins wisen herzen linge maß
das hus, e es gebuwet was:
sust sal dins herzen ouge sen
das ende, e das si geschen
die tat, und halt in eren das,
1500.
das ursprink dines lebens was.
bis in gewalt dem armen slecht;
gip dim genoß das selbe recht,
das du dir selber wilt geschen;
din ougen uf die armen bren
1505.
laß und in falschem wandel nicht
durch gabe felsche gots gericht.
du fürste, salt ein spigel sin
in tat den underseßen din,
das sie beschouwen sich in dir:
1510.
zu warheit hab din rede gir;
laß nicht din spotten halden die,
der rat din ere suchet hie.
dir, fürste, zimet wise tat:
recht als dich got erhaben hat
1515.
übr ander die genoßen din.
also vil saltu wiser sin.»
Gerechtikeit hie saget das,
wie nie ir snur uf schaden maß.
Theologia da began
Gerechtikeit zu fragen an,
waruf ir grunt gebuwet wer,
1520.
das sie ir kunte dise mer.
sie sprach: «ich und die Wisheit bin
gericht uf eines endes sin,
idoch wir haben underscheit:
ir tat ist bi der redlichkeit,
1525.
so ist min werk zu richten das,
was krump der arge wille maß.
ich wache durch gemeines gut;
den bruch min recht verdammen tut:
iglichem laß ich werden das,
1530.
was im sin werk zu lone maß.
die fürsten müßen vor mir stan
gebunden sam der ackerman;
dem richen und dem armen glich
min wage mißet stetiklich.
1535.
wer mine stige nicht enricht,
der mak zu gotte kummen nicht.
ich hüte gottes herzen pfort:
scharf ist mins rütelinges ort,
darin die hochfart sich versneit,
1540.
das sie muß immer tragen leit:
min hant sie und ir engel all
treip von dem himmel hin zutal.
da sie uf bruch ir wille truk.
ouch uß dem paradis ich sluk
1545.
den ersten menschen, da er brach
den apfel von des boumes dach.
der bruch der widerspenikeit
muß von mir immer tragen leit.
her Abel rif mich und sin blut:
1550.
ein stral durch sinen morder wut:
im wart gemeßen als er maß.
gerechter lon ich nie vorgaß:
ich gap es jo in milde dar
und schankte pin der argen schar.
1555.
der arm in not sich tröstet min:
Susanna sal ein zeichen sin:
geurteilt zu des todes rost,
ir unschult von mir wart erlost.
an mich mak nimant werden fri:
1560.
ab mensche wol ein fürste si
und er nicht heldet gottes recht,
so ist er jo der sünden knecht.
des keisers ere das bin ich:
wo das die künge laßen mich,
1565.
ir rich sich neiget hin zutal:
künk Saul das ouch beweren sal
und uß Egipten Pharao.
darum, ir künge, richtet so,
das ich üch in dem toten mer
1570.
icht sterben dürfe sunder wer.
des herzen influß in gelit
sich güßet und in leben git:
sust sult ir fürsten sin ein bach,
daruß ein recht man flißen sach,
1575.
davon getrenket werden die,
die üch zu dinste wachen hie.
des vaters werk, ich höre jen,
das kint verblent und machet sen;
der apfel nach dem ramen smekt,
1580.
als in der fluß naturen wekt.»
Uns kündet hie die Sterke das,
was ires wirkens tugent was.
Theologia fragte fort,
da sie ersach die Sterke dort:
«waruf gebuwet ist din grunt?
das tu mir hie durch libe kunt.»
1585.
sie sprach: «die Sterk bin ich genant;
in nöten sam ein elefant
ich ste und trage alle last,
ich bin recht sam ein warer mast,
der uß des wilden meres gil
1590.
den kocken füret und den kil.
des frevels und der forchte, sich,
der zweier mittel, das bin ich:
mich reißt zutal kein übermut,
ouch mich kein forchte fallen tut.
1595.
unwegelich recht sam ein turm,
ich ste: von wanne das der sturm
des lasters flügt mit winde scharf,
min dach er selden niederwarf.
kein tugent ist die türstikeit
1600.
(die sunder zwifel brenget leit)
noch forchte, wer vermidet das,
von schulden was zu tune was:
er mak kein wiser man gesin,
der nicht das wirken libet min.
1605.
ich bin ein ling und ouch ein maß,
die rechtem werke gibet saß.
der heißet stark, der uf dem wal
die finde stößet hin zutal,
ab er gerechte sache fürt
1610.
und in nicht zwifels forchte rürt.
an mich mak nimant werden stark.
ich floß uß gottes herzen sark
und kreftik in dem mittel gink,
gots kint ouch in dem mittel hink
1615.
und in des schrankes mittel starp,
da er uns nach genaden warp:
da tat er miner tugent schin,
wie das ich sal ein mittel sin.
mich laster zwei bezünet han,
1620.
die turst und ouch der forchte schrann:
in irem mittel ist min gank.
der zweier uber ist so lank
getemmet von der fürsten schar,
das ich nu bin verdempfet gar.
1625.
ir fürsten, hört die lere min:
ir sult ein bild der sterke sin.
nicht tummer turst, das ist min rat.
gedenkt, wie das her Goliat
von tummer turst betrogen ist
1630.
(ich felze miner sterke list):
gar sunder stür die türstikeit
in liß, da in min <kint> versneit.
uf üwer man nicht habet turst,
so das ir lidet keinen durst
1635.
zu nemen in wip ader kint.
gedenket, das sie menschen sint
und üch bereit zu dinste stan.
den schafen sult ir wollen lan;
welch her den hunden nimt ir brot,
1640.
die jagen nicht durch hungers not:
sal er den beren eine slan,
davon er schaden mak enpfan.
der starke freise fürchtet nicht,
wo recht sin sache stet gericht.»
Die Meßikeit nu kündet, wie
ir kint in sünd gefilen nie.
1645.
Darnach Theologia sprach,
da sie die Meßikeit ersach:
«sag, waruf ist gebut din grunt?
das tu mir durch min libe kunt.»
sie sprach: «tat aller tugent ist
1650.
gevirt von gottes hoher list:
die erste tat ist redelich,
die ander glich, die dritte sich
uf rechte sterke wegen wil,
die virde wart der maße zil.
1655.
die redlichkeit der Wisheit gip,
glich ist Gerechtikeit gesipp,
die kraft du salt der Sterke gebn,
so sal ich meßiklichen lebn.
ich gere keines dinges nicht,
1660.
das elich orden widerspricht.
vir eigenkeit min tugent hat:
die küscheit und der schemde rat
die hald ich glich zu aller zit:
des ist min ere worden wit.
1665.
die spis ich neme nach der maß:
dem slund ich nicht den zügel laß
und teugen williklichen mich,
wo übermut zuplinset sich,
mag ichs mit eren ummegan:
1670.
in sulcher tat min tugnde stan.
dabi man prüfen sal min kint,
die wirker sulcher tugent sint.
min küscheit wonet bi der tat,
die schemde bi geberden stat.
1675.
der eman rechter küsche pflit,
der fluß naturen let in zit
und ouch in ziten dempfet den,
als es wirt redelich gesen,
wie, wanne, wo, warumme das
1680.
die küscheit in dem zirkel maß.
zu gott er selden kummen mak,
der miner werke nie gepflak.
in gottes herz ich wart geticht:
darum, ir fürsten, habet pflicht
1685.
zu mir und leret mine ban:
ir sullet er in tugend han.
snit an üch mine meßikeit,
sint das unmaße schaden treit,
und habt zu keinem tranke fliß:
1690.
set, wie das waßer dempfet is,
sust dempfet ouch die trunkenheit:
ir bach gegellet waßer treit.
du fürste, salt ein forme sin,
in der sich münze tugnde schin;
1695.
drück in din herze wisen rat:
er ane tugent nimant hat.
welch mensche miner zucht enpirt,
von dem ist selikeit gefirt.
die tugent die volbrenget dich,
1700.
ab du sie wirkest, sicherlich.
der fürste, der nicht tugent hat,
recht sam ein blindes ouge stat:
es heißt ein oug und doch nicht kan
der farben underscheit verstan.
1705.
er ist an selikeit verblint,
der nicht der tugnde wege fint.
darum, ir fürsten und ir man:
zucht klimmet uf der tugnde ban.»
Hie offent uns die Mildikeit,
wie riche frucht ir wirken treit.
Theologia darnach sach
1710.
die Mild in tugent mannikfach.
sie sprach: «was mak din wirken sin?
das künde nu der libe min.»
die Milde sprach: «ich han geticht
lib, adel, er sich in mich flicht,
1715.
was diser werlde ere heißt:
das hat min zirkel ummekreißt.
welch man in rechten trüwen hat
gefolget miner tugnde pfat,
des ist er sunder falles far
1720.
mit lobe rich durchpinselt gar.
ich gottes herzen ingesigl
bin und des hohen himmels rigl,
davor die fürsten müßen stan,
die hie min stige han gelan
1725.
und werfen sich uf gizikeit:
der klag muß immer tragen leit,
ich bin der höchsten güte funt:
von mir sich libe hat entzunt;
ich han ouch oft versünet die,
1730.
der nit einander wunte hie.
min tugent alles wunder treit:
den dritten uß der dri ich sneit
und twank den waren adelar
an einen schrank in menschen far.
1735.
in mir sich alles adel stift,
unadel in der kargen trift.
der künge buch bewiset hat,
wie das min kint in eren stat:
hern David von dem hirtentum
1740.
ich nam, das er gar sunder rum
min werk in steter trüwe treip:
davon in künges adel bleip
sin sam und ewiklichen stat:
min tugent sust gelonet hat
1745.
trüw unde zucht: ich blüm ir felt,
welch fürste kumt in min gezelt
und wirt in miner tat gesen,
dem ist von gotte wol geschen,
ab er treit eines leuwen mut
1750.
und lachet, wann er gabe tut,
dabi der milde wirt erkant.
got alle dink in milde fant.
von bösem herzen was entzogn
der milde wirt, das sit man tragn
1755.
den argen in der schanden hant:
sin gab in laster wirt gewant.
des vogels art durch mildikeit
dem arn zu dienste stet bereit.
dem milden sik die finde lan:
1760.
ich glich in gein dem pellican:
sin herze der in milde spelt,
sin blut der küchel leben helt.
alsust der ware milde tut:
er trenket in der milde flut
1765.
die man und in sin gabe spelt:
damit er lant und er behelt.
der mild ist sam des leuwen lut,
die ire welfer leben tut.
sust saltu, fürste, dine man
1770.
durch kummer nicht verderben lan.
getrüwen gernden, weisen gen
du salt durch ere, hör ich jen.»
Hie kündet die Demütikeit,
warin ir tugent si gekleit.
Theologia darnach sprach,
da sie Demütikeit ersach:
1775.
«waruf gebuwet ist din grunt?
das tu mir durch gehorsam kunt.»
sie sprach: «ich bin der tugnde ticht;
der falschen er ich gere nicht;
ich han zu dinste dicke dem
1780.
gewachet, der mich liß in schem
sten und gar fientlichen sach
uf mich in smehen blicken swach.
ich lide, was zu liden ist,
und darb ouch aller hinderlist
1785.
und tu, ab mir nicht were kunt
des bösen herzen lasters funt.
gewalt gesen ist von mir nie;
gefidert gut ich stete fli:
welch gut in salden brenget frucht,
1790.
daruf geneiget ist min zucht.
welch mensche miner zucht enpirt,
von dem ist selikeit gefirt.
ich bin des höchsten gottes amm:
uß sines herzen mild ich klam ;
1795.
von mir gehot die maget wart,
in der sich fleischte gottes art
und liß doch sunder falschen rum
an allen schranz den magetum:
durch mich sie gottes muter hiß.
1800.
min hant den ersten engel stiß
gewaldik in der helle tal,
darinn er ewik bliben sal:
sust ich den menschen nider hie,
der minen wek erkante nie.
1805.
gewalt wer an mich halden wil,
des fal hat endelosen zil.
wo ich nicht vor dem menschen ge,
zu gott er kummet nimmer me.
hern Moises durch mich wart kunt,
1810.
wie sich enpflammet und entzunt
der himmel, mer und erde hat
und alles das darinne stat.
got nicht sin wisheit kündet den,
die minen stik han übersen.
1815.
ich bin die schönste gottes meit,
gehorsam durch min herze teit:
ie mer sich teugen mine kint,
ie mer das sie von gotte sint
gewirdet und gehaben uf;
1820.
ich heil ouch aller sünden ruf.
min kint das get gar sicherlich:
darum, ir fürsten, leret mich,
man lobet niemant wanne den,
von dem hie tugent wirt gesen.
1825.
dem vater ware tugent zimt,
davon das kint ein zeichen nimt:
es wirket, als es wirken sach:
das kint sich nach dem vater brach,
ir fürsten, veter sit der tugnt,
1830.
davon der underseßen jugnt
ein zeichen und ein bilde spen:
sie wirken, als sie han gesen.
ir fürsten, hüt in diser zit,
sint ir des Volkes hirten sit,
1835.
das glich die rechenunge stet,
wann ir vor got gefangen get.»
Die Warheit künt irs werkes tum,
der irrem wirket richlich frum.
Theologia darnach sprach,
da sie die Warheit angesach.
waruf ir grunt gebuwet wer,
1840.
das sie ir kunte diese mer.
die Warheit sprach gar sunder list:
«min wirken bi den worten ist:
die münz ich glich zu aller zit,
des ist min lop in eren wit.
1845.
in gottes herz ich bin gedrukt.
e in der formen wurd verrukt
ein wort und sold in bruche sten,
e müst der himmel gar vergen
und alles das darinne wer.
1850.
min wort ist alles wandels ler:
sten muß ich in der formen glich,
darin mich twank der keiser rich,
der in sins waren wortes ruf
die creature ganz geschuf,
1855.
ich bin sin wort und ouch sin kint:
von mir gesat die himmel sint,
die stern und ouch der speren kraft;
das mer got in mir hat geschaft,
die erde, für und ouch die luft,
1860.
die engel und der helle gruft.
got an mich möchte nicht gesin.
des bin ich aller tugnde schrin.
min hant der himmel geiste helt,
welch mensche das sich von mir spelt
1865.
und minen stik verleßet gar,
das schert sich von der engel schar.
an mich wirt nimant gottes segn:
des hat die welt sich gar erwegn.
sie temmet miner flüte bach:
1870.
des ist min stram nu worden swach.
ir nein ist ja, ir ja ist nein:
davon ir heil ist worden klein.
die lügen, sünden anefank,
der sintflut worden ist so lank,
1875.
das mensche sterbet sunder wer.
sie ist recht sam das lebermer:
wer von geschichte kumt darin,
der muß da ewiklichen sin.
wer von der lügen wirt verwunt,
1880.
der wirt vil selden hie gesunt:
ir stral ist sam der slangen gift:
wo sie des menschen herze trift,
vor gott er stirbet sunder spar,
wo ich nicht snelle kumme dar.
1885.
an mich nicht ere mak gestan:
ir edeln fürsten, denkt daran
und mit der werlde falschen rum.
das wort ein evangelium
lat sin, das von üch wirt gehort:
1890.
den underseßen hie und dort
ir sult der warheit zeichen gebn.
die kinder nach dem vater lebn:
wie das gewesen ist sin tat,
darnach sich helt der kinder rat.
1895.
der basiliscus noch sin art
dem menschen nie so giftik wart
sam falscher rum und lügen funt,
davon die sele wirt verwunt
und hie des menschen ere gar
1900.
sich senket in der schanden mar.»
Hie kündet die Barmherzikeit,
wie riches lon ir wirken treit.
Theologia darnach sprach,
da sie Barmherzikeit ersach:
«waruf gebuwet ist din grunt?
das tu mir durch din wirde kunt.»
1905.
sie sprach: «ich gottes tochter bin;
uf nicht gebuwet ist min sin,
wan das ich widerbrechte das,
daran der mensche sich vergaß
gein gott und hie gefallen ist
1910.
in marter von des tüfels list,
min ouge sit den armen an:
ab ich in nicht gestüren kan
und im gehelfen mak uß not,
doch im min wille stüre bot:
1915.
ich lide mit im, was er leit,
sin not mich oft in jammer treit.
der ware got mich gerne sit:
min herz im anders nie gerit,
wan das er widerbrechte das,
1920.
durch bruch das hie versumet was.
er folgte mir und an sich sneit
von einer meit sins knechtes kleit;
darnach min ware tugent twank
den heren an des krüzes schrank;
1925.
er zu dem sünder trat in not:
uns leben koufte da sin tot.
min tugent das gewirket hat,
das mensche fri des bundes stat.
ich mak wol sin der tugnde berk:
1930.
die sichen trösten ist min werk,
und die in not gefangen sin,
den tu ich warer hülfe schin.
in durst, in hunger und in not
dem armen ich min stüre bot:
1935.
von mir er stetlich ist gewert,
was er durch gottes lib begert.
übr alle gottes werk ich bin:
welch mensche zu mir liben sin
treit, das enmak verderben nicht:
1940.
im ist genade vorgeticht.
hern David salbte mine hant,
an im da ich min trüwe fant:
barmherzikeit die sach er gern:
des lüchtet sam der morgenstern
1945.
übr alle zit ewik sin kron
vor gottes aneblicke schon.
darum, ir fürsten, wirket mich:
üch wirt von gotte sicherlich
barmherziklichen dort getan,
1950.
wann üch der werlde rich verlan.
den armen den betrübet nicht
und habt zu steter güte pflicht.
üch zimet wol, ir fürsten rich,
das ir in allen dingen glich
1955.
der werld ein wares zeichen sit,
so habt ir lop in eren wit.
das kint sich nach dem vater richt,
als im sin werk hat vorgeticht;
der vater oft das kint verblent,
1960.
ein bilde falsch wo er im sent.
zu gotte er nicht kummen kan,
der hie nicht folget miner ban,
und teilt sin gut der armen schar
in milde sam der adelar.»
Der Fride kündet hie sin werk
und spricht, er si der tugnde berk.
1965.
Theologia darnach sprach,
da sie den Fride rich ersach:
«waruf gebuwet ist din ticht?
das tu mir kunt in diser schicht.»
er sprach: «ich. bin ein war rifir:
1970.
in mir sich weiden alle tir.
fisch, vogel, mensche geren min:
des bin ich aller tugnde schrin.
durch mich sint alle dink gesacht:
der helle grunt der ist gemacht,
1975.
das in dem himmel fride han,
die gottes willen han getan.
die engel wegten nimmer glich,
wern sie nicht gottes fride rich.
ich in dem himmel wart bekant,
1980.
da ich den ersten engel bant
und dampfte in der flammen glut
der argen slangen übermut.
wo min der mensche nicht engert,
sin ere schranzet gottes swert:
1985.
wann er in not mich rufet an,
zu spot das rufen wird getan;
wer mich nicht suchen wil in zit,
von dem min stür sich firret wit.
got durch mich von dem himmel klam:
1990.
sin hant ußrotte fluches ram.
der mensche were noch in pin,
wer nicht gewest der fride min;
mensch unde got versünet ist:
das tichte mines frides list.
1995.
die sele sunder frides ban
mak keine wisheit nicht gehan:
der mensche der nicht fride hat,
der git vil selden guten rat.
durch frid sint worden alle dink,
2000.
des bin ich aller tugnde rink:
der keiser und der babest wart
geticht durch rechtes frides art;
die künge, fürsten und ir kint
durch fride gar geboren sint;
2005.
was dörfte man der pristerschaft,
wo das nicht fride hette kraft?
irs wortes fride gibet stür
der sele vor der flammen für.
die werlde hette kein gericht,
2010.
wo das nicht fride wer geticht,
und wer ouch alles rechtes ler.
darum, ir fürsten, habet ger
zu fride, sint got üwer hant
hie richten liß der werlde lant:
2015.
darumme set, wie ir die schaf
hie fürt, das ir icht liden straf
dürft von des höchsten gottes kint:
die fürsten gottes meier sint
und sint bi gotte gar ein spot:
2020.
sin warer fride rette Lot
und ouch der Israhelen dit;
unfride Pharao vorrit,
das er starp in dem roten mer
mit sinem volke sunder wer.
2025.
die zen gebot gegeben sint
durch fride diser werlde kint:
die werlde möchte nicht gestan,
wo sie nicht solde fride han».
Die ware Libe künt ir pfat,
die menschen bruch versünet hat.
Theologia darnach sprach,
2030.
da sie die Libe anesach:
«waruf gebuwet ist din ticht?
das saltu, meit, verhelen nicht»
die Libe sprach: «ich bin ein grunt
der tugnde gar und ouch ein funt:
2035.
in mir sich sachen alle tir,
die uß den elementen vir
gemachet sint und ouch gesatzt.
got hoch min wirken hat geschatzt,
als ich es wol bewisen sal:
2040.
er klam durch libe her zutal,
das er min wirken möchte sen.
gütlich min ougen liß ich bren
und gap im manchen süßen blik,
die wil ich span der salden strik,
2045.
das er nicht mochte kummen dann,
ein fremde forme zoch er an,
das er bi mir bleip ungemelt:
ein meit in furt in ir gezelt
und druckt in an irs herzen brust:
2050.
darzu gab ich min ware lust,
so das der keiser hoher art
da mit der meit getruwet wart;
sie sneit im an ein rich gewant,
davon er bleip gar unbekant:
2055.
sulch wunder groß ich wirken kan.
an mich kein tugent mak gestan:
wer sich von minem werke firt,
der ist des himmels gar verirt:
was tugent möchte der gehan,
2060.
der werk der libe nicht enkan!
die werlt und ouch der werlde kint
von libe gar versumet sint:
ich bin der werlde hüterin.
gein blicken blick ich werfe hin;
2065.
der ougen boten künden gunst:
darnach send ich mins füres brunst,
das will in willen sich beslüßt,
davon der libe frucht entsprüßt,
die süß ist über alle frucht,
2070.
wo das ir wachsen ist in zucht.
trüw unde recht ich han geticht:
wo das min libe were nicht,
die werlt von not sich storte gar.
dem küchel gibt durch libe nar
2075.
der vogel: sunder libe kan
die werlt in keiner schicht gestan.
die libe mak gesünden nicht:
wo lib in lib sin herze flicht,
da wonet keiner sünde schur;
2080.
ir trüw ist fester dann ein mur.
zu gott er nimmer kummen mak,
der warer libe nie gepflak:
durch libe wirt gesuchet got,
durch libe helt man sin gebot,
2085.
man helt durch libe gottes e;
der mensche gibet dicke me
durch libe dann durch gottes will:
die lib ist aller tugnde zil.
darum, ir fürsten, folget mir,
2090.
ab ir zu salden habet gir:
habt gotte lip und üwer man:
nicht baß ich üch geraten kan.»
......................
......................
Theologia darnach sprach:
da sie die Hoffenung ersach:
2095.
«waruf gebuwet ist din grunt?
das tu mir durch din libe kunt.»
sie sprach: « ich bin der erste wek
der salden und der höchste stek:
wer minem spore folget nicht,
2100.
der hat zu gotte keine pflicht;
wem ganz sin herze zu mir stat,
den selben got nicht fallen lat:
er recket im sin ware hant
und hilft im uß der nöte bant.
2105.
von mir gink Peter uf dem mer;
da er mich liß, gar sunder wer
er wer in flut ertrunken da,
wer im nicht Cristus kommen na.
min hoffen gibet waren trost:
2110.
das hoffen in Caldea lost
die kinder von der flammen für;
hern Isaac gap hoffen stür,
das in das waffen nicht versneit,
da er wart uf den rost geleit.
2115.
das hoffen stürte sunder wan
hern Josue vor Gabaon:
die sunne stunt recht sam ein mur
und luchte zu des strites schur.
wie Jonas in dem fische lak
2120.
vorslunden an den dritten tak,
der ware got sin nie vergaß,
da ganz sin hoffenunge was.
in hoffenunge storte Bel
zu Babilon her Daniel,
2125.
im gap die hoffenunge trost:
er von den leuwen wart erlost,
in hoffenunge sunder wer
her Moises fur durch das mer;
der wak recht sam ein bulge stunt:
2130.
durch hoffen trucken wart der grunt,
set, wie den künk von Ninive
sin wares hoffen stürte me,
das unverstöret bleip die stat,
wan alles fasten, das er tat.
2135.
sust denket hin und denket dar
und nemt der tat der werlde war,
das der gar selden underlak,
der warer hoffenunge pflak.
des menschen leben wer ein wicht,
2140.
stürt in die hoffenunge nicht,
ein iglich tugent und ir art
durch hoffenung getichtet wart:
man leret wisheit umme das,
das man zu leben hoffet baß;
2145.
gerechtikeit man wirket schon,
das man von gotte hoffet lon;
die fürsten pflegen mildikeit,
vor gotte das ir name breit
werd, und ouch hie sie hoffen lon,
2150.
das in gesprochen werde schon;
man wirket hie barmherzikeit,
das man dort hoft vermiden leit;
der frünt dem fründe gibet brot:
er hoffet, ab in drücke not,
2155.
das er das selbe gein im tu.
dabi die rede blibe nu.»
Geloube künt sin wirken hie:
an in wart heil den menschen nie.
Theologia darnach sprach,
da sie an den Gelouben sach:
«wovon mak din geticht gesin?
2160.
das künde nu der libe min.»
Geloube sprach: «ich bin das seil,
in das sich stricket menschen heil:
ich leite nach der snure glich
den menschen zu dem hiinmelrich.
2165.
zu gotte mensche kummet nicht,
ab im unkundik ist min ticht.
der mensche sust geleuben sal,
ab er nicht fallen wil zutal,
wie gotts drifalt ein wesen si,
2170.
und ere doch personen dri.
den vater, sun, heiligen geist:
die dri ein wesen ummekreißt,
unspeldik, ewik an beginst.
es ist kein not, das du besinst,
2175.
wie dri in einem wesen stan,
uß den die creature ran:
es reichet keines sinnes ticht.
kein lon hett der geloube nicht,
wo redlichkeit bewiste das
2180.
des menschen, wie got drilich was,
personen, die eins herzen klamm
besloß in eines wesens ram:
das ist verborgen aller list.
ein luter tat wie das got ist,
2185.
geloube der bewiset das:
urkundik das naturen was.
geloub ist ein selbstendikeit,
des wesen hoffenunge treit.
kint, lerne den gelouben recht:
2190.
geleube sunder wandel slecht,
wie Cristus got und mensche ist,
uß gottes herzen sunder frist
geborn vor aller ewikeit;
das fleisch er von der meide sneit
2195.
an sich: in fremder formen art
des geistes wort gekleidet wart;
es mensche wart und bleip doch got.
zu stür es in der helle not
des ersten menschen bruche quam
2200.
darnach es zu dem himmel klam
und dannen widerkummen sal,
zu richten diser werlde tal.
zu siner zukunft werden sten
die toten uf und vor in gen
2205.
und geben rechenunge gar
von aller hande missefar.
der mensche fint sins werkes lon
geschriben an der stirne schon:
darnach die rechenunge stet.
2210.
got zu den argen sprichet: ‹get
verdammet in der helle für
und hoffet fürbaß keiner stür.›
den guten wirt gesprochen zu:
‹get, ir gebenediten, nu
2215.
in gottes rich, das üch bereit
ist von des himmels ewikeit.›
geloub den fürsten, keisern zimt,
von den die werlt ein zeichen nimt;
geloub dem menschen hilft uß not:
2220.
an in ist alle tugent tot.»
Theologia teilt ein recht
Naturen und den tuenden slecht.
Theologia darnach sprach:
«als es mins sinnes oug ersach
und es mins herzen grunt verstet,
von gott ein iglich tugent get
2225.
und kumt uß der naturen nicht,
als es bescheiden sal min ticht
nach rechter formen; ab ich kan,
und hebe sust zu reden an:
wo tugent von naturen wer,
2230.
so wer kein mensche tugnde ler
und möcht ouch anders nicht getun
wann trüwe, recht, frid unde sun:
der fluß in twünge der natur,
das er mit aller sünden schur,
2235.
damit ich wil bewisen das,
das tugend ie von gotte was
und floß uß sines herzen grunt:
natur von tugent ist entzunt.
die ander red ich geben wil,
2240.
das got si aller tugnde zil,
und ewik uß im kummen muß
und nicht uß der naturen fluß.
wo tugent von naturen ist,
durch was man lert sie alle frist?
2245.
warum du lerest gottes recht,
gein dem der arge wille frecht?
wann nimant dürfte leren das,
das im ie von naturen was.
ist tugent von naturen fluß,
2250.
so ist das kint ein musicus
und kan ouch wol gramaticam,
e das es in die schule quam.
der rede wider das ist war:
damit so stet bewiset klar,
2255.
das tugent kumt uß gotte fri
und nicht uß der naturen si.
die dritte rede die si das:
e die natur geschaffen was,
der himmel, mer und alle dink,
2260.
die engel und der sterne rink,
da muste got ein tugent han,
uß der naturen wesen ran:
got mochte sunder tugent nicht
gebuwen der naturen ticht.
2265.
die tugent wirt gar sunder spot
an mancher stat genennet got:
man spricht: die tugent caritas
gots tugent und got selber was.
damit bewiset offenbar
2270.
ist, das natura nam ir nar
uß gottes tugent sunder wan:
des sal die wird die tugent han.
die red und ouch der rede punt,
macht keisern, küngen, fürsten kunt,
2275.
den grafen, frien, ritterschaft
und allem das nach eren staft,
das die natur ist gar ein troum,
wo sie nicht fürt der tugnde zoum.
des keisers kint ist edel nicht,
2280.
wo das sin werk unadel ticht;
untugent ist der eren tot:
der mensche dörfte keine not
nu liden, wer untugent nicht.
darum, ir fürsten, habet pflicht
2285.
zu tugent unde midet das,
das fal dem ersten menschen maß:
so lit ir keiner schanden pin.» hie sal des buches ende sin.
Hie wil Natur bewisen das,
wie sie vor allen tugnden was,
sint uß ir kommen alle dink:
des wil sie sin der tugnde rink.
Natura sprach: «ich bin ein grunt
2290.
der ding und irer tugnde funt:
als in ir wesen uß mir ran,
sust sie ir tugent von mir han:
und was da heißet eigenkeit,
darin min art sie hat gekleit.
2295.
die erd ich stifte und ir recht,
swer, trucken, kalt, swarz, schibelecht,
und was der tir darinne ist,
die hat gebuwet gar min list.
der wak ouch in dem zirkel gat,
2300.
den im min hant gekrißen hat,
durchsichtik, kalt, swer unde naß.
darum ich einen zirkel maß,
klar unde bla: darinne gat
die luft, die selden stille stat:
2305.
weich unde warm sie macht min stür.
um ire schiben get das für,
licht, trucken, rot, weich unde heiß.
das für beslüßt des manden kreiß
und ouch die elementen gar.
2310.
darnach Mercurius fürwar
den manden ummereifen muß.
die vorgenanten slüßt Venus.
die sunne muß zu mittelst gan,
dri under ir, dri oben lan.
2315.
Mars darnach sunder lügenmer:
den ummeslüßt her Jupiter.
Saturnus muß der höchste sin:
der ist der vorgenanten schrin:
was die planeten wirken gar,
2320.
das gap min kraft in milde dar.
darnach das firmamentum get,
darin manch stern gestippet stet.
darnach die erste weglichkeit
den louf den schiben gar bereit:
2325.
wann sie von irem rucke gen
und mugen stille nicht gesten.
ir sult geleuben mir fürwar:
die tir sich müsten stören gar,
wo das der himmel stünde still,
2330.
von dem ich fürbaß sagen wil.
Hie von des himmelt zirkeln spricht.
Natur, wie das sie sin gericht.
Der himmel zwene zirkel hat:
der erste hin gein süden stat
von norden: equinoccial
den selben kreiß ich nennen sal;
2335.
tak unde nacht der zirkel glicht,
als in min influß hat geticht.
der selbe zirkel hat zwei punt
adr zwene polus, ist mir kunt,
an den der himmel ummereist:
2340.
des süden punt das eine heißt,
das ander heißt des norden punt:
daran der segelstern entzunt
stet unde lücht in sulchem zil,
als es min influß haben wil.
2345.
den andern nenn ich, ab ich mak:
der ist geheißen zodiak
und übern ersten ist geschrenkt,
als in min finger hat gelenkt,
und teilt in zwei den ersten glich:
2350.
kint, von der lere nicht enwich.
der zirkel nach der lingen seil
sich teilet in zwelf gliche teil,
die teil die zwelef zeichen sin:
ir namen künt die lere min.
Hie nent die zeichen alle gar
Natur nach ordenlicher schar.
2355.
Der Ster das erste zeichen heißt,
nach dem die Fische, darnach reist
der Ochse, darnach Gemini,
nach dem krouch der Krebeß ie,
der Leuwe, Meit und Scorpio,
2360.
die Wag, darnach der Schütze jo,
der Bok, darnach der Waßerman:
von mir ir tugent alle han
und wirken nicht wan das ich wil:
min kraft ist ires wirkens zil.
Natura seit, was tugent hat
der Ster wann uf gein osten gat.
2365.
Der Ster wann uf gein osten sit,
als im min influß blicken rit,
welch mensch darunder sich gebar,
krusp unde dick wirt im sin har,
sin ougen groß, sin oren klein,
2370.
sin hals ist lank, krank sint sin bein,
sin füße breit, sin dich sint lank,
gar herlich ist des selben gank,
sin kinne spitz, so ist vor sich
die brust gebogen sicherlich,
2375.
sin schuldern eng, sin zene grop,
klein sint sin arm, groß ist sin kop.
min kraft das alles wirken kan:
des mag ich wol die wirde han.
welch dink darinne anfank hat,
2380.
des bu nicht lang in kreften stat.
Hie künt Natur des Ochsen art,
und menschen das darunder wart.
Welch mensch das in dem Ochsen wirt
geborn, es scharfer sinn enpirt.
sin stirne breit, recht sam ein bloch,
gar wit sint im die naseloch:
2385.
es muß ouch große ougen han,
ouch sint im brun die wimperan.
stark ist sin hals und dabi dick,
stet uf die erden ist sin blik.
sin har ist swarz und dabi rach,
2390.
ouch wirt die brust dem menschen flach.
sin zorn der ist gar fientlich,
und zürnt doch selden sicherlich,
sin knorren grop, sin füß unlank,
gar erlich ist desselben gank.
2395.
welch dink darinne wirt gepflanzt,
gar lang es blibet unverschranzt
und wechset snelle mechtiklich:
das sult ir wißen sicherlich,
wan ich das alles wirken kan,
2400.
des sal min art die wirde han.
Uns kündet die Nature hie,
was wirkens haben Gemini.
Das dritte zeichen ist bekant:
das selb der Zwillink ist genant,
welch mensch darin geboren wirt,
der argen list es gar enpirt:
2405.
es ist getrüw und dabi gut,
doch ist gar ruschende sin mut.
sin hals und ouch sin nase lank,
sin heubet groß, sin lip ist swank,
breit ist sin brust, schon sin gestalt,
2410.
und ist gern in der rede balt,
sin füße groß, und libet sun
und kan wol rechenunge tun.
welch man darinne sune gert,
der blibet selden ungewert,
2415.
wo das der man darinne get
und es gericht gein osten stet.
Natura von dem Krebße spricht,
wie das sin influß si gericht.
Der Krebß das virde zeichen heißt,
der stete hinderwertik reist,
welch mensch darinne wirt geborn,
2420.
in er es selden wirt gekorn.
sin antlitz das ist slaferik,
sin hüffe grop und dabi dick,
sin ougen im zuplunsen sint,
krank ist sin blick, wird es nicht blint.
2425.
gar widerspenik ist sin tat,
sin glücke rückelingen gat.
ußsetzikeit und süchen vil
es lit in siner tage zil.
treg ist sin werk, der adem sin
2430.
im stinket nach der lere min.
es wirt ouch von geschichte rich,
und snell den betteleren glich,
wann in dem zeichen get der man,
so saltu alle teiding lan:
2435.
welch dink darinne wirt geborn,
daran die arbeit ist verlorn.
Hie künt Natur des Leuwen art
und menschen, das darunder wart.
Das fünfte tu ich üch bekant:
der Leu das zeichen ist genant.
welch mensch geboren wirt darin,
2440.
vernunst es hat und scharfen sin
und flißet sich an meisterschaft
und hat in armen große kraft,
sin brust ist stark, sin schuldern breit,
in herzen gottes forcht es treit.
2445.
und ist ouch mild und dabi gut,
doch ist gar ernst des selben mut:
ruch ist sin brust und zeret vil.
wann er von hinnen scheiden wil,
groß klagen wirt um in getan.
2450.
den finden du gesigest an
in diesem zeichen sunder list,
ab du darin geboren bist.
Natur uns kündet unde seit
des zeichens art, genennet Meit.
Das sechste zeichen heißt die Meit,
von dem üch hie min lere seit.
2455.
welch mensch darinne wirt geborn,
das darbet list und midet zorn,
gar gütik ist des selben mut,
durch got es gerne gabe tut
und ist gar senftiklich gesitt,
2460.
ouch im behende sint die glit,
und fürchtet got zu aller zit.
sin antlitz schon und dabi wit,
und kan gar minniklichen sen,
wann es sin ougen leßet bren.
2465.
die küsche und die reinikeit
es stet in sinem herzen treit.
im wirt gemeret sine frucht
von gotte durch sin ware zucht.
man sünet in dem zeichen das,
2470.
das e gar ungesünet was.
sin influß ist gar fridelich,
das sult ir wißen sicherlich.
Natura von der Wage spricht,
wie das ir influß si gericht.
Die Wag das sibnde zeichen heißt,
das uf und ab unstetlich reist.
2475.
welch mensch darinn geboren wirt,
von dem ist selikeit gefirt:
nach falschen dingen stet sin ger,
und ist ouch aller trüwe ler.
krusp unde swarz ist im sin har,
2480.
die nase spitz, und tunkelfar
sin ougen sind, und slaferik
ist siner formen aneblik.
was sachen im befolen ist,
das wirket es in arger list;
2485.
kein mensche tar sich zu im lan:
ein arges ende muß es han.
was in dem zeichen man begint,
es selden ende gut gewint.
Natur künt hie, wie Scorpio
sins werkes influß habe so:
Das achte zeichen ist bekant:
2490.
es ist der Scorpio genant.
welch mensch darin geboren wart,
unbarmik was des selben art.
der selbe mensche frißet vil
und lüget sunder maßes zil;
2495.
trüw unde recht er heldet nicht,
er spot von gotte gerne spricht,
got bet er mit dem munde, an,
doch ist sin herze ferre dann,
gar giftik ist sin arger will,
2500.
sin blik ist mortlich unde schil,
sin antlitz das ist zornes vol,
sin füße knorrecht unde hol.
wer in dem zeichen wirt verwunt,
der wirt vil selden mer gesunt.
2505.
nimant darinne suche tat,
wann sie gar rückelingen gat.
sint ich, Natur, das wirken kan,
des mag ich wol die wirde han.
Natura künt des Schützen art
und menschen, das darunter wart.
Das nünde zeichen ler ich dich:
2510.
das heißt der Schütze sicherlich.
welch mensch geboren wirt darin,
von not es muß ein jeger sin.
das selbe herschaft nicht enpirt:
daruß es doch gedrungen wirt
2515.
und kummet aber wider drin,
ein heubt es muß der fründe sin,
von im sich meret sin geslecht,
und stet nach großen eren frecht,
und doch nicht lange nüßet die.
2520.
wann es zins der naturen hie
muß geben, wißet sunder wan,
um in groß jammer wirt getan.
was in dem zeichen man begint,
ein erlich end es nie gewint.
Das zeichen, das der Bok genant,
das tut Natur uns hie bekant.
2525.
Der Steinbok muß das zende sin.
das zeichen nach der lere min
ist gut: welch mensch darinne wart,
das lebte jo nach rechtes art.
sin antlitz eng und dabi lank,
2530.
sin lip ist mager unde swank;
kein großes fleisch es ledet nicht,
scharf unde stark ist sin gericht,
und betet gern zu aller stunt.
sin nas ist groß, eng ist sin munt,
2535.
und hat zu keinem tranke pflicht
und achtet überfraßes nicht,
und tut gar endelichen das,
von schulden was zu tune was.
uf zorn er snelle wirt geweit,
2540.
ouch snelle sich sin zorne leit,
und trüget gar an sinen dank;
wo das sin zorn gewinnet swank,
so let er uß der snalle das,
vor glich das sinnes wage maß.
Natura von dem Waßerman
hie kündet, was er wirken kan.
2545.
Das eilfte zeichen sunder wan
das ist genant der Waßerman.
welch mensch gezilet wird darin,
des lip muß wißer farbe sin
und doch nach ascherfar gestalt,
2550.
es wechset snell und kranket balt,
der land es ummesweifet vil,
und gnuk biß an sins endes zil
uf diser werlde hie erwirbt,
das mensche an dem heubte stirbt,
2555.
darin im der naturen kunst
fluß tribet unde steten dunst;
der mensche wirt geklaget ser.
kint, halt das vor ein ware ler:
es gibet der Naturen art,
2560.
was wunders ie gewirket wart.
Uns kündet der Naturen list,
wie das der Fische wirken ist.
Des zwelften art ich lere dich:
es heißt die Fische sicherlich,
welch mensch geboren wirt darin,
ein jeger und ein reuber sin
2565.
es muß, und von des zeichens art
es oft zu einem fischer wart,
und in dem wage freislich ist,
und findet nüwer fünde list.
es ist ouch ark, und gizikeit
2570.
es stet in sinem herzen treit.
der mensche lützel wirt gekleit,
wann das sin sterben wirt geseit.
sint ich, Natur, das wirken kan,
des mag ich wol die wirde han:
2575.
recht als ich han die dink gemacht,
sust ich ir tugent han gesacht.
es ist kein tugent ane dink:
des bin ich aller tugnde rink,
und wil damit beslißen das,
2580.
das ich vor aller tugent was.»
Der meister dises buches spricht:
got die nature hat geticht,
die engel und die speren breit
2585.
und was das zentrum wunders treit,
in wisheit und in tugent, kraft:
davon Naturen wirde slafft,
und sal sich tugent glichen nicht,
sint sie von tugent ist geticht:
2590.
die tugent, in der got geschuf
die dink in sines wortes ruf,
die selbe tugent die was got
und got die tugent sunder spot.
Christi Leiden
nach 1366
Der Autor
Der Passionstraktat «Christi Leiden in einer Vision
geschaut» wurde von einem unbekannten Autor gegen
Ende des 14. Jahrhunderts verfaßt. «Das Werk hat in der
Forschung bis heute kaum eine Form der Beachtung
gefunden, die über das bloße Registrieren der
Auffälligkeit
seines
Realismus
hinausginge»
(Aleksandra Prica, 2006).
Christi Leiden in einer Vision geschaut
Textgrundlage:
Christi Leiden in einer Vision geschaut:
A German mystic text of the fourteenth century;
a critical account of the published and unpublished
manuscripts
with an edition based on the text of MS. BernkastelCues 115
ed. Frederick P. Pickering
Manchester: Manchester University Press, 1952
Digitale Edition: Angus Graham
University of Sharjah, United Arab Emirates
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Hie geit an eyne vurede in dat boichelgyn
van vns heren Jhesu Christi
mynnenclichen lyden.
Elegit suspendium anima mea et mortem ossa mea. It
geschach zo eynre zyt dat eyn gelert man predigers
ordens dat lyden Christi in sin hertze nam mit andacht
mit begerungen vnd mit ernste, Vnd bat dat vederliche
hertze dat he in dar zo gewirdigde, dat he wurde eyn
gewaire medelyder sins eyngeborenen soens vnd zo eme
an sin cruce genegelt wurde, so wie wee eme auch hie
van geschegen mochte. Darna vugte got dat eme dese
schryft die herna steit van [67va] der pynen vnses heren
wart geantwort, die gar eygentlich alle die erbermeliche
wise [vffenbairet] die Christus hatte in synre steruender
noit; vnd dat was eme vil lustlich zo lesen vnd zo
betrachten, uff dat eme syne lydende dage da van die
lichter wurden vnd syne moeliche iair. Vnd so wie dat
sy, dat sin vil in dem ewangelio neit in ste, doch in der
wisen als he van eme ernuwet vnd gerechtet vnd
geordent ist, so in ist neit da dan dat gar mynnenclich ist
vnd dat weder die heilige schryft neit in ist, vnd dat wal
geoefften menschen an betrachtungen synre martelen
gar geloufflich ist. Die vier ewangelisten schryuent dan
aff kurtzelich vnd alleyne dat dat da noitdorfftich was,
vnd liessen dat ander blyuen; vnd dat was gar zemelich
in den dagen, do man den gecrucigten Christum kōme
wulde hoiren nennen. Auer nu ist sy[n] gotliche ere wal
vurgebrochen, beyde vffenbairlich in der cristenheit
[vnd] in manichen mynnenden hertzen, Vnd darum in
ist is neit vnze-[67vb]melich dat he auch sin
menschelich lyden noch eygentlicher synen vsserwelten
frunden wulde vffenbairen. Der sich dar an stoisset, der
clage syne eygen blintheit, want den siechen augen ist is
vnledelich den schoenen dach an zo sehen.
He hiesch is synen wal erarnende spegele, dar vmb das
eme sin vurganck fuyr was worden. Do it eme zo
verstaen wart vnd in duchte dat is so reitzelich were zo
andacht, Do hette he is gerne allen mynnenden hertzen
gemeynsamet. Vnd dan aff wart vil groisses lydens vff
in vallende. Do he in desem lyden was, do geschach
auch dat he vff dem wege siech wart bis an den doit, dat
eme wenich ieman dat leuen gehiesse. Vnd do he vil
ellendenclich gelach eyns nachtes vnd van groissen
noeden der suchten neit in mochte slaiffen, vnd dar zo
lach van allen menschen vnbehulffen, Do wart he mit
gode eyn lieffliche rechenunge her vurnemende vnd
sprach also: „Ach gerechte got, wie kans du so wal mit
der vnmaissen [68ra], da du wilt dat du myne crancke
nature so gar ouerladen hais mit so bitterem lyden vnd
myn hertze verwundet hais mit versmaheit, wanne wilt
du an mir vff hoiren, mylde vader, Ouwe wanne
duncket is dich genoich?“ Vnd nam in synen moit den
engestelichen angeste den Christus leit vff dem berge do
syne menscheliche nature mit eyme vereynigen willen
zo lyden dem lyden gerne intwichen were, vnd wie he in
der grymmer noit wart den bloedigen sweis so
genoichsamlich swytzende, Als auch herna an desem
boichelgyn steit geschreuen, vnd sleich also siech mit
betrachtungen hyn zo Christum vff den berch an die stat
da he gegenwortich kneede. Vnd der selue broder nam
syne hant vnd lies sy Christum ouer syn treyffende
bloedich angesichte gaen vnd ouer alle synen bloedigen
swytzenden lyff, Vnd hoyff die hant an sich vnd
bestreich synen siechen steruenden lyff mit desem
hitzigen vffrechtenden gotlichen blode, vnd sprach mit
begerden syns hertzen: [68rb] „Ach here, ist dit eyn
wairheit dat dynre steruender noit so vil was als hie
geschreuen ist, des laisse mich geneyssen an deser
lydender stunden; vnd ist is dyn wille vnd din loff, so
mache mich gesont mit deser saluen dyns reynen
hytzigen blodes vnd laisse mich geneissen dat ich durch
deser wairheit willen so vil haen erleden.“ Vnd intfur
eme eyn alsulch worte vnd sprach: „Here, geneissen ich,
zohantz so wil ich din grois lyden dir vnd dyme
hemelschen vader zo eren gerne richten vnd zo liechte
brengen. Ist auer dat ich neit balde geneissen, so wil ich
it aen allen zwyuel in eyn vuyr werffen.“ In deser
begerden krouch he van dem bette aff vff den stoel der
vur dem bette stoent, want he was ellendich vnd in hatte
nyeman der in hube ader lechte, vnd sas also da, want
he in mochte van dem geswere dat he hatte neit gelygen.
Vnd do he also ellendich sas, do was eme vur in eyme
gesichte wie eyne groisse menige des hemelschen
gesyndes queme eme zo [68va] troiste vnd vienge an zo
syngen eynen hemelschen reyen, eyn ouernaturlich
gotlich gesenge, vnd dat erclanck also soisselich in
synen oren, dat alle syne nature verwandelt wart. Vnd
do sy also vroelich sungen vnd deser broder also trurlich
sas, do gienck eyn Jungelynck zo eme vnd sprach gar
gutlich: „warum swyges du, warum in synges du auch
neit mit vns? du kans doch wal den hemels sanck?“ Do
antworte eme der broeder in eynre beseufticheit syns
hertzen vnd sprach: „Ach, in syhes du neit wie we mir
ist? wa gevreuwede sich ie eynich steruende hertze? Sal
ich syngen, ich syngen den leyden iamersanck. Gesanck
ich ie froelich, dat hait nu eyn ende, want ich warten nu
der stunden myns endes.“ Do sprach der jungelinck gar
froelich also: „Viriliter age! Gehalt dich wal, Sys
vroelich, dir in wirret neit. Du wirdes noch sulchen
sanck doende, dan aff got in der ewicheit wirt geloeft
vnd manich lydende mensche getroist.“ In den worden
do [68vb] flussen eme die augen vnd begunde weynen,
vnd vff der stunden do brach die vnreynicheit van eme
vnd wart eme vff der stat bas. Dar na mit eynre
danckberheit syns hertzen gaff he dit zo lesen den
menschen die sin intfencklich waren, na dem dat it got
an eme geordent hatte.
Hie begynnet die passie
vns lieuen heren Ihesu Christi.
Eyn mensche was eyns mails vur metten in syme
gebede na irre gewaenheit als irre andacht was, Dat sy
gewoenlich gerne wachte vur metten so wanne die
crystenheit sleiffet. Nu begerde sy dat ir dat lyden
Christi vns heren gruntlich zo hertzen gienge vnd
arbeite sich darna mit vil begerden. Nu gedechte sy an
syn komen in menscheliche nature, Nu an manche
wunnencliche doegende die he dem menschen gedaen
hatte, Nu an syn demoedich lyden dat he vmb syne
doegent geleden hait, vnd gedechte hyn vnd her, so wat
sy vant dat ir begerde reitzen solde zo Christus lyden.
[69ra] Dat in wolde ir neit wal zo handen gaen na irre
begerden. Do lies sy dan aff, doch mit bedroyffenysse
irs hertzen vnd wulde sich an ir gebet haen gelecht. Do
wart ir zo gesprochen van gode: „Wiltu alle dat lyden
Christi sehen vnd hoiren vnd eyn deil bevynden, so wal
her! du salt it allet sament sehen vnd hoiren, want dat is
begerlichen dem hemelschen vader dat man syns kindes
lyden bevyndet vnd bekennet.“ Also wart sy gevoirt an
die stat, da Christus mit synen jungeren an sin gebet
wulde gaen, Vnd sach in van den Jungeren gaen eynen
gueden wech, vnd neygde sich neder vff syne knee vnd
sprach mit worten.
Zo metten zyt .'.
„O Vader, mich geit an anxt vnd noit, mach it sin, so
nym sy van mir, doch werde din wille.“ Vnd bete eyne
lange wile darna. Der worte in hoirte sy neit, Sy hoirte
auer wal die stymme. Do stunt he vff vnd gienge zo
synen jongeren in der wysen als eyn mensche der
vrdrussich ist syns [69rb] selues, Vnd vant sy slaiffende
vnd weckde sy vnd sprach: „Ouwach, slaiffet ir? angest
vnd noit heuet sich an des menschen kynde. Wachet vnd
bedet dat uch der duuel iet bekore.“ Vnd he gienge auer
weder an sin gebet vurbas dan vur vnd [merete sich sin
angest mer dan vur vnd] kneede auer neder vnd sprach
mit eynre groisser stymmen: „Vader sich an dyns
kyndes noit; mach it sin so nym sy van mir, doch werde
dyn wille vnd neit der myn.“ Do bete he auer vnd wart
dat gebet langer dan vur mit luder stymmen die sy
hoirte, doch in mirckte sy der worte neit. Do stunt he
auer vff vnd gienck zo synen Jungeren. Do rieff eme des
dodes vorte, vnd wulde sich haen etzwat ergetzet mit
synen iongeren des lydens, dat he doch wal wiste dat he
it lyden moiste. Vnd vant sy auer slaiffende. Do wart he
bedroeuet van ouerigem lyden dat in inwendich
drengde, vnd weckde sy hertlichen vnd sprach:
„Ouwach, slaiffet ir? Steyt vff vnd bedet want he necket
der mich da hyn [69va] gift. O Peter, sleiffes du auch?
Du spreches doch, du wuldes mit mir in den doit gaen.
Wachet vnd bedet, dat uch der duuel icht in ouerwynne.
Wisset, uch wirt angeste vnd noit angaen in deser nacht,
want der hirte wirt geslagen vnd werdent die schaiffe zo
spreit.“ Vnd kerde sich do zo sente Peter vnd sprach:
„Ich saen dir, Peter, so du weder kummes, so saltu sy
weder samenen vnd stercken.“ Do mirckde sy dat he
dese worte sprach zo sente Peter eme zo eyme troiste,
want he wiste dat he leit hatte vmb syne traicheit vnd
vmb synen slaiffe. Vnd gienck auer weder an sin gebet
vil verrer dan vur an eynen berch. Vnd wart syne
stymme also grois, dat he eynen groissen royff vss lies
van vngestumer lydungen die alle syne nature
vmbuangen hatte vnd durchdrungen vnd sprach:
„Vader, sich an dat enxtliche lyden dyns soens; mach it
syn, ader weist du in dynre wysheit eynen anderen
wech, den lais vur gaen, dat ich gelediget werde des
schentelichen dodes. Du weist wal myn [69vb] vleisch
is kranck, vnd myn geist is bereit dynen willen zo
vollenbrengen.“ Do he also gesprochen hatte, do
durchgienge des dodes angeste alle syne nature vnd dat
erzounte he an synre geberden, Want he warff sich
seluer mit groisser vngestumicheit vff die erde vnd wart
roiffende vnd murmelende vnd grysgrammende vnd van
ynnigem hertzen weynende vnd sprach: „O getruwe
mylde vader, neit in sich an dyns kyndes noit dan an
dynen ewigen willen, der sal vur gaen.“ Vnd in dem
seluen do was eme gegenwortich alle die angeste vnd
pyne die he lyden solde van worten ader van wercken,
als off he sy yntzunt lede, vnd hoiff sich eyn doeuende
we in aller synre naturen, vnd streckde sich in crucis
wyse vff die erde. Dat dreyff he also lange als dat man
wal die seuen salme hette gesprochen, Vnd was syne
geberde also enxstelich, dat sy mir sade dat it guet was
dat it die jungeren neit in sagen noch in hoirten, dat
[70ra] sy iecht verzagden van synen engesten vnd van
synen lyden. Vnd do gelach he stille uff der erden als
eyn mensche die van dodes angeste vnd van syme lyden
synen geist vff wil geuen. Da vur hatte in eyne
vngewoenliche kelde vnd frost durch gangen, Darna
durch gienck in eyn vngewoenlich vuyr vnd hytzte, Als
off die menscheit Jhesu Christi solde verenden, vnd
durch brant alle die vuchticheit die in synre naturen was,
Vnd ylte zo dem marcke in dem gebeyne, dat it
verbrente vnd verderde, vnd zo dem blode in die aderen,
dat it dat vsgusse vnd verswente, vnd drengde die got
vereynigde menscheit so sere, dat dat bloit an allem
synem licham vs dranck, Auch vss ouer alle synen lyff,
dat he hin vlouss van blode. Vnd also in der doitlicher
anxte quam eyn engele vnd sprach zo eme mit eynre
gotlicher craft: „Stant vff vnd sys starck, du salt brechen
dat bant Adamus, Vnd salt afflegen den zorn dyns
[70rb] vaders, vnd salt alle sere heilen vnd salt
versoenen menscheliche kunne. Ganck vnverzaget, die
craft dyns vaders ist dyn vnderstant vnd intheldet dich.“
In dem seluen nu rechte sich Christus vff van der erden
in sulchem iubilo als eyn mensche der van dem dode
erstanden ist, vnd mit begerden stunt he uff. Do sach sy
dat angesichte Christi, dat dat mit groissen blodes
troppen beronnen was vnd yntzunt flous, vnd dat sin
gewant bludes also vol was worden dat it neit me
intfaen in mochte, vnd dat it vff die erde flous vnd
droifde. Also stunt Christus vff mit gotlicher craft vnd
gienge auer zo synen jongeren vnd vant sy auer
slaiffende vnd sprach zo in mit eynre barmhertziger
myldicheit: „Ouwe ir tregen vnd ir crancken an uch
seluer, slaiffet ir auer? Steet vff, it is genoich geslaiffen,
he is hie, erwecket vre gemoede vnd intfeit eyne
gotliche craft, it geit uch an den strit vnd mir an die
noit.“ Bynnen [70va] des quam Judas mit eynre
duuelscher craft vnd gedursticheit vnd trat intgeen
Christum vnd bout eme synen armen zo eyme
vmvangen, Vnd synen mont zo eyme kusse. Vnd van
der beroerunge, dat Iudas berurte Christum, do
intweiche eme der duuel vnd he wart inthalden van gode
vnd van dem duuel vnd wart also cranck dat he neder
wulde sin gesturtz. Do sprach Christus zo eme: „vrunt
[den he viant bekante], warum bistu comen? Du giffs
mir eyn zeichen der vruntschaff vnd du weist wal dat du
nye frunt in wurdes, vnd doch vil fruntschaff hais
intfangen.“ Dat dede Iudas also we als der strick syns
dodes, vnd gienge van eme. Vnd Christus keirde sich zo
den die mit Iudas quamen; dat was dat aller boiste vulck
dat vff ertrich einich was: Sy waren besessen mit nün
dufelen die Lucefers neisten gesellen waren, vnd der
was vil, Vnd also manich vndoegende irre iecklicher
begeynck an Christo, Also manche düüel [70vb] was by
in, die sy dreuen vnd reytzten ouer Christum mit
doeuender wudender grymmicheit. Also quamen sy
doeuende vnd wuedende vnd royffende gen dem soissen
sanften lamme Christum. Do sprach he zo in mit eynre
milder sanfter s[ty]mmen: „Wen suchet ir?“ Do reiffen
sy mit eynre luder stymmen: „wir suchen Jhesum
Nazarenum.“ Do sprach he zo in: „Ich bynt.“ Dat wort
nam den duuelen vnd den luden alle ir craft, dat sy
craftlois neder fielen vff die erde vnd lagen als sy doit
weren. Do erquickde sy der vader van hemelrich, der
Christus doit wulde durch des menschen loysunge, Vnd
lies den duuelen ir craft weder, Vnd rechten die duuel
die menschen vff vnd giengen noch mit groisser
vngestumicheit weder zo Christus. He sprach auer:
„wen soichet ir?“ Sy spraichen auer: „wir soichen
Jhesum Nazarenum.“ Do sprach he auer: „Ich bynt.“ Do
vielen sy auer neder. Also quamen sy weder vff als vur
vnd quamen zo Christum. Der vragde sy auer: „wen
soichet ir?“ Do [71ra] spraichen sy auer: „Jhesum
Nazerenum.“ Do sprach he: „Ich haen it uch doch [ee]
gesait dat ich it byn. Sint ir mich soichet, so laisset die
anderen alle gaen Vnd nemet mich vnd doet mit mir alle
wat ir willet.“ Van desen worten Christi viel ir van gode
in: So wer geistelichen Christum wil soichen, der sal
alle dynck vur laissen gaen, so vyndet he Christum vnd
duet mit eme wat he wil. Also gryffen sy Christum an
mit doeuender wudender vngestumer duuelscher
geberden: Eme viele eynre in dat hair, der ander in die
cleyder, der dritte in den bart. Dese dru waren an eme
also vul hende, dat numme an eme gehangen in mochte.
Vnd do der irste die hant an in lechte, do wart Christo
benomen van gode dem vader alle die helffe die he van
genaden ader van naturen hatte, Vnd wart gelaissen aen
alle helffe vnd aen allen troist, dat doch nye menschen
versait in wart in synen noeden. Also wart Christus hin
gezogen mit vngestummer wilder doe[71rb]uender
wuedender vnzucht, mit starcken slegen, mit
gewapenden vusten vnd henden vff den nacken vnd
tusschen die schulderen vnd ouer den rucke vnd vff dat
houft Vnd an die wangen vnd vur die kele vnd vur die
bruste mit wilder vnzucht, mit doeuender geberden, mit
stercken slegen, wa sy in treffen mochten an alle syme
lyue mit sulchem grymme, als off in eyn eicklich slach
solde haen gedoet. Sy roufften eme dat hair van dem
houffde, dat die locke des hairs vff der erden lagen zo
strouwet, Eynre zouch in hyn mit dem hair, Der ander
zouch in her weder mit dem barde, Eynre zouch in mit
den oren Als he eyn aff ader eyn doir were. Sÿ wurffen
eme ir seile an synen hals vnd bunden eme syne hende
mit eyme seile ouer eyn ander. Eynre zouch in mit dem
seile vnd slengerde in dort hyn, he mochte in haen
erwurget, der ander zouch in her weder mit dem seile
vmb die hende, als off he eme die ar[71va]men wulde
vss ziehen, Eyn ander zouch in mit dem haire weder,
Eyn ander begreyffe in mit dem bairde, vnd gebeirden
mit eme als die eynen hunt wil wurgen. Etzelichen
giengen hynden vnd namen den louff vur sich vnd an
dem louffe steissen sy in mit iren voissen an syne
voisse, an syne beyne vnd an synen rucke, Da the vff
die erde struchelde. Vnd ee he vollen vur sich geviele,
so zuckten in die anderen weder mit dem haire, dat he
hynder sich struchelde. Vnd ee dan he vollen hinder sich
geviele, so zuckten in die anderen weder zo ietweder
syten, Der eyne mit dem haire, der ander mit dem barde.
Also sleifften sy in den berch aff: Eynre zouch in mit
dem hare, der ander mit den cleyderen, die anderen mit
den seilen. Sy wurffen in dicke vnder sich vnd sprungen
vff in mit wilder doeuender geberden vnd mit
vngestumen vnseden vnd rieffen vnd doeueden, als off
sy eynen wolff vnder henden hetten [71vb]. Also
brachten sy in zo der portzen der stede, dat he nye eynen
rechten trit mit synen voissen gedede, Dan sleiffen vnd
kechen, bis sy in brechten in Annas huys.
Do zoegen sy eme syne kleyder vss vnd daden eme
stricke an syne hende vnd zoegen in also nackent mit
den stricken vmb eyne mermelen steynen groisse suyl
vnd flochten in also vaste an die sule, dat man tusschen
synen licham vnd der sule eynen halm neit in mochte
haen gestoissen. Die stricke an den henden die drungen
dat vleisch vnd dat bloit also sere, dat man dat fleisch
vnd dat bloit sach vff swellen ouer die stricke, Vnd dat
bloit wulde zo den nailen der vinger vss sin gedrungen,
vnd wurden die hende vnd die vinger vnd die nele
swartz van dem blode als sy zo murselt weren. Sy
giengen van eme vnd aissen vnd druncken vnd liessen
Christum alleyne an der suyle gebunden als eynen
ellenden vngetroisten [72ra] merteler staen. Do quam ie
eynre na dem anderen vnd pinigeten in. Etzelichen
brachten birnende eyerschalen vnd druckten eme die an
maniche stat syns lyues vnd syns antzlitze, dat he rieffe
mit luder stymmen, Vnd als schier sy die eyerschalen
van der huyt daden, so hatte sich die hut erhauen mit
groissen blateren. Etzelichen sprungen vff mit wilder
vnzuchte vnd spuwen eme vnder sin antzlitz. Also
verdaden sy alle die nacht mit wilder doeuender
vnzuchte, Vnd mit grymmer vnsichter geberden vnd mit
schemelicher vnzuchte: wat ir duuelsche hertzen
erdachten, dat vollenbrachten sy an eme mit wysen vnd
mit wercken. Sy handelden in also schentliche vnd also
schemelich, dat it nummer zo grunde gevffenbairt wirt
bis an den iungesten dach: so wirt von den boisen
gevffenbairt ir boise meynunge vnd ir ouel wercke die
sy an Christum begiengen, Vnd dat wirt den gueden
eyne ere vnd eyn loff dem [72rb] vader, dat Christus
also vil durch sy geleden hait van den boisen.
Zo laudes .'.
E Dan der dach vff gienge, do namen sy in van der sule
vnd daden eme sin gewant weder an vnd voirten in mit
manichen grymmen slegen vnd stoissen vnd roiffende
mit wilder doeuender geberden in Cayphas huse. Wie
schemelich vnd schentelich sy mit eme uff der straissen
vnd in dem huse reden, dat in kan nyeman mit worten
vurbrengen. Sy vurten in vur Cayphas mit manicher
valscher loegen. Sy sprachen, he were eyn verkerer der
werelt vnd eyn luegener vnd eyn affbrecher des güedes
vnd were eyn vnkuyscher vnd were eyn vrais vnd eyn
drencker vnd were eyn verderuer des vulcks vnd eyn
zostoirrer der gesetze in der ee, Vnd he neme sich an he
were got. Vnd alle die vndoegenden die sy vff in
gereden mochten, die daden sy. Do sprach Caiphas zo
eme: „bistu godes son, dat sage mir.“ Do sprach he: „du
spriches is; also ist is.“ Do kerde sich [72va] Caiphas zo
dem volcke vnd sprach: „Wat bedurffen mir me
gezuchenysse? he hait seluer vergehit vnd hait gode an
syne ere gesprochen; he is werlich schuldich des dodes,
vnd eyns lesterlichen dodes.“ Vnd zo reis sin gewant
vnd mit dem brach he alle die genade die he van Christo
vnd van syme hemelschen vader vmmer solde intphaen.
Die pryme
Also namen sy in vnd voirten in zo Pilato, dat sy allet
dat zweyueldich vff in beweren wolden, als sy vur gereit
hatten. Dat Caiphas also gereit hatte weder Christum,
Des vreude sich ir vergiftige hertze vnd gemoede. Also
namen sy den verwonten Christum, den sy alle die nacht
mit alle den vnselden die sy erzugen mochten, gepiniget
hatten, Vnd bunden eme auer syne hende zo samen,
Vnd vurten dat sanftmoedige lam als eynen schuldigen
boisen dieff der alle boisheit begangen hait. Also waren
ir vergifftige hertzen geen eme gerechtet mit alle den
pinlichen worten vnd wercken als sy eme da vur hatten
[72vb] gedaen. Vnd do sy in Pilato brachten, do luten sy
vnd rieffen so duuelsche, als off sy brachten eynen
verdoemden alle der werelt; vnd hette Pilatus den rait
vur neit gewist vnd gedreuen, he hette gewenet dat man
in wolde haen intsat van alle synre eren; Vnd also
vngewoenlich was ir stymme vnd ir roiffen, Want he it
do wal wiste vnd it allet sament halff dryuen vff
Christus steruen. Do quam he als eyn sanftmoediger
here vnd bewiste eyn velsche gelissenheit vnd sprach:
„Wat hait deser mensche gedaen?“ Als off he vur neit
dar aff in hette gewiste. Do saden sy yme grois vbel van
Christo vnd saden eme wie sy van Cayphas weren
gescheiden vnd wie he van eme geret hatte vnd wie he
eyn vbeldedich mensche were, vnd dat hette Caiphas
van syme monde gehoirt. Des was Pilatus vroe vnd nam
Ihesum alleyne vnd sprach zo eme: „wer bistu? wat
haistu gedaen?“ Do sweich Christus vnd in wolde eme
neit antworten, want [73ra] he wiste wal dat is eme vur
allet gesait was, wer he were, beide van Christus
vrunden vnd vianden. Do sprach Pilatus zo Christus gar
schelcklichen: „Warum swyges du vnd in antwortes du
mir neit? Weistu neit dat ich gewalt haen ouer dich?“
Do sprach Christus: „ich weis wal dat du keyne gewalt
hettes ouer mich, in were sy dir neit gegeuen van myme
vader.“ Do sprach Pilatus: „also bistu godes son? Also
hauen mir die gesait die dich mir hauen bracht, Dat
Caiphas dat van dir haue gehoirt vnd dich haue
verordelt zo dem dode. Bistu godes son? dat sage mir!“
Do sweich Christus. Do sprach auer Pilatus: „warum
swygestu, warum in sages du mir neit die wairheit?“ Do
sprach Christus: „sagen ich it dir, so in gelouues du mir
neit, vragen ich dich, so in antwortes du mir neit, vnd da
van hant die gesondiget me dan du die mich dir hant
gegeuen.“ Darum sprach Christus do zo Pilato, want he
bekante [73rb] wal dat he intfencklich were gewest der
genaden, off he die hoffart vnd ydel worte neit in hette
gehait. Auer dat getruwe worte Christi in vurvienck neit
an Pilato. He sprach auer van eyme houertigen
gemoede: „So hoiren ich wal, so bistu godes son.“ Do
sprach Christus: „du spriches it vnd ich bin it.“ Do
sprach auer Pilatus: „wat haistu gedaen, dat din vulck so
gram ouer dich ist?“ Do sweich Christus vnd in wulde
eme neit antworten. Do nam in Pilatus vnd gienge zo
dem vulcke vnd sprach: „Wat hait deser mensche
gedaen? Ich in vynden keyne sache des dodes an eme.“
Do rieffen sy alle vnd luten als vnsynnige doeuende
lude vnd spraichen: „He hait alle die werelt in
bewegunge bracht vnd wil die ee zo stoiren vnd prediget
eyne andere ee, vnd spricht he sy got.“ Do nam Pilatus
Christus vnd vurte in weder in vnd sprach zo eme: „Nu
hoires du wal wie din vulck ouer dich gedaen hait.“
Christus sweich vnd in [73va] wulde eme neit
antworten. Do wart Pilatus zo rade mit synen rytteren,
wie he sich versunen wulde mit Herodes, want he hatte
gehoirt sagen dat Herodes Christum gerne gesehen
hette; Auch vorte Pilatus Herodes, want he groisser here
was dan he vnd gedechte dat sin zorn dar aue geen eme
gestillet wurde, vnd sante eme Christum den süner alle
der werelt. Vnd do in Herodes gesach, do wart sin
hertze ervreuwet, Want he in hatte in nyeme gesehen
vnd vil wunders van eme gehoirt sagen; Vnd dat was
ouch die irste vnd die leste vreude die eme van gode
vnd van Christo vmmer weder varen solde, Want he
intfeynge in vroelichen vnd lies in schemelichen. He
intfeynck in neit als eynen heren der he doch was; he
intfeynck in als eynen zouuerer van dem he wunderliche
dinge wulde hauen gehoirt. Vnd nam Christum vnd
vürte in heymelichen [in eyne kamer] vnd bat in dat he
eyn zeichen vur eme dede, Vnd geloefde eme darum
[73vb] vil guedes. Do sweich Christus vnd dede als he
neit in kunde. Do vurte in Herodes weder zo synen
ritteren vnd sprach: „he in wil mir eyn wort neit
antworten.“ Sy vragden in wannen he were ader wer he
were. Christus sweich. Herodes sprach: „In bistu neit
der durch des willen myn vader die kynder alle doite,
Vnd den die conynge van orienten suchten zo eren vnd
van dem alle Jutsche vulck ire ere verliesen sulde? Bistu
it, sage it mir: Ich wil dich eren vnd wil dich ergetzen
aller der smaicheit die myn vader dir vnd alle dyme
vulcke hait gedaen.“ Do sweich Christus vnd in wulde
eme eyn wort neit antworten. Dat versmede Herodes,
want he wulde eyn here sin vnd sprach zo synen
rytteren: „Nemet hyn den doir.“ Vnd hiesch in voiren in
sin palais, Vnd hiesch eme eynen wyssen mantel an
doen, vnd eynen stroen schappele vff setzen vnd sprach:
„vüeret in weder zo Pilato, he hait gedaen dat he
mochte; he waende mir [74ra] eynen wisen man senden,
Vnd hait mir eynen doir gesant.“ Vnd sprach zo
Christus vyanden: „wat wilt ir desem menschen
angewynnen? he ist eyn doir, laist in gaen.“ Herodes
hielde den vur eynen doir des doir he was. Vnd schickde
eynen boeden mit Christo zo Pilato vnd sprach, wat eme
der doir solde, he in wulde nye wort mit eme gereden,
he in vunde neit darum he eme lieff ader leit sulde doen.
Do namen in auer dat vulck van Herodes mit groissen
duuelschen vnseden vnd mit groisser vngestumer pynen
als auch vur vnd vurten in weder zo Pilato, Vnd hetten
sy gedorst vur den ritteren, sy hetten in mit iren zenden
zo ryssen, want sy verdrous des weges mit erne zo gaen
hyn vnd her, Vnd hatten auch vorte dat he gelediget
wurde van dem dode, des leuen sy neit in wulden, Vnd
handelden in vil ouel vff dem wege mit vloichen, mit
slaen, mit stoissen, mit roiffen vnd mit manichen
ydawysen die sy eme daden. Also brachten sy in weder
[74rb] zo Pilato, Vnd rieffen zo eme mit vngestumen
hertzen vnd worten: „Wie lange leisses du vns yrre gaen
mit desem menschen? warum in dues du neit schier dat
du doen salt?“ Do nam Pilatus Christum vnd sprach
auer zo eme: „waiffen, wat haistu gedaen dyme vulcke,
dat sy so ergrymmet sint ouer dich?“ Do sprach
Christus: „ich haen in vil guedes gedaen, Ich haen in ir
blynden sehende gemacht vnd ir dauuen hoirende vnd ir
lamen vffgerechtet vnd ir vssetzigen gereiniget vnd ir
doden leuendich gemacht; Ich geswigen alle des gutz
dat ich in ie haen gedaen vur mynre geburte.“ Do sprach
Pilatus: „wes nymmestu dich an dat in gudes geschiet is
vur dynre geburte? dat dede in got; Auer du spriches, du
sist got.“ In der reden Do sweich Christus. Do sprach
Pilatus: „bistu got, dat sage mir?“ Do sprach Christus:
„Ich sagen dir, ich werden sitzende zo gerechte an godes
stat ouer menschelich kunne, Vnd wee allen den die
mich dir geantwort hant.“ Do mirck[74va]de Pilatus dat
dat wee ouer in neit insulde gaen vnd lies in staen vnd
gienge zo dem vulcke vnd sprach: „Ich in vynden keyne
sachen des dodes ouer desen menschen.“ Vnd sade in
allet dat Christus mit eme geredet hatte, wat he in zo
guede gedaen hatte. Do rieffen sy mit duuelschen
vnseden vnd spraichen: „He is eyn zouuerer, he hait mit
zouuer alle syne wercke gedaen vnd ist eyn loegener
vnd eyn affbrechere des guedes vnd eyn zo stoirer der
gesetze in der ee vnd redet weder den keyser vnd
verbudet eme synen zyns; Vnd he hait weder got
geredet vnd spricht he sy got Vnd wil den tempel zo
brechen vnd in dryn dagen wedermachen. He ist mit
dem duuel besessen vnd mit dem duet he wat he duet;
were he neit eyn schedelich mensche, wir in hetten in
dir neit bracht.“ Do gienck Pilatus weder zo Christo vnd
sade eme allet dat sy geredet hatten. Do sweich Christus
vnd in gaff eme nye antworte. [74vb] Do nam he in auer
vnd vurte in weder zo dem vulcke vnd sprach zo in:
„wat geit mich des an?“ Do spraichen sy weder mit
grymmicheit irs hertzen: „dat geit dich an alle vnrechte
zo rechten; he ist eyn vngerechter mensche, darum haen
wir in dir bracht.“ Vnd traden her vur vil velscher
gezuge vnd bezuchten ouer Christum echt sachen die na
irem gesetze waren zo besseren, Iecklich sache van
zweyn mannen, van iecklichem manne mit virtzich
slegen: also wurden der manne sechtzehen.
Also vurte he Christum weder in vnd hiesch eme syn
gewant vss zehen vnd hiesch in bynden an eyne steynen
suyl, Vnd eme wurden die hende ouer dat houfft
gezoegen, Vnd gebonden an die suyle, vnd hiesse
machen groisse lange beseme van den scharpsten
dornen die man vant, Vnd mit sulchen besemen sluegen
in ie echt man ie zwene vnd zwene iecklicher virtzich
siege vnd sloegen in also sere, dat der lyff aller zo
[75ra] schremet wart, Vnd dat bloit ouer alle synen lyff
genoichlich ran. Darna sloegen in ander echte mit
geisselen, die hatte Pilatus heissen machen van ryndes
huden mit starcken knouffen vnd waren die knouffe
ouergossen mit blye vnd waren also grois als eyne boum
nus. Da mit sloegen sy in so sere, dat sy dat vleisch van
dem beyne zo ryssen, dat die stucke des vleissches an
dem lyue hiengen vnd man dat gebeyne sach vnd dat
bloit ouer dat gebeyne vlous. Vnd darna namen sy in
van der suyl vnd daden eme eynen wissen samit an. Do
ergreyff dat bloit den weichen samit vnd zouch in in die
wonden. Vnd dar ouer daden sy eme eynen harnesche
schoipen als eyme vursten der eynen sturm vanen vuren
sal an eyme stryde, Vnd druckde eme die schoipe den
weichen samit in alle syne wunden, dat he dar ynne
verbacken stunt, want dat meynten sy auch.
Vnd satten in neder vff eynen stoil, Vnd hatten gemacht
eyne krone van scharpen dornen, Vnd [75rb] was die
krone geschafft als eyn hut, vnd was zosamen
gefloichten mit gewapenden henden, vnd namen die
krone mit stecken vnd hoeuen sy eme vff sin houft, dat
die dome drungen durch dat verseirde verswollen heufft
so vaste, dat sy durch dat gebeyne drungen vff dat
dunne uelle der hyrnnen. Die kroene was also grois dat
sy bedeckte dat houfft vnd den nacken vnd die styrne,
dat man des antzlitz wenich sach. Sy [sc. die dorne]
staichen in die styrne vnd in die augeleder vnd in die
slaiffe aderen vnd durch die oren Vnd in die [!] nacken,
dat dat rosenvarwen bloit Christi durch alle sin antzlitze
vnd ouer synen nacken genoichlichen vss flous, vnd
machte eynen starcken flusse durch sin antzlitze vnd
ouer synen lyff, Want sy hatten eme dat antzlitze zo
slagen vnd zo mordet vnd zo murselt, vnd die bladeren
waren zo brochen die sy eme gebrant hatten mit den
heyssen eyerschalen, Vnd hienge die huyt an den
wangen, vnd was durch gossen [vnd durch flossen] mit
blode [75va] Vnd ouerzogen mit speichelen die sy mit
iren vnreynen munden an in gespuwen hatten, vnd was
sin antzlitz engestlich geschafft. Sy hatten auch [eme]
des nachtes, do sy in viengen eyne fackelen gestoissen
vnder sin antzlitz, van dem alle syn [wunnencliche]
antzlitz flecklicht was worden. Vnd sy kneden vur in
vnd grutzten in spotlichen, Vnd nanten in here, des
vnderdenigen sy doch neit sin in wulden, Vnd braichen
eme synen mont vff vnd samenden alle den vnflait den
sy van monde ader van nasen hauen mochten, vnd
spuwen eme in synen mont so vaste vnd so vil, dat he
mochte er erstricket ader erdruncken sin van dem spien,
dan dat he eme seluer mit der zungen halff, dat it eme
zo ietweder sytten des mondes vss ran. Vnd dat in van
der nasen gienge, dat wurffen sy eme vnder sin antzlitz,
dat dat wunnencliche antlitze so vnreynlichen gehandelt
wart, dat he allen den weder stunt die in an sagen. Sy
gauen eme auch eynen [75vb] staff in syn hant als eyn
koenyncklich scepter vnd namen auch vss sinre hant den
seluen staff vnd sloegen in vff die croene, dat die dorne
diefer suncken. Ouwe wie lies Christus so maniche doit
suftzen. Do nam Pilatus den verwunten steruenden
Christum vnd vurte in [vss] zo dem vulcke vnd sprach
zo eme: „Sehet vren konynck.“ Vnd do in dat vulck
gesach, do was dat antzlitze Christi so engestelichen
geschaft, dat ir dufelsch gemoede vnd ir vnsynniche
doeuende nature spranck uff mit wilder doeuender
doeuicheit, Vnd keirden ir angesichte van eme vnd
rieffen zo Pilato: „Do in vns van den augen vnd hencke
in an den galgen des cruces.“ Do sprach Pilatus: „vr
rechte is dat man uch eynen laisse, Ich haen desen
gezuchtiget, wilt ir in laissen ader Barrabam?“ Do
rieffen sy alle gemeynlich mit eynre duuelscher
stymmen: „O lais Barrabam gaen vnd hanck desen an
eyn cruce. He hait verschuldiget den lesterlichen doit.“
Do Christus dat hoirte, do [76ra] gienck eyn doitschus
durch alle syne verwunte [steruende] nature. Ouwe, wie
we dat Christo dede, wie gunde he in so rechte ouel des
roiffens: he hette in bas gegunt dat sin doit in eyn nutze
dan eyn vloich were gewurden.
die tercie
Also nam in auer Pilatus vnd voirte in in dat recht huys
vnd sas zo gerechte vnd sprach: „Ich geuen ordel ouer
Christum, dat he steruen sal des schemelichen dodes an
dem cruce.“ Do gienck auer eyn doit angeste durch alle
Christus nature, dat he also cranck wart, dat he kūme vff
synen beynen gestaen kunde. Do namen sy eme die
croene van dem houfde mit arbeide, Want die dorne
waren verswollen in dem vleische, Vnd was dat vleische
vnd dat bloit so vaste verbacken an den dornen, dat sy
eme vleisch vnd hairs vil mit der kroenen van dem
houffde zuegen. Die wunden wurden alle anderwerff
vliesende. Do zuegen sy eme auch den schoipen aff, die
was durch ronnen mit bloede dat [76rb] eme van den
wonden des houfdes flouß, vnd der wisse samit den he
an hatte, der was gelich wurden eyme roeden zyndaile
van syme blode, he was auch verbacken in dat vleisch,
dat sy in kūme dar vss geryssen. Sy namen den samit
neden by den voissen vnd zoegen in mit groissen
vnseden vnd grymmicheit irs hertzen vss dem vleische
vnd vss den wonden, dat groisse klotzer beronnens
bloitz an dem samit hiengen. Ouwe do wurden Christus
wunden alle sament erfrisschit vnd ernuwet, Vnd
wurden alle fliessende van blode vngevoige vlusse. Eme
gienge auch vss van eicklicher wunden eyn doit schos
vnd eyn wudende smertze durch alle syne gebeyne vnd
durch alle syne nature. Darvmb daden sy eme sin
gewant an an den verwunten serenden lyff.
Sy lachten eme auch vff eynen sweren last des cruces
vff synen müden verwunten vermorten rucke. Dat cruce
was also swere vnd Christus was also swach, dat he dar
vnder neder solde sin geuallen. Also [76va] mit dem
cruce vurte in Pilatus weder zo dem vulcke vnd sprach:
„Nemet hin vren Christum, sin bloit musse ouer uch
comen vnd neit ouer mich.“ Vnd nam wasser vnd wusch
sine hende vnd liesse sin harte gemoede vngewesschen.
Dat boise vulck spranck vff van vreuden, dat he in in ir
hant gegeuen was, vnd des was eme gar noit dat sy in
balde brachten an die stat da sy in doden wulden. Dat
was die vngenemste stat die sy irgen wisten. Sy vurten
in auch als vngestumelich, dat he dicke neder struchelde
vnder dem cruce. Sy betwongen eynen, dat he eme hulfe
dragen. Auer hie van geschach eme me gedrucks dan
eme helffe geschege. Ouwe wie lies Christus so
manichen grymmen doit ochtzen vnd so manigen
dieffen erhoilten grymmem doit suftzen, vnd dat in was
neit vnbilch, Want he droich alle der werelt sonden vnd
eynen sweren boum des cruces. Sy vurten in mit schalle,
mit stoissen, mit iagen, mit dryuen als doeuende hunde
die eynen wulf iagent. [76vb] Sy idewisten dat
sanftmoedige lam vnd grysgramden vnd grynnen in an
vnd schulden in vnd fluchten eme, dat he neit balde in
mochte gaen. Do sy in an die stat brachten die da hiesch
Caluarie, die was als vnreyne vnd rouch als ouel van
den [vulen] vnreynen schelmen vnd van den verworden
diefen vnd morderen die da lagen, dat sich alle ir
doeuende gemoede freude, dat sy so eyn vnreyne stat
hatten, dat sy sich genoich an Christo gerechen, die [!]
rache doch van irem lyue vnd van irre selen nummer
insolde komen, Want sy begiengen doch den groisten
mort der ie geschach. Die duuel vreuweden sich, dat sy
sich an dem gerochen hatten, Des raiche van in nummer
in solde genomen werden.
Die sexte: · ·
Ouwe, do gienck it an die noit. Sy namen dat krutze
[vnd wurffen it] van syme rucke vnd zoegen dem got
vereynigen menschen sin gewant vss, Vnd namen in mit
dem haire vnd wurffen in vff dat cruce, he mochte aller
zo sprungen hauen, Vnd zoegen eme synen verwonten
[77ra] vnd zurmurtin rucke ouer die knorren des cruces,
dat die stumpe van dem hultze die wunden van eyn
ander ryssen. Sy sprungen auch mit wilder doeunder
vnzuchte mit iren vnreynen voissen vff den doit
versierden lyff Christi, sy kneden eme vff syne bruste
vnd zo dienden eme syne armen van eyn ander so sy
allermeiste mochten. Sy namen eme die rechte hant vnd
zoegen sy eme zo dem loche des astes vnd sloegen eme
eynen nagel dar durch. Der nagel was stumpetich vnd
drieckig, Vnd die ecken waren scharpe als eyn messer,
vnd vurten eme die huyt in der hant vnd etzwie vil des
vleissches durch dat loch des cruces, vnd sloegen den
naile so vaste, dat der knouff des nagils in der hant
geflecht stunt, Vnd vulte die wonde so vol, dat eyn
bloitz troppe neit dar vs in mochte. Do namen sy do die
ander hant vnd zoegen sy eme ouer des cruces aste. Do
was die hant so verre van dem loche, dat sy is neit in
mochten erlangen. Do namen sy seil vnd [77rb] daden
eme eynen strick an die hant vnd zoegen in so vaste, dat
die aderen vnd die geleder vss eyn ander giengen, dat
die hant gereichte dat loch. Vnd sloegen auch dar durch
eynen nagel als vur, dat eyn eynich troppen bloitz neit
dar vss in mochte gaen. Vnd giengen do vff eme hyn zo
den voissen vnd streckten eme die voisse vff dem
boume des cruces. Do gebrach in dat syne voisse neit in
mochten gelangen zo dem loche etzwie manche spanne
eyns mans.
Do namen sy seile vnd machten eme stricke an beyde
syne voisse, Vnd zoegen in so vaste vnd dienden in so
sere, dat nye keyne seite so sere ader so veste vff eyn
breit wart gedenet, bis dat sy gereichten dat loch. Vnd
traden eme do vff die beyne vnd satten eme do die
voisse vff eyn ander. Vnd ee dat der vnder vois durch
slagen wurde, do was der ouerste vois van eyn ander
gesplissen, vnd sloegen auch den nail so vaste, dat der
knouff in dem voisse gevloicht stunt. Sy duchten synre
noit neit [77va] genoich, Vnd namen eynen anderen
nagel, der was groisser vnd langer dan der andere
eyniger: den satzten sy eme vff dat geruste des vois, vff
die dickte by dem beyne, vnd sloegen so grymmelichen
vff den nagel mit alle ire crafte, dat dem nagel wurden
zwey vnd XXX starcker hamer slege, Vnd wurden die
wunden des nagels also grois, dat eyn eynich troppe
bloitz dar vss neit in mochte. Vnd hüeuen do dat cruce
vff vnd staichen it in eynen steyn, den hatten sy dar zo
gehoilt. Der steyn was hohe van der erden vil na eyme
manne bis an synen gurtel, Vnd bewarden dat cruce neit
wal, dat it vaste stunde, Vnd do sy da van giengen, do
verwant der lyff dat cruce, dat it neder viele vff die erde,
dat dat antz[l]itze Christi in der erden stach als eyn
ingesegel in dem wasse, Vnd dat die erde an dem
antzlitze cleüede, Vnd der swere boum des cruces vff
syme verwonten rucke lach, he mochte in hauen zo
murselt. Do spranck dat doeuende vulck vff mit wilder
vnzucht vnd spraichen [77vb], Sin vnselde in hette noch
neit eyn ende genomen, vnd rechten dat cruce weder uff
vnd satzten it do vestlichen in den steyne, dat sy sin aen
sorge weren vur valle. Vnd do der lyff an dem cruce
begunde hangen, do braichen die wunden uff, vnd vlouß
genoichlichen dat bloit van den henden vnd van den
voissen. Vnd was der lyff so gar verdenet, dat man alle
syne geleder vnd alle syne rippen wal hette gezalt, Vnd
da die geleder zosamen stiessen an schulderen vnd an
armen, da hette man wal eyne hant dar intusschen
gestoissen, Also was he zo denet. Vnd alle syne wunden
daden sich vff, want der lyff Christi versegen was. Do
giengen sy vmb dat cruce vnd lachten vnd spotten vnd
rieffen alle vnd hatten alle duuelsche gebierde vnd
giengen ir do eyn deil van eme, Vnd eyn deil bleyff alle
da. Vnd do vnse frauwe sach dat kint dat sy mit gode
gemeyne hatte so an dem cruce hangen vnd sweuen, do
quam eyne doit gicht in alle ir gebeyne, vnd in [78ra]
allet dat bloit irre aderen vnd ylte balde zo irem hertzen
vnd begreyff die crafft yrs hertzen so sere, dat sy duchte
dat eyn furich swert durch alle die craft irre selen
gienge, Vnd alle die nature irs lyfs doitlich wurde. Vnd
viel da hin als eyn mensche der van doits noit yntzunt
verenden wil, dat alle die frauwen die by ir waren neit
anders in waenden sy in wulde yntzunt steruen, vnd
rieffen mit luder stymmen vnd spraichen: „O selige
Maria, haen wir neit lydens genoich an dyns kyndes
dode, du in willes ouch vns yntzunt van doedes noit
verderuen vnd steruen?“ Do brach der steruende
Christus syne augen vff die eme verbacken waren van
blode vnd van vnreyner speicholter, vnd sach sinre
moder noit. Do gienck eme auch eyne doitliche gicht
durch alle syne nature vnd sprach: „Vrauwe, sich an din
kint wie lesterlich it henget vnd wie pynlich it stiruet,
hilff eme mitlyden.“ Dese worte hoirte Maria vnd viel
auer hin in vnmacht. Do sprach Christus zo ir mit
seriger stymmen: „Ouwe lieue vrau[78rb]we vnd
moder, Wie duet mir dyn noit so wee! Nym dich an
Iohannes zo eyme troiste, du in machs mich neit me
hauen.“ Vnd kerde sich zo sente Iohannes mit dem
worte vnd sprach: „Nym dich mynre moder an, Vnd der
getruwester vnd der reynster frauwen die ie geboren
wart; Lieue frunt Johannes, intwiche ir neit.“ Dese
worte daden sente Iohannes also wee, dat in des duchte
dat eme der doit neit also swere in were. Do dese worte
gesprochen waren van Christo, do hoiff he eyn lange
gebet an dat gienge an: Deus, deus meus respice, vnd
was die stymme rederinde vnd zederende, nu was sy
cleyne, dan was sy grois, nu was sy weynende gelich,
dan was sy roiffende gelich. Do dat vss quam, do
begunde he royffende vnd schriende mit eynre heysser
durstiger stymmen. Nu warff he den lyff hyn, nu warff
he sich her weder, dar zo dreyff in des dodes angeste.
Do spraichen die mordere vnder eyn ander: „Wir solen
eme dryncken geuen, so stiruet he die ee [78va], so
werden wir sin ledich.“ Also gienck eynre hin vnd bant
zosamen eynen vnreynen wusch van stroe vnd van
gemulle, als he it vant, Vnd bant dat vestenclich
zosamen, dat it vil des drancks inthalden mochte. Vnd
machten eynen vergiftigen vnreynen dranck in eyme
vnreynen vasse: Eynre der brechte essich, der ander
brachte vische galle, Der dritte brachte ruysse, der virte
brachte saltz, als eyns eicklichen gemude gestalt was
mit grymme uff Christum, vnd rurten dat vnder eyn
ander vnd brachten it zo dem cruce. Vnd bunden do den
vnreynen wusch an eyn hultze vnd steissen in in den
vnreynen dranck vnd druckden in veste dar in, dat he sin
vil in sich intfaen mochte. Vnd stiessen [vnd sloegen?]
it eme an den mont, dat he des vnreynen drancks
mochte versuchen. Vnd der dranck der vlouß eme durch
den mont in die kele, vnd da van so wart die kele
inwendich verseret, die vur nochtant vnverseret gewest
was, Vnd wart also verwont vnd verseret, dat an
Christus personen neit in [78vb] was inwendich noch
vswendich, is were verseret beyde van des dodes
grymmicheit inwendich vnd van der pynlicher martelen
vswendich.
die noene
DO rieff he mit vngestumer stymmen zo dem vader vnd
sprach zo eme: „Vader, warum haistu mich gelaissen?
ich haen doch dynen willen vullen vurt vnd menschelich
kunne ist erloist, Getruwe vader, sich an dyns kyndes
noit vnd lais mich dir beuoelen sin, Vnd ich laissen
mynen geist in dyne geweldige hende.“ Do he dat wort
gesprach, do begunde mit syme gotlichen willen der
doit ylen zo dem hertzen, want he hatte dat marck vnd
die aderen alle gederret, Vnd quam mit vngestumen
doitschussen zo dem hertzen, dat he it doiden wulde,
Want der lyff der was aller doit, dan ocker dat hertze:
dat bestunt der doit so wuedende dat die doitstiche in
dat hertze den doiden mont Vnd die doide augen vff
braichen vnd den doiden lyff Christi aller erschutte vnd
bewegde. Vnd do dat geschach [79ra] do verleschte die
sonne, Vnd erbeude die erde vnd zo spielt der steyn, da
dat cruce ynne stunt, vnd zo reys der vmbhanck des
tempels, Vnd do zo spielde auch dat hertze Christi. Vnd
da vur was so groisse noit an Christus licham vnd [liue]
dat eyn doit vinsternysse wart, Dat nyeman insach noch
in mirkde dat engestliche steruen Christi, Vff dat dat da
van nyeman verzagde noch verzwyuelde. Dat
vynsternysse was also grois vnd dick, dat neit van dem
hemel ader van der luft schyns gienck vff dat ertrich,
Vnd in dem steruen Christi was alle leuendige creature
vnder dem hemel in vorten: Der voegel in der lufte, der
visch in dem wage, der wurme in der erden, Vnd
geschach in der seluer stunden dat menschen vnd andere
creaturen vil starff, Vnd sonderlich die die he zo der
stunden kranck vant, van der groister angeste die durch
aller creaturen nature dranck. Vnd do Christus geiste
van eme geschiede, do quam eyn furich schus in alle
vy[79rb]ande, sy weren in der hellen ader in buyssen in
dodes gelicheit, Want der der dem dode angeseget hatte,
der schickde do dit wee an sy, dat in nummer benomen
wirt, Vnd dat ist dat ander dodes we, Want dat irste
intfeyngen sy mit fryer willekure do sy sich van gode
geschieden, Auer dat dritte werden sy intfangen an dem
jungesten gerechte. Vnd also als die duuel intfeyngen
eyne [!] dodes wee, Also intfiengen in der seluer
stunden die selen die in der vurburge der hellen waren
eyne leuendige vreude die in nummer benomen sal
werden, Vnd die selue vreude wart gezweyueldiget, do
sy mit Christo zo hemel vuren, Vnd wirt gedryueldiget
in dem Jungesten dage, so lyff vnd sele zosamen
koment. Vnd do dat vynsternysse vergienck vnd dat
liecht weder quam, want alle creaturen in dodes anxt
waren, Vnd sonderlichen die syn wederwortigen by dem
cruce, die waren gelegen als sy doit weren, die wurden
weder erquicket [79va] Vnd stunden weder vff, vnd
wurden irre vergiftige hertzen also vnmylde vnd also
hart geen Christum als vur, Vnd were he neit doit
gewesen, sy hetten eme anderwerue gedaen wat sy
gemocht hetten. Also sagen sy ouer sich, Vnd sagen
Christum an, Vnd sagen dat eme der munt vnd die
augen aen wencken vffen stunden, vnd sprachen: „He
leuet noch, he erhoilet sich, wat solen wir doen?“ Do
sprach eynre: „wir solen eme durch syne syte stechen,
so sehen wir off he sich rure.“ Dat in wulde ire keynre
doen. Also was eyn blynder man dar geuoirt, dat he
wulde hoiren van den wunderen die an Christo
begangen wurden, Want he in mochte irre neit gesehen.
Vnd do he die rede vnder in gehoirte, do bat he dat man
eme eyn sper geue, vnd trat hyn naire zo dem steyne, da
dat cruce in stunt, vnd bat dat man eme dat spere setzte
an Christus sitte, da die zwa nederste rippen synt, die da
reyme[n]t geen dem hertzen, Vnd he druckte dat spere
van grymme syns [79vb] hertzen vnd van vngunst die
he gen Christum hatte mit alle synre crafte durch die
site. Vnd do he dat sper druckte durch die ryppe in die
sitte, Do crachte it van der durricheit des lyues, als der
eynen durren sliemen reisst mit crafte, Vnd wunte dat
doede hertze Christi also, dat allet dat bloit vnd die
vuchticheit die sich inthalden hatte vmb Christus hertze
vnd in syme hertzen – dat dat gewan eynen groissen
sturmigen flus vnd schus zo der wunden vss, Also dat it
van dem sper aueran eme vff syne hende also warm, als
off it gienge van eyme leuendigen lamme. Also streich
he die hende mit dem blode mit vngeschichte vur die
augen, Vnd do giengen eme die augen vff vnd wart
sehende, Vnd do sach he ouer sich vnd sach Christum
bouen eme hangen. Vnd do wurden eme die ynnre
augen vf gedaen, Vnd do rieff he mit eynre luder
stymmen vnd sprach: „Ouwe myn grymme ouel hertze,
dat sich gevreuwet wolde haen an dem doden [80ra]
Christo, Wie ist mir dat zo so groissem heile comen,
Want sin heilsam bloit hait mich blynden sehende
gemacht, vnd sin doede hertze dat ich gedoit wulde
haen, dat hait myn doide hertze leuendich gemacht,
want ich erkennen dat syne guede myn vbel hait
verdreuen.“
Die vesper
DArna namen in Joseph vnd Nychodemus vnd Johannes
vnd anderen vil die in iet erkanten, die eme huluen
Christum van dem cruce heuen, Vnd lachten in vff die
erde, vnd der licham was swartz, durre vnd durch
gerunnen, Vnd die wonden zo kynen vnd die geleder
van eyn ander gewydet vnd dat gebeyne zo schrundelt
an dem lyue. Vnd do he vff der erden also lach, do
quam die iemerliche moder vnd wulde sich haen
geneyget vff den doiden Christum, Vnd van dem
angesichte yrs kyndes do quam eyn doitschus durch alle
die craft ire selen, balde ylende zo irem hertzen, dat ir
aller craft gebrach, Vnd ersturuen ir alle irre geleder, dat
ir ade[80rb]ren vnd ire hende wurden als strackis
erstabet als eyn hultz van des dodes engesten die ir
hertze do begryffen. Dat clagen dat sy da begienge vnd
die geberde die sy da hatte, dat in kan nyeman mit
worten wal gesagen, dat bedencke eyn eicklich getruwe
hertze seluer. Sy viele neder vff ir dode kint. Do namen
sy auer die frauwen vnd sente Johannes vnd hoeuen sy
vff vnd lechten sy dahyn. Vnd do sy weder zo ir seluer
quam, do sach sy ir kint da vur ir lygen, do wolde sy
auer zo eme sien, do in hatte sy der craft neit. Vnd do
hoeuen sy vf die vrauwen vnd sente Johannes: Van den
wolde sy sich intbrechen vnd wolde weder zo irem
kynde sien. Do sprach der mylde getruwe here sente
Iohannes: „O reyne getruwe vrauwe vnd moder,
gedencke dat ich dir zo eyme kinde gegeuen byn vnd
ere mich vnd blyff sitzende, ich wil dir dyn kynt in
dynen schois geuen.“ Also namen Joseph vnd
Nychodemus vnd Johannes den verwonten verdorreden
Christo [!] [80va] van der erden, Vnd lechten in in der
jemerlicher moder schois. Ouwe, wie we irem hertzen
wart, do sy dat angesichte an sach so engestelichen
geschaft, dat sy da vur mit groissen vreuden dicke hatte
angesehen, Want it was verswollen doitbluedich, Vnd
die hut vnder dem antzlitz was zo brochen van der
byrnender fackelen, Vnd van den bladeren die eme van
den [gebranten] eyerschalen waren wurden, Vnd in den
bruchen van der huyt waren renffte worden van dem
blode vnd van dem speicholter. Ach wie dicke sy lies ir
reyne augen vnd ire hende ouer dat antzlitze vnd ouer
den verwonten lycham gaen. Sy wulden in ir nemen vnd
in die erde legen. Do sloich sy ir hende vnd irre armen
vmb in so vaste vnd druckte in an ir hertze so
begerlichen, vnd hatte ir moederliche hertze so groisse
quale, dat sy eyn eynich wort neit geleisten in kunde.
Vnd alle die by ir waren wurden schryende, do sy dat
engestliche ryngen sagen [80vb] van der moder. Sy
zoegen in hin, Sy zoege in her weder. Sy hatte in so
beslossen in den armen, als off sy mit yseren benden an
in gebonden were. Sy huuen sy an dem doeden Ihesum
mit gewalt vff, Vnd zuegen sy etzwie verre mit eme na
zo dem graue.
Die compeleta
DO sy dat jamer an ir sagen dat sy neit erwynden wulde,
do intslussen sy ir [die hende van eyn ander vnd
braichen ir] die armen vff vnd namen ir den doiden
Ihesus mit gewalt, Vnd do sy berouuet was yrs kyndes,
do viele sy in amecht vnd lach also [lange] in der
kranckheit aen alle bewegunge, bis dat der licham in
eyn doich bewunden wart vnd der steyn vur dat graff
gestoissen wart, Dat sy sin neit gesien in mochte. Vnd
do ir engelsche gemoede weder quam vnd sy irs kyndes
neit in sach, do houff sich an eyn worte in irem
moederlichen hertzen, eyne altzo jemerliche clage. Sy
sprach ir irem geiste: „O du dicker harter steyn, nu
haistu mir myn kynt [ver-] [81ra] verborgen. Och du
gotliche nature, wie mochtestu dat gelyden an dyme
soene vnd an myme kynde? O du harter steyn, nu haistu
beslossen die ere des vaders, die vreude der engel, dat
heil aller menschen, mynen eynigen troist.“ Do sprach
dat vederliche gemoede [in dat mynnenclich gemoede
Marien]: „O vreude vnd frauwe vnd moder myn, in
dyme kinde din grois krefftich gelouue, dyn vnverstoirt
zouersicht, dyne furige demuedige mynne: die hait
gelanget bis in die hoide mynre gewalt, vnd hait
gegrundet die dieffte mynre clairheit, Vnd hait genomen
den son van mynre gotlicher gelust vnd hait in in die
erde gelecht. Gehalt dich wal, freude vnd frauwe aller
seliger geiste! ich wil in dir werlich weder geuen in aller
clairheit.“ Do sweich dat moederliche getruwe hertze
vnd lies sich do die vrauwen vuren in die stat als eynen
halff doden menschen. Sy lechten sy neder zo bette vnd
hutten sy mit vlysse als eynen menschen der yntzunt
verenden [81rb] wil, Want sy bevunden wenich leuens
in ir. Also lach dat engelsche gemoede in der kranckheit
aen alle lyffliche narunge, bis dat ir son erstunt van den
doiden.
Eyn wenich na mytter nacht na dem samsdage, do quam
die gewalt des hemelschen vaders mit dem leuendigen
geiste Christi, Vnd sprach mit gotlicher begerden zo
dem licham Christi: „Stant vff myne freude! stant vff
myne ere! stant vff myne wunne aen allen smertzen, aen
alle pyne, Nym weder in dich den leuendigen geiste
mynre ewiger geluste.“ Also rechte sich Christus lyff
vff mit vnzusturlicher wunnen, mit ewiger clairheit, mit
ewiger gewalt, in gotlicher mancraft, vnd alle die doit
mail die an Christo waren, die wurden durch gossen mit
gotlicher wunnen, mit gotlicher eren, vnd wart
gedrungen in alle die nature des lyues Christi, Vnd also
die nature Christi wart durch gedrungen mit gotlicher
clairheit, Want der selue got was mensche, Vnd der
selue [81va] mensche was got, Want die gotheit in
geschiede nye van selen noch van lyue, so wie dat sy
zwey in dem dode gescheiden wurden.
Do Christus was erstanden do ylte he zo synre
vngetroister moder vnd sprach zo ir: „Sich vrauwe vnd
moder dyn kynt mit aller eren vnd gewalt. Gehalt dich
wal vnd sys vroe vnd rechte dich vff van allem leyde,
der doit in hait an mir keyne gewalt me.“ Ouwe wie mit
groissen freuden die moder dat kynt an sach. Do sprach
he ir auer zo: „troiste die anderen vnd sage in dat du
mich gesehen hais, vnd ich sagen dir: In der eren vnd in
der freuden da du mich ynne gesehen hais in werden ich
dir nummer benomen in der zyt mit rechter zo versichte
vnd in der ewicheit mit ewiger vreuden vnd stedicheit.“
Also schiede Christus van ir, Vnd do quamen die
frauwen zo ir vnd saden ir dat sy in gesehen hatten, Vnd
mit groisser vreuden sade sy in weder dat he by ir
we[81vb]re gewest, Vnd wie he mit ir geret hatte.
Hie hait die passie eyn ende.
Frühneuhochdeutsche Literatur
15. Jahrhundert
Johannes von Tepl
1342/50 - um 1414
Der Autor
Johannes von Tepl, wurde zwischen 1342 und 1350 im
böhmischen Tepl (Teplá) geboren. Nach dem Studium
in Prag - vielleicht auch in Bologna, Padua oder Paris war er etwa von 1373 an in Saaz als notarius civitatis
und später auch als rector scholarium, als Leiter der
örtlichen Lateinschule tätig. 1411 ging er als Protonotar
nach Prag, wo er um 1414 gestorben ist. Um 1401
verfasste er das Streitgespräch eines Ackermanns mit
dem Tod, dessen erstes Exemplar er 1402 mit einem
lateinischen Begleitschreiben an seinen Jugendfreund,
den jüdischen Gelehrten Petrus Rother schickte. Daß
dem «Ackerman» persönliches Erleben zugrunde liegt,
ist eher unwahrscheinlich, da seine urkundlich belegte
Ehefrau Clara - nicht Margaretha - ihn mit mehreren,
1415 bereits erwachsenen Kindern überlebt hat.
Möglicherweise handelt es sich um eine fingierte Person
oder um eine nicht bekannte Jugendliebe. Der Text ist in
16 Handschriften und 15 Frühdrucken überliefert, die
älteste Handschrift stammt allerdings erst aus dem Jahre
1449. Daneben hat sich eine alttschechische
Bearbeitung aus dem Jahre 1408 erhalten. Im
Schlußkapitel des Textes findet sich ein Akrostichon
mit den Initialen JOHANNES MA.
Der Ackerman
1401
Der Text folgt der Ausgabe:
Johannes von Saaz, Der Ackermann aus Böhmen,
hg. v. Günther Jungbluth, Band I,
Germanische Bibliothek, 4. Reihe: Texte,
Heidelberg: Winter 1969
Textgrundlage ist die digitale Ausgabe
der Akademie der Wissenschaften in Göttingen,
die leider nicht mehr im Netz ist.
Das lateinische Begleitschreiben an den
jüdischen Jugendfreund sowie die Überschrift
sind der Ausgabe von Christian Kiening im
Reclam-Verlag entnommen (Stuttgart 2002).
_____________________________________________
_______________
Titel des Basler Drucks von 1473
(Karlsruhe, Bad. Landesbibliothek)
Epistola oblata Petro Rothers ciui Pragensi
cum Libello ackerman de nouo dictato.
Grato gratus, suo suus, socio socius, Petro de Tepla
Johannes de Tepla, ciui Pragensi ciuis Zacensis
philorticam karitatem et fraternam. Karitas que nos
horis floride iuuentutis vniuit, me hortatur et cogit vestri
memoria consolari et quia postulabatis nuper per me de
et ex agro rethoricalis iocunditatis, in quo cum messem
neglexerim spicas colligo, nouitatibus munerari, ideo
hoc incomptum et agreste ex teutunico ligwagio
consertum agregamen, quod iam uadit ab incode, vobis
dono. Jn eo tamen per preasumptum grosse materie
jnueccio contra fatum mortis ineuitabile situatur, jn qua
rethorice essencialia exprimuntur. Jbi longa breuiatur,
ibi curta materia prolongatur, ibidem rerum, ymmo
quoque vnius et eiusdem rei laus cum vituperio
continentur. Succisa inuenitur, jnvenitur sibi construccio
suspensiua, cum equiuocacione sinonimacio. Illic
currunt cola, coma, periodus modernis situacionibus;
illic ludunt vna sede retinentj cum serio palponia.
Methaphora famulatur, arenga invehitur et demollitur,
yrronia sorridet; verbales et sentencionales colores cum
figuris sua officia execuntur. Multa quoque alia et
tamquam omnia utcumque inculta rethorice accumina,
que possunt fieri in hoc ydeomate jndeclinabili, ibi
vigent que intentus inveniet auscultator. Tandem uos
latinis de agro meo sterili enuditibus stipilis recreabo.
Jnter cetera Nicolaum Iohlinni, oblatorem presencium,
amari et alumpnum meum vobis tamquam me
recomendo intentis et fidelibus effectibus preessendum.
Reliqua stent ut stabant, nisi fuerint in uberius
reformata. Datum sub mei signetj euidencia uigilia beatj
Bartholomei Anno 1428uo. [Datum einer Abschrift des
Originalbriefs (ca. 1402)]
Jn dem buchlein ist beschrieben ein krieg, wie einer,
dem sein liebes gestorben ist, schiltet den Tot, so
verantwortt sich der Tot. Also seczt der clager je ein
cappittel vnd der Tot das ander bis an das ende. Der
cappittel seint vier vnd dreyssig, dorjnn man hubsches
synnes getichtes behendigkeit wol findet, vnd begynnet
also der ackerman mit seyner clage anzuvahen.
DER ACKERMAN.
Das erste capitel.
Grimmiger tilger aller lande, schedlicher echter aller
werlte, freissamer morder aller guten leute, ir Tot, euch
sei verfluchet! got, ewer tirmer, hasse euch, vnselden
merung wone euch bei, vngeluck hause gewaltiglich zu
euch: zumale geschant seit immer! Angst, not vnd jamer
verlassen euch nicht, wo ir wandert; leit, betrubnuß vnd
kummer beleiten euch allenthalben; leidige anfechtung,
schentliche zuversicht vnd schemliche verserung die
betwingen euch groblich an aller stat; himel, erde,
sunne, mone, gestirne, mer, wag, berg, gefilde, tal, awe,
der helle abgrunt, auch alles, das leben vnd wesen hat,
sei euch vnholt, vngunstig vnd fluchend ewiglichen! In
bosheit versinket, in jamerigem ellende verswindet vnd
in der vnwiderbringenden swersten achte gotes, aller
leute vnd ieglicher schepfung alle zukunftige zeit
beleibet! Vnuerschampter bosewicht, ewer bose
gedechtnuß lebe vnd tauere hin on ende; grawe vnd
forchte scheiden von euch nicht, wo ir wandert vnd
wonet: Von mir vnd aller menniglich sei stetiglichen
vber euch ernstlich zeter geschriren mit gewundenen
henden!
DER TOT.
Das ander capitel.
Horet, horet, horet newe wunder! Grausame vnd
vngehorte teidinge fechten vns an. Von wann die
komen, das ist vns zumale fremde. Doch drowens,
fluchens, zetergeschreies, vnd allerlei angeratung sein
wir an allen enden vnz her wol genesen. Dannoch, sun,
wer du bist, melde dich vnd lautmere, was dir leides von
vns widerfaren sei, darvmb du vns so vnzimlichen
handelst, des wir vormals vngewonet sein, allein wir
doch manigen kunstenreichen, edeln, schonen,
mechtigen vnd heftigen leuten sere vber den rein haben
gegraset, davon witwen vnd weisen, landen vnd leuten
leides genugelich ist geschehen. Du tust dem gleiche,
als dir ernst sei vnd dich not swerlich betwinge. Dein
klage ist one reime; davon wir prufen, du wellest durch
donens vnd reimens willen deinem sin nicht entweichen.
Bistu aber tobend, wutend, twalmig oder anderswo one
sinne, so verzeuch, enthalt vnd bis nicht zu snelle, so
swerlich zu fluchen, den worten das du nicht
bekummert werdest mit afterrewe. Wene nicht, das du
vnser herliche vnd gewaltige macht immer mugest
geswechen. Dannoch nenne dich vnd versweig nicht,
welcherlei sachen dir sei von vns so twenglicher gewalt
begegent. Rechtfertig wir wol werden, rechtfertig ist
vnser geferte. Wir wissen nicht, wes du vns so
frevellichen zeihest.
DER ACKERMAN.
Das III. capitel.
Ich bins genant ein ackerman, von vogelwat ist mein
pflug, vnd wone in Behemer lande. Gehessig,
widerwertig vnd widerstrebend sol ich euch immer
wesen: wann ir habt mir den zwelften buchstaben,
meiner freuden horte, aus dem alphabet gar freissamlich
enzucket; ir habt meiner wunnen lichte sumerblumen
mir aus meines herzen anger jemerlichen ausgereutet; ir
habt mir meiner selden haft, mein auserwelte
turteltauben arglistiglichen entfremdet: ir habt
vnwiderbringlichen raub an mir getan! Weget es selber,
ob ich icht billich zurne, wute vnd klage: von euch bin
ich freudenreiches wesens beraubet, tegelicher guter
lebetage enterbet vnd aller wunnebringender rente
geeussert. Frut vnd fro was ich vormals zu aller stunt;
kurz vnd lustsam was mir alle weile tag vnd nacht, in
gleicher masse freudenreich, geudenreich sie beide; ein
iegliches jar was mir ein genadenreichs jar. Nu wirt zu
mir gesprochen: schab ab! Bei trubem getranke, auf
durrem aste, betrubet, sware vnd zeherend beleibe ich
vnd heul one vnderlaß! Also treibet mich der wint, ich
swimme dahin durch des wilden meres flut, die tunnen
haben vberhant genumen, mein anker haftet ninder.
Hiervmb ich one ende schreien wil: Ir Tot, euch sei
verfluchet!
DER TOT.
Das IIII. capitel.
Wunder nimpt vns solcher vngehorter anfechtung, die
vns nimmer hat begegent. Bistu es ein ackerman,
wonend in Behemer lande, so dunket vns, du tust vns
heftiglichen vnrecht; wann wir in langer zeit zu Behem
nicht endeliches haben geschaffet, sunder nu newlich in
einer festen hubschen stat, auf einem berge werlich
gelegen; der haben vier buchstaben, der achzehende, der
erste, der dritte vnd der drei vnd zwenzigste in dem
alphabet einen namen geflochten. Da haben wir mit
einer erberen seligen tochter vnser genade gewurket; ir
buchstabe was der zwelfte. Sie was ganz frum vnd
wandelsfrei; wir mugen wol sprechen wandelsfrei, wann
wir waren gegenwurtig, do sie geboren wart. Do sante ir
fraw Ere einen erenmantel vnd einen erenkranz; die
brachte ir fraw Selde. Vnzerissen vnd vngemeiligt den
mantel, den erenkranz brachte sie ganz mit ir vnz in die
gruben. Vnser vnd ir gezeuge ist der erkenner aller
herzen. Guter gewissen, frunthold, getrew, gewere vnd
zumale gutig was sie gen allen leuten. Werlich, so stete
vnd so geheure kam vns zu handen selten. Es sei dann
die selbe, die du meinest: anders wissen wir keine.
DER ACKERMAN.
Das V. capitel.
Ja herre, ich was ir friedel, sie mein amye. Ir habt sie
hin, mein durchlustige eugelweide; sie ist dahin, mein
frideschilt vur vngemach; enweg ist mein warsagende
wunschelrute. Hin ist hin! Da ste ich armer ackerman
allein; verswunden ist mein lichter leitestern an dem
himel; zu reste ist gegangen meines heiles sunne, auf
geet sie mir nimmermer! Nicht mer get auf mein
flutender morgensterne, gelegen ist sein schein, kein
leidvertreib han ich mer: die finster nacht ist
allenthalben vor meinen augen. Ich wene nicht, das icht
sei, das mir rechte freude immermer muge
widerbringen; wann meiner freuden achtber banier ist
mir leider vndergangen. Zeter! waffen! von herzen
grunde sei immermer geschriren vber den verworfen tag
vnd vber die leidigen stunde, darin mein herter, steter
diamant ist zerbrochen, darin mein rechte furender
leitestab vnbarmherziglich mir aus den henden wart
gerucket, darin zu meines heiles vernewendem
jungbrunnen mir der weg ist verhawen. Ach one ende,
we one vnderlaß immermer! Versinken, gefelle vnd
ewiger fal sei euch, Tot, zu erbeigen gegeben!
Lastermeiliger schandung wurdelos vnd grisgramig
ersterbet vnd in der helle erstinket! got beraube euch
ewrer macht vnd lasse euch zu puluer zerstieben! One
zil habet ein teufelisch wesen!
DER TOT.
Das VI. capitel.
Ein fuchs slug einen slafenden lewen an den backen,
darvmb wart im sein balg gerissen; ein hase zwackte
einen wolf, noch heute ist er zagellos darvmb; ein katze
krelte einen hunt, der da slafen wolte, immer muß sie
des hundes feintschaft tragen. Also wiltu dich an vns
reiben. Doch gelauben wir, knecht knecht, herre beleibe
herre. Wir wellen beweisen, das wir rechte wegen,
rechte richten vnd rechte faren in der werlte: niemandes
adels schonen, grosser kunst nicht achten, keinerlei
schone ansehen, gabe, liebes, leides, alters, jugent vnd
allerlei sachen nicht wegen. Wir tun als die sunne, die
scheinet vber gute vnd bose: wir nemen gute vnd bose
in vnsern gewalt. Alle die meister, die die geiste kunnen
twingen, mussen vns ire geiste antwurten vnd aufgeben;
die bilwisse vnd die zauberinne kunnen vor vns nicht
beleiben, sie hilfet nicht, das sie reiten auf den krucken,
das sie reiten auf den bocken; die erzte, die den leuten
das leben lengen, mussen vns zu teile werden, wurze,
kraut, salben vnd allerlei apotekenpuluerei kunnen sie
nicht gehelfen. O solten wir allen den feifaltern vnd
hewschrecken rechnung tun vmb ir geslechte, an der
rechnung wurden wir nicht genugen. O solten wir durch
aufsatzes, alafantzes, liebes oder leides willen die leute
lassen leben, aller der werlte keisertum were nu vnser,
alle kunige hetten ir krone auf vnser haubet gesetzet, ir
zepter in vnser hant geantwurt, des babstes stul mit
seiner dreikronter infel weren wir nu gewaltig. Laß sten
dein fluchen, sage nicht von Poppenfels newe mere;
hawe nicht vber dich, so reren dir die spene nicht in die
augen!
DER ACKERMAN.
Das VII. capitel.
Kunde ich euch gefluchen, kunde ich euch geschelten,
kunde ich euch verpfeien, das euch wirs dann vbel
geschehe, das hettet ir snodlichen wol an mir verdienet.
Wann nach grossem leide grosse klage sol folgen:
vnmenschlich tet ich, wo ich solch lobeliche gotes gabe,
die niemant dann got allein geben mag, nicht beweinte.
Zware trauren sol ich immer; entflogen ist mir mein
erenreicher falke; mein tugendhafte frawen billichen
klage ich, wann sie was edel der geburte, reich der eren,
schone, frut vber alle ire gespilen gewachsener persone,
warhaftig vnd zuchtig der worte, keusche des leibes,
guter vnd frolicher mitwonung. Ich sweige als mer, ich
bin zu swach, alle ir ere vnd tugent, die got selber ir hat
mitgeteilt, zu volsagen; herre Tot, ir wisset es selber.
Vmb solch groß herzeleit sol ich euch mit rechte
zusuchen. Werlich, were icht gutes an euch, es solte
euch selber erbarmen. Ich wil keren von euch, von euch
nicht gutes sagen, mit allem meinem vermugen wil ich
euch ewiglich widerstreben; alle gotes tirmung sol mir
beistendig wesen wider euch zu wurken; euch neide vnd
hasse alles das reich, das da ist im himel, auf erden vnd
in der helle!
DER TOT.
Das VIII. capitel.
Des himels tron den guten geisten, der helle abgrunt den
bosen, irdische lant hat got vns zu erbeteile gegeben.
Dem himel fride vnd lon nach tugenden, der helle pein
vnd strafung nach sunden, der erden, luft vnd meres
strame mit aller irer behaltung hat vnstetigkeit der
mechtig aller werlte herzog beschiden vnd sie vns
befolhen, den worten das wir alle vberflussigkeit
ausreuten vnd ausjeten sollen. Nim vur dich, tummer
man, prufe vnd grab mit sinnes grabestickel in die
vernunft, so findestu: hetten wir sider des ersten von
leime gekleckten mannes zeit leute auf erden, tiere vnd
wurme in wustung vnd in wilden heiden,
schuppentragender vnd slipferiger fische in dem wage
zuwachsung vnd merung nicht ausgereutet, vor kleinen
mucken mochte nu niemant beleiben, vor wolfen torste
nu niemant aus; es wurde fressen ein mensche das
ander, ein tier das ander, ein ieglich lebendige
beschaffung die ander, wann narung wurde in
gebrechen, die erde wurde in zu enge. Er ist tumb, wer
beweinet den tot der totlichen. Laß ab! Die lebendigen
mit den lebendigen, die toten mit den toten, als vnz her
ist gewesen. Bedenke baß, du tummer, was du klagen
sullest!
DER ACKERMAN.
Das VIIII. capitel.
Vnwiderbringlichen mein hochsten hort han ich
verloren; sol ich nicht wesen traurig? Ja, jamerig muß
ich bis an mein ende harren, entweret aller freuden. Der
milte got, der mechtige herre, gereche mich an euch,
arger traurenmacher! Enteigent habt ir mich aller
wunnen, beraubet lieber lebetage, entspenet micheler
eren. Michel ere het ich, wann die guten die reinen
tochter engelten mit iren kindern, in reinem neste
gefallen. Tot ist die henne, die da auszoch solche huner.
O got, du gewaltiger herre, wie liebe sach ich mir, wann
sie so zuchtiges ganges pflag vnd alle ere bedenken
kunde vnd sie menschliches geslechte do lieblich
segente, sprechend: «Dank, lob vnd ere habe die zarte
tochter; ir vnd iren nestlingen gunne got alles gutes!»
Kunde ich darvmb gote wol gedanken, werlich ich tet es
willichen. Welchen armen man hette er balde so
reichlich begabet? Man rede, was man welle: wen got
mit einem reinen, zuchtigen vnd schonen weibe
begabet, der ist volkomenlich begabet, vnd die gabe
heisset gabe vnd ist ein gabe vor aller irdischer
auswendiger gabe. O aller gewaltigster himelgrave, wie
wol ist dem geschehen, den du mit einem reinen,
vnuermeiligten gaten hast begatet! Frewe dich, ersamer
man, reines weibes, frewe dich, reines weib, ersames
mannes: got gebe euch freude beiden! Was weiß davon
ein tummer man, der aus disem jungbrunnen nie hat
getrunken? Allein mir twenglich herzeleit ist geschehen,
dannoch danke ich got inniglich, das ich die
vnuerruckten tochter han erkant. Euch, boser Tot, aller
leute feint, sei got ewiglich gehessig!
DER TOT.
Das X. capitel.
Du hast nicht aus der weisheit brunnen getrunken, das
prufen wir an deinen worten. In der naturen wurken
hastu nicht gesehen, in die mischung werltlicher stende
hastu nicht geluget, in irdische Verwandelung hastu
nicht gegutzet; ein vnuerstendig welf bistu. Merke, wie
die leuchtigen rosen vnd die starkriechenden lilien in
den gerten, wie die kreftigen wurze vnd die
lustgebenden blumen in den awen, wie die feststeenden
steine vnd die hochwachsenden baume in wildem
gefilde, wie die krafthabenden beren vnd die
starkwaltigen lewen in entrischen wustungen, wie die
hochmachtigen starken recken, wie die behenden,
abentewerlichen, hochgelerten vnd allerlei meisterschaft
wol vermugenden leute vnd wie alle irdische creature,
wie kunstig, wie listig, wie stark sie sein, wie lange sie
sich enthalten, wie lange sie es treiben, mussen zu
nichte werden vnd verfallen allenthalben. Vnd wann nu
alle menschgeslechte, die gewesen sint, sint oder noch
werden, mussen von wesen zu nichtwesen kumen, wes
solte die gelobte, die du beweinest, geniessen, das ir
nicht geschehe als andern allen vnd allen andern als ir?
Du selber wirst vns nicht entrinnen, wie wenig du des
ietzund getrawest. Alle hernach! muß ewer ieglicher
sprechen. Dein klage ist enwicht; sic hilfet dich nicht,
sie geet aus tauben sinnen.
DER ACKERMAN.
Das XI. capitel.
Got, der mein vnd ewer gewaltig ist, getrawe ich wol, er
werde mich vor euch beschirmen vnd vmb die
verwurkten vbeltat, die ir an mir begangen habet,
strengelich an euch gerechen. Gaukelweise traget ir mir
war vnder, falsch mischet ir mir ein vnd wellet mir mein
vngehewer sinneleit, vernunftleit vnd herzeleit aus den
augen, aus den sinnen vnd aus dem mute slahen. Ir
schaffet nicht, wann mich rewet mein serige verlust, die
ich nimmer widerbringen mag. Vur alles wee vnd
vngemach mein heilsame erzenei, meines gutes
dienerin, meines willens pflegerin, meines leibes
auswarterin, meiner eren vnd irer eren tegelich vnd
nechtlich wachterin was sie vnuerdrossen. Was ir
empfolhen wart, das wart von ir ganz reine vnd
vnuerseret, oft mit merung widerreichet. Ere, Zucht,
Keusche, Milte, Trewe, Masse, Sorge vnd
Bescheidenheit wonten stete in irem hofe; Scham trug
stete der Eren spiegel vor iren augen. Got was ir
gunstiger hanthaber. Er was auch mir gunstig vnd
genedig durch iren willen; Heil, Selde vnd Gelucke
stunden mir bei durch iren willen. Das het sie an got
erworben vnd verdienet, die reine hausere. Lon vnd
genedigen solt gib ir, milter loner aller trewen soldener,
aller reichster herre! Tu ir genediglicher, wann ich ir
kan gewunschen! Ach, ach, ach! vnuerschämter morder,
herre Tot, boser lasterbalg! Der zuchtiger sei ewer
richter vnd binde euch, sprechend: «vergib mir!» in sein
wigen!
DER TOT.
Das XII. capitel.
Kundestu rechte messen, wegen, zelen oder tichten, aus
odem kopfe liessestu nicht solche rede. Du fluchest vnd
bittest rachung vnuerfenglich vnd one notdurft. Was
taug solch eselschrei? Wir haben vor gesprochen:
kunstenreich, edel, erhaft, frutig, ertig vnd alles, was
lebet, muß von vnserer hende abhendig werden.
Dannoch klaffestu vnd sprichest, alles dein gelucke sei
an deinem reinen, frumen weibe gelegen. Sol nach
deiner meinung gelucke an weiben ligen, so wellen wir
dir wol raten, das du bei gelucke beleibest, den worten
das es nicht zu vngelucke gerate! Sage vns: do du am
ersten dein lobelich weib namest, fandestu sie frum oder
machtestu sie frum? Hastu sie frum funden, so suche
vernunftiglichen: du findest noch vil frumer, reiner
frawen auf erden, der dir eine zu der ee werden mag;
hastu sie aber frum gemachet, so frewe dich: du bist der
lebendig meister, der noch ein frum weib geziehen vnd
gemachen kan. Wir sagen dir aber ander mere: ie mer
dir liebes wirt, ie mer dir leides widerfert. Hettestu dich
vor liebes vberhaben, so werestu nu leides vertragen; ie
grosser lieb zu bekennen, ie grosser leit zu enberen.
Lieb, weib, kint, schatz vnd alles irdisch gut muß etwas
freuden am anfang haben vnd mer leides am ende
bringen; alles irdisch ding vnd lieb muß zu leide
werden. Leit ist liebes ende, der freuden ende trauren
ist, nach lust vnlust muß kumen, willens ende ist
vnwillen. Zu solchem ende laufen alle lebendige ding.
Lerne es baß, wiltu von klugheil gatzen!
DER ACKERMAN.
Das XIII. capitel.
Nach schaden folget spotten; des empfinden wol die
betrubten. Also geschicht von euch mir beschedigtem
manne. Liebes entspenet, leides gewenet habet ir mich;
als lange got wil, muß ich es von euch leiden. Wie
stumpf ich bin, wie wenig ich han zu sinnereichen
meistern weisheit gezucket, dannoch weiß ich wol, das
ir meiner eren rauber, meiner freuden dieb, meiner
guten lebetage steler, meiner wunnen vernichter vnd
alles des, das mir wunnesam leben gemachet vnd
gelubet hat, zerstorer seit. Wes sol ich mich nu frewen?
Wo sol ich nu trost suchen? Wohin sol ich nu zuflucht
haben? Wo sol ich nu heilstet finden? Wo sol ich nu
trewen rat holen? Hin ist hin! Alle meine freude ist mir
e der zeit verswunden; zu fru ist sie mir entwischet.
Allzu schiere habt ir mir enzucket die teuren, die
geheuren, wann ir mich zu witwer vnd meine kinder zu
weisen so vngenediglich habet gemachet. Ellende, allein
vnd leides vol beleibe ich von euch vnergetzet,
besserung kunde mir von euch nach grosser missetat
noch nie widerfaren. Wie ist dem, herre Tot, aller e
brecher? An euch kan niemant icht gutes verdienen
noch finden; nach vntat wellet ir niemant genug tun,
niemant wellet ir ergetzen. Ich prufe: barmherzigkeit
wonet bei euch nicht; fluchens seit ir gewonet;
genadenlos seit ir an allen orten. Solche guttat, so ir
beweiset an den leuten, solche genade, so die leute von
euch empfahen, solchen lon, so ir den leuten gebet,
solch ende, so ir den leuten tut, schicke euch der, der
des todes vnd lebens gewaltig ist. Furste himelischer
massenei, ergetze mich vngeheurer verluste, michels
schadens, vnsegeliches trubsals vnd jemerliches
weisentums! Dabei gerich mich an dem erzschalke Tot,
got, aller vntat gerecher!
DER TOT.
Das XIIII. capitel.
One nutz geredet, als mer geswigen, wann nach
torlicher rede krieg, nach kriege feintschaft, nach
feintschaft vnruwe, nach vnruwe serung, nach serunge
wetag, Nach wetage afterrewe muß iedem verworren
manne begegnen. Krieges mutestu vns an. Du klagest,
wie wir dir leit haben getan an deiner zumale lieben
frawen. Ir ist gutlich vnd genediglich geschehen: bei
frolicher jugend, bei stolzem leibe, in besten lebetagen,
in besten wirden, an bester zeit, mit vngekrenkten eren
haben wir sie in vnser genade empfangen. Das haben
gelobet, des haben begeret alle weissagen, wann sie
sprachen: am besten zu sterben, wann am besten liebet
zu leben. Er ist nicht wol gestorben, wer sterben hat
begeret; er hat zu lange gelebet, wer vns vmb sterben
hat angerufet; wee vnd vngemach geschach im, wer mit
alters burden wirt vberladen: bei allem reichtum muß er
arm wesen! Des jares, do die himelfart offen was, an des
himels torwertels kettenfeiertag, do man zalte von
anfang der werlte sechstausent funfhundert neun vnd
neunzig jar, bei kindes geburt tausend vierhundert der
selbigen, die seligen martrerin hiessen wir raumen dis
kurze schemende ellende, auf die meinung das sie solte
zu gotes erbe in ewige freude, in immerwerendes leben
vnd zu vnendiger ruwe nach gutem verdienen
genediglichen kumen. Wie hessig du vns bist, wir
wellen dir wunschen vnd gunnen, das dein sele mit der
iren dort in himelischer wonung, dein leib mit dem iren
bein bei beine alhie in der erden gruft wesen solten.
Burge wolten wir dir werden: irer guttat wurdestu
geniessen. Sweig, enthalt! Als wenig du kanst der
sunnen ir licht, dem mone sein kelte, dem fewer sein
hitze oder dem Wasser sein nesse benemen, also wenig
kanstu vns vnserer macht berauben!
DER ACKERMAN.
Das XV. capitel.
Beschonter rede bedarf wol schuldiger man. Also tut ir
auch. Susse vnd sawer, linde vnd herte, gutig vnd
scharpf pfleget ir euch zu beweisen den, die ir meinet zu
betriegen. Das ist offen an mir schein worden. Wie sere
ir euch beschonet, doch weiß ich, das ich der erenvollen,
durchschonen von ewerer swinden vngenade wegen
kummerlich enberen muß. Auch weiß ich wol, das
solches gewaltes sunder got vnd ewer niemant ist
gewaltig. So bin ich von gote nicht also geplaget: wann
hette ich mißgebaret gen gote, als leider dicke
geschehen ist, das hette er an mir gerochen, oder es
hette mir widerbracht die wandelsone. Ir seit der
vbelteter. Darvmb weste ich gern, wer ir weret, was ir
weret, wie ir weret, von wann ir weret vnd warzu ir
tuchtig weret, das ir so vil gewaltes habet vnd on
entsagen mich also vbel gefodert, meinen wonnereichen
anger geodet, meiner sterke turn vndergraben vnd
gefellet habet. Ach got, aller betrubten herzen troster
troste mich vnd ergetze mich armen, betrubten,
ellenden, selbsitzenden man! Gib, herre, plage, tu
widerwerte, leg an klemnuß vnd vertilge den greulichen
Tot, der dein vnd aller vnser feint ist! Werlich, herre, in
deiner wurkung ist nicht greulichers nicht scheußlichers,
nicht schedlichers, nicht herbers, nicht vngerechters
dann der Tot! Er betrubet vnd verruret dir alle dein
irdische Herschaft; ee das tuchtig dann das vntuchtig
nimt er hin schedliche, alte, sieche, vnnutze leute lesset
er oft alhie, die guten vnd die nutzen zucket er alle hin.
Richte, herre, rechte vber den falschen richter!
DER TOT.
Das XVI. capitel.
Was bose ist, das nennen gut, was gut ist, das heissen
bose sinnelose leute. Dem gleiche tustu auch. Falsches
gerichtes zeihestu vns; vns tustu vnrecht. Des wellen
wir dich vnderweisen. Du fragest, wer wir sein. Wir sein
gotes hantgezeuge, herre Tot, ein rechte wurkender
meder. Vnser segens geet vur sich. Weiß, swarz, rot,
braun, grun, blaw, graw, gel vnd allerlei glanzes blumen
vnde gras hewet sie vur sich nider, ires glanzes, irer
kraft, irer tugent nicht geachtet. Da geneusset der veiol
nicht seiner schonen farbe, seines reichen ruches, seiner
wolsmeckender safte. Sich, das ist rechtfertigkeit. Vns
haben rechtfertig geteilet die Romer vnd die poeten,
wann sie vns baß dann du bekanten. Du fragest, was wir
sein. Wir sein nichts vnd sein doch etwas. Deshalben
nichts, wann wir weder leben weder wesen, noch gestalt
noch vnderstant haben, nicht geist sein, nicht sichtig
sein, nicht greiflich sein, deshalben etwas, wann wir
sein des lebens ende, des wesens ende, des nichtwesens
anfang, ein mittel zwischen in beiden. Wir sein ein
geschickte das alle leute fellet. Die großen heunen
musten vor vns fallen; alle wesen, die leben haben,
mussen verwandelt von vns werden, in hohen schulden
werden wir gesigen. Du fragest, wie wir sein.
Vnbescheidenlich sein wir, wann vnser figure zu Rome
in einem tempel an einer wand gemalet was als ein man
sitzend auf einem ochsen, dem die augen verbunden
waren. Der selbe man furte ein hawen in seiner rechten
hant vnd ein schaufel in der linken hant; damit facht er
auf dem ochsen. Gegen im slug, warf vnd streit ein
michel menige volkes. Allerlei leute, iegliches mensche
mit seines hantwerkes gezeuge - da was auch die nunne
mit dem psalter -, die slugen vnd wurfen den man auf
dem ochsen. In vnser bedeutnuß bestreit der vnd begrub
sie alle. Pictura gleichet vns zu eines mannes scheine,
der hat basilisken augen, vor des gesichte sterben muß
alle lebendige creature. Du fragest, von wann wir sein.
Wir sein von allenthalben vnd sein doch von ninder.
Deshalben von allenthalben, wann wir wandern an allen
enden der werlte; deshalben von ninder, wann wir sein
ninder her komen vnd aus nichte. Wir sein von dem
irdischen paradise. Da tirmete vns got vnd nante vns mit
vnserm rechten namen, da er sprach zu dem ersten
menschen: Welches tages ir der frucht enbeisset, des
todes werdet ir sterben. Darvmb wir vns also schreiben:
Wir Tot, herre vnd gewaltiger auf erden, in der luft vnd
meres strame. Du fragest, warzu wir tuchtig sein. Nu
hastu vor gehoret, das wir der werlte mer nutzes dann
vnnutzes bringen. Hor auf, laß dich genugen vnd danke
vns, das dir von vns so gutlich ist geschehen!
DER ACKERMAN.
Das XVII. capitel.
Alter man newe mere, geleret man vnbekante mere,
ferre gewandert man vnd einer, wider den niemant
reden tar, gelogen mere wol sagen turren, wann sie von
vnwissender sachen wegen sint vnstreflich. Wann ir
dann auch ein solcher alter man seit, so muget ir wol
tichten. Allein ir in dem paradise gefallen seit ein meder
vnd rechtes remet doch hawet ewer segens vneben.
Rechte mechtig blumen reutet sie aus, die distel lesset
sie steen; vnkraut beleibet, die guten kreuter mussen
verderben. Ir jehet, ewer segens hawe vur sich. Wie ist
dann dem, das sie mer distel dann guter blumen, mer
meuse dann zamer tiere, mer boser leute dann guter
vnuerseret lesset beleiben? Nennet mir mit dem munde,
mit dem finger weiset mir: wo sint die frumen,
achtberen leute, als vor zeiten waren? Ich wene, ir habet
sie hin. Mit in ist auch mein lieb, die ubeln sint joch
vber beliben. Wo sint sie hin, die auf erden wonten vnd
mit gote redeten, an im hulde, genade vnd rechtung
erwarben? Wo sint sie hin, die auf erden sassen vnder
der gestirne vmbgengen vnd entschieden die planeten?
Wo sint sie hin, die sinnereichen, die meisterlichen, die
gerechten, die frutigen leute, von den die kroniken so vil
sagen? Ir habet sie alle vnd mein zarte ermordet; die
snoden sint noch alda. Wer ist daran schuldig? Torstet ir
der wahrheit bekennen, herre Tot, ir wurdet euch selber
nennen. Ir sprechet faste, wie rechte ir richtet,
niemandes schonet, ewer segense haw nach einander
fellet. Ich stund dabei vnd sach mit meinen augen zwo
vngeheure schar volkes - iede het vber dreitausent man mit einander streiten auf einer grunen heide; die wuten
in dem blute bis vnder den waden. Darvnder snurretet ir
vnd burretet gar gescheftig an allen enden. In dem here
totetet ir etelich, etelich liesset ir sten. Minre knechte
dann herren sach ich tot ligen. Da klaubetet ir einen aus
den andern als die teigen biren. Ist das rechte gemeet?
Ist das rechte gerichtet? Geet so ewer segens vor sich?
Wol her, lieben kinder, wol her! Reiten wir engegen,
enbieten vnd sagen wir lob vnd ere dem Tode, der also
rechte richtet! Gotes gerichte ist kaum also gerecht!
DER TOT.
Das XVIII. capitel.
Wer von sachen nicht enweiß, der kan von sachen nicht
gesagen. Also ist vns auch geschehen. Wir westen nicht,
das du als ein richtiger man werest. Wir haben dich
lange zeit erkant, wir hetten aber dein vergessen. Wir
waren dabei, do fraw Sibilla dir die weisheit mitteilte,
do her Salomon an dem totbette dir sein weisheit
verreichte; do got allen den gewalt, den er hern Moysi
in Egipten lant verlihen het, dir verlech, do du einen
lewen bei dem weinwachs von Thamnatha slugest. Wir
sahen dich die sterne zelen, des meres grieß vnd sein
fische rechnen, die regentropfen reiten. Wir sahen gern,
das du gewanst den wetlauf an Asael. Zu Susan sahen
wir dich koste vnd trank in grossen wirden credenzen.
Do du das banier vor Alexandro furtest, do er Darium
bestreit, do lugten wir zu vnd gunden dir wol der eren.
Do du in Academia zu Athenis mit hohen
kunstenreichen meistern, die auch in die gotheit
meisterlichen sprechen kunden, ebenteure disputiertest
vnd in so kunstelichen oblagest, do sahen wir vns
zumale liebe. Do du Neronem vnderweisetest, das er
guttete vnd gedultig wesen solte, do horten wir
gutlichen zu. Vns wunderte, do du keiser Iulium in
einem roren schiffe vber das wilde mer furtest one dank
aller sturmwinde In deiner werkstat sahen wir dich ein
edel gewant von regenbogen wurken; darein wurden
engel, vogel, tier, fische vnd allerlei gestalt - da was
auch die eule vnd der affe - in wefels weise getragen.
Zumale sere lachten wir vnd wurden des vur dich rumig,
do du zu Paris auf dem geluckes rade sassest, auf der
heute tantetest, in der swarzen kunst wurketest vnd
bannetest die teufel in ein seltsam glas. Do dich got
berufte in seinen rat zu gespreche vmb frawen Eve fal,
aller erste wurden wir deiner grossen weisheit innen.
Hetten wir dich vor erkant, wir hetten dir gefolget, wir
hetten dein weib vnd alle leute ewig lassen leben. Das
hetten wir dir allein zu eren getan, wann du bist zumale
ein kluger esel!
DER ACKERMAN.
Das XVIIII. capitel.
Gespotte vnd vbelhandelung mussen dicke aufhalten
durch warheit willen die leute. Gleicher weise geschicht
mir. Vnmugelicher dinge rumet ir mich, Vngehorter
werke wurkens. Gewaltes treibet ir zumale vil, gar vbel
habt ir an mir gefaren, das muet mich alzu sere. Wann
ich dann darvmb rede, so seit ir mir gehessig vnd werdet
zornes vol. Wer vbel tut vnd wil nicht vndertan strafung
aufnemen vnd leiden, sunder mit vbermut alle ding
vertreiben, der sol gar eben aufsehen, das im nicht
vnwillen darnach begegne! Nemet beispil bei mir! Wie
zu kurze, wie zu lange, wie vngutlich, wie vnrechte ir
mir mit habet gefaren, dannoch dulte ich vnd riche es
nicht, als ich zu rechte solte. Noch heute wil ich des
besserer sein, han ich icht vngleiches oder vnhubsches
gen euch gebaret. Des vnderweiset mich; ich wil sein
gernwilliglich widerkumen. Ist des aber nicht, so
ergetzet mich meines schadens oder vnderweiset mich,
wie ich widerkume meines grossen herzeleides.
Werlich, also zu kurze geschach nie manne! Vber das
alles mein bescheidenheit sullet ir ie sehen. Eintweder ir
widerbringet, was ir an meiner traurenwenderin, an mir
vnd an meinen kindern arges habet begangen, oder
kumet des mit mir an got, der da ist mein, ewer vnd aller
werlte rechter richter. Ir mochtet mich leichte erbitten,
ich wolte es zu euch selber lassen. Ich traute euch wol,
ir wurdet ewer vngerechtigkeit selber erkennen, darnach
mir genugen tun nach grosser vntat. Begeet die
bescheidenheit, anders es muste der hamer den amboß
treffen, herte wider herte wesen, es kume, zu wo es
kume!
DER TOT.
Das XX. capitel.
Mit guter rede werden gesenftet die leute;
bescheidenheit behelt die leute bei gemache; gedult
bringet die leute zu eren; zorniger man kan den man
nicht entscheiden. Hettestu vns vormals gutlich
zugesprochen, wir hetten dich gutlich vnderweiset, das
du nicht billich den tod deines weibes klagen soltest vnd
beweinen. Hastu nicht gekant Senecam den weissagen,
der in dem bade sterben wolte, oder seine bucher
gelesen, das niemant sol klagen den tod der totlichen?
Weistu des nicht, so wisse: als balde ein mensche
geboren wirt, als balde hat es den leikauf getrunken, das
es sterben sol. Anfanges geswistreit ist das ende. Wer
ausgesant wirt, der ist pflichtig wider zu kumen. Was ie
geschehen sol, des sol sich niemant widern. Was alle
leute leiden mussen, das sol einer nicht widersprechen.
Was ein mensche entlehent, das sol es widergeben.
Ellende bawen alle leute auf erden. Von ichte zu nichte
mussen sie werden. Auf snellem fusse leufet hin der
menschen leben; iezunt lebend, in einem hantwenden
gestorben. Mit kurzer rede beslossen: iedes mensche ist
vns ein sterben schuldig vnd es anerbet zu sterben.
Beweinestu aber deines weibes jugent, du tust vnrecht;
als schiere ein mensche lebendig Wirt, als schiere ist es
alt genug zu sterben. Du meinest leichte, das alter sei
ein edel hort. Nein, es ist suchtig, arbeitsam, vngestalt,
kalt vnd allen leuten vbel gefallend; es taug nicht vnd ist
zu allen sachen enwicht: zeitig epfel fallen gern in das
kot; reifende biren fallen gern in die pfutzen. Klagestu
dann ir schone, du tust kintlich; eines ieglichen
menschen schone muß eintweder das alter oder der tot
vernichten. Alle rosenfarbe mundlein mussen abgefarb
werden, alle rote wenglein mussen bleich werden, alle
lichte euglein mussen tunkel werden. Hastu nicht
gelesen, wie Ieronimus, der weissage, leret, wie sich ein
man huten sol vor schonen weiben, vnd sprichet: Was
schone ist, das ist mit tegelicher beisorge sware zu
halten, wann sein alle leute begeren; was scheußlich ist,
das ist leidelich zu halten, wann es mißfellet allen
leuten? Laß faren! Klage nicht verlust, die du nicht
kanst widerbringen.
DER ACKERMAN.
Das XXI. capitel.
Gute strafung gutlich aufnemen, darnach tun sol weiser
man, hore ich die klugen jehen. Ewer strafung ist auch
leidelich. Wann dann ein guter strafer auch ein guter
anweiser wesen sol, so ratet vnd vnderweiset mich, wie
ich so vnsegeliches leit, so jemerlichen kummer, so aus
der masse grosse betrubnuß aus dem herzen, aus dem
mute vnd aus den sinnen ausgraben, austilgen vnd
ausjagen sulle. Bei got vnuolsagenlich herzeleit ist mir
geschehen, do mein zuchtige, trewe vnd stete hausere
mir so snelle ist enzucket, sie tot, ich witwer, meine
kinder weisen worden sint. O herre Tot, alle werlt klaget
vber euch vnd auch ich, das nie so boser man wart.
Doch seint den malen das nie man so bose wart, er were
an etwe gut, ratet, helfet vnd steuret, wie ich so sweres
leit von herzen werfen muge vnd meine kinder einer
solchen reinen muter ergetzet werden; anders ich
vnmutig vnd sie traurig immer wesen mussen. Vnd das
sullet ir mit nichten vbel verfahen, wann ich sihe, das
vnder vnuernunftigen tieren ein gate vmb des andern tot
trauret von angeborenem twange. Hilfe, rates vnd
widerbringens seit ir mir pflichtig, wann ir habt mir
getan den schaden. Wo des nicht geschehe, dann got
hette in seiner almechtigkeit ninder rachung. Gerochen
muß es werden inder, vnd solte darvmb hawe vnd
schaufel noch eines gemuet werden!
DER TOT.
Das XXII. capitel.
Ga! ga! ga! snatert die gans, lamb! lamb! sprichet der
wolf, man predige, was man welle: solch fadenricht
spinnest auch du. Wir haben dir vor entworfen, das
vnklegelich wesen sulle der tot der totlichen. Seint den
malen das wir ein zolner sein, dem alle menschen ir
leben zollen vnd vermauten mussen, wes widerstu dann
dich? Wan werlich, wer vns teuschen wil, der teuschet
sich selber. Laß dir eingen vnd vernim: das leben ist
durch sterbens willen geschaffen. Were leben nicht, wir
weren nicht, vnser geschefte were nicht; damit were
auch nicht der werlte ordenung. Eintweder du bist sere
leidig oder vnuernunft hauset zu dir. Bistu vnuernunftig,
so bitte got, vernunft dir zu verleihen; bistu aber leidig,
so brich ab, laß faren, nim das vur dich, das ein wint ist
der leute leben auf erden! Du bittest rat, wie du leit aus
dem herzen bringen sullest. Aristotiles hat dich es vor
geleret, das freude, leit, forchte vnd hoffenung die viere
alle werlt bekummern vnd gerlich die, die sich vor in
nicht kunnen huten. Freude vnd forchte kurzen, leit vnd
hoffenung lengen die weile. Wer die viere nicht ganz
aus dem mute treibet, der muß alzeit sorgende wesen.
Nach freude trubsal, nach liebe leit muß ie auf erden
kumen. Lieb vnd leit mussen mit einander wesen. Eines
ende ist anfang des andern. Leit vnd lieb ist nicht
anders, dann wann icht ein mensche in seinen sinn
vurfasset, das es nicht austreiben wil, gleicher weise als
mit genugen niemant arm vnd mit vngenugen niemant
reich wesen mag; wann genugen vnd vngenugen nicht
an habe noch an auswendigen sachen sint, sunder in
dem mute. Wer altes lieb nicht aus dem herzen treiben
wil, der muß gegenwurtiges leit alzeit tragen. Treib aus
dem herzen, aus dem sinne vnd aus dem mute liebes
gedechtnuß, alzuhant wirstu traurens vberhaben. Als
balde du icht hast verloren vnd es nicht kanst
widerbringen, tu, als es dein nie sei worden: hin fleuchet
alzuhant dein trauren. Wirstu des nicht tun, so hastu mer
leides vor dir; wann nach iegliches kindes tode widerfert
dir herzeleit, nach deinem tode auch herzeleit in allen,
dir vnd in, wann ir euch scheiden sollet. Du wilt, das sie
der muter ergetzet werden. Kanstu vergangene jar,
gesprochene
wort
vnd
verruckten
magettum
widerbringen so widerbringestu die muter deiner kinder.
Wir haben dir genug geraten. Kanstu es versteen,
stumpfer pickel?
DER ACKERMAN.
Das XXIII. capitel.
In die lenge wirt man gewar der warheit als: lange
gelernet, etwas bekundet. Ewer spruche sint susse vnd
lustig, des ich nu etwas empfinde. Doch solte freude,
lieb, wunne vnd kurzweil aus der werlte vertriben
werden, vbel wurde steen die werlt. Des wil ich mich
ziehen an die Romer. Die haben es selbes getan vnd
haben das ire kinder geleret, das sie lieb vnd in eren
haben solten turnieren, stechen, tanzen, wetlaufen,
springen vnd allerlei zuchtige hubscheit bei mussiger
weile, auf die rede das sie die weile bosheit weren
vberhaben. Wan menschliches mutes sin kan nicht
mussig wesen. Eintweder gut oder bose muß alzeit der
sin wurken, in dem slafe wil er nicht mussig sein.
Wurden dann dem sinne gute gedanke benumen, so
wurden im bose eingeen. Gute aus, bose ein; bose aus,
gute ein: die wechselung muß bis an das ende der werlte
weren. Sider freude, zucht, scham vnd ander hubscheit
sint aus der werlte vertriben, sider ist sie bosheit,
schanden, vntrewe, gcspottes vnd verreterei zumale vol
worden. Das sehet ir tegelichen. Solte ich dann die
gedechtnuß meiner aller liebsten aus dem sinne treiben,
bose gedechtnusse wurden mir in den sin wider kumen:
als mer wil ich meiner aller liebsten alweg gedenken.
Wann grosses herzelieb in grosses herzeleit wirt
verwandelt, wer kan des balde vergessen? Bose leute
tun das selbe; gute freunde stete gedenken an einander.
Ferre wege, lange jar scheiden nicht geliebe. Ist sie mir
leiblichen tot, in meiner gedechtnuß lebet sie mir doch
immer. Herre Tot, ir musset treulicher raten, sol ewer rat
icht nutzes bringen, anders, ir fledermaus, musset als
vor der vogel feintschaft tragen!
DER TOT.
Das XXIIII. capitel.
Lieb nicht alzu lieb, leit nicht alzu leit sol vmb gewin
vnd vmb verlust bei weisem manne wesen: des tustu
nicht. Wer vmb rat bittet vnd rates nicht folgen wil, dem
ist auch nicht zu raten. Vnser gutlicher rat kan an dir
nicht geschaffen. Es sei dir nu lieb oder leit, wir wellen
dir die warheit an die sunnen legen, es hore, wer da
welle. Dein kurze vernunft, dein abgesniten sin, dein
holes herze wellen aus leuten mer machen, dann sie
gewesen mugen. Du machest aus einem menschen, was
du wilt, es mag nicht mer gesein, dann als vil wir dir
sagen wellen mit vrlaub aller reinen frawen. Ein
mensche wirt in sunden empfangen, mit vnreinem,
vngenantem vnflat in muterlichem leibe generet, nacket
geboren vnd ist ein besmireter binstock, ein ganzer
vnlust, ein kotfaß, ein wurmspeise, ein stankhaus, ein
vnlustiger spulzuber, ein faules as, ein schimelkaste, ein
bodenloser sack, ein lockerete tasche, ein blasebalk, ein
geitiger slund, ein stinkender leimtigel, ein
vbelriechender harnkrug, ein vbelsmeckender eimer, ein
betriegender tockenschein, ein leimen raubhaus, ein
vnsetig leschtrog vnd ein gemalte begrebnuß. Es merke,
wer da welle: ein iegliches ganz gewurktes mensche hat
neun locher in seinem leibe, aus den allen fleusset so
vnlustiger vnd vnreiner vnflat, das nicht vnreiners
gewesen mag. So schones mensche gesahestu nie,
hettestu eines linzen augen vnd kundest es inwendig
durchsehen, dir wurde darob grawen. Benim vnd zeuch
ab der schonsten frawen des sneiders farbe, so sihestu
ein schemliche tocken, ein schiere swelkende blumen
von kurze taurendem scheine vnd einen balde faulenden
erdenknollen. Weise vns ein hantvol schone aller
schonen frawen, die vor hundert jaren haben gelebt,
ausgenomen der gemalten an der wende, vnd habe dir
des keisers krone zu eigen! Laß hin fliehen lieb, laß hin
fliessen leit! Laß rinnen den Rein als ander Wasser!
Eseldorf! weiser gotling!
DER ACKERMAN.
Das XXV. capitel.
Pfei euch, boser schandensack! Wie vernichtet,
vbelhandelt vnd vneret ir den werden menschen, gotes
aller liebste creature, damit ir auch die gotheit swechet!
Aller erste prufe ich, das ir lugenhaftig seit vnd in dem
paradise nicht getirmet, als ir sprechet. Weret ir in dem
paradise gefallen, so westet ir, das got den menschen
vnd alle ding geschaffen hat, sie alle zumale gut
beschaffen hat vnd den menschen vber sie alle gesetzet,
im ir aller herschaft befolhen vnd sie seinen fussen
vndertenig gemachet hat, also das der mensche den
tieren des ertreichs, den vogeln des himels, den fischen
des meres vnd allen fruchten der erden herschen solte,
als er auch tut. Solte dann der mensche so snode, bose
vnd vnrein sein, als ir sprechet, werlich so hette got gar
vnreinlichen vnd gar vnnutzlichen gewurket. Solte gotes
almechtige vnd wirdige hant so ein vnreines vnd
vnfletiges menschwerk haben gewurket, als ir schreibet,
streflicher vnd gemeilter wurker were er. So stunde
auch das nicht, das got alle ding vnd den menschen vber
sie alle zumale gut hette beschaffen. Herre Tot, lasset
ewer vnnutz klaffen! Ir schendet gotes aller hubschestes
werk. Engel, teufel, schretlein, klagemuter, das sint
geiste in gotes twange wesend: der mensche ist das aller
achtberest, das aller behendest vnd das aller freiest gotes
werkstuck. Im selber gleiche hat in got gebildet, als er
auch selbes in dem ersten vrkunde der werlte hat
gesprochen. Wo hat ie werkman gewurket so behendes
vnd reiches werkstuck, einen so werkberlichen kleinen
kloß als eines menschen haubet? In dem ist kunstereiche
kunst, allein gote ebenteur, verborgen: da ist in des
augen apfel das gesichte, das aller gewissest zeuge,
meisterlich in spiegels weise verwurket; bis an des
himels klare zirkel wurket es. Da ist in den oren das
ferre wurkende gehoren, gar durchnechtiglichen mit
einem dunnen felle vergitert, zu prufung vnd merkung
vnderscheit mancherlei susses gedones. Da ist in der
nasen der ruch, durch zwei locher ein vnd aus geend,
gar sinniglichen verzimmert zu behegelicher senftigkeit
alles lustsames vnd wunnesames riechens, das da ist nar
der sele. Da sint in dem munde zene, alles leibfuters
tegeliches malende einsacker; darzu der zungen dunnes
blat, den leuten zu wissen bringend ganz der leute
meinung; auch ist da des smackes allerlei koste lustsame
prufung. Dabei sint in dem kopfe aus herzengrunde
geende sinne, mit den ein mensche, wie ferre er wil, gar
snelle reichet; in die gotheit vnd daruber gar klimmet
der mensche mit den sinnen. Allein der mensche ist
empfahend der vernunft, des edelen hortes. Er ist allein
der lieblich kloß, dem gleiche niemant dann got
gewurken kan, darin also behende werk mit aller kunste
meisterschaft vnd weisheit sint gewurket. Lat faren,
herre Tot! Ir seit des menschen feint; darvmb ir kein
gutes von im sprechet!
DER TOT.
Das XXVI. capitel.
Schelten, fluchen, wunschen, wie vil der ist, kunnen
keinen sack, wie kleine der ist, gefullen. Darzu: wider
vil redende leute ist nicht zu kriegen mit worten. Es gee
nur vur sich mit deiner meinung, das ein mensche aller
kunste, hubscheit vnd wirdigkeit vol sei, dannoch muß
es in vnser netze fallen, mit vnserem garne muß es
gezucket werden. Gramatica, gruntfeste aller guten rede,
hilfet da nicht mit iren scharfen vnd wol gegerbten
worten. Rhetorica, bluender grunt der liebkosung, hilfet
da nicht mir iren bluenden vnd reine geferbten reden.
Loica, der warheit vnd vnwarheit vursichtige
entscheiderin, hilfet da nicht mit irem verdackten
verslahen, mit der warheit verleitung vnd krummerei.
Geometria, der erden pruferin, schetzerin vnd messerin,
hilfet da nicht mit irer vnfelender masse, mit iren
rechten abgewichten. Arismetrica, der zale behende
ausrichterin, hilfet da nicht mit irer rechnung, mit irer
reitung, mit iren behenden ziffern. Astronomia, des
gestirnes meisterin, hilfet da nicht mit irem
sterngewalte, mit einflusse der planeten. Musica, des
gesanges vnd der stimme geordente hantreicherin, hilfet
da nicht mit irem sussen gedone, mit iren feinen
stimmen. Philosophia, acker der weisheit, zwirund in
naturlicher erkantnuß vnd in guter siten wurkung
geackert vnd geseet vnd volkumenlich gewachsen;
Physica mit iren mancherlei steurenden trenken;
Geomancia, mit satzung der planeten vnd des
himelsreifes zeichen auf erden allerlei frage behende
verantwurterin, Piromancia, sleunige vnd warhaftige
warsagens aus fewr wurkerin; Idromancia, in wassers
gewurke der zukunftigkeit entwerferin; Astroloia mit
oberlendischer sachen macht irdisches laufes auslegerin;
Ciromancia, nach henden vnd nach des teners kreisen
hubsche warsagerin; Nigromancia, mit totenopfer,
fingerlein vnd mit sigel der geiste gewaltige twingerin;
Alchimia mit der metalle seltsamer verwandelung;
Notoria, die kunst mit iren sussen gebeten, mit irem
starken besweren; Augurium, der vogelkose vernemer
vnd daraus zukunftiger sachen warhafter zusager;
Aruspicium, nach altaropfers rauche witze kund tuende
ausrichtung; Pedomancia mit kinder gedirme vnd
Ornomancia mit aurhanen dermen luplerin; Iura,
wandelberes vnd widerspruchiges recht, vnd Iuriste, der
gewissenlos criste, mit rechtes vnd vnrechtes
vursprechung, mit seinen krummen articlen - die vnd
ander, den vorgeschriben anhangende kunste helfen
zumale nicht. Iedes mensche muß ie von vns
vmbgesturzet, in vnserem walktroge gewalken vnd in
vnserem rollfasse gefeget werden. Das glaube, du
uppiger geuknecht!
DER ACKERMAN.
Das XXVII. capitel.
Man sol nicht vbel mit vbel rechen; gedultig sol ein man
wesen, gebeitend der tugend lere. Den pfat wil ich nach
treten, ob ir leichte noch nach vngedult gedultig werdet.
Ich vernim an ewer rede, ir meinet, ir ratet mir gar
trewlich. Wonet trewe bei euch, so ratet mir mit trewen
in gesworenes eides weise. In was wesens sol ich nu
mein leben richten? Ich bin vormals in der lieben
lustigen e gewesen; warzu sol ich mich nu wenden? In
werltlich oder in geistlich ordenung? Die sint mir beide
offen. Ich nam vur mich in den sin allerlei leute wesen,
schatzte vnd wug sie mit fleisse: vnuolkumen, bruchig
vnd etwe vil mit sunden fant ich sie alle. In zweifel bin
ich, wo ich hin keren sulle; mit gebrechen ist
bekummert aller leute anstal. Herre Tot, ratet! Rates ist
not! In meinem sinne finde, wene vnd glaube ich vur
war, das nie so reines, gotliches nest vnd wesen kume
nimmermer. Bei der sele, ich spriche: Weste ich, das
mir in der e gelingen solte als e. in der e wolte ich leben,
die weile lebend were mein leben. Wunnesam, lustsam,
fro vnd wolgemut ist ein man, der ein biderb weib hat,
er wandere, wo er wander. Einem ieden solchen man ist
auch lieb, nach narung z.u stellen vnd zu trachten. Im ist
auch lieb, ere mit eren, trewe mit trewen, gute mit gute
widergelten. Er bedarf ir nicht huten; wann sie ist die
beste hut, die ir ein frumes weib selber tut. Wer seinem
weibe nicht glauben vnd trawen wil, der muß stecken in
steten sorgen. Herre von oberlanden, furste von vil
selden, wol im, wen du so mit reinem bettegenossen
begabest! Er sol den himel ansehen, dir mit
aufgerackten henden danken alle tage. Tut das beste,
herre Tot, vil vermugender herre!
DER TOT.
Das XXVIII. capitel.
Loben one ende, schenden one zil, was sie vurfassen,
pflegen etelich leute. Bei loben vnd bei schenden sol
fuge vnd masse sein; ob man ir eines bedurfe, das man
sein stat habe. Du lobest sunder masse eeliches leben;
iedoch wellen wir dir sagen von eelichem leben,
vngeruret aller reinen frawen. Als balde ein man ein
weib nimpt, als balde ist er selbander in vnserer
gefengnuß. Zuhant hat er einen hantslag, einen anhang,
einen hantsliten, ein joch, ein kumat, ein burde, einen
sweren last, einen fegeteufel, ein tegeliche rosfeilen, der
er mit nichte nicht enberen mag, die weile wir mit im
nicht tun vnser genade. Ein beweibeter man hat doner,
schawer, fuchse, slangen alle tage in seinem hause. Ein
weib stellet alle tage darnach, das sie man werde.
Zeuchet er auf, so zeuchet sie nider; wil er so, so wil sie
sust; wil er dahin, so wil sie dorthin. Solches spiles wirt
er sat vnd sigelos alle tage. Triegen, listen, smeichen,
spinnen, liebkosen, widerburren, lachen, weinen kan sie
wol in einem augenblicke; angeboren ist es sie. Siech zu
arbeit, gesunt zu wollust, darzu zam vnd wilde ist sie,
wann sie des bedarf. Vmb werwort finden bedarf sie
keines ratmannes. Geboten ding nicht tun, verboten ding
tun fleisset sie sich alzeit. Das ist ir zu susse, das ist ir
zu sawr, des ist ir zu vil des ist ir zu wenig; nu ist es zu
fru, nu ist es zu spate, also wirt es alles gestrafet. Wirt
dann icht von ir gelobet, das muß mit schanden in einem
drechselstule gedret werden; dannoch wirt das loben
dicke mit gespotte gemischet. Ein man, der in der e
lebet, kan kein mittel aufhaben: Ist er zu gutig, ist er zu
scharpf, an in beiden wirt er mit schaden gestrafet. Er
sei nur halb gutig oder halb scharpf, dannoch ist da kein
mittel, schedlich oder streflich wirt es ie. Alle tage newe
anmutung oder keifen, alle wachen fremde aufsatzung
oder murmeln, alle monat newen vnlustigen vnflat oder
grawen, alle jar newes kleiden oder tegeliches strafen
muß ein beweibeter man haben, er gewinne es, wo er
welle. Der nacht gebrechen sei aller vergessen; von
alters wegen schemen wir vns. Schonten wir nicht der
biderben frawen, von den vnbiderben kunden wir vil
mer singen vnd sagen. Wisse, was du lobest; du kennest
nicht golt bei bleie!
DER ACKERMAN.
Das XXVIIII. capitel.
Frawen schender mussen geschendet werden, sprechen
der warheit meister. Wie geschicht euch dann, herre
Tot? Ewer vnuernunftiges frawen schenden, wie wol es
mit frawen vrlaub ist, ist werlich euch schentlich vnd
den frawen schemlich. In maniges weisen meisters
geschrifte findet man, das one weibes steure niemant
mag mit selden gesteuret werden, wann weibes vnd
kinder habe ist nicht das minste teil der irdischen selden.
Mit solcher warheit hat sein trostbuch ein Romer
Boecius hin geleget. Philosophia, die weise meisterin,
vnd ieder abentewerlicher vnd sinniger man ist mir des
zeuge: kein mannes zucht kan wesen, sie sei dann
gemeistert mit frawen zuchte. Es sage, wer es welle: ein
zuchtiges, schones, keusches vnd an eren vnuerrucktes
weib ist vor aller irdischer eugelweide. So manlichen
man gesach ich nie; der rechte mutig wurde, er wurde
dann mit frawen troste gesteuret. Wo der guten
samenung ist, da sihet man es alle tage; auf allen planen,
auf allen hofen, in allen turnieren, in allen herfarten tun
die frawen ie das beste. Wer in frawen dienste ist, der
muß sich aller missetat anen. Rechte zucht vnd ere leren
die werden frawen in irer schule. Irdischer freuden sint
gewaltig die frawen; sie schaffen, das in zu eren
geschieht alle hubscheit vnd kurzweil auf erden. Einer
reinen frawen fingerdrowen strafet vnd zuchtiget vur
alle waffen einen frumen man. One liebkosen mit kurzer
rede: aller werlte aufhaltung, festung vnd merung sint
die werden frawen. Iedoch bei golde blei, bei weize
raden, bei allerlei munze beislege vnd bei weibe vnweib
mussen wesen; dannoch die guten sullen der bosen nicht
engelten. Das glaubet, haubetman von kriege!
DER TOT.
Das XXX. capitel.
Einen kolben vur einen kloß goldes, eine koten vur
einen topasion, einen kisling vur einen rubin nimt ein
narre; die hewschewer eine burg, die Tunaw das mer,
den mausar einen falken nennet der tore. Also lobestu
der augen lust, der vrsachen schetzestu nicht; wann du
weist nicht, das alles, das in der werlte ist, ist eintweder
begerung des fleisches oder begerung der augen oder
hohe des lebens. Die begerung des fleisches zu wollust,
die begerung der augen zu gute, die hohe des lebens zu
ere sint geneiget. Das gut bringet girung vnd geitigkeit,
die wollust machet geilheit vnd. vnkeuscheit, die ere
bringet hochfart und rum Von gute turstigkeit vnd
forchte, von wollust bosheit vnd sunde, von ere guft vnd
eitelkeit mussen ie kumen. Kundestu das vernemen, du
wurdest eitelkeit in aller werlte finden; vnd geschehe dir
dann liebe oder leide, das wurdestu dann gutlichen
leiden, auch vns vngestrafet lassen. Aber als vil als ein
esel leiren kan, als vil kanstu die warheit vernemen.
Darvmb so sein wir so sere mit dir bekummert. Do wir
Pyramum den jungeling mit Tisben der meide, die beide
ein sele vnd willen hetten, schieden, do wir kunig
Alexandrum aller werlte herschaft entenigten, do wir
Paris von Troja vnd Helenam von Kriechen zerstorten,
do wurden wir nicht also sere als von dir gestrafet. Vmb
keiser Karel, markgraven Wilhelm, Dietrich von Berne,
den starken Boppen vnd vmb den hurnen Seifrid haben
wir nicht so vil mue gehabet. Aristotilem vnd
Avicennam klagen noch heute vil leute, dannoch sein
wir vngemuet. Do Davit der gedultig vnd Salomon, der
weisheit schrein, starben, do wart vns mer gedanket
dann gefluchet. Die vor waren, die sint alle dahin; du
vnd alle, die nu sint oder noch werden, mussen alle
hinnach. Dannoch beleiben wir Tot hie herre!
DER ACKERMAN.
Das XXXI. capitel.
Eigene rede verteiler dicke einen man vnd gerlich einen,
der ietzund eines vnd darnach ein anderes redet. Ir habet
vor gesprochen, ir seit etwas vnd doch nicht ein geist
vnd seit des lebens ende vnd euch sein alle irdische lant
empfolhen. So sprechet ir nu, wir mussen alle dahin,
vnd ir Tot beleibet hie herre. Zwo widerwertig rede
mugen mit einander nicht war gewesen. Sullen wir von
leben alle dahin scheiden vnd irdisch leben sol alles
ende haben vnd ir seit, als ir sprechet, des lebens ende,
so merke ich: wann nimmer lebens ist, so wirt nimmer
sterbens vnd todes. Wo kumpt ir dann hin, herre Tot? In
himel muget ir nicht wonen, der ist gegeben allein den
guten geisten. Kein geist seit ir nach ewer rede. Wann ir
dann auf erden nimmer zu schaffen habet vnd die erde
nimmer weret, so musset ir gerichtes in die helle;
darinnen musset ir one ende krochen. Da werden auch
die lebendigen vnd die toten an euch gerochen. Nach
ewer wechselrede kan sich niemant gerichten. Solten
alle irdische ding so bose, snode vnd vntuchtig sein, als
ir sprechet, so musten sie von gote vntuchtig sein
beschaffen vnd gewurket. Des ist er von anfang der
werlte nie gezigen. Tugent lieb gehabet, bosheit
gehasset, sunde vbersehen vnd gerochen hat got vnz her.
Ich glaube, hinnach tue er auch das selbe. Ich han von
jugent auf gehoret lesen vnd gelernet, wie got alle ding
gut beschaffen habe. Ir sprechet, wie alle irdische leben
vnd wesen sullen ende nemen; so sprichet Plato vnd
ander weissagen, das in allen sachen eines zeruttung des
andern berung sei vnd wie alle sache auf vrkunde sein
gebawet vnd wie des himels lauf, aller planeten vnd der
erden von einem in das ander verwandelt werde vnd
ewig sei. Mit ewer wankelrede, darauf niemant bawen
sol, weller it mich von meiner klage schrecken. Des
berufe ich mich mit euch an got, meinen heilant, herre
Tot, mein verderber! Damit gebe euch got ein boses
amen!
DER TOT.
Das XXXII. capitel.
Oft ein man, wann et der anhebet zu reden, im werde
dann vnderstossen, nicht aufgehoren kan. Du bist auch
aus dem selben stempfel gewurket. Wir haben
gesprochen vnd sprechen noch, damit wellen wir ende
machen: die erde vnd alle ir behaltung ist auf
vnstetigkeit gebawet. In diser zeit ist sie wandelber
worden, wann alle ding haben sich verkeret, das hinder
hervur, das voder hin hinder, das vnder gen berge, das
ober gen tale. Das ebich an das rechte hat die meist
menige volkes gekeret. Zu feures flammen stetigkeit
kan icht alles menschliches geslechte getreffen; einen
schein zu greifen, einen guten, trewen, beistendigen
freunt zu finden, ist nahent gleich mugelich auf erden
worden. Alle menschen sint mer zu bosheit dann zu gute
geneiget. Tut nu iemant icht gutes, das tut er vns
besorgend. Alle leute mit allem irem gewurke sint vol
eitelkeit worden. Ir leib, ir weib, ir kinder, ir ere, ir gut
vnd alles ir vermugen fleuchet alles dahin, mit einem
augenblicke verswindet es, mit dem winde verwischet
es, noch kan der schein noch der schate nicht beleiben.
Merke, prufe, sich vnd schawe, was nu der menschen
kinder auf erden haben: wie sie berg vnd tal, stock vnd
stein, awe vnd gefilde, der Alpen wiltnuß, des meres
grunt, der erden tiefe durch irdisches gutes willen
durchgrunden in regen, winden, doner, schawer, sne vnd
in allerlei vngewiter, wie sie schechte, stollen vnd tiefe
funtgruben in die erden durchgraben, der erden adern
durchhawen, glanzerze suchend, die sie durch
seltsenkeit willen vur alle ding lieb haben, wie sie holz
wellen, gewant zewen, heuser den swalben gleiche
klecken, pflanzen vnd pelzen baumgarten, ackern das
ertreich, bawen weinwachs, machen mulwerk, zunden
zinsel, bestellen fischerei, weitwerk vnd wiltwerk,
grosse herte vihes zusamen treiben, vil knechte vnd
meide haben, hohe pfert reiten, goldes, silbers, edel
gesteines, reiches gewandes vnd allerlei ander habe
heuser vnd kisten vol haben, wollust vnd wunnen
pflegen, darnach sie tag vnd nacht stellen vnd trachten.
Was ist das alles? Das alles ist eitelkeit vber eitelkeit
vnd beswerung der sele, vergenglich et als der gesterig
tag, der vergangen ist. Mit kriege vnd mit raube
gewinnen sie es; wann ie mer gehabet, ie mer geraubet.
Zu kriegen vnd zu werren lassen sie es nach in. O die
totliche menscheit ist stete in engsten, in trubsal, in
leide, in besorgen, in forchten, in scheuhung, in
weetagen, in siechtagen, in trauren, in betrubnuß, in
jamer, in kummer vnd in mancherlei widerwertigkeit;
vnd ie mer ein man irdisches gutes hat, ie mer im
widerwertigkeit begegent. Noch ist das das aller groste,
das ein mensche nicht gewissen kan, wann, wo oder wie
wir vber es vrplupfling fallen vnd es jagen, zu laufen
den weg der totlichen. Die burde mussen tragen herren
vnd knechte, man vnd weib, reich vnd arm, gut vnd
bose. O leidige zuversicht, wie wenig achten dein die
tummen! Wann es zu spate ist, so wellen sie alle frum
werden. Darvmb laß dein klagen, sun! Trit in welchen
orden du wilt, du findest gebrechen vnd eitelkeit
darinnen. Iedoch kere von dem bosen vnd tue das gute,
suche den fride vnd tue in stete; vber alle irdische ding
habe lieb rein vnd lauter gewissen! Vnd das wir dir
rechte geraten haben, des komen wir mit dir an got, den
ewigen, den grossen vnd den starken.
Des fursten rede von vil selden, des almechtigen gotes
vrteil.
Das XXXIII. capitel.
Der lenze, der sumer, der herbest vnd der winter, die
vier erquicker vnd hanthaber des jares, die wurden
zwifertig mit grossen kriegen. Ir ieder rumte sich, vnd
wolte ieglicher in seiner wurkung der beste sein. Der
lenze sprach, er erquickte vnd machte guftig alle
fruchte; der sumer sprach, er machte reif vnd zeitig alle
fruchte; der herbest sprach, er brechte vnd zechte ein
beide in stedel, in keller vnd in die heuser alle fruchte;
der winter sprach, er verzerte vnd vernutzte alle fruchte
vnd vertribe alle gifttragende wurme. Sie rumten sich
vnd kriegeten faste; sie hetten aber vergessen, das sie
sich gewaltigter herschaft rumten. Ebengleiche tut ir
beide. Der klager klaget sein verlust, als ob sie sein
erberecht were; er wenet nicht, das sie im von vns were
verlihen. Der Tot rumet sich herschaft, die er doch
allein von vns zu lehen hat empfangen. Der klaget, das
nicht sein ist; diser rumet sich herschaft, die er nicht von
im selber hat. Iedoch der krieg ist nicht gar one sache: ir
habet beide wol gefochten. Den twinget leit zu klagen,
disen die anfechtung des klagers, die warheit zu sagen.
Darvmb: klager, habe ere, Tot, habe sige, seit ieder
mensche das leben dem Tode, den leib der erden, die
sele vns pflichtig ist zu geben.
Hie bittet der ackerman vur seiner frawen sele. Der
roten buchstaben der grosse nennet alse den klager. Dis
capitel stet in eines betes weise vnd ist das XXXIIII.
capitel.
Immer wachender wachter aller werlte; got aller goter;
herre wunderhaftiger; herre aller herren,. almechtigster
aller geiste; furste aller furstentume; brunne, aus dem
alle gutheit fleusset, heiliger aller heiligen; kroner vnd
die krone; loner vnd der lon; kurfurste, in des kure sten
alle kure; wol im wart wer manschaft von dir empfehet!
Der engel freude vnd wunne; eindruck der aller
hochsten formen: altgreiser jungeling, erhore mich!
O licht, das da nicht empfehet ander licht; licht, das da
verfinstert vnd verblendet alles auswendiges licht;
schein, vor dem verswindet aller ander schein; schein,
zu des achtung alle licht sint finsternuß; licht, zu dem
aller schein ein schate ist, dem alle finsternuß licht sint,
dem aller schate erscheinet; licht, das in der beginstnuß
gesprochen hat: werde licht!; fewer, das vnuerloschen
alweg brinnet; anfang vnd ende, erhöre mich!
Heil vnd selde vber alles heil vnd selde; weg one allen
irrsal zu dem ewigen leben, bestes, one das dann nicht
bessers ist; leben, dem alle ding leben; warheit vber alle
warheit, weisheit, vmbsliessende alle weisheit; aller
sterke gewaltiger; rechtes vnd gerechter hant beschawer;
widerbringer aller bruche; ganz vermugender in allen
kreften; nothaft, zu dem alle gute ding als zu dem weisel
der bin nehen vnd halten sich; vrsache aller sache,
erhore mich!
Aller seuchten widerbringender arzet; meister aller
meister; allein vater aller schepfung; alweg vnd an allen
enden gegenwurtiger zuseher; aus der muter leibe in der
erden gruft selbmugender geleiter; bilder aller formen;
gruntfeste aller guten werke; aller werlte warung; hasser
aller vnfletigkeit, loner aller guten dinge; allein rechter
richter; einig, aus des anfange alle sache ewiglich
nimmer weichen mag, erhore mich!
Nothelfer in allen engsten; fester knote, den niemant
aufbinden mag; volkumenes wesen, das aller
volkumenheit mechtig ist, aller heimlicher vnd
niemandes wissender sachen warhaftiger erkenner;
ewiger freuden spender, irdischer wunnen storer; wirt,
ingesinde vnd hausgenosse aller guten leute; jeger, dem
alle spor vnuerborgen sint; aller sinne ein feiner einguß;
rechter vnd zusamenhaltender mittel aller zirkelmasse;
genediger erhorer aller zu dir rufender, erhore mich!
Nahender beistendiger aller bedurftigen; traurenwender
aller in dich hoffender; der hungerigen widerfuller,
satung der durstigen, labung der kranken; sigel der aller
hochsten maiestat; besliessung des himels armonei;
einiger erkenner aller menschen gedanke; vngleicher
bilder aller menschen antlitze; planete gewaltiger aller
planeten; ganz wurkender einfluß alles gestirnes; des
himels hofes gewaltiger vnd wunnesamer hofemeister;
twang, vor dem alle himelische ordenung aus irem
geewigten angel nimmer treten mag; lichte sunne,
erhore mich!
Ewige lucerne; ewiges immerlicht; rechte farender
marner, des kocke vndergeet nimmer; banierfurer, vnder
des banier niemant sigelos wirt; der helle abgrundes
stifter; der erden klosses bawer; des meres strames
tremer; der luft vnstetigkeit mischer; des feures hitze
kreftiger, aller elemente tirmer; doners, blitzens, nebels,
schawers, snees, regens, regenbogens, miltawes,
windes, reifes vnd aller irer mitwurkung einiger
essemeister; alles himelischen heres gewaltiger herzog;
vnuersagenlicher keiser; aller senftiglichster, aller
sterkster, aller barmherzigster schepfer, erbarme dich
mein vnd erhore mich!
Schatz, von dem alle schetze entspriessen; vrsprung, aus
dem alle reine ausflusse fliessen; leiter, nach dem
niemant irre wirt; aus nichte ichts, aus ichte nichts allein
vermugender wurker; aller weilwesen, zeitwesen vnd
immerwesen ganz mechtiger erquicker, aufhalter vnd
vernichter, des wesen joch, als du in dir selber bist,
ausrichten, visieren, entwerfen vnd abnemen niemant
kan; ganzes gut vber alles gut; aller wirdigster ewiger
herre Ihesu, empfahe genediglichen den geist, empfahe
gutlichen die sele meiner aller liebsten frawen! Die
ewigen ruwe gib ir, mit deiner genaden tawe labe sie,
vnder den schaten deiner flugel behalt sie! Nim sie,
herre, in dein volkumen genuge, da genuget den minsten
als den meisten! Laß sie, herre, von dannen sie kumen
ist, wonen in deinem reiche bei den ewigen seligen
geisten!
Mich rewet Margaretha, mein auserweltes weib. Gunne
ir, genadenreicher herre, in deiner almechtigen vnd
ewigen gotheit spiegel sich ewiglichen ersehen,
beschawen vnd erfrewen, darin sich alle engelische kore
erleuchten!
Alles, das vnder des ewigen fanentragers fanen gehoret,
es sei, welcherlei creature es sei, helfe mir aus herzen
grunde seliglichen mit innigkeit sprechen: amen!
16. Jahrhundert
Sebastian Brant
1458 - 1521
Der Autor
Sebastian Brant, Jurist, Verleger, Schriftsteller und
Pädagoge, wurde 1458 in Straßburg geboren. Er
studierte in Basel und promovierte dort 1489 zum
Doktor beider Rechte. Später war er Dekan der
juristischen Fakultät. 1494 erschien die Satire «Das
Narrenschiff», die zu einem europäischen Bestseller
wurde. 1499 kehrte er in seine Vaterstadt zurück und
war dort in verschiedenen Ämter tätig. 1521 ist er in
Straßburg gestorben.
De fulgetra anni 1492
Vom Donnerstein des Jahres 1492
Lateinische Fassung
Deutsche Fassung
Textgrundlage:
Lateinische Gedichte deutscher Humanisten
Hrsg.: H. C. Schnur, Stuttgart 1966, S. 22-25
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De fulgetra immani iam nuper anno [14]92
prope Basileam in agros Suntgaudiae iaculata
Perlegat antiquis miracula facta sub annis
qui volet, et nostros comparet inde dies,
visa licet fuerint portenta horrendaque monstra:
lucere e caelo flamma, corona, trabes,
5
astra diurna, faces, tremor et telluris hiatus
et bolides, Typhon, sanguineusque polus.
circulus et lumen nocturno tempore visum,
ardentes clipei et nubigenesque ferae.
montibus et visi quondam concurrere montes,
10
armorum et crepitus et tuba terribilis.
lac pluere e caelo visum est frugesque calybsque,
ferrum etiam et lateres et caro, lana, cruor.
et sescenta aliis ostenta ascripta libellis,
prodigiis ausim vix similare novis.
15
visio dira quidem Friderici tempore primi
et tremor in terris lunaque solque triplex.
hinc cruce signatus Friderico rege secundo
excidit inscriptus grandinis imbre lapis.
Austria quem genuit senior Fridericus in agros
20
tertius hunc proprios et cadere arva videt.
nempe quadringentos post mille peregerat annos
sol, noviesque decem signifer atque duos,
septem praeterea dat Idus metuenda Novembris,
ad medium cursum tenderat illa dies,
25
cum tonat horrendum crepuitque per aethera fulmen
multisonum: hic ingens concidit atque lapis,
cui species deltae est aciesque triangula: obustus
est color et terrae forma metalligerae.
missus ab obliquo fertur, visusque sub auris
30
Saturni qualem mittere sidus habet.
senserat hunc Enßheim, Suntgaudia sensit; in agros
illic insiluit depopulatus humum,
qui licet in partes fuerit distractus ubique,
pondus adhuc tarnen hoc continet: ecce vides.
35
quin mirum est potuit hiemis cecidisse diebus
aut fieri in tanto frigore congeries?
et nisi Anaxagorae referant monimenta, molarem
casurum lapidem credere et ipse negem.
hic tunc auditus fragor undique litore Rheni,
40
audiit hunc Uri proximus Alpicola,
Norica vallis eum, Suevi Rhaetique stupebant,
Allobroges timeant, Francia mota tremit.
quicquid id est, magnum portendit, crede, futurum
omen: at id veniat hostibus, oro, malis.
In schedia eodem anno (MCDXCII) typis expressa
hae lectiones variae inveniuntur:
18: grammate ab imbre.
38: et ista negem.
42: Francia certe tremit.
___________
Von dem erschröcklichen Donnerstein,
so bei Ensisheim vom Himmel gefallen
Sich wundert mancher fremder gschicht,
der merck vnd leß ouch diß bericht.
Es sint gesehen wunder vil
im lufft / comet vnd fůrenpfil,
5
brinnend fackel / flammē vnd kron,
wild kreiß vnd zirckel vmb den mon
am hymel, blůt / vnd füren schilt /
regen noch form der hier gebildt.
Stoß-bruch des hymels vnd der erd /
10
und ander vil seltzen geberd
tratzlich zerstiessen sich zwen berg /
grüßlich trũmmen / vnd harnesch werck /
isen / milch / regen stahel korn
ziegel / fleisch / woll / von hymels zorn
15
als ouch ander der wunder glich
dann by dem ersten Friderich
noch ert bydem vnd finsterniß
sach man drij sünn vnd mon gewiß.
Und vnder keyser Friderich
20
dem andern / fiel ein stein grüßlich
sin form was groß / ein crütz darjnn
und ander geschrifft vnd heimlich synn.
By wil des dritten Friderich
geboren herr von Osterich
25
regt har jn diß sin eigen landt /
der stein der hie ligt an der wandt.
Als man zalt viertzehenhundert Jar,
uff sant Florentzen tag ist war
nüntzig vnd zwei vmb mittentag
30
geschach ein grusam donnerschlag /
drij zentner schwer fiel diser stein
hie in dem feld vor Ensißhein /
drij eck hat der verschwerzet gar
wie ertz gestalt vnd erdes var
35
ouch ist gesehen in dem lufft
slymbes fiel er in erdes klufft.
Klein stück sint komen hin vnd har,
und wit zerfüert süst sichst in gar
Tůnow / Necker / Arh / Jll / vnd Rin
40
Switz / Uri / hort den klapff der Jn.
Ouch doent er den Burgundern ver
jn forchten die Franzosen ser
rechtlich sprich ich das es bedüt
ein bsunder plag der selben lut.
Hans Sachs
1494 - 1576
Der Autor
Hans Sachs, Meistersinger und Schuhmacher, wurde
1494 in Nürnberg geboren. Nach fünfjährigen Walz,
kehrte er 1516 in seine Vaterstadt zurück und starb dort
1576. Sein literarisches Werk umfaßt über 6000 Titel,
darunter etwa 4200 Meistergesänge, etwa 1800
Spruchgedichte, 80 Fastnachtsspiele, 63 Tragödien, 65
Komödien und 5 Prosadialoge.
Die insel Bachi.
Im rosenton Hans Sachsen.
Als ich das neu weltbuch durchlase
Wie vil insel durchfaren wase
Die neu schiffart von Portugal,
Darein ich wunder ane zal
5
Funt, gar von seltsamen refieren,
Von menschen, vögel, fisch und tieren;
Zu nachts trieb mich die fantaseie
In ein schwere melancholeie,
Nach zu gründen den dingen tief,
10
Bis ich entlich darin entschlief.
Do traumet mir so eigentleiche,
Wie ich in Portugal dem reiche
Ausfüre auf das weite mer
In einer naue mit eim her
15
Für manche insel groß und weite.
Entlich kam wir in kurzer zeite
Zu der insel Bachi mit nam
Auf eim klar glaslauterem stram:
Da weet Zephirus der wint,
20
Die naue gieng stil senft und lint.
Die bletter gleich den harfen klungen,
Die vögel lustiklichen sungen,
Das frei gewilt sprang in dem hag,
Die fisch schnalzten in warmer wag;
25
Die insel stunt voller weinreben:
In hohen freuden war wir schweben.
Kürzlich war unser freud uns bitter;
Ein sturmewint und ungewitter
Her durch die schwarzen Wolken hal,
30
Licht blitzen, grausam donnerstral,
Die wellen an die naue schlugen,
Mit kreften wir die ruder zugen.
Der stram war eitel blut und schwarz;
Schlangen, kröten sach ich aufwarz
35
Schwimmen; fledermaus und die eulen,
Löwen, wölf, beren hort wir heulen;
Verdorrt waren reben und baum,
Die vögel schwiegen in dem traum;
Unser naue war schwach und kracht;
40
Im augenblick ich auferwacht.
Ich dacht: der straum vergleicht sich eben
Bacho, dem got, welcher tut geben
Eßen und trinken auf das best,
Macht frölich beide wirt und gest;
45
Auch tut er allen wollust bringen
Mit saitenspil, pfeifen und singen,
Mit tanzen, spil, schwenk mancher weis,
Sam sei man in dem paradeis,
Bis das man gar feucht wirt vom wein;
50
So schlegt entlich der donner drein
Mit ungestüme, gleich den toren,
Die zanken, schreien und rumoren.
Aus füllerei auch folgen tut
Schant, laster und auch die armut,
55
Kopfwe, krankheit aller gelider;
Vernunft und sin ligen darnider,
Sterk und gedechtnus sie abstürzen,
Des menschen leben sie verkürzen.
Doctor Freidank spricht: mer leut sterben
60
Von füll, dan durch das schwert verderben.
Johannes Harsch
um 1530 - nach 1562
Der Autor
Johannes Harsch von Schor(e)ndorf, evangelischer
Lieddichter, ist wohl um 1530 in Schorndorf in
Württemberg geboren. Wahrscheinlich hat er in
Tübingen Theologie studiert. Dort veröffentlicht er
1562 ein 25-strophiges Lied im Bremberger Ton, auf
acht Oktavblättern gedruckt. Die letzte Strophe enthält
am Anfang der Verszeilen seinen Namen: «Johannes
Harsch von Schorendorff». Weitere Lieder von ihm sind
nicht überliefert. Ob er mit einem Pfarrer Johannes
Harsch identisch ist, der von 1562 bis 1567 die Pfarrei
von Langenbrand im Landkreis Calw betreute, ist nicht
bekannt.
Ein Gaistlicher Bremberger
1562
Textgrundlage:
Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit
bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts,
Vierter Band (S. 196 ff. Nr. 288) von Philipp
Wackernagel
Leipzig: B. G. Teubner, 1874
Faksimile: Internet-Archive
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Ein Gaistlicher Bremberger, Klag, warnung vnd
weissagung uber die vndanckbare vnd verkerte welt,
auch die zukunftige straaff, raach vnd Gottes zorn uber
die selbigen, aus göttlicher Schrift gezogen vnd in
gesangs weiß verfaßt.
1
WAch auff, o welt, aus deinem schlaff, das bitt ich dich,
vnnd bis ain weile munderhafft,
bis ich dir klag mein kummer:
Ich bin betrübt, das ich dich so vermessen sich,
5
wahrlich der solches in dir schafft,
das wurdt je thun kein frommer.
Weil dir Gott gibt sein hailigs Wort,
das leuchtet wie der morgenstern,
klarer denn ein carfunckel:
10
Das solt je sein dein höchster hort,
vnnd deinen füßen ein latern,
das du nit giengst im tunckel.
So bist verkert vn blind' dan ein aichner stock,
zu allen gutten tugenden feüler dann ain block:
15
durch dich sein großmechtiger Nam solt werden preißt,
so wurdt im durch dein böße art
all schmach vnnd groß vnehr beweißt.
b
Esaias singt seinem volck ain liedlin schon,
wie im der Herr ain Weingart zart
an aim faißt ort hab zogen,
Hab in vmbmaurt, ain keller darein bawen lon,
5
vnnd hab auff frucht vnnd trauben gwart,
er aber hab in trogen,
Vnd hab doch nichts dann herling bracht,
darumb die von Jerusalem
das vrtheil solten geben:
10
Der Herr sprach “Ich hab selbs bedacht,
was seinem Weingart wol gezäm,
wie er mit im wott leben:
Sein wend vnd zeun werde gerissen zu d'Erd,
dz er wiest lig, nicht gehackt noch beschnite werd,
15
darmit er hinfurt nicht den dorn vnnd distel tragt,
kein taw noch reg kompt vber in,”
hatt der Herr Zebaoth gesagt.
3
Jesus Christus des höchste eingeborner son,
vom gschlecht David vnnd Abraham
ein warer Mensch geboren,
Er ka auff Erd wol aus de höchste himels thro,
5
vnnd wolt da an des Creutzes stamm
stillen seins Vatters zoren.
Er hatt solchs mit gutthat beweyßt,
in Galilea frue vnnd spatt,
mit mirackeln vnd wunder:
10
Er hatt sie inn der wůsten gspeißt,
macht sie gesund, erweckt vom Todt,
noch wurden sie nit munder.
Da schrey er wee, wee vber alle solche Stett,
da Er sein wunderwerck erzaiget vn predgt hett,
15
das sie sich nit bekert vnnd buß hetten gethon,
er sprach, Sodom vnnd Gomorrha
am letsten gricht wurdt baß ergohn.
4
Als der Herr zu Jerusalem ein reutten sölt,
bald er die statt ansichtig war,
da waint Er bitterlichen:
Er sprach “wie offt hab ich dich vnterschleuffen gwölt
5
wie ain brůthenn jr junge schar,
almal bist mir entwichen;
Jerusalem, du bist im bann,
du mordest die ich zu dir send,
solt ich dir das vergessen?
10
Alles grecht blut von Abel an
will ich fordern von deiner hend
vnnd will dirs als zu messen.
Jerusalem, wißtest, was zu deim frid gehört,
das du durch rechte buß zu mir wurdest bekoert,
15
es ist laider vor deine gsicht verborgen gar,
dein feind werden umbgeben dich
vnnd bringen inn groß noth vnnd gfar.”
5
Was Gott seim volck durch die Propheten hatt verkundt,
das wurden sie mit schmertzen gwar,
weil sie Gott thett verlassen:
Salmannessar fierts inn Syriam durch sein gesind,
5
vnnd brachte ander völcker dar,
die Israhel besassen.
Juda hatt woll gesehen das,
wie Gott Israhel hett gethon,
wolten sich doch nit keren,
10
Darumb in Gott auch wurdt gehaß,
vnnd schickt sie hin gehn Babilon,
jr unglück thet sich mehren.
Letzlich als Gott sie haimsuchte durch seine son,
sie wolten in kurtzumb zu keinem könig hon,
15
da musten sie all jemerlich gantz gen zu grund
durch Titum, des Vespasi Sohn,
als vns Josephus das thut kundt.
6
Nur sagt Christus, die warheit selbs, mit seinem mund
“so das am grienen holtz geschicht,
was will am dirren werden?”
So gott laßt gen die naturliche zweyg zu gr[u]nd,
5
als wie der hailig Paulus spricht,
so steht die Impf in gferden.
Das laß dir, welt, zu hertzen gohn:
was dirr zukunfftig gschehen soll
ist an den juden zsehen:
10
Gott gibt das Euangelion,
wie mans annimpt, das sicht man woll,
wer köndt doch anders jehen,
Wan das du, wellt, must bsten ainen heftige stand,
vnd du zuuor vnd furnemlich, o Teutsches land,
15
weil dich Gott hatt aus de letste zu erste gmacht:
wie mainstn, das du werdest bstehn,
weil du sein wort nit hast in acht?
7
Hör zu, O welt, wz der Herr fur ein antwort gab,
die jm sagten von Pilato,
wie er hat blut vergossen:
Er sprach zu jn “was habt jr fur verwunderung drab?
5
es wurdt euch gschehen aach also,
so jr die sund nit lassen.”
Er sagt “maint jr, das die allain
gesundet hand zu Siloha
die der thurn hatt erschlagen?”
10
Er sprach “laßt euch ein warnung sein:
es sind noch ander straffen da,
die jr müssen ertragen.”
Dz merck, O welt, vn faß es in dein steinen hertz,
laß dirs bej leib in keine weg nur sein ein schertz,
15
dan wz Got vor zu ander zeit der welt hat tho,
weil du den lebst in gleichem fall,
so must du auch die gferd beston.
8
Auch sagt Petrus, Gott hab der Engel nit verschot,
habs mit ketten der finsternus
gar hart vnnd starck gebunden,
Hab auch der welt zur zeit Noah greulich gelont,
5
vnnd sie ertrenckt mit dem sundfluß
weil sie fleischlich erfunden.
Auch Sodoma vnnd gomorrha
mit schwebel, bech vnnd fewr verbrent
weil sie den Lott verachten,
10
Quellten ein grechte seele da,
da er sie straafft vnnd hoch ermant:
o welt, thu das betrachten!
So Gott die welt ertrenckt vnd die Stett hatt umbkeert,
vnd sie doch nur ein ainiger prediger leert,
15
wie wiltu dan am jungste tag vor Gott beston?
du hast doch mer dann tausent Lott,
auch bawt Noa die Archen schon.
9
Ich bitt durch Gott, habt mein gesang fur keinen spott,
denckt nit, das ichs aus zoren thüe,
euch darmit zu stumpfieren:
Was mich bewegt, das waißt allein der Ewig Gott,
5
dieweil ich sich dich spat vnd frühe,
o welt, so jubelieren,
Weil dir Gott zaigt am firmament
durch wunderwerck sein grossen zorn
mit vilfeltigen zaichen,
10
Darzu er dir vil plagen sendt:
es ist laider an dir verlorn,
er kan dich nit erwaichen.
O welt, o welt, es ist fürwar nun kinder rutt:
weil du dan nit aus solcher zucht bist worde gut,
15
so wirt er dich regiren mit dem eisnen stab,
nit hie allain, auch ewiglich,
du thuest dann buß vnnd bittsts im ab.
10
O welt, denck nit, du habst kain wasser nie betrübt,
derhalben dich der höchste Gott
ohn vrsach mueste straffen:
Aus hertzen grund hatt dir vor allen dingen gliebt
5
was gwesen ist widder sein gbott,
bist ganz in sund entschlaffen:
Es darff je nit beweisens vil,
all deine werck sind offenbar
vnnd laider vnuerborgen:
10
Dann wer den bawm erkennen will,
derselbig nemb der fruchten war,
er urtheilt ohne sorgen:
Furwar, du bist d' feigenbau, d' kein frucht tregt,
dir ist die art schon vnden an die wurzel glegt,
15
hast nichts den laub vnnd doch kein frucht nie recht
verbracht,
darumb ist dein in diser zeit
jm himmels thron vor Gott bedacht.
11
Wer es betracht, wie Gott hatt thon zu aller zeit,
der wurt daraus erlernen wol,
das groß straff seind vorhanden:
Sie sind schon reiff, auch grausam schwer vnd nimer
weit,
5
ein jeder das betrachten soll,
das er nit werd zu schanden.
Ernsthafft vnnd grecht ist vnser Gott,
dem Gottloß wesen nit gefalt,
er mag es auch nit dulden;
10
Doch wil er nit des sünders todt,
sein zoren laßt er fallen bald,
so mir jm nur thun hulden.
Welt, merck sein art: so er will straffe stet vn land,
hat ers zwar alle weg durch seine knecht ermant,
15
ob sie villeicht oder zum thail buß hetten thon,
wie es zu Niniue geschach,
das er sein straaff thet vnterlon.
12
Zu Nohas zeit ließ er der welt verkunde bueß
zuuor hundert vnnd zweintzig Jar,
ob er sie möcht bekeren:
Zu diser zeit man aber diß betrachten muß,
5
das wir nit hand so lang beuor,
wie Christus selbs thut leren.
Denk, wie du, welt, in viertzig Jar
inn geitz, hofart, schand, üppigkait
vnnd vntrew hast zů gnommen:
10
Hetstn noch achtzig Jar beuor,
als es geschach zů Nohas zeit,
ach warzu wurt es kommen?
Der Herr sagt selbs, dein tag mueßen werden verkurtzt,
aller hochmůt, falsch vn betrug werde gesturtzt,
15
auff das die ausserwelten nit werden verfuert:
wo das nit gschech, sagt selbs der Herr,
kain mensch auff erd mehr selig wurdt.
13
Merk auf, o welt, vnnd nimb der zeit gantz eben war,
darin der Herr sein buß verkunt,
das will ich jetzt erzelen.
Das ist gmainglich alwegen gwesen viertzig Jar,
5
wie ich es oft geschriben find,
die im Gott thut erwelen.
Als Moises alt war viertzig jar,
da zeigt Er an mit einer that,
er wolt Ißrahel loesen,
10
Aber sie wurdens nit gewar,
wie Steffanus actorum sagt,
ist ein buß predig gewesen
Dem Pharao vnnd dem gantzen Egipten land,
dan jn der Herr doch widerum zu pharao sand,
15
nach de die zeit wurdent erfullt, die viertzig jar,
weil sie es nit wolten verstehn,
jm rotten meer ersoffens gar.
14
Die grewlich thatt, die in Egipte Gott hat gthan,
das wirt den Cananitern sein
ain recht buß predg gwesen:
Sie achtens nit, vnd kerten sich gantz nicht daran,
5
biß das das viertzigst jar erschein,
da mochten sie nit gnesen.
Elias hat bey viertzig jar
dem Achab vnnd der Ißabel
zuuor buß thun verkunden,
10
Desgleichen Esaias jwar
dem gantzen hauß von Ißrahel,
als wir es klerlich finden.
Jeremias auch viertzig jar zuuor ermant,
eh das die Stat Jerusalem ward gar verbrant,
15
gar hart vnnd starck on vnterlaß er jnen trewt,
aber sie woltens glauben nit,
biß das die statt wurdt gar zerstrewt.
15
Als der Herr Christ den rechten pharon hat ertrenckt,
durch sein leiden vnd bittern todt,
sund, Helle, tod vnnd Teuffel,
Vnd sonderlich der Herr sich zu den Juden lenckt,
5
aber sie hieltens für ein spot,
das bracht in grossen zweiffel:
Er gab in fristung viertzig jar,
ließ in das Euangelion
die zeit gar woll verkunden,
10
Darzu auch wunderzaichen zwar
sach man woll an dem himmel stehn,
kain besserung thett sich finden:
Da kamen sie in jamer, angst vnnd große not,
vn blibe mehr dan ailffmal hundert tausent tod,
15
wurde verkaufft, veracht, verspot vn gantz zertrennt,
Josephus das beschriben hatt,
vnnd namen gar ein grewlich endt.
16
Dieweil vns Gott sein hailigs wort zur letsten zeit
zu einer zeugnus hatt gesendt,
wie Christus selbs thut sagen:
Wir achtens nit, wie vnser wanndel zeugnus geit,
5
drumb ist die welt schon an dem endt,
geht an die letsten plagen.
Gott hatt vnns wol vil straffen gsendt,
mit krieg, teurung, brand, Tod vnnd mord,
wie man es thut erfaren:
10
Vil zaichen an dem firmament
zu kainer zeit ist nie erhoert
als jetz bey dreissig jaren.
Wer nimpts zu hertz, das Gott sein gůt in zoren kert,
all creatur im wasser, lufft, himel vnnd Erdt,
15
die haben sich gegn dir, o welt, zur raach gewent:
so du es nit erkennen wilt,
furwar so bist wie Pharo blendt.
17
Christus vns selbs seiner zukunfft ain zaichen geit:
wan er die welt haimsuchen werdt,
kain glauben werd Er finden.
Er spricht “gleich wie es ist gangen zu Nohas zeit,
5
also werd sie auch sein verkert,
genaigt zu allen sunden.”
Ob man sich schon vil glaubens riempt
von Christo vnnd der seligkait,
wie man artlich kan sagen,
10
All sachen seind mit gschrifft verbluembt,
doch verrath vns die vppigkait,
dan wir ein falsch hertz tragen:
Das ist genaigt auff zeitlich gut, wollust vn bracht,
hand aus der Erd vnnb Sathans Raich ain himmel
gmacht,
15
so es doch Gott vnd Christus nie benothen hat,
es hats auch kain Apostel glert,
kain Patriarch thett solche that.
18
Warlich Gott hat sein letsten zorn schon gnomen fur,
die Engel mit den siben schaln
anthon mit rainer seiden:
Glaubs oder nit, sie seind dir lengest vor der thür,
5
dein boßheit wurt er dir bezaln,
so du sie nit wilt [m]eiden.
Du waist den weg vnnd gehst in nit,
dich hatt verblendt das jrrdisch gut,
bringt dir ein nagend gwissen,
10
Deim glauben volgt kain tugent nit,
das muestn zalen mit deim blut,
der Sathan hatt dich bschissen.
Gwalt, kunst, weißheit braucht niemand nit zu Gottes
Ehr,
allain zum geytz vnd leibs wollust, drumb zurnt der
Herr,
15
sendt zeitlich straf, ob er vns bringe möcht zur buß,
drum lestert man den hoechste Gott,
sein hailigs wort dschuld haben muß.
19
O wee, Achab: die Jessabel hatt dich verfuert,
Ramath das ligt in irem sinn,
dein Priester dich verkurtzen:
Furwar, Gott hatt dem Jehn schon sein hertz beruert,
5
der Jessabel mit seinem grim
von der zinnen wurt sturtzen.
O Josabat, du gibst die flucht,
die vile dich betrogen hatt,
Micha der hat nichts golten:
10
Will das bej dier nicht schaffen frucht,
so wais ich ich[t] dir hinfur kain rath,
der Herr hat Achab gscholten:
Der streyt geschicht jm reyßthal zu hormagedon,
da wurt jrn schein verliern die Son vnnd auch der Mon,
15
vnd auch die stern werden verhalten jren schein,
doch wurdt der aller hoechste Gott
seim volck ain grosse zuflucht seinn.
20
O Magistrat, die jr euch nennten Gottes knecht,
wie euch die schrift des zeugnus geit
vnnd ich euch auch bekenne:
Habt acht auff euch, das Gott durch euch nit werd
geschwecht!
5
der welt pracht wert ein kurtze zeit,
die Hell thut ewig brennen.
Besecht durch Gott die hailig gschrifft,
all Histori durch leßt mit vleis,
so werd jr gwiß drinn finden,
10
Wie ewer stand ein sueße gifft
vnnd ewer weg glat wie ein eyß,
dem wenig volgen könden.
Was dvrsach ist, des stehnd doch alle bucher vol,
vnd ist nit ohn, der mehrer thail der waißt es wol,
15
––––––––––––
noch hat euch geitz, wollust verblendt,
das jr den selben weg auch gehnd.
21
Wacht auff, wacht auff, jr, die man Gottes Hirten nent!
es geht ein grosses gwülck daher:
thund schaaff inn pferrich treiben.
Saumpt euch nit lang, vnd nembt den stab in ewer hand,
5
es darff furwar nit schlaffens mer,
will man vorm wetter bleiben.
Tracht nit nach ruw vnnd gutter zeit,
nach wollust, Ehr vnd müssigang,
die zeit mags nimmer leiden:
10
Warlich, der Herr ist nimmer weit,
er wurdt doch nit verziehen lang,
wurdt seine feind austreiben.
Dann findt Er euch schlemmen, brassen mit jhenem
knecht,
vnnd als die jm sein Ewigs Reich habend verschmecht,
15
weil jr auff Erd euch widerum ein and's bawt,
furwar, jr gebt da mit vrkund,
das jr im nicht vmbs Ewig trawt.
22
Nun blasend starck mit der pufaunen zu Zion,
das sich darnon das land bewegt:
des Herren tag ist kommen!
Ist finster, schwartz, wölckig, neblig, das zeigen an,
5
ein grausam volck sich jetzund regt,
dergleichen nie vernomen:
Vor jhm geht ein verzerent fewr,
vnnd nach jm ain brinnender flam,
niemand mag jm entrinnen.
10
Warlich, all frewd wurdt werden tewr,
dieweil jm niemands weren kann,
das wurdt groß weehklag bringen:
Vor jm zitert dz land, d'himl wurdt bewegt,
Son, Mon vnnd stern werden mit finsternus bedeckt,
15
vor seinem heer laßt d'Herr seinen donder gehn,
grewlich, schrecklich wurdt sHerren tag:
ach, wer will doch vor jm bestehn?
23
So spricht der Herr “kert euch zu mir mit hertz vnnd
gmueth,
zerreyst die hertz, die klaider nit,
mit fasten, wainen, klagen.”
Gnedig ist er, barmhertzig vn von grosser guet,
5
jnn rewt die straff, so man jn bitt,
vnnd thut mitleiden tragen.
Drumb hailg ein fasten in der gmein,
baid, jung vnnd alt, samlet zu hauff,
auch die jungen seuglingen;
10
Der breutigam laß die kammer sein,
jr priester, hept die hende auff,
laßt euch zu hertzen tringen,
Vnd bitten Gott, das er sein straaf in guete lend,
Vn sich mit gnad, wie sein art ist, her zů vns went,
15
das er den feind vnnd was vns btruebt treib von vns ferr,
auff das wir jm hin für vnnd für
sagen groß lob, preyß, danck vnnd ehr.
24
Zeuch aus, zeuch aus, o Gottes volck, aus diser welt,
mit gantzem hertzen, sin vnnd můht,
seel, Leib vnd allen krefften!
Wend ab dein hertz von wollust, pracht, geitz, gůt vnnd
gelt,
5
betracht allein das hoechste gůt,
daran dein hertz thu hefften.
Gedenck, wie bist so thewr erkaufft
durch des vnschuldig lambes blůt,
am creutz fur dir gestorben.
10
Darumb bist auff sein namen taufft,
das du thail habst an seinem gůtt,
sonst werst ewig verdorben.
Drum laß dirs sein de hoechste schatz, dz hoechste gůt,
betracht es recht, so bringt es dir frid, frewd vn můt,
15
vnd sprich mit hertz “Herr, dein will gschech, der vnser
nit,
dein Reich allein kom zu vns, Herr,
so sind wir grosser sorgen quit.”
25
Ich bitt durch Gott, dz ma mir dz zum besten halt,
ob ich nit hab ains jeden gaist
hie inn meim gsang getroffen.
Alweil ich wais, das Gott ein ainfalt gwissen gfalt,
5
nach seiner maß, wie ers im laist,
neben dem thu ich hoffen,
Es werd doch nit gantz leer abgon,
sonder es werd etlicher leut
hertz, gmueht vnnd sinn erwaichen.
10
Aber wer sich nit kert daran,
raach vnnd Gottes zorn ist nit weit,
schmach schand wurdt jn errichen.
Von hertze grud so bitte gott vo himelreich,
schreit, růft zu jn, dz er vns vnser sind verzeich,
15
oren, hertz, sin vn gmuet machet jm vntertho,
dorffen wir vns gantz förchte nit,
so schon sein zorn werd ahne gohn.
___________
Anmerkungen von Philipp Wackernagel:
Erstausgabe: 8 Blätter in 8°, Tübingen 1562.
Die letzte Strophe enthält in den Anfangsbuchstaben,
zum Teil den Anfangswörtern, der Verszeilen den
Namen Johannes Harsch von Schorendorff.
Vers 1.2 Bis, 2.3 ain, 2.15 tregt, 3.11 mach, 3.12 mit
wunder für n. m., 3.17 ger., 4.1 ain für ein. 4.10 vom,
4.13 deinem, 5.7 hatte, 5.14 inn für in, 6.8 gesch. 6.13
ain. 7.3 fehlt blut, 7.13 steine, 7.17 fehlt du, 8.17 Noe,
11.11 zorn, 11.15 villeucht, 12.11 Nahos, 14.1 Die Gott
in Egipte hat gethan, 14.14 ehe, 15.3 Hell, 15.11 ann für
an dem, 16.6 ahn, 16.17 Pharao, 17.7 sie für sich, 17.16
giert, 18.4 vor thür, 18.14 leibes, dran für drumb, 20.10
süß, hinter 20.14 fehlt eine Zeile: ich habe
angenommen, es sei 20.15, es könnte sich aber auch so
verhalten, daß 20.16 fehle und innerhalb der
vorangehenden (mit verblendt endigenden) Zeile vier
Sylben zu ergänzen seien; Vers 22.16 des, 23.7 hailge,
23.14 sich für her, 23.15 betrübt, 23.17 eher, 25.15
macht.
Der aus dem Ende des 13. Jahrhunderts stammende
Ton, den man im Verlauf der Zeit kurzweg den
Brennenberger oder Bremberger nannte, erscheint hier
noch einmal in sehr später Zeit: ich kenne kein noch
späteres Vorkommen. Die Art der Abweichungen
desselben in diesem Gedicht von dem Strophenbau in
anderen spricht für das höhere Alter der hier
aufbewahrten Form.
Neuhochdeutsche Literatur
17. Jahrhundert
Paul Gerhardt
1607 - 1676
Der Autor
Paul Gerhardt wird 1607 als zweiter Sohn des Gastwirts
und
Bürgermeisters
Christian
Gerhardt
in
Gräfenhainichen (Henichen) geboren. Nach dem Besuch
der Fürstenschule in Grimma studiert er ab 1628 an der
theologischen und philosophischen Fakultät der
Universität Wittenberg. Dort ist er nach dem Studium
als Hauslehrer tätig und verfaßt seine ersten Gedichte.
Er erlebt die Schrecken des Kriegs und die Pest. Um
1643 tritt er bei einem Kammergerichtsrat in Berlin die
Stelle eines Hauslehrers an und befreundet sich mit dem
Kantor der Berliner Nikolaikirche, Johann Crüger.
Dieser hatte 1640 das Gesangbuch «Praxis Pietatis
Melica» herausgegeben. Bis 1653 veröffentlicht Paul
Gerhardt hier in weiteren Auflagen 82 seiner Lieder.
1651 erhält er die Stelle eines Probstes an der
Pfarrkirche von Mittenwalde, 1657 kehrt nach Berlin
zurück, als Diakon an der Nikolaikirche. Das
Brandenburgische Kurfürstenhaus war 1622 vom
lutherischen zum calvinistischen Glauben übergetreten
und es kam vor allem unter dem Großen Kurfürsten
immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den
Lutheranern. Im Verlauf dieser Konflikte wurde auch
Paul Gerhardt 1666 vom Dienst suspendiert. Als der
Große Kurfürst auf Grund vieler Eingaben auf
Wiedereinsetzung
Gerhardts
die
Entlassung
zurücknimmt, verzichtet dieser auf eine Weiterführung
des Amtes und geht 1668 als Archidiakon an die
Pfarrkirche in Lübben im Spreewald. Dort ist er 1676
gestorben.
Sogenanntes «Testament»
Paul Gerhardts
für seinen Sohn
Frühjahr 1676
Text:
Das deutsche evangelische Kirchenlied
des 17. Jahrhunderts, 6 Bände
Hrsg.: A. Fischer/W. Tümpel,
Gütersloh 1904-1916/Hildesheim 1964
_____________________________________________
_______________
Nachdem ich nunmehr das 70. Jahr meines Alters
erreichet, auch dabey die fröhliche Hoffnung habe, daß
mein lieber frommer Gott mich in kurzem aus dieser
Welt erlösen und in ein besseres Leben führen werde,
als ich bisher auf Erden gehabt habe, so danke ich ihm
zuvörderst für alle seine Güte und Treue, die er mir von
meiner Mutter Leib an bis auf jetzige Stunde an Leib
und Seele und an allem, was er mir gegeben, erwiesen
hat.
Daneben bitte ich ihn von Grund meines Hertzens, er
wolle mir, wenn mein Stündlein kommt, eine fröhliche
Abfahrt verleihen, meine Seele in seine väterlichen
Hände nehmen und dem Leibe eine sanfte Ruhe in der
Erde bis zu dem lieben jüngsten Tage bescheren, da ich
mit allen Meinigen, die vor mir gewesen und auch
künftig nach mir bleiben möchten, wieder erwachen und
meinen lieben Herrn Jesum Christum, an welchen ich
bisher gegläubet und ihn doch nie gesehen habe, von
Angesicht zu Angesicht schauen werde.
Meinem ein[z]igen hinterlassenen Sohn überlasse ich
von irdischen Gütern wenig, dabei aber einen ehrlichen
Namen, dessen er sich sonderlich nicht wird zu schämen
haben. Es weiß mein Sohn, daß ich ihn von seiner zarten
Kindheit an dem Herrn meinem Gott zu eigen gegeben,
daß er ein Diener und Prediger seines heiligen Wortes
werden soll. Dabey soll er nun bleiben und sich daran
nicht kehren, daß er nur wenige gute Tage dabey haben
möchte, denn da weiß der liebe Gott schon Rath zu und
kann das äußerliche Trübsal mit innerlicher HerzensLust und Freudigkeit des Geistes genugsam ersetzen.
Die heilige Theologiam studire in reinen Schulen und
auf unverfälschten Universitäten und hüte dich ja vor
Syncretisten, denn die suchen das Zeitliche und sind
weder Gott noch Menschen treu. In deinem gemeinen
Leben folge nicht böser Gesellschaft, sondern dem
Willen und Befehl deines Gottes. Insonderheit 1. thue
nichts Böses in der Hoffnung, es werde heimlich
bleiben, denn es wird nichts so klein gesponnen, es
kommt an die Sonnen. 2. Außer deinem Amte und
Berufe erzürne dich nicht. Merkst du denn, daß der Zorn
dich erhitzet habe, so schweige stockstill und rede nicht
eher ein Wort, bis du erstlich die zehn Gebote und den
christlichen Glauben bei dir ausgebetet hast. 3. Der
fleischlichen Lüste schäme dich, und wenn du
dermaleinst zu solchen Jahren kommst, daß du heirathen
kannst, so heirathe mit Gott und gutem Rath frommer,
getreuer und verständiger Leute. 4. Thue Leuten Gutes,
ob sie dir es gleich nicht zu vergelten haben, denn was
Menschen nicht vergelten können, das hat der Schöpfer
Himmels und der Erden längst vergolten, da er dich
erschaffen hat, da er dir seinen lieben Sohn geschenket
hat und da er dich in der heiligen Taufe zu seinem
Kinde und Erben auf- und angenommen hat. 5. Den
Geiz fleuch als die Hölle, laß dir genügen an dem, was
du mit Ehren und gutem Gewissen erworben hast, ob es
gleich nicht allzuviel ist. Bescheret dir aber der liebe
Gott ein Mehres, so bitte ihn, daß er dich vor dem
leidigen Mißbrauche des zeitlichen Gutes bewahren
wolle.
Summa: bete fleißig, studire was Ehrliches, lebe
friedlich, diene redlich und bleibe in deinem Glauben
und Bekennen beständig, so wirst du einmal auch
sterben und von dieser Welt scheiden willig, fröhlich
und seeliglich. Amen.
Gottfried Wilhelm Leibniz
1646 - 1716
Der Autor
Gottfried
Wilhelm
Leibniz,
Philosoph
und
Mathematiker, Diplomat, Politiker und Ökonom,
Ingenieur, Jurist und Wissenschaftsorganisator, wird
1646 in Leipzig geboren. Er studiert Jura und
Philosophie in Leipzig und Jena und promoviert 1667
an der Nürnberger Universität in Altdorf. 1670 wird er
kurfürstlicher Rat beim Revisionsgericht in Mainz. In
diplomatischer Mission reist er 1672 und 73 nach Paris
und London. Dort trifft er Huygens, Arnauld,
Malebranche, Boyle und Newton. 1676 wird er Hofrat
und Bibliothekar des Welfenhauses in Hannover, dessen
Geschichte er schreibt. Mit einer Vielzahl von Plänen
und Projekten ist er befaßt: die Entwicklung der
Differentialrechnung und der Dualzahlen, die
Entwässerung von Gruben mit Hilfe von Windkraft, die
Konstruktion einer Rechenmaschine, der Entwurf einer
Idealsprache, die Errichtung einer deutschen Akademie
der Wissenschaften, deren Präsident er 1700 wird. Zu
seinen Lebzeiten erscheinen neben der Theodicee und
den Nouveaux Essais nur kleinere Werke. Er stirbt 1716
in Hannover. Wichtige Werke - lateinisch, deutsch und
französisch geschrieben - werden erst nach seinem Tode
publiziert.
Auf Meisches
deutsches
Florilegium
__________________________________
Verse, so ich 1667 in Frankfurt am Main
auf Herrn Christian Meische vorhabendes
deutsches Florilegium gemacht.
Den Blumensaft gepresset
Herr Meisch hier mischen lässet,
Zu füllen mit Geruch die Welt.
Wie mancher süßer Zungen
5
Der Honigseim gelungen
Bei ihm allein zu kosten fällt.
Was lobt man viel die Griechen?
Sie müssen sich verkriechen,
Wenn sich die t e u t s c h e Muse regt.
10
Was sonst die Römer gaben,
Kann man zu Hause haben,
Nachdem sich Mars bei uns gelegt.
Horaz in F l e m i n g lebet,
In O p i t z Naso schwebet,
15
In G r e i f f Senecens Traurigkeit.
Nur Maro wird gemisset,
Hier hat man eingebüsset,
Aeneis uns nicht weichen will.
Doch wenn die teutsche Degen
20
D i e werden niederlegen,
So uns jetzt stolz zu Leibe gehn,
Wird sich auch einer finden,
Auch sie zu überwinden,
Und A u s t r i a s soll höher gehn.
25
Er aber wird verdienen,
Herr Meisch, den Ruhm der Bienen,
Daß er der Blumen Kraft trägt ein.
Wem werd' ich ihn vergleichen?
Er soll zum Lobeszeichen
30
S t o b ä u s bei den Teutschen seyn.
18. Jahrhundert
Johann Wolfgang Goethe
1749 - 1832
Der Autor
Johann Wolfgang Goethe wurde 1749 in Frankfurt
geboren. Er studierte von 1765-1771 Jura in Leipzig
und Straßburg. Danach ist er als Jurist in Frankfurt und
Wetzlar tätig. 1775 beruft ihn Herzog Karl August als
Minister und Erzieher nach Weimar. Im literarischen
Kreis der Hofgesellschaft lernt er Charlotte von Stein
kennen. Von 1786 bis 1788 bereist er Italien. Seit 1794
arbeitet er eng mit Friedrich Schiller zusammen, den er
nach Weimar geholt hatte. In dieser Zeit beschäftigt er
sich verstärkt mit naturwissenschaftlichen Fragen. Nach
1800 unterhält er vielfältige Verbindungen zum Kreis
der Romantiker. Den politischen Wirren der
nachnapoleonischen Zeit entfliehend entdeckt er
Mittelalter und orientalische Literatur und beschäftigt
sich autobiographisch mit einzelnen Abschnitten des
eigenen Lebens. 1832 ist er in Weimar gestorben.
Über den Zwischenkiefer
_____________________________________________
_
Versuch
aus der
vergleichenden Knochenlehre
daß
der Zwischenknochen
der oberen Kinnlade
dem Menschen
mit den übrigen Thieren
gemein sey.
Jena 1784
Einige Versuche osteologischer Zeichnungen sind hier
in der Absicht zusammen geheftet worden, um Kennern
und Freunden vergleichender Zergliederungskunde eine
kleine Entdeckung vorzulegen, die ich glaube gemacht
zu haben.
Bei Thierschädeln fällt es gar leicht in die Augen,
daß die obere Kinnlade aus mehr als einem Paar
Knochen besteht. Ihr vorderer Theil wird durch sehr
sichtbare Nähte und Harmonien mit dem hintern Theile
verbunden und macht ein Paar besondere Knochen aus.
Dieser vorderen Abtheilung der oberen Kinnlade ist
der Name Os intermaxillare gegeben worden. Die Alten
kannten schon diesen Knochen *), und neuerdings ist er
besonders merkwürdig geworden, da man ihn als ein
Unterscheidungszeichen zwischen dem Affen und
Menschen angegeben. Man hat ihn jenem Geschlechte
zugeschrieben, diesem abgeläugnet **), und wenn in
natürlichen Dingen nicht der Augenschein überwiese, so
würde ich schüchtern sein aufzutreten und zu sagen, daß
sich diese Knochenabtheilung gleichfalls bei dem
Menschen finde.
Ich will mich so kurz als möglich fassen, weil durch
bloßes Anschauen und Vergleichen mehrerer Schädel
eine ohnedieß sehr einfache Behauptung geschwinde
beurtheilet werden kann.
Der Knochen von welchem ich rede, hat seinen
Namen daher erhalten, daß er sich zwischen die beiden
Hauptknochen der oberen Kinnlade hinein schiebt. Er
ist selbst aus zwei Stücken zusammengesetzt, die in der
Mitte des Gesichtes an einander stoßen.
Er ist bei verschiedenen Thieren von sehr
verschiedener Gestalt und verändert, je nachdem er sich
vorwärts streckt oder sich zurücke zieht, sehr merklich
die Bildung. Sein vorderster, breitester und stärkster
Theil, dem ich den Namen des Körpers gegeben, ist
nach der Art des Futters eingerichtet, das die Natur dem
Thiere bestimmt hat, denn es muß seine Speise mit
diesem Theile zuerst anfassen, ergreifen, abrupfen,
abnagen, zerschneiden, sie auf eine oder andere Weise
sich zueignen; deßwegen ist er bald flach und mit
Knorpeln versehen, bald mit stumpfern oder schärferen
Schneidezähnen bewaffnet, oder erhält eine andere, der
Nahrung gemäße Gestalt.
Durch einen Fortsatz an der Seite verbindet er sich
aufwärts mit der obern Kinnlade, dem Nasenknochen
und manchmal mit dem Stirnbeine.
Inwärts von dem ersten Schneidezahn oder von dem
Orte aus den er einnehmen sollte, begibt sich ein Stachel
oder eine Spina hinterwärts, legt sich auf den
Gaumenfortsatz der oberen Kinnlade an und bildet
selbst eine Rinne worin der untere und vordere Theil
des Vomers oder Pflugscharbeins sich einschiebt. Durch
diese Spina, den Seitentheil des Körpers dieses
Zwischenknochens und den vorderen Theil des
Gaumenfortsatzes der obern Kinnlade werden die
Canäle (Canales incisivi oder naso-palatini) gebildet,
durch welche kleine Blutgefäße und Nervenzweige des
zweiten Astes des fünften Paares gehen.
Deutlich zeigen sich diese drei Theile mit Einem
Blicke an einem Pferdeschädel auf der zweiten Tafel,
Fig. 1.
A. Corpus.
B. Apophysis maxillaris.
C. Apophysis palatina.
An diesen Haupttheilen sind wieder viele
Unterabtheilungen zu bemerken und zu beschreiben.
Eine lateinische Terminologie, die ich mit Beihülfe des
Herrn Hofrath Loder verfertigt habe und hier beilege,
wird dabei zum Leitfaden dienen können. Es hatte
solche viele Schwierigkeiten, wenn sie auf alle Thiere
passen sollte. Da bei dem einen gewisse Theile sich sehr
zurückziehen, zusammenfließen und bei andern gar
verschwinden, so wird auch gewiß, wenn man mehr in's
Feinere gehen wollte, diese Tafel noch manche
Verbesserung zulassen.
Os intermaxillare.
A. Corpus.
a) Superficies anterior,
1. Margo superior in quo spina nasalis.
2. Margo inferior seu alveolaris.
3. Angulus inferior exterior corporis.
b) Superficies posterior, qua os intermaxillare jungitur
apophysi palatinae ossis maxillaris superioris.
c) Superficies lateralis exterior, qua os intermaxillare
jungitur ossi maxillari superiori.
d) Superficies lateralis interior, qua alterum os
intermaxillare jungitur alteri.
e) Superficies superior.
Margo anterior, in quo spina nasalis. vid. 1.
4. Margo posterior sive ora superior canalis nasopalatini.
f) Superficies inferior.
5 . Pars alveolaris.
6. Pars palatina.
7. Ora inferior canalis naso-palatini.
B. Apophysis maxillaris.
g) Superficies anterior.
h) Superficies lateralis interna.
8. Eminentia linearis.
i) Superficies lateralis externa.
k) Margo exterior.
l) Margo interior.
m) Margo posterior.
n) Angulus apophyseos maxillaris.
C. Apophysis palatina.
o) Extremitas anterior.
p) Extremitas posterior.
q) Superficies superior.
r) Superficies inferior.
s) Superficies lateralis interna.
t) Superficies lateralis externa.
Die Buchstaben und Zahlen, durch welche auf
vorstehender Tafel die Theile bezeichnet werden, sind
bei den Umrissen und einigen Figuren gleichfalls
angebracht. Vielleicht wird es hier und da nicht sogleich
in die Augen fallen, warum man diese und jene
Eintheilung festgesetzt und eine oder die andere
Benennung gewählt hat. Es ist nichts ohne Ursache
geschehen, und wenn man mehrere Schädel durchsieht
und vergleicht, so wird die Schwierigkeit, deren ich
oben schon gedacht, noch mehr auffallen.
Ich gehe nun zu einer kurzen Anzeige der Tafeln.
Übereinstimmung und Deutlichkeit der Figuren wird
mich einer weitläuftigen Beschreibung überheben,
welche ohnedieß Personen, die mit solchen
Gegenständen bekannt sind, nur uunöthig und
verdrießlich sein würde. Am meisten wünschte ich, daß
meine Leser Gelegenheit haben möchten, die Schädel
selbst dabei zur Hand zu nehmen.
Die Ite Tafel
stellt den vorderen Theil der oberen Kinnlade des
Ochsen, des Rehes und des Kameles verkleinert dar.
fig. 1 a b c
vom Reh.
fig. 2 a b c
vom Ochsen.
fig. 3 a b c
vom Kamel.
____________________
Die IIte Tafel
das Os intermaxillare des Pferdes
und des Babirussa verkleinert.
____________________
Tab. III.
fig. 1.
Das Os intermaxillare des Löwen von oben und unten.
Man bemerke besonders die Sutur, welche Apophysin
palatinam maxillae superioris von dem Osse
intermaxillari trennt.
fig. 2.
vom Eisbär,
fig. 3.
vom Wolf.
____________________
Tab. IV.
fig. 1.
Das Os intermaxillare vom Walroß.
fig. 2.
Dasselbe von einem ganz jungen Walroß.
fig. 3.
Superficies lateralis interior des Ossis intermaxillaris
des jungen Walrosses.
____________________
Tab. V.
fig. 1
zeigt einen Affenschädel von vorn und von unten. Man
sehe, wie die Sutur aus den Canalibus incisivis
herauskommt, gegen den Hundszahn zuläuft, sich an
seiner Alveole vorwärts wegschleicht und zwischen
dem nächsten Schneidezahne und dem Hundszahne,
ganz nah an diesem letzteren, durchgeht und die beiden
Alveolen trennt.
fig. 2
sind die Theile eines Menschenschädels. Man sieht ganz
deutlich die Sutur, die das Os intermaxillare von der
Apophysi palatina maxillae superioris trennt. Sie kommt
aus den Canalibus incisivis heraus, deren untere
Öffnung in ein gemeinschaftliches Loch zusammen
fließt, das den Namen des Foraminis incisivi oder
palatini anterioris oder gustativi führt, und verliert sich
zwischen dem Hunds- und zweiten Schneidezahn.
Jene erste Sutur hatte schon Vesalius bemerkt ***)
und in seinen Figuren deutlich angegeben. Er sagt, sie
reiche bis an die vordere Seite der Hundszähne, dringe
aber nirgends so tief durch, daß man dafür halten könne,
der obere Kinnladenknochen werde dadurch in zwei
getheilt. Er weist, um den Galen zu erklären, der seine
Beschreibung bloß nach einem Thiere gemacht hatte,
auf die erste Figur pag. 46, wo er dem menschlichen
Schädel einen Hundeschädel beigefügt hat, um den an
dem Thiere gleichsam deutlicher ausgeprägten Revers
der Medaille dem Leser vor Augen zu legen. Die zweite
Sutur, die sich im Nasengrunde zeigt, aus den canalibus
naso-palatinis herauskommt und bis in die Gegend der
conchae inferioris verfolgt werden kann, hat er nicht
bemerkt. Hingegen finden sich beide in der großen
Osteologie des Albinus bezeichnet. Er nennt sie Suturas
maxillae superiori proprias.
In Cheselden's Osteographia finden sie sich nicht,
auch in John Hunter's Natural history of the human teeth
ist keine Spur davon zu sehen; und dennoch sind sie an
einem jeden Schädel mehr oder weniger sichtbar, und
wenn man aufmerksam beobachtet, ganz und gar nicht
zu verkennen.
Tab. V. fig. 2 ist ein halber Oberkiefer eines
gesprengten Menschenschädels und zwar dessen
inwendige Seite, durch welche beide Hälften mit
einander verbunden werden. Es fehlten an dem
Knochen, wonach er gezeichnet worden, zwei
Vorderzähne, der Hunds- und erste Backenzahn. Ich
habe sie nicht wollen suppliren lassen, besonders da das
Fehlende hier von keiner Bedeutung war, vielmehr kann
man das Os intermaxillare ganz frei sehen. Man kann
die Sutur von den Alveolen des Schneide- und
Hundszahnes bis durch die Canäle verfolgen. Jenseits
der Spinae oder Apophysi palatinae, die hier eine Art
von Kamm macht, kommt sie wieder hervor und ist bis
an die Eminentiam linearem sichtbar, wo sich die
Concha inferior anlegt.
Man halte diese Tafel gegen Tab. IV und man wird
es bewundernswürdig finden, wie die Gestalt des ossis
intermaxillaris eines solchen Ungeheuers, wie der
Trichechus rosmarus ist, lehren muß denselben
Knochen am Menschen zu erkennen und zu erklären.
Auch Tab. III fig. 1 gegen Tab. IV fig. 2 gehalten, zeigt
dieselbe Sutur bei'm Löwen wie bei'm Menschen auf
das deutlichste. Ich sage nichts vom Affen, weil bei
diesem die Übereinstimmung zu auffallend ist.
Es wird also kein Zweifel übrig bleiben, daß diese
Knochenabtheilung sich sowohl bei Menschen als
Thieren findet, ob wir gleich nur einen Theil der
Grenzen dieses Knochens an unserm Geschlechte genau
bestimmen können, da die übrigen verwachsen und mit
der oberen Kinnlade auf das genaueste verbunden sind.
So zeigt sich an den äußeren Theilen der
Gesichtsknochen nicht die mindeste Sutur oder
Harmonie, wodurch man auf die Muthmaßung kommen
könnte, daß dieser Knochen bei dem Menschen getrennt
sei.
Die Ursache scheint mir hauptsächlich darin zu
liegen: dieser Knochen, der bei Thieren so
außerordentlich vorgeschoben ist, zieht sich bei dem
Menschen in ein sehr kleines Maß zurück. Man nehme
den Schädel eines Kindes, oder Embryonen vor sich, so
wird man sehen, wie die keimenden Zähne einen
solchen Drang an diesen Theilen verursachen und die
Beinhäutchen so spannen, daß die Natur alle Kräfte
anwenden muß, um diese Theile auf das innigste zu
verweben. Man halte einen Thierschädel dagegen, wo
die Schneidezähne so weit vorwärts gerückt sind und
der Drang sowohl gegen einander als gegen den
Hundszahn nicht so stark ist. Inwendig in der
Nasenhöhle verhält es sich eben so. Man kann, wie
schon oben bemerkt, die Sutur des ossis intermaxillaris
aus den canalibus incisivis bis dahin verfolgen, wo die
ossa turbinata oder conchae inferiores sich anlegen. Hier
wirkt also der Trieb des Wachsthumes dreier
verschiedener Knochen gegeneinander und verbindet sie
genauer.
Ich bin überzeugt, daß denjenigen die diese
Wissenschaft tiefer durchschauen, dieser Punct noch
erklärbarer sein wird. Ich habe verschiedene Fälle, wo
dieser Knochen auch bei Thieren zum Theil oder ganz
verwachsen ist, bemerken können und es wird sich
vielleicht in der Folge mehr darüber sagen lassen. Auch
gibt es mehrere Fälle, daß Knochen, die sich bei
erwachsenen Thieren leicht trennen lassen, schon bei
Kindern nicht mehr abgesondert werden können.
Bei den Cetaceis, Amphibien, Vögeln, Fischen, habe
ich diesen Knochen theils auch entdeckt, theils seine
Spuren gefunden.
Die außerordentliche Mannichfaltigkeit, in der er
sich an den verschiedenen Geschöpfen zeigt, verdient
wirklich eine ausführliche Betrachtung und wird auch
selbst Personen auffallend sein, die an dieser so dürr
scheinenden Wissenschaft sonst kein Interesse finden.
Man könnte alsdann mehr in's Einzelne gehen und
bei genauer stufenweiser Vergleichung mehrerer Thiere,
vom Einfachsten auf das Zusammengesetztere, vom
Kleinen und Eingeengten auf das Ungeheure und
Ausgedehnte fortschreiten.
Welch eine Kluft zwischen dem os intermaxillare der
Schildkröte und des Elephanten! Und doch läßt sich
eine Reihe Formen dazwischen stellen, die beide
verbindet. Das, was an ganzen Körpern niemand
läugnet, könnte man hier an einem kleinen Theile
zeigen.
Man mag die lebendigen Wirkungen der Natur im
ganzen und großen übersehen, oder man mag die
Überbleibsel ihrer entflohenen Geister zergliedern: sie
bleibt immer gleich, immer mehr bewundernswürdig.
Auch
würde
die
Naturgeschichte
einige
Bestimmungen dadurch erhalten. Da es ein
Hauptkennzeichen unseres Knochens ist, daß er die
Schneidezähne enthält: so müssen umgekehrt auch die
Zähne, die in denselben eingefügt sind, als
Schneidezähne gelten. Dem Trichechus rosmarus und
dem Kamele hat man sie bisher abgesprochen, und ich
müßte mich sehr irren, wenn man nicht jenem vier und
diesem zwei zueignen könnte.
Und so beschließe ich diesen kleinen Versuch mit
dem Wunsche, daß er Kennern und Freunden der
Naturlehre nicht mißfallen und mir Gelegenheit
verschaffen möge, näher mit ihnen verbunden, in dieser
reizenden Wissenschaft, soviel es die Umstände
erlauben, weitere Fortschritte zu thun.
____________________
*)
Galenus Lib. de ossibus. Cap. III.
**)
Campers sämmtliche kleinere Schriften, herausgegeben
von Herbell. Ersten Bandes zweites Stück. S. 93 und 94.
Blumenbach, De varietate generis humani nativa, pag.
33.
***)
Vesalius de humani corporis fabrica (Basil. 1555) Libr.
I. Cap. IX. Fig. 11. pag. 48, 52, 53.
Karl Philipp Moritz
1756 - 1793
Der Autor
Karl Philipp Moritz wird 1756 in Hameln geboren. In
ärmlichen
und
streng
pietistischen
Familienverhältnissen verbringt er eine qualvolle
Kindheit, die er in seinem «Anton Reiser»
autobiographisch
verarbeitet.
Nach
einer
Hutmacherlehre ist er 1777 Schauspieler in Leipzig.
später Student der Theologie in Wittenberg, von 1778
an dann in Berlin im Schuldienst tätig. 1782 reist er
nach England, 1786 nach Italien, dort befreundet er sich
mit Goethe. 1788 kehrt er zurück und wird 1789 als
Professor an die Akademie der Künste in Berlin
berufen. 1791 wird er Mitglied der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften. 1793 ist er
sechsunddreißigjährig in Berlin an einem chronischen
Lungenleiden gestorben.
Ideal einer
vollkommnen Zeitung
Diese programmatische Schrift über die Gestaltung
einer Zeitung ist 1784 als 16-seitige Broschüre (ein
Druckbogen) bei Christian Friedrich Voß und Sohn in
Berlin erschienen. Diese waren Herausgeber der
«Berlinischen Privilegirten Zeitung», der späteren
«Vossischen Zeitung». Am 1. September 1784 hatte
Moritz die Redaktion dieser Zeitung übernommen und
versucht einige Punkte seines Konzepts zu
verwirklichen; so erschienen zum erstenmal in einer
Zeitung Artikel über Gerichtsverhandlungen, und
berühmte Zeitgenossen wurden in Abbildungen
vorgestellt. Allerdings ließ der Erfolg auf sich warten,
und Moritz bekam Schwierigkeiten wegen seiner
Theaterkritiken. So gab er im Frühsommer 1875 die
Redaktion der Zeitung wieder ab.
_______________________________________
Schon lange habe ich die Idee mit mir herumgetragen,
ein Blatt für das Volk zu schreiben, das wirklich von
dem Volke gelesen würde, und eben dadurch den
ausgebreitetsten Nutzen stiftete. Diesen Gedanken,
nahm ich mir vor, erst hinlänglich bei mir reif werden
zu lassen, ehe ich ihn je zur Ausführung brächte.
Seitdem ist aber diese Idee durch verschiedene elende
Schmierer so oft gemißbraucht und herabgewürdigt
worden, daß ich es manchmal nicht ohne Ärger und
Unwillen habe mit ansehen können.
Endlich fiel ich darauf, daß eine einmal eingeführte
und gelesene Zeitung vielleicht das beste Vehikel sei,
wodurch nützliche Wahrheiten unter das Volk gebracht
werden könnten. Dies bewog mich vor einigen Monaten
zu dem Entschluß, mit den Herrn Voß und Sohn in
Verbindung zu treten, um die hiesige Zeitung, welche in
deren Verlage herauskommt, zu schreiben.
Seitdem ist mir meine erste Idee immer lebhafter
und immer wichtiger geworden, so daß ich mich nicht
enthalten konnte, mir zuweilen in reizenden Träumen
der Phantasie das Ideal einer vollkommnen Zeitung zu
denken, und einige Züge davon zu entwerfen. Mag ich
dann dieses Ideal auch nie erreichen, so wird es doch
immer das höchste Ziel bleiben, wornach ich strebe, und
komme ich ihm jemals nahe, so glaube ich schon
dadurch einen der edelsten Zwecke des Schriftstellers
erreicht zu haben.
Die Buchdruckerei ist schon irgendwo als ein
Bildnis der verbreiteten Kultur angenommen worden,
und mir deucht, daß ihr, nicht bloß als Bild, sondern im
ganz eigentlichen Verstande, der Ehrenname verbreitete
Kultur gebühre.
Nun ist aber vielleicht unter allem, was gedruckt
wird, eine öffentliche Zeitung oder Volksblatt, aus dem
rechten Gesichtspunkte betrachtet, bei weitem das
wichtigste. Sie ist der Mund, wodurch zu dem Volke
gepredigt, und die Stimme der Wahrheit, so wohl in die
Paläste der Großen, als in die Hütten der Niedrigen
dringen kann. Sie könnte das unbestechliche Tribunal
sein, wo Tugend und Laster unparteiisch geprüft, edle
Handlungen der Mäßigkeit, Gerechtigkeit und
Uneigennützigkeit gepriesen, und Unterdrückung,
Bosheit, Ungerechtigkeit, Weichlichkeit und Üppigkeit
mit Verachtung und Schande gebrandmarkt würden.
Sie sollte die Werke des Geschmacks in der
Baukunst, Musik, Malerei, Schauspiele und so weiter
vor ihren unparteiischen Richterstuhl ziehen, und sie
vorzüglich in Rücksicht ihres Einflusses auf die Bildung
und den Charakter der Nation, und nicht bloß als
Gegenstände der Belustigung, betrachten.
Aus dem ungeheuren Umfange der Wissenschaften
sollte sie dasjenige herausheben, was nicht bloß den
Gelehrten, oder gar nur eine besondere Klasse der
Gelehrten, sondern die ganze Menschheit interessiert.
Was nicht bloß hinzugetragene Materialien zu dem
großen Gebäude irgendeiner Wissenschaft, sondern
etwas Vollendetes, von Schlacken gesäubertes, und
durch den echten Stempel der Wahrheit ausgeprägtes
Gold ist, das nun unter dem Volke, unbeschadet der
Ruhe und Glückseligkeit desselben, in wohltätigen
Umlauf kommen kann.
Sie sollte in alle Fugen der menschlichen
Verbindungen einzudringen, und aufzudecken suchen,
was in jedem Zweige derselben Lobens- oder
Tadelnswertes,
Verachtungsoder
Nachahmungswürdiges sei. Ihr sollte kein Gewerbe,
kein Stand, selbst der Stand des verachteten und
grö§tenteils unterdrückten und tyrannisch behandelten
Lehrburschen des gemeinen Handwerkers nicht
unwichtig sein.
Weder die Privaterziehung noch die öffentliche in
den Schulen und die Belehrung der Erwachsenen in den
Kirchen müßte ihrem spähenden Blick entgehen. Sie
müßte die Mängel derselben rügen, wo sie nur irgend
dürfte und könnte. Und hingegen jede Nachricht auch
von der kleinsten Verbesserung in dieser für die
Menschheit so wichtigen Angelegenheit sorgfältig zu
verbreiten suchen.
Eltern, Erzieher, Menschen, die in einer Stadt
zusammen, oder entfernt leben, könnten sich einander
ihre wichtigsten Vorschläge und Entdeckungen
mitteilen, und sich durch die Zeitung miteinander über
die angelegentlichsten Dinge besprechen.
Jede nützliche Erfindung, sie sei so klein sie wolle,
müßte ein Hauptgegenstand der Aufmerksamkeit
werden, um den guten Kopf zu neuen Entdeckungen
aufzumuntem, um den erfindrischen Fleiß, ein Eigentum
der Deutschen, aufs neue zu beleben.
Jede öffentliche Handhabung der Gerechtigkeit,
wobei uns erlaubt ist, Zuschauer zu sein, müßte einen
reichen Stoff zu wichtigen Beobachtungen hergeben.
Und würde gewiß, gehörig bearbeitet, einen sehr
interessanten Artikel in einer Zeitung für das Volk
ausmachen.
Die kurze Geschichte der Verbrecher aus den
Kriminalakten gezogen, wie belehrend müßte sie sein,
wenn die allmählichen Übergänge von kleinen
Vergehen, bis zum höchsten Grade der moralischen
Verderbtheit, mit einigen treffenden, allgemein
auffallenden Zügen darin gezeichnet wären!
Die feierlichen und festlichen Zusammenkünfte des
Volks, ja sogar seine Ausschweifungen in öffentlichen
Häusern müßten nicht unbemerkt bleiben, sondern zur
öffentlichen Beschämung unsrer weichlichen entnervten
Generation mit lebhaften Farben geschildert werden.
Aber auch das Elend und die Armut in den
verborgnen Winkeln muß aufgedeckt, und nicht aus
einer falschen Empfindsamkeit vor unserm Blick in
Dunkel eingehüllt werden. Das Elend, wenns einmal da
ist, muß unter uns zur Sprache kommen, und auf Mittel
gedacht werden, wie man demselben abhelfen kann!
Also edle Beispiele; Künste; Theater; Kenntnisse,
die zum Umlauf reif sind; Erziehung; Predigtwesen;
nützliche Erfindungen; Handhabung der Gerechtigkeit;
Geschichte von Verbrechern; menschliches Elend im
Verborgnen; - welche wichtige Artikel zu einer Zeitung
für das Volk!
Und wie viel mehrere lassen sich nicht doch denken,
als:
Volksvorurteile;
Volksirrtümer;
religiöse
Schwärmerei; unerkanntes Verdienst, und so weiter. Wahrlich es ist zu verwundern, da man bisher so viel
von Aufklärung geredet und geschrieben hat, daß man
noch nicht auf ein so simples Mittel, als eine Zeitung,
gefallen ist, um sie in der Tat zu verbreiten.
Freilich aber müßte nun eine Zeitung, wodurch
dieser Zweck erreicht werden soll, ganz anders
beschaffen sein als irgendeine, die jemals noch bis jetzt
ist geschrieben worden. Sie müßte aus der
immerwährenden Ebbe und Flut von Begebenheiten
dasjenige herausheben, was die Menschheit interessiert,
den
Blick
auf
das
wirklich
Große
und
Bewundernswürdige, das Gefühl für alles Edle und Gute
schärfen, und den Schein von der Wahrheit
unterscheiden lehren.
Die Aufmerksamkeit müßte daher vorzüglich auf
den einzelnen Menschen geheftet werden: denn nur da
ist die wahre Quelle der großen Begebenheiten zu
suchen, nicht in Kriegsheeren und Flotten, die oft nur
wie zwei entgegengesetzte Elemente gegeneinander
wirken, worunter das Stärkere allemal über das
Schwächere den Sieg behält.
Auch sind ja das nicht immer die größten
Begebenheiten, wobei die meisten Menschen
beschäftigt sind, sondern diejenigen, wobei sich
irgendeine menschliche Kraft am meisten entwickelt.
Dergleichen suche man unter dem Schwall von
Kriegsrüstungen, Fürstenreisen, und politischen
Unterhandlungen herauszuheben, damit das Volk nicht
mehr Titel und Ordensbänder, fürstlichen Stolz und
fürstliche Torheiten mit dummer Verehrung anstaune,
sondern den wirklich großen Mann auch im Kittel und
hinter dem Pfluge schätzen lerne.
Sobald man zu viele Menschen zusammenfaßt, um
von ihnen etwas zu sagen, so muß das, was man sagt,
notwendig unbestimmt, schwankend, und trocken
werden.
Denn in einer Gesellschaft von Menschen, sie sei,
welche sie wolle, handeln doch nur immer einzelne
Menschen, und diese sind es nur, welche unsere
Teilnehmung erwecken, nicht die ganze Gesellschaft.
Diese ist höchstens ein abstrakter Begriff, dessen wir
uns aus Not bedienen müssen, der uns aber nicht
mitdenken, empfinden und handeln läßt. Da wir selbst
nur einzelne und nicht aus mehrern zusammengesetzte
Wesen sind, so können wir auch mit einem so
vielköpfigen zusammengesetzten Dinge, als irgendeine
menschliche Gesellschaft ist, sie heiße nun Staat oder
wie sie wolle, im eigentlichen Verstande nicht
sympathisieren, wenn wir sie nicht wieder bis auf das
Individuum vereinzeln. Abstrakte Begriffe können ja
die Seele nicht erwärmen.
Bloß die verschiednen Gesinnungen und Charaktere
der einzelnen Mitglieder des Englischen Parlaments,
machen die Verhandlungen desselben so interessant,
und zum Gegenstande der allgemeinen Aufmerksamkeit
auch solcher Nationen, die mit der Englischen in wenig
oder gar keiner Verbindung stehen.
Sicher erwecken die Beratschlagungen an sich
selber mehr unsre Teilnehmung, als die Resultate,
welche daraus entstehen. Denn was heißt es nun, wenn
man sagt: Frankreich hat dieses oder jenes beschlossen,
usw. als ob Frankreich ein selbständiges handelndes
Wesen wäre, das so wie ein einzelner Mensch, wirklich
etwas beschließen könnte. Gibt mir dies nun wohl Stoff
zum Nachdenken, als wenn es heißt: in Paris ist ein
starker Hagel gefallen, oder in Metz hat das Gewitter
eingeschlagen?
Und ist nicht das Hinarbeiten auf einen Zweck im
menschlichen Leben ebenso wichtig und vielleicht
wichtiger, als die Erreichung des Zwecks selber? Macht
nicht die Tätigkeit selbst unser Wesen aus? und läßt uns
nicht vielleicht eine wohltätige Täuschung diese
Tätigkeit bloß deswegen, als das Mittel zu irgendeinem
Zwecke betrachten, damit dieser anscheinende Zweck
das Mittel werde, uns eine Zeitlang in eine bestimmte,
zweckmäßige Tätigkeit zu versetzen?
Ist es also nicht wichtiger, einzelne Fakta von
einzelnen Menschen zu sammlen, woraus einmal
künftig große Begebenheiten entstehen können, als eine
Menge von großen Begebenheiten zu erzählen, ohne zu
wissen, wie sie entstanden sind? - Dies soll auf keine
Weise, die großscheinenden Begebenheiten von der
öffentlichen Bekanntmachung ausschließen, nur müssen
sie
nicht
der
wichtigste
Gegenstand
der
Aufmerksamkeit werden. Denn, ein Vergleich zwischen
zwei Sackträgern, die sich auf der Straße gezankt haben,
kann, insofern er den Charakter der Nation bezeichnet,
für den Menschenbeobachter wichtiger sein, als ein
Vergleich zwischen Rußland und der ottomanischen
Pforte, wo es größtenteils bloß auf die stärkere Macht an
Soldaten, Schiffen, oder festen Plätzen ankömmt, wohin
sich das Übergewicht lenken wird; wo man die
geheimen Triebfedern ebenso wenig erfährt, als die
erste Ursach von dem Ungewitter, welches gerade
heute, und nicht eher, über unsern Horizont
heraufgezogen ist; wo man nicht sowohl handelnde
Wesen, als vielmehr bloße Ereignisse, wie in der Natur,
Stürme, Erdbeben, Überschwemmungen sieht.
Demohngeachtet muß eine vollkommne Zeitung
auch in Ansehung der eigentlichen politischen
Ereignisse mit der Zeit gleichen Schritt halten, aber
doch mehr in einzelnen Beispielen zu zeigen suchen,
was diese Ereignisse nun eigentlich auf das Wohl oder
Weh der Menschheit für einen Einfluß haben. Denn nur
das Einzelne ist wirklich, das Zusammengefaßte besteht
größtenteils in der Einbildung.
Vorzüglich muß also eine vollkommne Zeitung aus
der gegenwärtigen würklichen Welt, die man täglich vor
Augen sieht herausgeschrieben werden, und zu dem
Ende notwendig in einer großen Stadt herauskommen,
wo wegen der Menge der Menschen auch die größte
Mannigfaltigkeit in ihren Charakteren, Beschäftigungen,
und Verbindungen herrscht; wo ein beständiger Zufluß
von Merkwürdigkeiten stattfindet, und wo sie sogleich
von vielen tausend Menschen gelesen werden kann,
ohne erst versandt werden zu dürfen.
Wer eine solche Zeitung schreiben will, muß selbst,
so viel er kann, mit eignen Augen beobachten, und wo
er das nicht kann, muß er sich an die Männer halten, die
eigentlich unter das Volk, und in die verborgensten
Winkel kommen, wo das Edelste und Vortrefflichste
sowohl,
als
das
Häßlichste
und
Verabscheuungswürdigste, sehr oft versteckt zu sein
pflegt.
Er muß sich an die Prediger und Ärzte wenden, die
das verborgene menschliche Elend, und die verborgenen
menschlichen Tugenden oft am besten kennen zu lernen
Gelegenheit haben. Er muß sich an die Richter des
Volks wenden, um durch ihre Verhandlungen den
großen Umfang des menschlichen Eigennutzes, und
aller seinen kleinen Listen und Ränke kennen zu lernen.
Er muß wenigstens mit einigen Personen aus jeder
verschiedenen Klasse von Menschen insofern in
Verbindung stehen, daß er von ihnen über das Innere
ihrer Verfassung belehrt werden kann.
Er muß sich aber auch selber unter das Volk
mischen, um seine Urteile, seine Gesinnungen zu hören,
und seine Sprache zu lernen.
Er muß nichts weniger als ein einseitiger Gelehrter
sein, sondern sich für alles interessieren können, was
ihm nur irgend aufstößt, und sich täglich in der
schweren Kunst üben, alles Vielfache unter irgend einen
großen und wichtigen Gesichtspunkt zu bringen. Er muß
die gegenwärtige Welt vorzüglich kennen lernen, und
von der alten, so viel als nötig ist, um das Gegenwärtige
daraus zu erklären. Und was noch das allerwichtigste
ist, er muß sich eines unbescholtnen Charakters
befleißigen, denn nur das berechtigt, mit einer edlen
Freimütigkeit öffentlich vor dem Volke zu reden und zu
schreiben.
Daß ich nun gerade der Mann sei, eine solche
Zeitung zu schreiben, wäre freilich Unverschämtheit
von mir zu glauben; deswegen aber darf ich den
Wunsch nicht verleugnen, es zu werden: ich darf es
sagen, daß ich alle mein Denken, mein Studieren, mein
Leben darauf verwenden will, um eine Zeitung zu
liefern, die dem Ideale, welches ich mir entworfen habe,
so nahe, wie möglich kommt.
Seit dem Monat September habe ich angefangen, zu
diesem Unternehmen die ersten Schritte zu tun. Ich habe
nach einer kürzer gefaßten Anzeige der politischen
Ereignisse, die Aufmerksamkeit mehr auf einzelne
merkwürdige Menschen zu lenken gesucht; ich habe
Beispiele edler Handlungen aus dem Dunkeln gezogen;
ich habe durch die gelehrten Anzeigen, zum Umlauf reif
gewordne Kenntnisse zu verbreiten, und in dem
Theaterartikel das Vortreffliche vor dem Mittelmäßigen,
das Mittelmäßige von dem Schlechten, auszuzeichnen
gesucht.
Mit den übrigen im Anfange dieser Schrift von mir
erwähnten Artikeln, als öffentliche und Privaterziehung
Kunstsachen, als: Baukunst, Malerei, Musik und so
weiter; Handhabung der Gerechtigkeit; Missetäter;
Volksvorurteile; Volksirrtümer; Predigtwesen; und so
weiter werde ich von Zeit zu Zeit den Anfang machen,
so wie sich mir die Gelegenheit dazu darbieten wird;
und mit Anfang des künftigen Jahres denk' ich dieser
Zeitung, in Ansehung aller dieser Artikel, eine
dauerhaftere Einrichtung zu geben, ohne dieserwegen
noch künftige Verbesserungen auszuschließen. Auch ist
schon mit einem hiesigen berühmten Künstler Abrede
genommen worden, das Äußere dieser Zeitung vom
künftigen Neujahr an, so geschmackvoll wie möglich
einzurichten. Denn da sie den guten Geschmack auch in
Kleinigkeiten soll verbreiten helfen, so versteht sich,
daß sie selbst vom Gegenteil kein Beispiel hergeben
muß.
Ich erwarte nun über meine Vorschläge das Urteil
des Publikums, mit welchem ich mich vor dem Schlusse
des Jahres noch einmal über diese Angelegenheit zu
unterreden gedenke, um zu erfahren, inwieweit ich
mich, mit der Zufriedenheit desselben, meinem Ideale
nähern darf.
______________
Text nach dem Abdruck in «DIE ZEIT» Nr. 1 vom 1.
Januar 1988 durch Benedikt Erenz. Er schrieb damals :
«Selten ist so viel über ‹die Medien› geredet worden
wie 1987. Ob neue Kommerzsender, ob ‹Schrifstellertaz›, ob Barschel/Springer-Affäre - immer wieder ging
es darum, wie Presse, Funk und Fernsehen
Öffentlichkeit herstellen oder aber zerstören. Eine
Diskussion ist in Gang gekommen, die auch den Blick
zurücklenkt in die Epoche, in der bürgerliche
Öffentlichkeit ‹erfunden› und erstritten wurde: in das
Zeitalter der Aufklärung.
Im Rahmen der Moritz-Editon der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist
dieser Text in der Original-Orthographie veröffentlicht.
19. Jahrhundert
Johann Gottlieb Fichte
1762 - 1814
Der Autor
Johann Gottlieb Fichte wird 1762 in Rammenau in der
Oberlausitz als Sohn eines Bandwirkers geboren. Ein
adliger Gönner ermöglicht ihm den Besuch der
Fürstenschule in Schulpforta. Anschließend studiert er
Theologie in Jena und Leipzig und besucht juristische
Vorlesungen in Wittenberg. 1784 ist er gezwungen, sein
Studium abzubrechen, da sein Förderer verstorben war.
In den folgenden Jahren muß er sich seinen
Lebensunterhalt als Hauslehrer verdienen. So 1788 in
Zürich, wo er mit Pestalozzi bekannt wird und Marie
Johanna Rahn - eine Nichte Klopstocks - kennenlernt,
die er 1793 heiratet. Nach literarischen Versuchen
wendet er sich der Philosophie Kants zu und besucht
diesen 1791 in Königsberg. Kant vermittelt die
Drucklegung von Fichtes Erstlingswerks «Versuch einer
Kritik aller Offenbarung», und das Buch wird zu einem
überwältigenden Erfolg. 1793, in seiner Schrift «Beitrag
zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die
französische Revolution» erscheinen Fichtes unsägliche
antisemitischen Äußerungen, daß den Juden zwar ein
Menschenrecht zu gewähren sei, nicht aber ein
Bürgerrecht, da sie körperlich schlaff seien und die
übrigen Bürger ökonomisch ausplünderten, «dazu sehe
ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen
allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen,
in denen auch nicht eine jüdische Idee sei». Auch im
Umgang mit seinen Freunden ist er nicht zimperlich und
mit vielen überwirft er sich, so mit Goethe, Schelling
und sogar Kant. Goethe notiert: «Daß doch einem sonst
so vorzüglichen Menschen immer etwas fratzenhaftes in
seinem Betragen ankleben muß». 1794 wird er als
Professor für Philosophie nach Jena berufen. Im
gleichen Jahr erscheint sein Hauptwerk, «Grundlage der
gesamten
Wissenschaftslehre».
In
dieser
Programmschrift des «Subjektiven Idealismus»
überwindet Fichte die Kantische Lehre vom «Ding an
sich» mit der Annahme, daß das Selbstbewußtsein die
Welt setzt. «Das Ich setzt sich selbst», so der Grundsatz.
Von Gott ist nicht mehr die Rede. Großen Einfluß
gewinnen seine Gedanken bei der romantischen
Bewegung, bei den Gebrüdern Schlegel, bei Novalis
und Tieck. Doch auch die Gegner formieren sich, und es
kommt zum Atheismusstreit: 1799 verliert Fichte seinen
Lehrstuhl in Jena. Er geht nach Berlin. Hier
veröffentlicht
er
im
Jahre
1800
sein
wirtschaftspolitisches
Werk
«Der
geschlossene
Handelsstaat», worin er ein nahezu sozialistisch
anmutendes Staatswesen beschreibt. In Berlin hält er als
Privatgelehrter Vorträge, so die «Reden an die deutsche
Nation» während der Besetzung Berlins durch
Napoleons Truppen. In dieser Zeit findet in seinem
Denken eine Wende zum Religiösen und Mystischen
statt. Das Ich wird durch das Absolute, durch Gott
ersetzt, ein nur mystisch erfahrbares All-Leben. 1810
wird er als Professor an die neugegründete Berliner
Universität berufen. Fichte stirbt 1814 an der
Lazarettseuche, mit der ihn vermutlich seine bei der
Pflege von Kriegsverletzten tätige Frau angesteckt hatte.
Das Nachwirken von Fichtes Philosophie reicht von
Max Stirner über Proudhon, Marx und Lassalle bis hin
zu Max Weber und Jean-Paul Sartre.
Das Thal der Liebenden
1786/87
Textgrundlage:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, 8 Bde.
Hrsg. von I. H. Fichte, Berlin: Veit & Comp., 1845/46
Band VIII, Vermischte Schriften und Aufsätze
(Gallica/Bibliothèque nationale de France)
_____________________________________________
_________________________________
Das Thal der Liebenden.
Eine Novelle.
[Geschrieben zu Zürich]
[im Jahre 1786 oder 1787.]
In der anmuthigsten Gegend der Veltelin, ohnweit der
Grenze von Italien, liegt ein kleines Thal, das Thal der
Liebenden genannt. Haine von Lorbeeren und
Pomeranzen und Citronen, die ohne Pflege wachsen,
erfüllen es, und duften Sommer und Winter die
angenehmsten Gerüche: in der Mitte desselben ist ein
kleines Myrtenwäldchen, und im Myrtenwäldchen ein
grosser Grabhügel, von immer blühenden Rosen
umgeben. Vom hohen waldigen Gebirge bedeckt, von
Felsen eingezäunt, erblickt es selten das Auge eines
Sterblichen, verirrt dahin sich selten der Fuss des
Wanderers. Nur wenige sind hineingekommen. Ein
geistiges Wehen, wie Küsse eines Engels, fühlten sie an
ihren Wangen; eine sanfte Wehmuth erfüllte ihre Seele;
unvermerkt enttröpfelten ihren Augen Thränen. und das
war ihnen so süss! Die Bilder ihrer verstorbenen
Freunde oder Geliebten gingen vor ihrer Seele vorüber,
und Ahnungen von Wiedersehen, Vorgefühle des
ewigen Lebens erfüllten sie, wenn sie auf dem
Grabeshügel im Myrtenwäldchen fünf Flämmchen
blinken sahen, Symbole wiedervereinigter Treue nach
dem Tode. Einst drang ein Landvogt auf der Jagd einem
verwundeten Rehe nach, das hieher seine Zuflucht
genommen hatte, in das Thal ein. Bangigkeit und Angst
überfiel ihn, kalter Schweiss rollte über seine Stirn
herab, er musste den geweihten Boden verlassen.
In diese Gegenden hatte sich vor Jahrhunderten,
erzählen die Hirten, ein junger Ritter verirrt. Im hohen
Walde verloren, ermattet und hungrig, erblickte er durch
die Nacht hin von ferne ein Feuer. Es waren Hirten, die
bei ihrem Vieh wachten. Sie theilten willig mit ihm ihre
geringe Kost, und er wärmte sich an ihrem Feuer. –
«Wie es dort wieder im Gebüsch heult!» sagte der eine,
der jetzt eben zu ihnen hinzukam; «wie der Geist des
armen Einsiedlers wieder winselt und ächzt! weiss Gott,
die Haut schauert mir allemal, wenn ich da vorbeigehe.»
– «Mir auch, sagte der andere, ich mache lieber einen
Umweg von einer Stunde. Und es war doch ein so guter
frommer Mann, der Einsiedler: betete so fleissig,
grüsste jedes Kind so freundlich, und wies zurechte und
half. Weisst du noch, wie er mir den kranken Fuss
heilte, den ich mir beim Herabstürzen von jenem Felsen
zerquetscht hatte?» – «Und wie er mir meine verirrten
Lämmer wiederbrachte? Ach! wie wird es erst unser
einem einmal gehen? Komm, wir wollen ein Vaterunser
für seine arme Seele beten.»
Wehmuth und Mitleiden erfüllten den Ritter. –
«Kommt, führet mich an den Ort.» Sie führten ihn hin.
Es war eine trübe Nacht; der Wind sausete durch den
Busch dem Ritter entgegen; es winselte und ächzte
dumpf im Gebüsch. – «Wer du auch seyest,
unglückliche Seele, die im Fegefeuer leidet; können
Gaben oder Seelenmessen, oder das Gebet irgend eines
Sterblichen deine Qualen lindern, so entdecke dich mir:
meine Seele liebt und bedauert dich,» sagte der Ritter,
und plötzlich stieg unter dem Hügel eine Gestalt hervor.
Ein langer Bart wallte ihm herab bis auf den Gürtel; sein
Auge war eingefallen und erloschen, seine Wange
abgewelkt, nagender Kummer war über sein Gesicht
verbreitet; aber durch die dicke Wolke des Grams, die
auf ihm lag, blickte ein einziger schwacher Zug von
Ruhe und entfernter Hoffnung hindurch. Sein Anblick
erfüllte die Seele mit Mitleid, aber nicht mit Grauen.
«Jüngling,» so redete der Geist, «schaudere nicht vor
mir zurück! Noch sind es nicht zehn Jahre, so war ich
ein Ritter, jung und feurig, und mannhaft wie du –
solltest du nie den Namen Rinaldo gehört haben? – und
ach! wie glücklich! Nicht umsonst vielleicht führte dich
das Schicksal zu meiner Gruft, die noch nie ein
Sterblicher so in der Nähe betrat. Höre die Geschichte
meiner Leiden, und beklage mich.»
«In meinen ersten Jünglingsjahren, jeder Tropfen Bluts
in mir Feuer, und jede Nerve Kraft, kam ich an den Hof
nach Paris. In jedem Turnier war der Preis für mich. Ich
gefiel; die Ritter verleumdeten mich, und die Damen
sprachen nur unter sich allein von mir. Einer der
schönsten Tage meines Lebens war der Vermählungstag
der Königstochter. Aus allen Ländern der Franken hatte
die Krone der Ritter sich versammelt zum feierlichen
Turnier. Wir kämpften drei Tage, und ich war Sieger.
Die neidischen Blicke der Ritter und das laute
Zujauchzen des Volkes von den Schranken her, beides
war mir gleich festlich. Im Taumel der Freude sah ich
rund um mich her, um alle Blicke des Beifalls
einzusaugen, und sahe in der ersten Reihe in den
Schranken ein Fräulein; ihr trübes schwimmendes Auge
zur Erde gesenkt, ihr Haupt nach einer Seite geneigt,
wie eine Lilie vor der Sonnenhitze sich herabbeugt;
Ernst und tiefes Nachdenken in ihren sanften
schwärmerischen
Zügen.
Kein
fröhliches
Händeklatschen, kein Lächeln, kein verlorener
Seitenblick auf mich; – sie allein unter den Tausenden,
die sie umgaben, kalt und ernsthaft! – Ich ward tief
herabgeschleudert. – Warum verachtet sie dich? eben
sie, die vollkommenste unter den Mädchen?»
«Ein Tanz beschloss den Tag. Alle drängten sich zu
dem Sieger, stolz an seiner Seite die Reihen
durchzuwallen, seine Blicke aufzufangen, und er suchte
die in einem Winkel verborgene Verächterin. Sie flog
mir entgegen, – und auf einmal, wie aufgehalten, schien
sich ihr unwilliger Fuss zu sträuben. Schüchtern und
verscheucht tanzte sie; riss sich los, entfernte sich,
tanzte mit andern, und feuriger. Sie verachtet dich, tönte
es im Innersten meiner Seele, aber warum? – Ich hätte
mich selbst verachten mögen. – Jetzt empörte sich
beleidigter Stolz, sie zu meiden; jetzt sprach Liebe und
Neugier, sie zu suchen. Ich schwur mir tausendmal, sie
nie wieder zu sehen, und ging den ersten Morgen an
einen Ort, wo ich sie zu finden hoffte. Sie war heiter bei
meiner Ankunft; ihre Stirn umwölkte sich, sobald sie
mich sah. So war sie immer.»
«Ich beschloss, Paris zu verlassen, und sie nie wieder zu
sehen. Ich beurlaubte mich vom Hofe. Schon war ich
die Stufen herabgestiegen, als die Zofe mir ein Blatt
folgenden Inhalts in die Hand drückte: ‹Dank euch,
edler Ritter, dass ihr Paris verlasset, und durch eure
Entfernung einer Unglücklichen die Ruhe wiedergebt,
die eure Gegenwart ihr raubte: ein Geständniss, das
während derselben keine irdische Macht mir würde
entrissen haben. Würdiget Eures Andenkens, Eurer
Thränen, Eures Gebets die unglückliche Maria.›»
«Wonnegefühl engte meine Brust, ich musste ihr Luft
machen. Ich eilte auf den Flügeln der Liebe zu ihr. Ich
fand sie nicht; – Unmuth ergriff mich. Die Falsche, sie
lockt mich an, und stösst mich wieder zurück! – Ich
konnte nach meinem Abschiede vom Hofe nicht mehr
öffentlich erscheinen; stellte mich krank, um einen
Vorwand für mein längeres Bleiben zu haben; und
wards vor Liebe und Schmerz. Verlangen nach ihr gab
mir das Leben wieder. Ich ging, und überraschte sie in
einer einsamen Laube. Sie sass über einer Stickerei, in
Trübsinn versunken. Noch ehe sie mich erblickte, lag
ich zu ihren Füssen. – ‹Verlasst mich, grossmüthiger
Ritter, rief sie: verlasst die Gegend, in der ich lebe. O
das unselige Geständniss! warum musste es sich doch
aus diesem Herzen heraufdrängen, das bei Euch nur
einer flüchtigen Neigung zu begegnen fürchtete!› Ich
besänftigte sie. Bebend hörte sie meine Schwüre, auf
ewig der ihrige zu seyn; bebend empfing sie meine
heissen Küsse. Ein trauriges Vorgefühl schien ihre Seele
zu durchschauern.»
«Ihr Herz war offener; es kämpfte noch, aber es unterlag
allmählig dem Gefühle der Liebe. Ich sah sie öfters in
dieser Laube. Ein feindlicher Dämon gab mir ein, es
gehöre unter die Trophäen eines Ritters, die Unschuld
zu morden. Es war die Moral, die bei festlichen Gelagen
oft an der Tafel meines Vaters ertönt hatte. – In süsse
Schwärmereien versunken, überraschte uns einst die
schönste Sommernacht in unserer lieben Laube. Ich
bestürmte ihre Tugend, und ich merkte mit jeder Minute
ihren Widerstand schwächer werden. Schon glaubte ich
gesiegt zu haben, als sie in Thränen zerfliessend meine
Füsse umschlang. – ‹Mann mit der stärkeren Seele,
schluchzte sie, schone die schwächere weibliche. Siehe,
ich bin in deiner Gewalt; du kannst der Schwachen, die
jetzt ihr Leben für dich verbluten würde, das rauben,
was ihr mehr ist als das Leben; aber schone der Armen,
sey grossmüthig und thu' es nicht.› – Kalter Schauer
überfiel mich; die Tugend fing an, in mein Herz
zurückzukehren; aber – ‹besiegst du sie jetzo nicht, so
entfernt sie dich nun auf immer von sich› – flüsterte der
feindliche Dämon, und – er siegte.»
«Ich verliess sie in Thränen gebadet. In meiner
Wohnung traf ich Boten von meinem Vater: er erwarte
seinen Tod; ich solle eilen, ihn noch lebendig zu finden.
– Ich verliess Paris sogleich, ohne sie sehen, ohne ihr
ein Lebewohl sagen zu können. Mein Herz zog mich
gewaltig zurück: aber der Zug ward schwächer, als
neue, unerwartete Eindrücke mich bestürmten. Mein
Vater starb in meinen Armen. Das Bild eines sterbenden
geliebten Vaters, neue Sorgen, andere Gegenstände,
alles vereinigte sich, das Andenken an Marien in meiner
Seele zurückzudrängen. Eine dumpfe, theilnahmlose
Trauer hielt lange meine Seele umfangen. Da sah ich
Laura, das Meisterwerk des Schöpfers, und mit dem
ersten Blicke waren unsere Seelen Eins. Heilige Bande
verknüpften uns; wir tranken die Seligkeit der Liebe in
vollen Zügen.»
«Innige Liebe liebt keine Zuschauer: wir verliessen das
Geräusch der Stadt, um in der einsamsten Gegend am
Fusse der Alpen unseren Himmel aufzuschlagen. Wir
durchirrten Arm in Arm die paradiesischen Fluren. Sie
ging einst allein aus, um eine Gegend hinter einem
angenehmen Hügel, der immer das Ziel unserer
Wanderungen gewesen war, zu sehen. Ich war durch
einen Zufall zu Hause geblieben. Ihre Zurückkunft
verzog sich. Ich lauschte an der Laube, die ich ihr
unterdessen an ihrem Lieblingsplatze bereitet hatte, um
sie bei ihrer Rückkunft angenehm zu überraschen. Bei
jedem Rauschen eines Blattes, jedem leisen Fusstritte
glaubte ich sie zu hören. Es kam ein Bote von ihr.
Zitternd eröffnete ich das Blatt, das er mir gab, und las
folgende Worte: ‹Wie könnte ich Rinaldo'n besitzen,
indess Maria verlassen weint? Rührt dich ihr Elend
nicht, so lass die Bitten der Laura – ach deiner Laura! –
dich rühren, an ihr tief verwundetes, noch immer nur für
dich schlagendes Herz zurückzukehren. Vergiss Lauren
und störe die Ruhe nicht, der ich entgegeneile. Gehe
ostwärts von deiner Wohnung, nach dem Hügel zu, den
wir heute früh von der Morgensonne so schön vergoldet
sahen, wo ein früher geliebtes Weib und eine süsse
Tochter, ganz das Ebenbild Rinaldo's, auf deine
Umarmungen warten.›»
«Der Schlag war fürchterlich. Nach geraumer Zeit erst
erhielt ich meine Besonnenheit wieder. Die Scham hielt
mich ab, Marien aufzusuchen: Laura war mir durch ihre
Grossmuth doppelt theuer geworden. Ich wandte Alles
an, sie wieder zu finden; kein Kloster, keine Einsiedelei,
keine einsame Gegend wurde undurchsucht gelassen:
ich durchstreifte selbst als Pilger die halbe Erde: ich
hoffte sie durch meine Bitten zu erweichen; aber
vergebens, ich fand sie nicht. Ich kam endlich in dieses
Thal, lebte als Eremit in demselben, errichtete meiner
Laura, die ich für längst todt hielt, ein Grab, betete und
weinte auf ihrem Hügel, und starb auf ihm.»
«Wenn der Geist die irdischen Fesseln verlassen, und
von aller Zumischung der Sinnlichkeit frei ist, sieht er
alles in einem anderen Lichte. Taumel dieser
Sinnlichkeit berauschte mich, im Leben Marien zu
vergessen; jetzt fühlte ich ihre Schmerzen, die
Schmerzen Laurens und die Schmerzen der Armen, die
unter Thränen geboren, dem Elende geweiht, nie den
Vaternamen gestammelt hat; die vielleicht bestimmt ist,
eine Beute des Elendes oder des Lasters zu werden. Ich
leide alle Qualen, die ich diesen verursacht habe, im
Fegefeuer, das die Reue eben gebiert und das stete
Gedächtniss der unabänderlichen Vergangenheit, – bis
Laura und Maria glücklich sind, bis ich mein Kind an
dem Arme eines Mannes sehe, der nur sie liebt. Ach!
wird meine Qual wohl je aufhören? – Aber ich fühle das
Wehen der Morgenluft, Nicht umsonst vielleicht führte
dich das Schicksal an meine Gruft. Lerne die Unschuld
verehren, und rührt dich das Elend der Seele des armen
Rinaldo, so bete für mich, und wallfahrte zum heiligen
Grabe.» – Hiermit verschwand der Geist.
Schauder ergriff Don Alfonso; so hiess der junge Ritter.
Er kniete nieder, und legte auf Rinaldo's Grabe das
heilige Gelübde ab, nicht zu ruhen, bis er etwas zur
Befreiung der armen Seele beigetragen, und die
Unschuld immer zu verehren. Die Hirten versichern,
dass er dieses Gelübde nie gebrochen.
Durch seinen natürlichen Hang zur Andacht sowohl, als
durch die Empfindungen, die an der Gruft Rinaldo's sich
seiner bemächtigt hatten, begeistert, trat er die Reise
nach dem heiligen Grabe an. Er besuchte alle die Oerter,
wo der Weltheiland gelitten. Als er einst, sich selbst und
die Welt um sieh vergessend, auf dem heiligen Grabe in
warmer Andacht kniete, und für die Seele des armen
Rinaldo betete, überfiel ein Haufen sarazenischer
Räuber Jerusalem, und führte ihn gefangen weg. Man
brachte ihn unter die Sklaven des Emir von Medina.
Je mehr seine Gestalt die Herzen der Heiden für ihn
eingenommen hatte, desto heftiger wurden sie durch
seine standhafte Weigerung, die Lehre ihres Propheten
anzunehmen, erbittert. Er wurde mit den niedrigsten der
Sklaven gebraucht, in den Gärten des Emir zu graben.
Die Härte der ungewohnten Arbeit, die Strenge, mit der
er behandelt wurde, und das brennende Klima
verzehrten seine Kräfte. Er fiel an einem Abende, zur
Zeit, da die Gärten geschlossen und die Arbeiter
herausgelassen wurden, ohnmächtig nieder, und
erwartete das Ende seiner Leiden. Niemand bemerkte
den Vorfall.
Eine süsse klagende Stimme, die in einem Zimmer des
Serail, das an die Gürten stiess, in französischer Sprache
ein Lied an die Jungfrau Maria sang, und durch öfteres
Weinen und Schluchzen sich unterbrach, brachte ihn
wieder zum Bewusstseyn. – «O holde Mutter! seufzte
die Stimme, wo bist du, um die Blume welken zu sehen,
die du so zärtlich pflegtest? theure Cölestina! die du
jedes Gefiihl der Tugend in mir wecktest, wo bist du,
um den letzten Trost in meine Seele zu giessen, und dies
brechende Auge zu schliessen?» Sie schloss mit einem
rührenden Gebete an die heilige Jungfrau, worin sie mit
schwärmerischer Andacht ihren Entschluss entdeckte,
sich den Dolch in das Herz zu stossen, ehe sie sich der
Wollust des Emir aufopfere, die ihr diese Nacht drohe;
und sie bat, ihr für diese That entweder Gnade bei Gott
zu erflehen, oder ihr Hülfe zu senden.
«Sie hat sie dir gesendet;» rief der Ritter, dem fremdes
Elend die Kräfte wiedergab, die sein eigenes ihm
genommen hatte, – «hier ist mein Arm, und wenn
tausende in Waffen gegen mich ständen, so rettete er
dich!» – «Eiserne Riegel und Gitter verwahren mich,
edler Fremdling, ein Heer von Wächtern lauert auf
mich. Dein Arm ist zu schwach, mich zu retten. Habe
Dank für dein Mitleiden, habe Dank, dass ich nicht
unbedauert sterben werde; und bist du ein Franke und
ein Christ, wie deine Sprache zu zeigen scheint, so bete
für die Seele der armen Marie.»
Er ergriff zwei Baumleitern, und band sie zusammen,
um das Zimmer Marions zu ersteigen.
Indessen war von dem Aufseher der Sklaven seine
Abwesenheit bemerkt worden. Der erste Verdacht fiel
auf den Garten. Man ging hinein, und traf ihn mitten in
seiner Unternehmung. Die Absicht derselben war nicht
zweideutig. Es wurde sogleich dem Emir gemeldet. Sein
Zorn war grimmig; er bestimmte den nächsten Morgen
zu seiner Hinrichtung.
In jeder anderen Lage wäre vielleicht der Tod dem
Alfonso willkommen gewesen, er hätte ihn nur als
seinen Retter aus einer Sklaverei betrachtet, die ihm
ebenso erniedrigend als hart schien; und hätte ihn gern
gegen ein thatenloses Leben umgetauscht: aber jetzt
kränkte das Schicksal der armen Marie, die er nicht
retten konnte, ihn mehr, als sein eigenes, und auch jener
Wunsch, vor seinem Ende noch etwas zur Befreiung der
Seele Rinaldo's beizutragen, wurde lauter, je mehr er
sich demselben zu nähern glaubte. Er ging, mehr
unerschrocken als freudig, seinem Tode entgegen.
Die Werkzeuge seiner Hinrichtung waren bereitet. Im
Hofe des Serail war ein Scheiterhaufen errichtet. Der
Pöbel strömte dem Schauspiele zu, und der Emir
erschien mit seiner neuesten Favorite, Alzire, auf einem
Balkon, um die Hinrichtung mit anzusehen.
Er kam eben von dem ersten Genusse ihrer höchsten
Gunst, und sein Feuer war dadurch gegen sie nicht
erkaltet. Er war ihr ergebener, als er es seit langer Zeit
einem Weibe gewesen war, und hatte ihr versprochen,
ihr die erste Bitte, die sie an ihn thun würde, sie
betreffe, was sie wolle, uneingeschränkt zu gewähren.
War es ein geheimes Wohlwollen, das das Herz der
Alzire bei Alfonso's Anblick plötzlich zu ihm neigte;
oder konnte sie die That, dem Emir diejenige rauben zu
wollen, von der allein sie ihren Sturz befürchten durfte,
nicht sehr strafbar finden; oder war es eine unmittelbare
Wirkung der Vorsehung, die Alfonso'n erhalten wollte:
Alzire bat um sein Leben. Unwillig, aber ehrliebend
genug, um sein Wort nicht zu brechen, und zu schwach,
um Alzirens Bitte widerstehen zu können, gab der Emir
sogleich Befehl, den Alfonso über die Grenze zu
bringen.
Der Ritter, untröstlicher, diejenige ihrem Schicksal zu
überlassen, die er so gern mit Verlust seines Lebens
gerettet hätte, als erfreut über die unvermuthete Rettung
seines Lebens, durchirrte die rauhen Wüsten Arabiens.
Wurzeln, die er sparsam fand, waren seine einzige
Nahrung, und der heisse Sand brannte seine Füsse, und
trocknete seine Kräfte aus. In der vierten Nacht, indess
der Sturm ihn umheulte, und die Wolken den Schimmer
des letzten Sterns vor seinem Auge verdeckten, arbeitete
er sich mühsam durch verwachsene Büsche hindurch;
und eben waren seine letzten Kräfte im Schwinden, als
er aus einer Felsenkluft ein mattes Licht schimmern sah.
Hoffnung belebte die Kraft, die ihm noch übrig war: er
erreichte die Grotte.
Ein Weib, weiss gekleidet, von schlankem Wuchse, trat
ihm entgegen. Die ehemalige Schönheit der Jugend
schien auf ihrem Gesichte einer erhabenern Schönheit
Platz gemacht zu haben. Die geistigste Andacht flammte
in ihrem grossen, zum Himmel emporgewöhnten Auge,
und verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht. Nichts
liess in ihr die Sterbliche errathen, als die sanfte
Wehmuth, von der alle diese Züge gemildert waren, und
welche die Spur ehemaliger Leiden verwischt zu haben
schien. Sehr verzeihbar war also der Irrthum des Ritters.
– «Heilige Jungfrau, redete er sie an, und sank auf seine
Kniee; wunderthätige Helferin! – wer bin ich, dass du
mich würdigest, den Himmel zu verlassen, um mich zu
retten?» – «O steh auf! rief ihm jene zu, und entweihe
nicht den Namen der Heiligen. Ich bin eine Sterbliche,
wie du; glücklich, wenn die Mutter Gottes sich meiner
bedienen will, dir zu helfen! Aber welches Schicksal
treibt dich in diese unzugängliche Wüste, wo ich seit
vielen Jahren keinen Wanderer erblickte? Kann ich und
womit kann ich dir dienen?»
Die Entkräftung des Bitters erlaubte ihm nicht, auf die
erste dieser Fragen zu antworten; aber sie nöthigte ihn,
es auf die andere zu thun. *) Er bat sie um einen Trank
Wasser und um etwas Speise.
*) «Voltairisch!» (Randglosse des Verfassers.)
Sie ging und schöpfte ihm aus der Quelle, die hart an
ihrer Grotte aus dem Felsen rieselte, und brachte milde
Früchte, die sie selbst gezogen hatte. – «Erquickt euch,
Fremdling; sagte sie zu ihm, mit dem wenigen, was ich
euch geben kann; und nehmet dann dieses Lager ein. Ich
werde schon auch einen Platz finden. Wer wollte sich
durch eine falsche Anständigkeit abhalten lassen, die
Pflichten der Menschlichkeit zu erfüllen, wenn es nicht
gegen unser eigenes Geschlecht ist?»
Der Ritter war durch alles, was er sah und hörte, wie
betäubt. Erst nachdem er von seiner Entkräftung sich
ein wenig erholt, und einer ruhigen Besinnung mächtig
war, fing die Neugierde und Verwunderung an, an die
Stelle dieser Betäubung zu treten; aber seine
Unbekannte, die allein sie hätte befriedigen können, war
verschwunden. Wunderbare Ahnungen strömten durch
seine Seele; noch konnte er sich nicht überreden, ein
sterbliches Weib gesehen zu haben: aber bald wurden
alle seine Zweifel durch einen festen Schlaf gefesselt.
Das Erste, was seine Sinne, traf, als er wieder erwachte,
war die Melodie des Liedes, das die arme Maria
gesungen hatte. Es war ihm, als ob ein Traum ihn
wieder in die Gärten des Emir versetzte; er brauchte
Zeit, um sich zu überzeugen, er wache; er horchte und
horchte genauer; der Gesang kam vom Eingange der
Grotte her. Die Unbekannte sass an der Morgensonne,
und sang mit der rührendsten Stimme jenes Lied. Seine
ganze Seele lauschte auf ihren Gesang: wie wär' es ihm
möglich gewesen, sich selbst durch Muthmaassungen
und Untersuchungen zu unterbrechen! – Das Lied
schloss und die Stimme schwieg. Eben war er im
Begriff, sich seinem Erstaunen und seiner Begierde,
sich diese Begebenheiten alle zu erklären, von neuem zu
überlassen, als ein anderer Vorfall seine Betrachtungen
unterbrach.
«Bist du es wirklich, meine Tochter?» sagte die
Unbekannte zu einem jungen Frauenzimmer, das sich
sprachlos und schluchzend in ihre Arme warf, und ihr
weinendes Gesicht an ihrem Busen verbarg; – «schenkt
die heilige Jungfrau die als todt Beweinte mir wieder? –
Ja, du bist es, ich fühls an dem starken Schlagen deines
Herzens gegen das meinige, an deinem freudigen Zittern
in meinen Armen. Wer, als meine holde Maria, könnte
mich so lieben? Aber, sieh mich an, lass mich dies so
lang entbehrte Antlitz wieder sehen; lass michs auch in
deinen Augen, in allen den wohlbekannten Zügen
deines Gesichts lesen, dass du es bist, die mich so liebt.
– So sollte ich denn auch diese Freude noch auf der
Erde haben, dich wieder zu sehen; sollte noch nicht von
allem Irdischen mein Herz losreissenl Ich hatte auch
diesen Wunsch daraus vertilgt, dich wieder zu haben;
das ward mir schwer. – Heiliger Gott, und du,
gnadenvolle Mutter desselben, diese Belohnung meiner
Leiden wagte ich nicht zu hoffen. Ich dankte dir für den
Seelenfrieden und die Heiterkeit, die du mir gabst,
meinen letzten und härtesten Verlust zu ertragen. Aber
jetzt hilf mir die Freude tragen, dass sie mein Herz nicht
von dir abziehe; und – sieh auf mich herab, – wenn du
mir die Holde wieder nehmen willst, oder wenn ich sie
nicht mehr rein und nur dir treu wiedergefunden hätte:
hier bin ich, – ich ergebe mich in deinen Willen! – Und
jetzt, liebe Tochter, erzähle mir: wo warst du seit jenem
traurigen Tage, der dich von mir trennte, und was
trennte dich von mir?»
«Du warst, seitdem meine gute erste Mutter gestorben
war, gütige Cölestina!» – hörte der Ritter jene Stimme
sagen, die er schon in den Gärten zu Medina gehört
hatte, – «nicht mehr immer so ganz heiter, als du es
vorher warest. Ich bemerkte zuweilen, dass, wenn du
mich an dein Herz drücktest, du plötzlich dich
abwandtest, und dann kam es mir vor, als ob du eine
Thräne unterdrücktest. Du gingest dann hinaus auf
meiner Mutter Grab, und betetest, und bliebst oft lange;
und wenn du zurückkamst, war so ein Glanz und so eine
Heiterkeit in deinem Gesichte, und du warst so sanft
und so feierlich froh, und mir war so wehmüthig wohl
an deiner Seite, dass mich dünkte, du seyest auf dem
Grabe verklärt worden, und seyest nicht mehr meine
Mutter Cölestina, sondern ein heiliger Engel. – Doch
vernimm das Schicksal, das mich von dir getrennt hat.
Einst an einem Morgen – du ruhtest noch – war ich
ausgegangen, Blumen zu suchen, und meiner Mutter
Grab damit zu schmücken. Ich hatte mich wohl zu weit
entfernt, denn plötzlich erschienen die Räuber der
Wüste, die mich mit Gewalt fortschleppten, und als ich
schrie, damit du mir helfen solltest, mir den Mund
verstopften. Sie hörten nicht auf mein Weinen noch
Bitten, sondern brachten mich durch lange Wüsteneien
in eine Stadt. Die Stadt hiess Medina, wie ich nachher
erfuhr. Hier bedeckten sie mein Angesicht mit einem
Schleier, bis sie mich zu einem reichen Manne brachten,
der den Räubern Geld gab, und mich seinen Weibern
übergab.»
«Heilige Mutter Gottes! was waren dies für Weiber!
Schön waren sie; einige dünkten mich noch schöner, als
du, meine Mutter; aber doch sah ich sie nicht gern, und
es war mir nie recht wohl, wenn sie mir ins Gesicht
sahen. Man sah es nicht, ob sie mich liebten, oder ob sie
sich untereinander liebten. Sie liebten mich wohl auch
nicht? – Wenn ich redete, so lachten sie. Ich musste ihre
Sprache lernen; und ich lernte sie so gerne und so
fleissig, damit ich mit ihnen reden könnte, und damit sie
meine Freundinnen würden. – Kaum lernte ich sie
verstehen, so hörte ich, dass sie nichts vom
Weltheilande und von seiner Mutter wussten; und als
ich ihnen davon sagen wollte, und ihnen erzählen, wie
gütig und huldreich sie wären, verlachten sie mich
abermals, und redeten dagegen viel von einem grossen
Propheten, der wohl ein falscher Prophet seyn muss,
weil du mir nichts von ihm gesagt hast. – Endlich kam
einst jener reiche Mann wieder, der den Männern, die
mich geraubt hatten, Geld gegeben hatte, und verlangte,
ich sollte ihn lieben; und das konnte ich doch nicht:
denn er sah so wild und grausam, und wusste
ebensowenig vom Weltheilande, als seine Weiber, und
that allerhand Dinge mit mir, die wohl schändlich seyn
müssen, weil er sie that, und weil er so verstört dazu
aussah. Ich stiess ihn zurück: die Mutter Gottes gab mir
eine Kraft, die ich nie gefühlt hatte, dass ich Schwache
dem starken Manne Widerstand leisten konnte. Ich
weinte bitterlich; da ward der Mann sehr zornig, und
sagte mir mit wildem Gesichte: er würde diese Nacht
wiederkommen, und da würde mich nichts vor ihm
retten.»
«Mir war sehr eng ums Herz. Ich betete inbrünstig zur
Mutter Gottes, mich zu erleuchten, was ich thun sollte;
und wie ich feuriger betete, wurde ich immer muthiger.
Es war, als ob eine geheime Stimme mir ins Herz
flüsterte, es sey schändlich und sehr schändlich, was
dieser Mann mit mir thun wolle, und ich müsse eher
sterben, ehe ich es ertrüge. Ich wusste, dass eine meiner
Gespielinnen ein Werkzeug hatte, – sie nannte es einen
Dolch – wovon sie mir einst sagte, man könne jemand
damit tödten. Damit kann man ja wohl auch sich selbst
tödten, dachte ich. – Sage mir, liebste Mutter, that ich
unrecht, dass ich es ihr heimlich wegnahm? Sie konnte
es ja dann immer wieder haben, glaubte ich.» –
«Erzähle weiter,» sagte Cölestina. – «Der Entschluss
mich zu tödten, ehe ich mich der Gewalttätigkeit des
Mannes überliesse, wurde nun immer fester in mir; und
nachdem ich ihn der heiligen Jungfrau vorgetragen
hatte, wurde mir innerlich wohl dabei, und ich glaubte
gewiss, dass sie mir für diese That Gnade bei Gott
erflehen werde; als plötzlich jemand unter dem Fenster
rief: er wolle mich retten, und einige Leitern
zusammenband, wie ich hörte. Gleich darauf aber
vernahm ich, dass er ergriffen und unter tausend
Verwünschungen weggeführt wurde. War es ein
Sterblicher, – er musste es ja wohl seyn. weil er sich
ergreifen und fortführen liess, und mich nicht retten
konnte, – wie wird es dem Armen ergangen seyn, der
um meinetwillen sich in diese Gefahr stürzte! Wie er
ergriffen wurde, verschwand meine Ruhe. Sein
Schicksal hat seitdem mir mehr Kummer gemacht, als
das meinige.»
«Er ist gerettet» –rufte der Ritter, der jetzt erst es wagte,
Theil an der Unterredung zu nehmen, weil er sich unter
alten Bekannten zu seyn dünkte; – «und hatte seit jener
Nacht den ersten angenehmen Augenblick, da er auch
dich gerettet sah.»
Maria warf einen schüchternen, aber dankbaren Blick
auf den Ritter, um sich – schien es – von der Wahrheit
dessen zu überzeugen, was er sagte: und Alfonso
erblickte ein Gesicht, auf welchem alle Reize der
aufblühenden Jugend sich vereinigten, den reinsten
Abdruck ihres unschuldigen Herzens darzustellen.
Cölestina reichte ihm die Hand: «Seyd mir nochmals
willkommen, edler Fremdling! – aber erzähle weiter, du
meine Tochter."
«Wunderbare Hülfe ward mir gesandt: erzählte sie; ich
blieb diese Nacht über unbeunruhigt.» – «Ja, sagte der
Ritter, denn der Emir hat sie bei einer anderen neu
angekommenen Schönen des Serail zugebracht, die ihn
mit dem ersten Blicke gefesselt hatte, und die ihm
weniger Schwierigkeiten entgegenstellte.» – «Ich fühlte
mich sogar nach einigen Stunden so ruhig, dass ein
sanfter Schlaf auf mich herabsank. Ich wurde am
Morgen durch ein Getümmel im Hofe des Serail
aufgeweckt.» – «Es war das Volk, das sich
versammelte, mich verbrennen zu sehen;» sagte der
Ritter. – «Euch verbrennen wollte man? und der
Todesgefahr, die Ihr ausgestanden, sollte ich meine
Rettung verdanken? Doch, Gott Lob, dass Ihr gerettet
seyd! – das Getümmel nahm ab; es entstand eine lange,
fürchterliche, erwartende Stille» – «Alzire, so hiess die
neue Favorite des Emir, sagte der Ritter, bat um mein
Leben. Der Emir begnadigte mich, und liess mich
sogleich über die Grenze bringen; daher entstand
wahrscheinlich diese Stille.» – «Jetzt erhob sich ein
Gemurmel, fuhr Maria fort; nun ward es lauter; nun
brausete es, wie das tobende Meer. – Wie? dem Hunde
von Franken das Leben schenken? Er soll nicht
verbrannt werden? Wir sind vergebens hieher geladen
worden? Leidet es nicht! schienen einige Stimmen, die
das Getümmel überschrien, zu sagen. Der Aufruhr
verbreitete sich über die ganze Stadt: alles lief zu den
Waffen. Die Wachen verliessen die Thüren des Serail,
und stürzten sich bewaffnet gegen das Volk. – War es
ein unsichtbares Wesen, das mir den Entschluss eingab,
mich jetzt durch die Flucht zu retten? ich fand alle
Zugänge unbesetzt; ich drängte mich durch das Volk,
das nichts sahe, als die Gegenstände seiner Rache. Ich
kam – ob ich mich noch dunkel des ehemaligen Weges
erinnerte, oder ob unsichtbar Engel mich leiteten, – ich
kam durch die lange Wüste wieder zu deiner Grotte,
theuerste Mutter; bin wieder dein, um mich nimmer von
dir zu trennen.»
«Gott sey gelobt, dass ich dich wieder habe, meine
Tochter, sagte Cölestina, und dass ich dich so wieder
habe, wie ich dich verlor. Und er sey gelobet, dass er
auch Euch erhielt, edler Fremdling! und Euch hieher
brachte, dass ich Euch für den Antheil danken kann, den
Ihr an dieser Unschuldigen nahmt.»
«Schon lange scheint eine Frage auf Eurer Lippe zu
schweben, und es ist billig, dass ich Eure Neugier
befriedige, insoweit ich darf. Ich bin ein Weib, welches
einst in der Welt sehr glücklich war. Aber vielleicht
hatte ich mein Herz zu sehr in diesem Erdenglück
verloren: Gott entzog es mir, um mir zu zeigen, dass nur
Er es sey, in welchem man befriedigende und
dauerhafte Glückseligkeit finde. – Ich trennte mich von
der Welt und von dem, der in ihr mein Abgott war. In
der Stunde der Begeisterung, da ich dieses Opfer, das
Tugend und Ehre und mein eigenes wahres Wohl
heischte, begann, schien es mir so leicht, und nachdem
es geschehen war, wollte mein Herz brechen. Ich suchte
Trost und Ruhe an den heiligen Oertern, wo uns allen
die Seligkeit erworben wurde. Da traf ich die Gesellin
meiner Leiden, mit diesem ihrem Kinde. Ich hatte sie
durch mein Elend glücklich machen wollen. Auf die
Art, wie ich es mir gedacht hatte, sollte es nicht seyn.
Wir sollten beide durch längeres Leiden zu einer
reineren Glückseligkeit eingehen.»
«Wir waren beide für die Welt, und sie für uns, auf
immer verloren. In der heiligen Stadt und in ihrer Nähe
waren wir kaum den sarazenischen Räubern entgangen.
Wir beschlossen, uns in diese Wüsten, durch welche
Gott einst sein auserwähltes Volk führte, zu begeben,
und kamen in die Nähe des Gebirges, das Ihr hier vor
Euch erblickt. Es ist das Gebirge Sinai.» –
«Gott hatte uns den Platz unserer Ruhe sehon bereitet.
Wir fanden hier diese Grotte, und dort das Gärtchen;
zwar damals verwildert, aber durch eine geringe Arbeit
war es wieder in Stand gesetzt. Vielleicht dass
ohnlängst hier ein frommer Einsiedler sein Gott
geweihtes Leben beschlossen hatte.»
«Hier haben wir geweint und gelitten. – So lange noch
eine geliebte Freundin gleiche Leiden mit mir litt,
wurden die meinigen mir leichter. Ich stärkte meine
Kräfte, um ihren Kummer tragen zu helfen, und vergass
des meinigen, um Trost in ihre Seele zu giessen, und
fand ihn dadurch selbst. Aber sie schlummerte bald in
eine bessere Ruhe hinüber, und liess mich allein. Ich
segnete ihr Geschick; aber – du hattest es wohl gesehen,
meine Tochter, – das meinige ward mir schwerer. Nur
die Zärtlichkeit gegen dich, und deine kindliche Liebe
zu mir, holdes Kind, hielten mich aufrecht. Aber du
konntest meine Leiden nicht mit mir fühlen.»
«Noch hing mein Herz an etwas Irdischem; es hing an
dir. Du musstest mir genommen werden. Musste durch
so rauhe Wege Gott mich zu meinem Heile führen? –
Nichts war mir nun übrig, als Er. Nur in sein Herz
konnte ich meine Empfindungen ausgiessen; nur von
ihm Gegenliebe erwarten. O, hätte ich es doch eher
gewusst, welchen süssen Frieden dies über mein Herz
ausgiesset, wie völlig dies eine Seele befriedigt! – welch
eine Menge von Leiden hätte ich mir ersparen können!»
«Aber verzeiht, guter Fremdling! dass ich so flüchtig
über die näheren Umstände meiner Geschichte
hinwegeilen musste. Es ist nicht Mistrauen. Wer so
lange, als ich, sich nur mit Gott unterhalten hat, kennt
dieses nicht; und in ein Antlitz, wie das Eurige, setzt es
niemand. – Ich habe Ruhe gefunden: aber noch lebt
vielleicht Einer, der mir einst nur zu theuer war. Kann
ich ihm den Seelenfrieden nicht geben, wenn er ihn
noch nicht errungen hat, so will ich ihm doch denselben
auch nicht nehmen, wenn er ihn etwa errungen hätte. Ihr
kehrt in die Welt zurück, und seyd, wenn mich nicht
Alles täuscht, von eben dem Stande und aus eben den
Ländern, in denen er lebte. Ihr könntet ihn antreffen; ihn
vielleicht antreffen, ohne ihn zu kennen. Gutherzigkeit
oder ein von ohngefähr entfahrendes Wort könnte alle
die Kämpfe in seiner Seele erneuern, die er vielleicht
längst ausgekämpft hat.»
«Ich muss freilich wieder von Euch weg, und in die
Welt zurück: sagte der Ritter; aber Verehrung gegen
Euch wird, mich allenthalben begleiten, und Euer Wille
wird immer mein Gesetz seyn.» Er sagte das Erstere so,
als ob ihn dieser Entschluss etwas koste.
Die Lage, in der er Marien in den Gärten von Medina
zuerst gefunden, hatte so etwas Romantisches;
Mitleiden und Theilnehmung an ihrem Schicksale
hatten sich sogleich seines ganzen Herzens bemächtigt.
Seine Phantasie hatte nicht gezögert, sie, die er nur
gehört, nie gesehen hatte, in einen Körper zu kleiden;
sie hatte ihn freigebig mit allen Reizen, die ihrer
Silberstimme angemessen wären, ausgeschmückt. Er
sah sie jetzt; und sie war weit über das Bild erhaben, das
er sich von ihr gemacht hatte. Die blühende Wange, das
sanfte Auge, das weiche, wallende Haar konnte er
seinem Bilde geben; aber nicht jenen lebendigen
Ausdruck der Unschuld, der Treue, der kindlichen
Zärtlichkeit, weil es ihm dazu am Urbilde fehlte. Er sah
sie jetzt, und sah sie in aller Freude des Wiedersehens
an den Busen derjenigen, die ihr das Theuerste auf der
Welt war, hingegossen; sah, wie sie in stummen
Gefühlen an ihren Augen hing, gleichsam um alle die
geliebten Züge wieder zu spähen, und die alte
Vertraulichkeit mit ihnen zu erneuern. War es ein
Wunder, dass seine Seele von eben den Gefühlen
ergriffen wurde, deren reizendsten Abdruck er vor sich
sah, und dass er sie mit der zu theilen wünschte, die ihm
zuerst das schönste Bild derselben darstellte?
Maria hatte den Unbekannten, der sich für sie in
Lebensgefahr stürzte, bedauert, und, wie sie
gewissenhaft war, sich den Vorwurf gemacht, die
Ursache seines Todes zu seyn. Diese Empfindung allein
hatte die Freude über ihre Errettung getrübt. Hier fand
sie ihn unvermuthet wieder, an dem Orte, der ihr der
liebste auf der Erde war. Nun erst getraute sie sich, sich
ganz dem Gefühle, dass sie ihrer Pflegemutter
wiedergegeben sey, zu überlassen; und es ist möglich,
dass die Freude über seine Gegenwart unvermerkt
einigen Antheil an dem stärkeren Ausdrucke ihrer
Zärtlichkeit gegen ihre Pflegemutter hatte; und dass sie,
ohne es zu wissen, einen Theil dessen, was sie bloss für
Cölestinen zu empfinden glaubte, für Alfonso empfand.
«Aber, kann ich, darf ich zurückkehren – fuhr der Ritter
fort – ohne Trost für die Seele des armen Rinaldo
gefunden zu haben? Ich hoffte doch gewiss am heiligen
Grabe –»
«Rinaldo? fiel Gölestina ihm in die Rede. Wer ist dieser
Rinaldo? was wisst Ihr von ihm?»
Alfonso erzählte, was er von seinem geängsteten Geiste
selbst an seiner Gruft gehört hatte; erzählte die
Bedingungen, unter welchen seine Qualen enden
sollten; Cölestina hörte seine Erzählung mit stummer
Betrübniss, und Maria mit Thränen an.
«O möchten sie enden, die Qualen der unglücklichen
Seele! und vielleicht sind sie schon grösstentheils
geendet, sagte Cölestina. Maria hat ihre Leiden längst
beschlossen; sie war die Freundin, die mir hier starb; sie
ruht unter jenem Hügel. Das ist ihre und Rinaldo's
Tochter. – Ich habe aufgehört zu leiden. Ich habe die
Wege der Vorsehung erkannt; sie waren nichts als Güte.
– Ich bin Laura: Maria wollte mich nicht anders als
Cölestina nennen; drum habt Ihr mich hier so nennen
hören.»
«Und die letzte Bedingung seiner Erlösung – sagte
Alfonso – möchte doch auch sie erfüllt werden! – Ja,
edle würdige Frau, ich darf es Euch sagen; – ich habe
nie geliebt; aber seitdem ich die Stimme dieses holden
Geschöpfes gehört, seitdem ich sie hier an Eurem
Herzen gesehen habe, – entweder ich weiss nicht, was
Liebe ist, oder ich liebe sie über Alles. Lasst mich – o,
Ihr seyd ja auch ihre Mutter, lasst mich sie an meinem
Arme an die Gruft ihres Vaters führen; der Anblick wird
den Geist erlösen.»
Maria verbarg ihr Gesicht an Laurens Busen. Ihr Herz
schlug stärker.
«Fremdling, sagte Laura – nehmt nicht etwa eine
flüchtige Rührung, ein mattes Wohlbehagen, einige sich
unwillkürlich Euch aufdringende Wünsche sogleich für
Liebe. – Ihr habt nie geliebt, sagt Ihr; – Euer Herz ist
unerfahren und leicht zu bewegen. Ihr habt dieses Kind
im Leiden gesehen, und habt gewünscht, habt Euch
bemüht, sie zu retten. Ihr seyd durch den Antheil, den
Ihr an ihr nahmt, in Gefahr gekommen. Das kettet edle
Seelen an den Gegenstand ihrer Grossmuth: aber diese
Anhänglichkeit ist noch nicht Liebe. Ihr habt sie hier in
allen Rührungen der zärtlichen Tochter gesehen; das hat
sich Euch mitgetheilt. Uebereilet Euch nicht, edler
Fremdling.»
«Grossmüthige Frau, versetzte der Ritter, was ich fühle,
fühl' ich so wahr und so stark, dass ich für die ewige
Dauer desselben gut bin. Es ist wie mit Flammenschrift
in mein Herz geschrieben, dass diese Mein seyn muss,
dass sie Mir bestimmt ist, und dass ohne sie es kein
Glück mehr auf der Erde für mich giebt.»
«Ich glaube Euch, edler Mann, sagte Laura: Ihr scheint
wahr und gut; ich glaube, dass Ihr mich nicht täuschen
wollt: aber weder ich, noch selbst Ihr könnt wissen, ob
Ihr nicht vielleicht Euch selbst täuschet. Erwartet es, bis
Eure Empfindungen sich Euch selbst aufklären und
entwickeln; und kommt Ihr dann, und sagt noch eben
das, so ist sie Euer.»
«Verzeiht, edle Frau, versetzte der Ritter: wie könnte
ich in dem, was ich so innig und so warm fühle, mich
täuschen? Täusche ich mich vielleicht auch, wenn ich
mein Daseyn empfinde? – Aber, ich soll warten, soll
Euch verlassen, in Länder gehen, die weite Meere von
Euch trennen? Wie werde ich das ertragen?»
«Ihr sollt nicht allein gehen, sagte Laura. Dunkle
Ahnung einer höheren Glückseligkeit, ein geheimes
Verlangen, auf dem Grabe Rinaldo's zu seyn,
durchströmt meine Seele. Ihr werdet mich und diese
dahin begleiten, und dann – wenn Ihr dann noch so
denkt, ist diese Euer.»
Sie hatten keine langen Zubereitungen zur Abreise zu
machen. Es waren noch einige Juwelen von denen, die
Maria bei ihrer Abreise aus Paris mit sich genommen
hatte, vorhanden. – «Hätte ich glauben können, dass ihr
noch einst einen Werth für mich haben würdet?» sagte
Laura, als sie sie zu sich nahm.
Sie zogen unbeschädigt durch Arabien und Palästina,
und setzten sich zu Damaskus auf ein Schiff. Ein
günstiger Wind leitete sie; sie landeten bald an der
europäischen Küste.
In einer angenehmen Sommernacht kamen sie zu
Rinaldo's Grabe. Ein sanfter Wind säuselte: Rosenduft
erfüllte die Lüfte. Ruhe und Heiterkeit im Gesichte,
glänzend und verklärt entstieg der Geist seiner Gruft.
«Sey mir gesegnet, Alfonso! sagte er; du hast dein
heiliges Gelübde gehalten. Du bist seiner werth, meine
Tochter. In heiligeren Gefilden sehen wir uns wieder. –
Deine unglückliche Mutter hat ihre Leiden beschlossen;
ihr Leib ruht weit von dem meinigen, aber ihr Geist ist
bei mir: und du, meine Laura, wirst sie bald
beschliessen.»
Der Geist verschwand. Laura sank in süsser Wehmuth
auf das Grab, und schlummerte in ein besseres Leben
hinüber.
Sanfte Trauer erfüllte Mariens und Alfonso's Seele. Die
Klagen über den Verlust der Glückseligen wurden ihnen
süss.
Sie lebten in diesen Gegenden das Leben der
Zärtlichkeit und der Liebe. Jeder Unglückliche segnete
ihr Haus; es war Zuflucht jedes Hülfslosen.
Am fünfzigsten Gedächtnisstage ihrer Vermählung,
nachdem sie schon die Kinder ihrer Enkel zu ihren
Füssen hatten spielen sehen, sassen sie in stummer
Zärtlichkeit auf der Gruft, und das Andenken der
Begebenheiten ihres Lebens ging vor ihrer Seele
vorüber. Ein sanfter Schauer überfiel sie, sie umarmten
sich, und ihre Seelen gingen vereint in das Vaterland der
Liebe.
Die Hirten fanden sie erstarrt auf dem Grabe liegen, und
begruben sie nebeneinander, da, wo sie lagen.
Rosenstöcke und Vergissmeinnicht und Tausendschön
entsprossten dem Boden um das Grab herum und
blühten. Ahnungen von Wiedersehen der Freunde
erfüllten die Seelen der Hirten. Ihren Augen
enttröpfelten Thränen. Sie gingen, und als sie hinter sich
sahen, sahen sie fünf Flämmchen auf dem Grabe
blinken. Hinter ihnen schloss sich das Thal. Sie hatten
den Weg dahin nicht wieder gefunden. Sie nannten es
das Thal der Liebenden.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
1775 -1854
Zum 150. Todestag
am 20. August 2004
Der Autor
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, wird 1775 im
württembergischen Leonberg als Sohn eines Pfarrers
geboren. Nach Landexamen und Seminar in
Bebenhausen beginnt er 1790 am Tübinger Stift mit
dem Studium der Theologie und Philosophie. Dort
freundet er sich mit den Kommilitonen Hegel und
Hölderlin an. Man begeistert sich für die französische
Revolution. Nach dem Abschluß des Studiums 1795
nimmt er eine Hauslehrerstelle an. 1798 erhält er durch
die Vermittlung Goethes eine Professur an der
Universität Jena, wohin 1801 auch Hegel berufen wird.
1803 heiratet er Caroline, die geschiedene Frau August
Wilhelm Schlegels, die damals im Mittelpunkt des
Jenaer Romantikerkreises steht. Im gleichen Jahr folgt
er einem Ruf an die Universität Würzburg als Professur
für Philosophie. 1806 wird Würzburg österreichisch,
und Schelling muß als protestantischer Professor die
Universität verlassen. Er wird Mitglied der Akademie
der Wissenschaften in München, bleibt jedoch ohne
Lehramt. 1809 stirbt seine Frau Caroline. Zu ihrem
Andenken verfaßt er das Gespräch «Clara oder über den
Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt». Von
1820 bis 1826 ist er Gastprofessor an der Erlanger
Universität. 1827 wird er als Vorstand der Bayrischen
Akademie
der
Wissenschaften
und
als
Universitätsprofessor nach München berufen. 1841
übernimmt er den Lehrstuhl Hegels an der Berliner
Universität. Der König von Preussen möchte mit ihm
«die Drachensaat des Hegelianismus ausreuthen». Unter
den Zuhörern der ersten Vorlesung sind Carl von
Savigny,
Friedrich
A.
Trendelenburg,
Sören
Kierkegaard, Friedrich Engels, Alexander von
Humboldt, Michael Bakunin, Ferdinand Lassalle,
Johann Gustav Droysen, Henrik Steffens, Jacob
Burckhardt und Leopold Ranke. Seine mystischspekulative Spätphilosophie findet jedoch immer
weniger Interesse. 1854 stirbt er während eines
Kuraufenthalts in Bad Ragaz in der Schweiz.
Philosophische Untersuchungen
über das Wesen der
menschlichen Freiheit
1809/34
Text:
Schellings Werke
Nach der Originalausgabe
in neuer Anordnung
herausgegeben von M. Schröter,
München 1927 ff.
Vierter Hauptband, S. 223-308
_____________________________________________
__
V o r b e r i c h t . 1)
Ueber die folgende Abhandlung findet der Verfasser
nur weniges zu bemerken.
Da zum Wesen der geistigen Natur zunächst
Vernunft, Denken und Erkennen gerechnet werden, so
wurde der Gegensatz von Natur und Geist billig zuerst
von dieser Seite betrachtet. Der feste Glaube an eine
bloß menschliche Vernunft, die Ueberzeugung von der
vollkommenen Subjektivität alles Denkens und
Erkennens und der gänzlichen Vernunft- und
Gedankenlosigkeit der Natur, sammt der überall
herrschenden mechanischen Vorstellungsart, indem
auch das durch Kant wiedergeweckte Dynamische
wieder nur in ein höheres Mechanisches überging und in
seiner Identität mit dem Geistigen keineswegs erkannt
wurde, rechtfertigen hinlänglich diesen Gang der
Betrachtung. Jene Wurzel des Gegensatzes ist nun
ausgerissen, und die Befestigung richtigerer Einsicht
kann ruhig dem allgemeinen Fortgang zu besserer
Erkenntniß überlassen werden.
Es ist Zeit, daß der höhere oder vielmehr der
eigentliche
Gegensatz
hervortrete,
der
von
Nothwendigkeit und Freiheit, mit welchem erst der
innerste Mittelpunkt der Philosophie zur Betrachtung
kommt.
Da der Verfasser nach der ersten allgemeinen
Darstellung seines Systems (in der Zeitschrift für
speculative Physik), deren Fortsetzung leider durch
äußere Umstände unterbrochen worden, sich bloß auf
naturphilosophische Untersuchungen beschränkt hat,
und nach dem in der Schrift: Philosophie und Religion
2) gemachten Anfang, der freilich durch Schuld der
Darstellung undeutlich geblieben, die gegenwärtige
Abhandlung das Erste ist, worin der Verfasser seinen
Begriff des ideellen Theils der Philosophie mit völliger
Bestimmtheit vorlegt, so muß er, wenn jene erste
Darstellung eine Wichtigkeit gehabt haben sollte, ihr
diese Abhandlung zunächst an die Seite stellen, welche
schon der Natur des Gegenstandes nach über das Ganze
des Systems tiefere Aufschlüsse als alle mehr partiellen
Darstellungen enthalten muß.
Obgleich der Verfasser über die Hauptpunkte,
welche in derselben zur Sprache kommen, über Freiheit
des Willens, Gut und Bös, Persönlichkeit usw. sich
bisher nirgends erklärt hatte (die einzige Schrift
Philosophie und Religion ausgenommen), so hat dieß
nicht verhindert, ihm bestimmte, sogar dem Inhalt
dieser - wie es scheint, gar nicht beachteten - Schrift
ganz unangemessene Meinungen darüber nach eignem
Gutdünken beizulegen. Auch mögen unberufene
sogenannte Anhänger, vermeintlich nach den
Grundsätzen des Verfassers, manches Verkehrte wie
über andere so auch über diese Dinge vorgebracht
haben.
Anhänger im eigentlichen Sinn sollte zwar, so
scheint es, nur ein fertiges, beschlossenes System haben
können. Dergleichen hat der Verfasser bis jetzt nie
aufgestellt, sondern nur einzelne Seiten eines solchen
(und auch diese oft nur in einer einzelnen, z.B.
polemischen, Beziehung) gezeigt; somit seine Schriften
für Bruchstücke eines Ganzen erklärt, deren
Zusammenhang
einzusehen,
eine
feinere
Bemerkungsgabe,
als
sich
bei
zudringlichen
Nachfolgern, und ein besserer Wille, als sich bei
Gegnern zu finden pflegt, erfordert wurde. Die einzige
wissenschaftliche Darstellung seines Systems ist, da sie
nicht vollendet wurde, ihrer eigentlichen Tendenz nach
von niemand oder höchstwenigen verstanden worden.
Gleich nach Erscheinung dieses Fragments fing das
Verleumden und Verfälschen auf der einen, und das
Erläutern, Bearbeiten und Uebersetzen auf der andern
Seite an, wovon das in eine vermeintlich genialischere
Sprache (da zu gleicher Zeit ein ganz haltungsloser
poetischer Taumel sich der Köpfe bemächtigt hatte) die
schlimmste Gattung war. Jetzt scheint sich wieder eine
gesundere Zeit einfinden zu wollen. Das Treue,
Fleißige, Innige wird wieder gesucht. Man fängt an, die
Leerheit derer, die sich mit den Sentenzen der neuen
Philosophie wie französische Theaterhelden gespreizt
oder wie Seiltänzer geberdet haben, allgemein für das
zu erkennen, was sie ist; zugleich haben die andern, die
das erhaschte Neue auf allen Märkten wie zur Drehorgel
absangen, endlich einen so allgemeinen Ekel erregt, daß
sie bald kein Publikum mehr finden werden; besonders,
wenn nicht bei jeder unverständigen Rhapsodie, worin
einige Redensarten eines bekannten Schriftstellers
zusammengebracht
sind,
von
übrigens
nicht
übelwollenden Beurtheilern gesagt wird, sie sey nach
dessen Grundsätzen verfaßt. Behandeln sie lieber jeden
solchen als Original, was doch im Grunde jeder seyn
will, und was in gewissem Sinne auch recht viele sind.
So möge denn diese Abhandlung dienen, manches
Vorurtheil von der einen, und manches lose und leichte
Geschwätz von der andern Seite niederzuschlagen.
Schließlich wünschen wir, es mögen die, welche den
Verfasser von dieser Seite, offen oder verdeckt,
angegriffen, nun auch ihre Meinung ebenso
unumwunden darlegen, als es hier geschehen ist. Wenn
vollkommene Herrschaft über seinen Gegenstand die
freie kunstreiche Ausbildung desselben möglich macht,
so können doch die künstlichen Schraubengänge der
Polemik nicht die Form der Philosophie seyn. Noch
mehr aber wünschen wir, daß der Geist eines
gemeinsamen Bestrebens sich immer mehr befestige,
und nicht der die Deutschen nur zu oft beherrschende
Sektengeist die Gewinnung einer Erkenntniß und
Ansicht hemme, deren vollkommene Ausbildung von
jeher den Deutschen bestimmt schien, und die ihnen
vielleicht nie näher war als jetzt.
München, den 31. März 1809.
__________
Philosophische Untersuchungen über das Wesen der
menschlichen Freiheit können theils den richtigen
Begriff derselben angehen, indem die Thatsache der
Freiheit, so unmittelbar das Gefühl derselben einem
jeden eingeprägt ist, doch keineswegs so sehr an der
Oberfläche liegt, daß nicht, um sie auch nur in Worten
auszudrücken, eine mehr als gewöhnliche Reinheit und
Tiefe des Sinns erfordert würde; theils können sie den
Zusammenhang dieses Begriffs mit dem Ganzen einer
wissenschaftlichen Weltansicht betreffen. Da jedoch
kein Begriff einzeln bestimmt werden kann, und die
Nachweisung seines Zusammenhangs mit dem Ganzen
ihm auch erst die letzte wissenschaftliche Vollendung
gibt; welches bei dem Begriff der Freiheit vorzugsweise
der Fall seyn muß, der, wenn er überhaupt Realität hat,
kein bloß untergeordneter oder Nebenbegriff, sondern
einer der herrschenden Mittelpunkte des Systems seyn
muß: so fallen jene beiden Seiten der Untersuchung
hier, wie überall, in eins zusammen. Einer alten, jedoch
keineswegs verklungenen Sage zufolge soll zwar der
Begriff der Freiheit mit dem System überhaupt
unverträglich seyn, und jede auf Einheit und Ganzheit
Anspruch machende Philosophie auf Leugnung der
Freiheit
hinauslaufen.
Gegen
allgemeine
Versicherungen der Art ist es nicht leicht zu streiten;
denn wer weiß, welche beschränkende angetroffen
werde, weit früher aber von Empedokles ausgesprochen
worden sey), werde verstehen, daß der Philosoph eine
solche (göttliche) Erkenntniß behaupte, weil er allein,
den Verstand rein und unverdunkelt von Bosheit
erhaltend, mit dem Gott in sich den Gott außer sich
begreife 3) . Allein es ist bei denen, welche der
Wissenschaft abhold sind, einmal herkömmlich, unter
dieser eine Erkenntniß zu verstehen, welche, wie die der
gewöhnlichen Geometrie, ganz abgezogen und
unlebendig ist. Kürzer oder entscheidender wäre, das
System auch im Willen oder Verstande des Urwesens zu
leugnen; zu sagen, daß es überhaupt nur einzelne Willen
gebe, deren jeder einen Mittelpunkt für sich ausmache,
und nach Fichtes Ausdruck eines jeden Ich die absolute
Substanz sey. Immer jedoch wird die auf Einheit
dringende Vernunft, was das auf Freiheit und
Persönlichkeit bestehende Gefühl, nur durch einen
Machtspruch zurückgewiesen, der eine Weile vorhält,
endlich zuschanden wird. So mußte die Fichtesche
Lehre ihre Anerkennung der Einheit, wenn auch in der
dürftigen Gestalt einer sittlichen Weltordnung,
bezeugen, wodurch sie aber unmittelbar in
Widersprüche und Unstatthaftigkeiten geriet. Es scheint
daher, daß, so viel auch für jene Behauptung von dem
bloß historischen Standpunkt, nämlich aus den
bisherigen Systemen, sich anführen läßt - (aus dem
Wesen der Vernunft und Erkenntniß selbst geschöpfte
Gründe haben wir nirgends gefunden) - der
Zusammenhang des Begriffs der Freiheit mit dem
Ganzen der Weltansicht wohl immer Gegenstand einer
nothwendigen Aufgabe bleiben werde, ohne deren
Auflösung der Begriff der Freiheit selber wankend, die
Philosophie aber völlig ohne Wert seyn würde. Denn
diese große Aufgabe allein ist die unbewußte und
unsichtbare Triebfeder alles Strebens nach Erkenntniß
von dem niedrigsten bis zum höchsten; ohne den
Widerspruch von Nothwendigkeit und Freiheit würde
nicht Philosophie allein, sondern jedes höhere Wollen
des Geistes in den Tod versinken, der jenen
Wissenschaften eigen ist, in welchen er keine
Anwendung hat. Sich durch Abschwörung der Vernunft
aus dem Handel ziehen, scheint aber der Flucht
ähnlicher als dem Sieg. Mit dem nämlichen Rechte
könnte ein anderer der Freiheit den Rücken wenden, um
sich in die Arme der Vernunft und Nothwendigkeit zu
werfen, ohne daß auf der einen oder der andern Seite
eine Ursache zum Triumph wäre.
Bestimmter ausgedrückt wurde die nämliche
Meinung in dem Satz: das einzig mögliche System der
Vernunft sey Pantheismus, dieser aber unvermeidlich
Fatalismus 4) . Es ist unleugbar eine vortreffliche
Erfindung um solche allgemeine Namen, womit ganze
Ansichten auf einmal bezeichnet werden. Hat man
einmal zu einem System den rechten Namen gefunden,
so ergibt sich das übrige von selbst, und man ist der
Mühe, sein Eigentümliches genauer zu untersuchen,
enthoben. Auch der Unwissende kann, sobald sie ihm
nur angegeben sind, mit deren H�lfe über das
Gedachtetste aburtheilen. Dennoch kommt bei einer so
außerordentlichen Behauptung alles auf die nähere
Bestimmung des Begriffs an. Denn so möchte wohl
nicht zu leugnen seyn, daß, wenn Pantheismus weiter
nichts als die Lehre von der Immanenz der Dinge in
Gott bezeichnete, jede Vernunftansicht in irgend einem
Sinn zu dieser Lehre hingezogen werden muß. Aber
eben der Sinn macht hier den Unterschied. Daß sich der
fatalistische Sinn damit verbinden läßt, ist unleugbar;
daß er aber nicht wesentlich damit verbunden sey,
erhellt daraus, daß so viele gerade durch das lebendigste
Gefühl der Freiheit zu jener Ansicht getrieben wurden.
Die meisten, wenn sie aufrichtig wären, würden
gestehen, daß, wie ihre Vorstellungen beschaffen sind,
die individuelle Freiheit ihnen fast mit allen
Eigenschaften eines höchsten Wesens im Widerspruch
scheine, z.B. der Allmacht. Durch die Freiheit wird eine
dem Princip nach unbedingte Macht außer und neben
der göttlichen behauptet, welche jenen Begriffen
zufolge undenkbar ist. Wie die Sonne am Firmament
alle Himmelslichter auslöscht, so und noch viel mehr
die unendliche Macht jede endliche. Absolute Kausalität
in Einem Wesen läßt allen andern nur unbedingte
Passivität übrig. Hierzu kommt die Dependenz aller
Weltwesen von Gott, und daß selbst ihre Fortdauer nur
eine stets erneute Schöpfung ist, in welcher das endliche
Wesen doch nicht als ein unbestimmtes Allgemeines,
sondern als dieses bestimmte, einzelne, mit solchen und
keinen andern Gedanken, Bestrebungen und
Handlungen producirt wird. Sagen, Gott halte seine
Allmacht zurück, damit der Mensch handeln könne,
oder er lasse die Freiheit zu, erklärt nichts: zöge Gott
seine Macht einen Augenblick zurück, so hörte der
Mensch auf zu seyn. Gibt es gegen diese Argumentation
einen andern Ausweg, als den Menschen mit seiner
Freiheit, da sie im Gegensatz der Allmacht undenkbar
ist, in das göttliche Wesen selbst zu retten, zu sagen,
daß der Mensch nicht außer Gott, sondern in Gott sey,
und daß seine Thätigkeit selbst mit zum Leben Gottes
gehöre? Gerade von diesem Punkt aus sind Mystiker
und religiöse Gemüther aller Zeiten zu dem Glauben an
die Einheit des Menschen mit Gott gelangt, der dem
innigsten Gefühl ebensosehr oder noch mehr als der
Vernunft und Spekulation zuzusagen scheint. Ja die
Schrift selbst findet eben in dem Bewußtseyn der
Freiheit das Siegel und Unterpfand des Glaubens, daß
wir in Gott leben und sind. Wie kann nun die Lehre
nothwendig mit der Freiheit streiten, welche so viele in
Ansehung des Menschen behauptet haben, gerade um
die Freiheit zu retten?
Eine andere, wie man gewöhnlich glaubt näher
treffende, Erklärung des Pantheismus ist allerdings die,
daß er in einer völligen Identifikation Gottes mit den
Dingen, einer Vermischung des Geschöpfs mit dem
Schöpfer bestehe, woraus noch eine Menge anderer
harter und unerträglicher Behauptungen abgeleitet
werden. Allein eine totalere Unterscheidung der Dinge
von Gott, als in dem für jene Lehre als klassisch
angenommenen Spinoza sich findet, läßt sich kaum
denken. Gott ist das, was in sich ist und allein aus sich
selbst begriffen wird; das Endliche aber, was
nothwendig in einem andern ist, und nur aus diesem
begriffen werden kann. Offenbar sind dieser
Unterscheidung zufolge die Dinge nicht, wie es nach
der oberflächlich betrachteten Lehre von den
Modifikationen allerdings scheinen könnte, bloß
gradweise oder durch ihre Einschränkungen, sondern
toto genere von Gott verschieden. Welches auch
übrigens ihr Verhältniß zu Gott seyn möge, dadurch
sind sie absolut von Gott getrennt, daß sie nur in und
nach einem Aendern (nämlich Ihm) seyn können, daß
ihr Begriff ein abgeleiteter ist, der ohne den Begriff
Gottes gar nicht möglich wäre; da im Gegentheil dieser
der allein selbständige und ursprüngliche, der allein sich
selbst bejahende ist, zu dem alles andere nur wie
Bejahtes, nur wie Folge zum Grund sich verhalten kann.
Bloß unter dieser Voraussetzung gelten andere
Eigenschaften der Dinge, z.B. ihre Ewigkeit. Gott ist
seiner Natur nach ewig; die Dinge nur mit ihm und als
Folge seines Daseyns, d.h. abgeleiteterweise. Eben
dieses Unterschieds wegen können nicht, wie
gewöhnlich vorgegeben wird, alle einzelnen Dinge
zusammen Gott ausmachen, indem durch keine Art der
Zusammenfassung das seiner Natur nach Abgeleitete in
das seiner Natur nach Ursprüngliche übergehen kann, so
wenig als die einzelnen Punkte einer Peripherie
zusammengenommen diese ausmachen können, da sie
als Ganzes ihnen dem Begriff nach nothwendig
vorangeht. Abgeschmackter noch ist die Folgerung, daß
bei Spinoza sogar das einzelne Ding Gott gleich seyn
müsse. Denn wenn auch der starke Ausdruck, daß jedes
Ding ein modificirter Gott ist, bei ihm sich fände, so
sind die Elemente des Begriffs so widersprechend, daß
er sich unmittelbar im Zusammenfassen wieder zersetzt.
Ein modificirter, d.h. abgeleiteter, Gott ist nicht Gott im
eigentlichen eminenten Sinn; durch diesen einzigen
Zusatz tritt das Ding wieder an seine Stelle, durch die es
ewig von Gott geschieden ist. Der Grund solcher
Mißdeutungen, welche auch andere Systeme in reichem
Maß erfahren haben, liegt in dem allgemeinen
Mißverständniß des Gesetzes der Identität oder des
Sinns der Kopula im Urtheil. Ist es gleich einem Kinde
begreiflich zu machen, daß in keinem möglichen Satz,
der der angenommenen Erklärung zufolge die Identität
des Subjekts mit dem Prädicat aussagt, eine Einerleiheit
oder auch nur ein unvermittelter Zusammenhang dieser
beiden ausgesagt werde - indem z.B. der Satz: dieser
Körper ist blau, nicht den Sinn hat, der Körper sey in
dem und durch das, worin und wodurch er Körper ist,
auch blau, sondern nur den, dasselbe, was dieser Körper
ist, sey, obgleich nicht in dem nämlichen Betracht, auch
blau: so ist doch diese Voraussetzung, welche eine
völlige Unwissenheit über das Wesen der Kopula
anzeigt, in bezug auf die höhere Anwendung des
Identitätsgesetzes zu unsrer Zeit beständig gemacht
worden. Es sey z.B. der Satz aufgestellt: das
Vollkommene ist das Unvollkommene, so ist der Sinn
der: das Unvollkommene ist nicht dadurch, daß und
worin es unvollkommen ist, sondern durch das
Vollkommene, das in ihm ist; für unsre Zeit aber hat er
diesen Sinn: das Vollkommene und Unvollkommene
sind einerlei, alles ist sich gleich, das Schlechteste und
das Beste, Torheit und Weisheit. Oder: das Gute ist das
Böse, welches so viel sagen will: das Böse hat nicht die
Macht, durch sich selbst zu seyn; das in ihm Seyende ist
das (an und für sich betrachtet) Gute: so wird dieß so
ausgelegt: der ewige Unterschied von Recht und
Unrecht, Tugend und Laster werde geleugnet, beide
seyen logisch das Nämliche. Oder wenn in einer andern
Wendung Nothwendiges und Freies als Eins erklärt
werden, wovon der Sinn ist: dasselbe (in der letzten
Instanz), welches Wesen der sittlichen Welt ist, sey
auch Wesen der Natur, so wird dieß so verstanden: das
Freie sey nichts als Naturkraft, Springfeder, die wie jede
andere dem Mechanismus unterworfen ist. Das
Nämliche geschieht bei dem Satz, daß die Seele mit
dem Leib eins ist; welcher so ausgelegt wird: die Seele
sey materiell, Luft, Aether, Nervensaft u. dgl., denn das
Umgekehrte, daß der Leib Seele, oder im vorigen Satz,
daß das scheinbar Nothwendige an sich ein Freies sey,
ob es gleich ebensogut aus dem Satze zu nehmen ist,
wird wohlbedächtig beiseite gesetzt. Bei solchen
Mißverständnissen, die, wenn sie nicht absichtlich sind,
einen
Grad
von
dialektischer
Unmündigkeit
voraussetzen, über welchen die griechische Philosophie
fast in ihren ersten Schritten hinaus ist, machen die
Empfehlung des gründlichen Studiums der Logik zur
dringenden Pflicht. Die alte tiefsinnige Logik
unterschied Subjekt und Prädicat als vorangehendes und
folgendes (antecedens et consequens), und drückte
damit den reellen Sinn des Identitätsgesetzes aus. Selbst
in dem tautologischen Satz, wenn er nicht etwa ganz
sinnlos seyn soll, bleibt dieß Verhältniß. Wer da sagt:
der Körper ist Körper, denkt bei dem Subjekt des Satzes
zuverlässig etwas anderes als bei dem Prädicat; bei
jenem nämlich die Einheit, bei diesem die einzelnen im
Begriff des Körpers enthaltenen Eigenschaften, die sich
zu demselben wie Antecedens zum Consequens
verhalten. Eben dieß ist der Sinn einer andern älteren
Erklärung, nach welcher Subjekt und Prädicat als das
Eingewickelte und Entfaltete (implicitum et explicitum)
entgegengesetzt wurden. 5)
Allein, werden nun die Verteidiger der obigen
Behauptung sagen, es ist überhaupt beim Pantheismus
nicht davon die Rede, daß Gott alles ist (was nach der
gewöhnlichen Vorstellung seiner Eigenschaften nicht
gut zu vermeiden steht), sondern davon, daß die Dinge
nichts sind, daß dieses System alle Individualität
aufhebt. Es scheint zwar diese neue Bestimmung mit
der vorigen im Widerspruch zu stehen; denn wenn die
Dinge nichts sind, wie ist es möglich, Gott mit ihnen zu
vermischen? es ist dann überall nichts als reine
ungetrübte Gottheit. Oder, wenn außer Gott (nicht bloß
extra, sondern auch praeter Deum) nichts ist, wie kann
er anders als dem bloßen Wort nach Alles seyn; so daß
also der ganze Begriff überhaupt sich aufzulösen und in
nichts zu verfliegen scheint. Ohnehin fragt sich, ob mit
der Auferweckung solcher allgemeinen Namen viel
gewonnen sey, die in der Ketzerhistorie zwar in Ehren
zu halten seyn mögen, für Produktionen des Geistes
aber,
bei
denen,
wie
in
den
zartesten
Naturerscheinungen, leise Bestimmungen wesentliche
Veränderungen verursachen, viel zu grobe Handhaben
scheinen. Es ließe sich noch zweifeln, ob sogar auf
Spinoza die zuletzt angegebene Bestimmung anwendbar
sey. Denn wenn er außer (praeter) der Substanz nichts
anerkennt als die bloßen Affektionen derselben, wofür
er die Dinge erklärt, so ist freilich dieser Begriff ein rein
negativer, der nichts Wesentliches oder Positives
ausdrückt. Allein er dient auch bloß zunächst das
Verhältniß der Dinge zu Gott zu bestimmen, nicht aber,
was sie für sich betrachtet seyn mögen. Aus dem
Mangel dieser Bestimmung kann aber nicht geschlossen
werden, daß sie überall nichts Positives (wenn gleich
immer abgeleiteterweise) enthalten. Spinozas härtester
Ausdruck ist wohl der: das einzelne Wesen sey die
Substanz selbst, in einer ihrer Modifikationen, d.h.
Folgen, betrachtet. Setzen wir nun die unendliche
Substanz = A, dieselbe in einer ihrer Folgen betrachtet =
A/a: so ist das Positive in A/a allerdings A; aber es folgt
nicht, daß deswegen A/a = A, d.h. daß die unendliche
Substanz in ihrer Folge betrachtet mit der unendlichen
Substanz schlechthin betrachtet einerlei sey; oder mit
andern Worten, es folgt nicht, daß A/a nicht eine eigne
besondere Substanz (wenn gleich Folge von A) sey.
Dieß steht freilich nicht bei Spinoza; allein erstens ist
hier die Rede vom Pantheismus überhaupt; sodann fragt
sich nur, ob die gegebene Ansicht mit dem Spinozismus
an sich unverträglich sey. Man wird dieß schwerlich
behaupten, da man zugegeben hat, daß die Monaden des
Leibniz, die ganz das sind, was im obigen Ausdruck A/a
ist, kein entscheidendes Mittel gegen den Spinozismus
sind. Räthselhaft bleiben ohne eine Ergänzung der Art
manche Aeußerungen des Spinoza, z.B. daß das Wesen
der menschlichen Seele ein lebendiger Begriff Gottes
sey, der als ewig (nicht als transitorisch) erklärt wird.
Wenn daher auch die Substanz in ihren andern Folgen
A/b, A/c .... nur vorübergehend wohnte, so würde sie
doch in jener Folge, der menschlichen Seele = a, ewig
wohnen, und daher als A/a auf eine ewige und
unvergängliche Weise von sich selbst als A geschieden
seyn.
Wollte man nun weitergehend die Leugnung - nicht
der Individualität, sondern - der Freiheit als eigentlichen
Charakter des Pantheismus erklären, so würden eine
Menge von Systemen, die sich doch sonst wesentlich
von jenem unterscheiden, mit unter diesen Begriff
fallen. Denn bis zur Entdeckung des Idealismus fehlt
der eigentliche Begriff der Freiheit in allen neuern
Systemen, im Leibnizischen so gut wie im
Spinozischen; und eine Freiheit, wie sie viele unter uns
gedacht haben, die sich noch dazu des lebendigsten
Gefühls derselben rühmen, wonach sie nämlich in der
bloßen Herrschaft des intelligenten Princips über das
sinnliche und die Begierden besteht, eine solche Freiheit
ließe sich, nicht zur Noth, sondern ganz leicht und sogar
bestimmter, auch aus dem Spinoza noch herleiten. Es
scheint daher die Leugnung oder Behauptung der
Freiheit im allgemeinen auf etwas ganz anderem als der
Annahme öder Nichtannahme des Pantheismus (der
Immanenz der Dinge in Gott) zu beruhen. Denn wenn es
freilich auf den ersten Blick scheint, als ginge die
Freiheit, die sich im Gegensatz mit Gott nicht halten
konnte, hier in der Identität unter, so kann man doch
sagen, dieser Schein sey nur Folge der unvollkommenen
und leeren Vorstellung des Identitätsgesetzes. Dieses
Princip drückt keine Einheit aus, die sich im Kreis der
Einerleiheit herumdrehend, nicht progressiv, und darum
selbst unempfindlich und unlebendig wäre. Die Einheit
dieses Gesetzes ist eine unmittelbar schöpferische.
Schon im Verhältniß des Subjekts zum Prädicat haben
wir das des Grundes zur Folge aufgezeigt, und das
Gesetz des Grundes ist darum ein ebenso ursprüngliches
wie das der Identität. Das Ewige muß deswegen
unmittelbar, und so wie es in sich selbst ist, auch Grund
seyn. Das, wovon es durch sein Wesen Grund ist, ist
insofern ein Abhängiges und nach der Ansicht der
Immanenz auch ein in ihm Begriffenes. Aber
Abhängigkeit hebt Selbständigkeit, hebt sogar Freiheit
nicht auf. Sie bestimmt nicht das Wesen, und sagt nur,
daß das Abhängige, was es auch immer seyn möge, nur
als Folge von dem seyn könne, von dem es abhängig ist;
sie sagt nicht, was es sey, und was es nicht sey. Jedes
organische Individuum ist als ein Gewordenes nur durch
ein anderes, und insofern abhängig dem Werden, aber
keineswegs dem Seyn nach. Es ist nicht ungereimt, sagt
Leibniz, daß der, welcher Gott ist, zugleich gezeugt
werde, oder umgekehrt, so wenig es ein Widerspruch
ist, daß der, welcher der Sohn eines Menschen ist, selbst
Mensch sey. Im Gegentheil, wäre das Abhängige oder
Folgende nicht selbständig, so wäre dieß vielmehr
widersprechend. Es wäre eine Abhängigkeit ohne
Abhängiges, eine Folge ohne Folgendes (Consequentia
absque Consequente), und daher auch keine wirkliche
Folge, d.h. der ganze Begriff höbe sich selber auf. Das
Nämliche gilt vom Begriffenseyn in einem andern. Das
einzelne Glied, wie das Auge, ist nur im Ganzen eines
Organismus möglich; nichtsdestoweniger hat es ein
Leben für sich, ja eine Art von Freiheit, die es offenbar
durch die Krankheit beweist, deren es fähig ist. Wäre
das in einem indem Begriffene nicht selbst lebendig, so
wäre eine Begriffenheit ohne Begriffenes, d.h. es wäre
nichts begriffen. Einen viel höheren Standpunkt gewährt
die Betrachtung des göttlichen Wesens selbst, dessen
Idee eine Folge, die nicht Zeugung, d.h. Setzen eines
Selbständigen ist, völlig widersprechen würde. Gott ist
nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen. Es
ist nicht einzusehen, wie das allervollkommenste Wesen
auch an der möglich vollkommensten Maschine seine
Lust fände. Wie man auch die Art der Folge der Wesen
aus Gott sich denken möge, nie kann sie eine
mechanische seyn, kein bloßes Bewirken oder
Hinstellen, wobei das Bewirkte nichts für sich selbst ist;
ebensowenig Emanation, wobei das Ausfließende
dasselbe bliebe mit dem, wovon es ausgeflossen, also
nichts Eignes, Selbständiges. Die Folge der Dinge aus
Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes. Gott aber kann
nur sich offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ist, in
freien aus sich selbst handelnden Wesen; für deren Seyn
es keinen Grund gibt als Gott, die aber sind, sowie Gott
ist. Er spricht, und sie sind da. Wären alle Weltwesen
auch nur Gedanken des göttlichen Gemüthes, so müßten
sie schon eben darum lebendig seyn. So werden die
Gedanken wohl von der Seele erzeugt; aber der erzeugte
Gedanke ist eine unabhängige Macht, für sich
fortwirkend, ja, in der menschlichen Seele, so
anwachsend, daß er seine eigne Mutter bezwingt und
sich unterwirft. Allein die göttliche Imagination, welche
die Ursache der Spezifikation der Weltwesen ist, ist
nicht wie die menschliche, daß sie ihren Schöpfungen
bloß
idealische
Wirklichkeit
ertheilt.
Die
Repräsentationen der Gottheit können nur selbständige
Wesen seyn; denn was ist das Beschränkende unsrer
Vorstellungen als eben, daß wir Unselbständiges sehen?
Gott schaut die Dinge an sich an. An sich ist nur das
Ewige, auf sich selbst Beruhende, Wille, Freiheit. Der
Begriff einer derivirten Absolutheit oder Göttlichkeit ist
so wenig widersprechend, daß er vielmehr der
Mittelbegriff der ganzen Philosophie ist. Eine solche
Göttlichkeit kommt der Natur zu. So wenig widerspricht
sich Immanenz in Gott und Freiheit, daß gerade nur das
Freie, und soweit es frei ist, in Gott ist, das Unfreie, und
soweit es unfrei ist, nothwendig außer Gott.
So ungenügend auch für den tiefer sehenden eine so
allgemeine Deduktion an sich selbst ist, so erhellt doch
so viel aus ihr, daß die Leugnung formeller Freiheit mit
dem Pantheismus nicht nothwendig verbunden sey. Wir
erwarten nicht, daß man uns den Spinozismus
entgegensetzen werde. Es gehört nicht wenig Herz zu
der Behauptung, das System, wie es in irgend eines
Menschen Kopf sich zusammengefügt, sey das
Vernunftsystem κατ᾽ ἐξοχήν das ewige unveränderliche.
Was versteht man denn unter Spinozismus? Etwa die
ganze Lehre, wie sie in den Schriften des Mannes
vorliegt, also z.B. auch seine mechanische Physik? Oder
nach welchem Princip will man hier scheiden und
abtheilen, wo alles so voll außerordentlicher und
einziger Konsequenz seyn soll? Es wird immer in der
Geschichte
deutscher
Geistesentwicklung
ein
auffallendes Phänomen bleiben, daß zu irgend einer Zeit
die Behauptung aufgestellt werden konnte: das System,
welches Gott mit den Dingen, das Geschöpf mit dem
Schöpfer vermengt (so wurde es verstanden) und alles
einer blinden gedankenlosen Nothwendigkeit unterwirft,
sey das einzige der Vernunft mögliche - aus reiner
Vernunft zu entwickelnde! Um sie zu begreifen, muß
man sich den herrschenden Geist eines früheren
Zeitalters vergegenwärtigen. Damals hatte die
mechanische Denkweise, die in dem französischen
Atheismus den Gipfel ihrer Ruchlosigkeit erstieg,
nachgerade alle Köpfe eingenommen; auch in
Deutschland fing man an, diese Art zu sehen und zu
erklären für die eigentliche und einzige Philosophie zu
halten. Da indes ursprünglich deutsches Gemüth nie die
Folgen davon mit sich vereinigen konnte, so entstand
daher zuerst der für die philosophische Literatur der
neueren Zeit charakteristische Zwiespalt von Kopf und
Herz: man verabscheute die Folgen, ohne sich von dem
Grund der Denkweise selbst befreien oder zu einer
bessern erheben zu können. Aussprechen wollte man
diese Folgen: und da deutscher Geist die mechanische
Philosophie nur bei ihrem (vermeintlich) höchsten
Ausdruck fassen konnte, so wurde auf diese Art die
schreckliche Wahrheit ausgesprochen: alle Philosophie,
schlechthin alle, die nur rein vernunftmäßig ist, ist oder
wird Spinozismus! Gewarnt war nun jedermann vor
dem Abgrund; er war offen dargelegt vor aller Augen;
das einzige noch möglich scheinende Mittel war
ergriffen; jenes kühne Wort konnte die Krisis
herbeiführen und die Deutschen von der verderblichen
Philosophie überhaupt zurückschrecken, sie auf das
Herz, das innere Gefühl und den Glauben zurückführen.
Heutzutage, da jene Denkweise längst vorüber ist, und
das höhere Licht des Idealismus uns leuchtet, würde die
nämliche Behauptung weder in gleichem Grade
begreiflich seyn, noch auch die nämlichen Folgen
versprechen 6) .
Und hier denn ein für allemal unsre bestimmte
Meinung über den Spinozismus! Dieses System ist nicht
Fatalismus, weil es die Dinge in Gott begriffen seyn
läßt; denn, wie wir gezeigt haben, der Pantheismus
macht wenigstens die formelle Freiheit nicht unmöglich;
Spinoza muß also aus einem ganz andern und von
jenem unabhängigen Grund Fatalist seyn. Der Fehler
seines Systems liegt keineswegs darin, daß er die Dinge
in Gott setzt, sondern darin, daß es Dinge sind - in dem
abstrakten Begriff der Weltwesen, ja der unendlichen
Substanz selber, die ihm eben auch ein Ding ist. Daher
sind seine Argumente gegen die Freiheit ganz
deterministisch, auf keine Weise pantheistisch. Er
behandelt auch den Willen als eine Sache, und beweist
dann sehr natürlich, daß er in jedem Fall des Wirkens
durch eine andere Sache bestimmt seyn müsse, die
wieder durch eine andere bestimmt ist usf. ins
Unendliche. Daher die Leblosigkeit seines Systems, die
Gemüthlosigkeit der Form, die Dürftigkeit der Begriffe
und Ausdrücke, das unerbittlich Herbe der
Bestimmungen, das sich mit der abstrakten
Betrachtungsweise vortrefflich verträgt; daher auch
ganz folgerichtig seine mechanische Naturansicht. Oder
zweifelt man, daß schon durch die dynamische
Vorstellung der Natur die Grundansichten des
Spinozismus wesentlich verändert werden müssen?
Wenn die Lehre vom Begriffenseyn aller Dinge in Gott
der Grund des ganzen Systems ist, so muß sie zum
wenigsten erst belebt und der Abstraktion entrissen
werden, ehe sie zum Princip eines Vernunftsystems
werden kann. Wie allgemein sind die Ausdrücke, daß
die endlichen Wesen Modifikationen oder Folgen von
Gott sind; welche Kluft ist hier auszufüllen, welche
Fragen sind zu beantworten! Man könnte den
Spinozismus in seiner Starrheit wie die Bildsäule des
Pygmalion ansehen, die durch warmen Liebeshauch
beseelt werden müßte; aber dieser Vergleich ist
unvollkommen, da es vielmehr einem nur in den
äußersten Umrissen entworfenen Werk gleicht, in dem
man, wenn es beseelt wäre, erst noch die vielen
fehlenden oder unausgeführten Züge bemerken würde.
Eher wäre es den ältesten Bildern der Gottheiten zu
vergleichen, die, je weniger individuell-lebendige Züge
aus ihnen sprachen, desto geheimnißvoller erschienen.
Mit Einem Wort, es ist ein einseitig-realistisches
System, welcher Ausdruck zwar weniger verdammend
klingt als Pantheismus, dennoch aber weit richtiger das
Eigentümliche desselben bezeichnet, und auch nicht
jetzt das erste Mal gebraucht wird. Es würde
verdrießlich seyn, die vielen Erklärungen zu
wiederholen, die sich über diesen Punkt in den ersten
Schriften des Verfassers finden. Wechseldurchdringung
des Realismus und Idealismus war die ausgesprochene
Absicht seiner Bestrebungen. Der Spinozische
Grundbegriff, durch das Princip des Idealismus
vergeistigt (und in Einem wesentlichen Punkte
verändert), erhielt in der höheren Betrachtungsweise der
Natur und der erkannten Einheit des Dynamischen mit
dem Gemüthlichen und Geistigen eine lebendige Basis,
woraus Naturphilosophie erwuchs, die als bloße Physik
zwar für sich bestehen konnte, in bezug auf das Ganze
der Philosophie aber jederzeit mir als der eine, nämlich
der reelle Theil, derselben betrachtet wurde, der erst
durch die Ergänzung mit dem ideellen, in welchem
Freiheit herrscht, der Erhebung in das eigentliche
Vernunftsystem fähig werde. In dieser (der Freiheit)
wurde behauptet, finde sich der letzte potenzirende Akt,
wodurch sich die ganze Natur in Empfindung, in
Intelligenz, endlich in Willen verkläre. - Es gibt in der
letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als
Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen
alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit,
Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze
Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck
zu finden.
Bis zu diesem Punkt ist die Philosophie zu unsrer
Zeit durch den Idealismus gehoben worden: und erst bei
diesem können wir eigentlich die Untersuchung unsres
Gegenstandes aufnehmen, indem es keineswegs unsre
Absicht sein konnte, alle diejenigen Schwierigkeiten,
die sich aus dem einseitig-realistischen oder
dogmatischen System gegen den Begriff der Freiheit
erheben lassen und vorlängst erhoben worden sind, zu
berücksichtigen. Allein der Idealismus selbst, so hoch
wir durch ihn in dieser Hinsicht gestellt sind, und so
gewiß es ist, daß wir ihm den ersten vollkommenen
Begriff der formellen Freiheit verdanken, ist doch selbst
für sich nichts weniger als vollendetes System, und läßt
uns, sobald wir in das Genauere und Bestimmtere
eingehen wollen, in der Lehre der Freiheit dennoch
ratlos. In der ersten Beziehung bemerken wir, daß es in
dem zum System gebildeten Idealismus keineswegs
hinreicht, zu behaupten, «daß Thätigkeit, Leben und
Freiheit allein das wahrhaft Wirkliche seyen», womit
auch der subjektive (sich selbst mißverstehende
Idealismus Fichtes bestehen kann); es wird vielmehr
gefordert, auch umgekehrt zu zeigen, daß alles
Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Thätigkeit,
Leben und Freiheit zum Grund habe, oder im
Fichteschen Ausdruck, daß nicht allein die Ichheit alles,
sondern auch umgekehrt alles Ichheit sey. Der Gedanke,
die Freiheit einmal zum Eins und Alles der Philosophie
zu machen, hat den menschlichen Geist überhaupt, nicht
bloß in bezug auf sich selbst, in Freiheit gesetzt und der
Wissenschaft in allen ihren Theilen einen kräftigem
Umschwung gegeben als irgend eine frühere
Revolution. Der idealistische Begriff ist die wahre
Weihe für die höhere Philosophie unsrer Zeit und
besonders den höheren Realismus derselben. Möchten
doch die, welche diesen beurtheilen oder sich zueignen,
bedenken, daß die Freiheit die innerste Voraussetzung
desselben ist; in wie ganz anderm Licht würden sie ihn
betrachten und auffassen! Nur wer Freiheit gekostet hat,
kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu
machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten.
Wer nicht auf diesem Weg zur Philosophie kommt,
folgt und tut bloß andern nach, was sie thun; ohne
Gefühl weswegen sie es thun. Es wird aber immer
merkwürdig bleiben, daß Kant, nachdem er zuerst
Dinge an sich von Erscheinungen nur negativ, durch die
Unabhängigkeit von der Zeit, unterschieden, nachher in
den metaphysischen Erörterungen seiner Kritik der
praktischen Vernunft Unabhängigkeit von der Zeit und
Freiheit wirklich als korrelate Begriffe behandelt hatte,
nicht zu dem Gedanken fortging, diesen einzig
möglichen positiven Begriff des An-sich auch auf die
Dinge überzutragen, wodurch er sich unmittelbar zu
einem höhern Standpunkt der Betrachtung und über die
Negativität erhoben hätte, die der Charakter seiner
theoretischen Philosophie ist. Von der andern Seite
aber, wenn Freiheit der positive Begriff des An-sich
überhaupt ist, wird die Untersuchung über menschliche
Freiheit wieder ins Allgemeine zurückgeworfen, indem
das Intelligible, auf welches sie allein gegründet
worden, auch das Wesen der Dinge an sich ist. Um also
die spezifische Differenz, d.h. eben das Bestimmte der
menschlichen Freiheit, zu zeigen, reicht der bloße
Idealismus nicht hin. Ebenso wäre es ein Irrthum, zu
meinen, daß der Pantheismus durch den Idealismus
aufgehoben und vernichtet sey; eine Meinung, die nur
aus Verwechslung desselben mit einseitigem Realismus
entspringen könnte. Denn ob es einzelne Dinge sind, die
in einer absoluten Substanz, oder ebenso viele einzelne
Willen, die in einem Urwillen begriffen sind, ist für den
Pantheismus, als solchen, ganz einerlei. Er ist in dem
ersten Falle realistisch, in dem andern idealistisch, der
Grundbegriff aber bleibt derselbe. Eben hieraus ist
vorläufig zu ersehen, daß die tiefsten Schwierigkeiten,
die in dem Begriff der Freiheit liegen, durch den
Idealismus für sich genommen so wenig auflösbar seyn
werden als durch irgend ein anderes partielles System.
Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den
allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff
der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist,
daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey.
Dieses ist der Punkt der tiefsten Schwierigkeit in der
ganzen Lehre von der Freiheit, die von jeher empfunden
worden, und die nicht bloß dieses oder jenes System,
sondern, mehr oder weniger, alle trifft 7): Am
auffallendsten allerdings den Begriff der Immanenz;
denn entweder wird ein wirkliches Böses zugegeben, so
ist es unvermeidlich, das Böse in die unendliche
Substanz oder den Urwillen selbst mitzusetzen,
wodurch der Begriff eines allervollkommensten Wesens
gänzlich zerstört wird; oder es muß auf irgend eine
Weise die Realität des Bösen geleugnet werden, womit
aber zugleich der reale Begriff von Freiheit
verschwindet. Nicht geringer jedoch ist die
Schwierigkeit, wenn zwischen Gott und den Weltwesen
auch nur der allerweiteste Zusammenhang angenommen
wird; denn wird dieser auch auf den bloßen sogenannten
concursus, oder auf jene nothwendige Mitwirkung
Gottes zum Handeln der Creatur beschränkt, welches
vermöge der wesentlichen Abhängigkeit der letzten von
Gott angenommen werden muß, wenn auch übrigens
Freiheit behauptet wird: so erscheint doch Gott
unleugbar als Miturheber des Bösen, indem das
Zulassen bei einem ganz und gar dependenten Wesen
doch nicht viel besser ist als mitverursachen; oder es
muß ebenfalls auf die eine oder die andere Art die
Realität des Bösen geleugnet werden. Der Satz, daß
alles Positive der Creatur von Gott kommt, muß auch in
diesem System behauptet werden. Wird nun
angenommen, es sey in dem Bösen etwas Positives, so
kommt auch dieß Positive von Gott. Hiergegen kann
eingewendet werden: das Positive des Bösen, soweit es
positiv ist, sey gut. Damit verschwindet das Böse nicht,
ob es gleich auch nicht erklärt wird. Denn wenn das im
Bösen Seyende gut ist, woher ist denn das, worin dieses
Seyende ist, die Basis, welche eigentlich das Böse
ausmacht? Ganz verschieden von dieser Behauptung
(obgleich öfters, auch neuerlich, mit ihr verwechselt) ist
die, daß im Bösen überall nichts Positives sey, oder
anders ausgedrückt, daß es gar nicht (auch nicht mit und
an einem andern Positiven) existire, sondern alle
Handlungen mehr oder weniger positiv, und der
Unterschied derselben ein bloßes Plus und Minus der
Vollkommenheit sey, wodurch kein Gegensatz
begründet wird, und also das Böse gänzlich
verschwindet Es wäre dieß die zweite mögliche
Annahme in bezug auf den Satz, daß alles Positive von
Gott herkommt. Dann wäre die Kraft, die im Bösen sich
zeigt, zwar vergleichungsweise unvollkommener als die
welche im Guten, an sich aber, oder außer der
Vergleichung
betrachtet,
doch
selbst
eine
Vollkommenheit, die also, wie jede andere, von Gott
abgeleitet werden muß. Das, was wir Böses daran
nennen, ist nur der geringere Grad der Perfektion, der
aber bloß für unsre Vergleichung als ein Mangel
erscheint, in der Natur keiner ist. Es ist nicht zu
leugnen, daß dieß die wahre Meinung des Spinoza sey.
Es könnte jemand versuchen, jenem Dilemma durch die
Antwort zu entgehen: das Positive, was von Gott
herkommt, sey die Freiheit, die an sich gegen Böses und
Gutes indifferent sey. Allein wenn er nur diese
Indifferenz nicht bloß negativ denkt, sondern als ein
lebendiges positives Vermögen zum Guten und zum
Bösen, so ist nicht einzusehen, wie aus Gott, der als
lautere Güte betrachtet wird, ein Vermögen zum Bösen
folgen könne. Es erhellt hieraus, im Vorbeigehen zu
sagen, daß, wenn die Freiheit wirklich das ist, was sie
diesem Begriff zufolge seyn muß (und sie ist es
unfehlbar), daß es alsdann auch mit der oben versuchten
Ableitung der Freiheit aus Gott wohl nicht seine
Richtigkeit habe; denn ist die Freiheit ein Vermögen
zum Bösen, so muß sie eine von Gott unabhängige
Wurzel haben. Hierdurch getrieben kann man versucht
werden, sich dem Dualismus in die Arme zu werfen.
Allein dieses System, wenn es wirklich als die Lehre
von zwei absolut verschiedenen und gegenseitig
unabhängigen Principien gedacht wird, ist nur ein
System der Selbstzerreißung und Verzweiflung der
Vernunft. Wird aber das böse Grundwesen in irgend
einem Sinn als abhängig von dem guten gedacht, so ist
die ganze Schwierigkeit der Abkunft des Bösen von
dem Guten zwar auf Ein Wesen koncentrirt, aber
dadurch eher vermehrt als vermindert. Selbst wenn
angenommen wird, daß dieses zweite Wesen anfänglich
gut erschaffen worden und durch eigne Schuld vom
Urwesen abgefallen sey, so bleibt immer das erste
Vermögen zu einer Gottwiderstrebenden That in allen
bisherigen Systemen unerklärbar. Daher, wenn man
auch endlich nicht nur die Identität, sondern jeden
Zusammenhang der Weltwesen mit Gott aufheben, ihr
ganzes gegenwärtiges Daseyn und somit das der Welt
als eine Entfernung von Gott ansehen wollte, die
Schwierigkeit nur um einen Punkt weiter hinausgerückt,
aber nicht aufgehoben wäre. Denn um aus Gott
ausfließen zu können, mußten sie schon auf irgend eine
Weise daseyn, und am wenigsten könnte daher die
Emanationslehre dem Pantheismus entgegengesetzt
werden, da sie eine ursprüngliche Existenz der Dinge in
Gott und somit jenen offenbar voraussetzt. Zur
Erklärung jener Entfernung aber könnte nur Folgendes
angenommen werden. Sie ist entweder eine
unwillkürliche von seiten der Dinge, aber nicht von
seiten Gottes: so sind sie durch Gott in den Zustand der
Unseligkeit und Bosheit verstoßen, Gott also ist Urheber
dieses Zustandes. Oder sie ist unwillkürlich von beiden
Seiten, etwa durch Ueberfluß des Wesens verursacht,
wie einige es ausdrücken: eine ganz unhaltbare
Vorstellung. Oder sie ist willkürlich von seiten der
Dinge, ein Losreißen von Gott, also die Folge einer
Schuld, auf die immer tieferes Herabsinken folgt: so ist
diese erste Schuld eben schon selbst das Böse, und
gewährt daher keine Erklärung seines Ursprungs. Ohne
diesen H�lfsgedanken aber, der, wenn er das Böse in
der Welt erklärt, dagegen das Gute völlig auslöscht, und
anstatt des Pantheismus einen Pandämonismus einführt,
verschwindet gerade im System der Emanation jeder
eigentliche Gegensatz des Guten und Bösen; das Erste
verliert sich durch unendlich viele Zwischenstufen
durch allmähliche Abschwächung in das, was keinen
Schein des Guten mehr hat, ungefähr so wie Plotinos 8)
spitzfindig, aber ungenügend den Uebergang des
ursprünglichen Guten in die Materie und das Böse
beschreibt.
Nämlich
durch
eine
beständige
Unterordnung und Entfernung kommt ein Letztes
hervor, über das hinaus nichts mehr werden kann, und
dieß eben (das zu weiterem Produciren Unfähige) ist das
Böse. Oder: wenn etwas nach dem Ersten ist, so muß
auch ein Letztes seyn, das nichts mehr von dem Ersten
an sich hat, und dieß ist die Materie und die
Nothwendigkeit des Bösen.
Diesen Betrachtungen zufolge scheint es eben nicht
billig, die ganze Last dieser Schwierigkeit nur auf Ein
System zu werfen, besonders da das angeblich höhere,
was ihm entgegengesetzt wird, so wenig Genüge leistet.
Auch die Allgemeinheiten des Idealismus können hier
keine H�lfe schaffen. Mit solchen abgezogenen
Begriffen von Gott als Actus purissimus, dergleichen
die ältere Philosophie aufstellte, oder solchen, wie sie
die neuere, aus Fürsorge Gott ja recht weit von aller
Natur zu entfernen, immer wieder hervorbringt, läßt
sich überall nichts ausrichten. Gott ist etwas Realeres
als eine bloße moralische Weltordnung, und hat ganz
andere und lebendigere Bewegungskräfte in sich, als
ihm die dürftige Subtilität abstrakter Idealisten
zuschreibt. Der Abscheu gegen alles Reale, der das
Geistige durch jede Berührung mit demselben zu
verunreinigen meint, muß natürlich auch den Blick für
den Ursprung des Bösen blind machen. Der Idealismus,
wenn er nicht einen lebendigen Realismus zur Basis
erhält, wird ein ebenso leeres und abgezogenes System,
als das Leibnizische, Spinozische, oder irgend ein
anderes dogmatisches. Die ganz neu-europäische
Philosophie seit ihrem Beginn (durch Descartes) hat
diesen gemeinschaftlichen Mangel, daß die Natur für sie
nicht vorhanden ist, und daß es ihr am lebendigen
Grunde fehlt. Spinozas Realismus ist dadurch so
abstrakt als der Idealismus des Leibniz. Idealismus ist
Seele der Philosophie; Realismus ihr Leib; nur beide
zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus. Nie kann
der letzte das Princip hergeben, aber er muß Grund und
Mittel seyn, worin jener sich verwirklicht, Fleisch und
Blut annimmt. Fehlt einer Philosophie dieses lebendige
Fundament, welches gewöhnlich ein Zeichen ist, daß
auch das ideelle Princip in ihr ursprünglich nur schwach
wirksam war: so verliert sie sich in jene Systeme, deren
abgezogene Begriffe von Aseität, Modifikationen usw.
mit der Lebenskraft und Fülle der Wirklichkeit in dem
schneidendsten Kontrast stehen. Wo aber das ideelle
Princip wirklich in höhern Maße kräftig wirkt, aber die
versöhnende und vermittelnde Basis nicht finden kann,
da erzeugt es einen trüben und wilden Enthusiasmus,
der in Selbstzerfleischung, oder, wie bei den Priestern
der phrygischen Göttin, in Selbstentmannung ausbricht,
welche in der Philosophie durch das Aufgeben von
Vernunft und Wissenschaft vollbracht wird.
Es schien nötig, diese Abhandlung mit der
Berichtigung wesentlicher Begriffe anzufangen, die von
jeher, besonders aber neuerdings, verwirrt worden. Die
bisherigen Bemerkungen sind daher als bloße Einleitung
zu unsrer eigentlichen Untersuchung zu betrachten. Wir
haben es bereits erklärt: nur aus den Grundsätzen einer
wahren Naturphilosophie läßt sich diejenige Ansicht
entwickeln, welche der hier stattfindenden Aufgabe
vollkommen Genüge tut. Wir leugnen darum nicht, daß
diese richtige Ansicht nicht schon längst in einzelnen
Geistern vorhanden gewesen sey. Aber eben diese
waren es auch, die ohne Furcht vor den von jeher gegen
alle reelle Philosophie gebräuchlichen Schmähworten,
Materialismus, Pantheismus usw., den lebendigen
Grund der Natur aufsuchten, und im Gegensatz der
Dogmatiker und abstrakten Idealisten, welche sie als
Mystiker ausstießen. Naturphilosophen (in beiderlei
Verstande) waren.
Die Naturphilosophie unsrer Zeit hat zuerst in der
Wissenschaft die Unterscheidung aufgestellt zwischen
dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern
es bloß Grund von Existenz ist. Diese Unterscheidung
ist so alt als die erste wissenschaftliche Darstellung
derselben 9). Unerachtet es eben dieser Punkt ist, bei
welchem sie aufs bestimmteste von dem Wege des
Spinoza ablenkt, so konnte doch in Deutschland bis auf
diese Zeit behauptet werden, ihre metaphysischen
Grundsätze seyen mit denen des Spinoza einerlei; und
obwohl eben jene Unterscheidung es ist, welche
zugleich die bestimmteste Unterscheidung der Natur
von Gott herbeiführt, so verhinderte dieß nicht, sie der
Vermischung Gottes mit der Natur anzuklagen. Da es
die nämliche Unterscheidung ist, auf welche die
gegenwärtige Untersuchung sich gründet, so sey hier
Folgendes zu ihrer Erläuterung gesagt.
Da nichts vor oder außer Gott ist, so muß er den
Grund seiner Existenz in sich selbst haben. Das sagen
alle Philosophen; aber sie reden von diesem Grund als
einem bloßen Begriff, ohne ihn zu etwas Reellem und
Wirklichem zu machen. Dieser Grund seiner Existenz,
den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet,
d.h. sofern er existirt; denn er ist ja nur der Grund seiner
Existenz, Er ist die Natur - in Gott; ein von ihm zwar
unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen.
Analogisch kann dieses Verhältniß durch das der
Schwerkraft und des Lichtes in der Natur erläutert
werden. Die Schwerkraft geht vor dem Licht her als
dessen ewig dunkler Grund, der selbst nicht actu ist, und
entflieht in die Nacht, indem das Licht (das Existirende)
aufgeht. Selbst das Licht löst das Siegel nicht völlig,
unter dem sie beschlossen liegt 10). Sie ist eben darum
weder das reine Wesen noch auch das aktuale Seyn der
absoluten Identität, sondern folgt nur aus ihrer Natur
11); oder ist sie, nämlich in der bestimmten Potenz
betrachtet: denn übrigens gehört auch das, was
beziehungsweise auf die Schwerkraft als existirend
erscheint, an sich wieder zu dem Grunde, und Natur im
Allgemeinen ist daher alles, was jenseits des absoluten
Seyns der absoluten Identität liegt 12). Was übrigens
jenes Vorhergehen betrifft, so ist es weder als
Vorhergehen der Zeit nach, noch als Priorität des
Wesens zu denken. In dem Zirkel, daraus alles wird, ist
es kein Widerspruch, daß das, wodurch das Eine erzeugt
wird, selbst wieder von ihm gezeugt werde. Es ist hier
kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig
voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das
andere ist. Gott hat in sich einen innern Grund seiner
Existenz, der insofern ihm als Existirendem vorangeht;
aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes,
indem der Grund, auch als solcher, nicht seyn könnte,
wenn Gott nicht actu existirte.
Auf dieselbe Unterscheidung führt die von den
Dingen ausgehende Betrachtung. Zuerst ist der Begriff
der Immanenz völlig zu beseitigen, inwiefern etwa
dadurch ein todtes Begriffenseyn der Dinge in Gott
ausgedrückt werden soll. Wir erkennen vielmehr, daß
der Begriff des Werdens der einzige der Natur der
Dinge angemessene ist. Aber sie können nicht werden
in Gott, absolut betrachtet, indem sie toto genere, oder
richtiger zu reden, unendlich von ihm verschieden sind.
Um von Gott geschieden zu seyn, müssen sie in einem
von ihm verschiedenen Grunde werden. Da aber doch
nichts außer Gott seyn kann, so ist dieser Widerspruch
nur dadurch aufzulösen, daß die Dinge ihren Grund in
dem haben, was in Gott selbst nicht Er Selbst ist 13),
d.h. in dem, was Grund seiner Existenz ist. Wollen wir
uns dieses Wesen menschlich näher bringen, so können
wir sagen: es sey die Sehnsucht, die das ewige Eine
empfindet, sich selbst zu gebären. Sie ist nicht das Eine
selbst, aber doch mit ihm gleich ewig. Sie will Gott, d.h.
die unergründliche Einheit, gebären, aber insofern ist in
ihr selbst noch nicht die Einheit. Sie ist daher für sich
betrachtet auch Wille; aber Wille, in dem kein Verstand
ist, und darum auch nicht selbständiger und
vollkommener Wille, indem der Verstand eigentlich der
Wille in dem Willen ist. Dennoch ist sie ein Willen des
Verstandes, nämlich Sehnsucht und Begierde desselben;
nicht ein bewußter, sondern ein ahndender Wille, dessen
Ahndung der Verstand ist. Wir reden von dem Wesen
der Sehnsucht an und für sich betrachtet, das wohl ins
Auge gefaßt werden muß, ob es gleich längst durch das
Höhere, das sich aus ihm erhoben, verdrängt ist, und
obgleich wir es nicht sinnlich, sondern nur mit dem
Geiste und den Gedanken erfassen können. Nach der
ewigen That der Selbstoffenbarung ist nämlich in der
Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung
und Form; aber immer liegt noch im Grunde das
Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrochen,
und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form
das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich
Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an
den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie
aufgehende Rest, das, was sich mit der größten
Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern
ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist
im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dieß
vorausgehende Dunkel gibt es keine Realität der
Creatur; Finsterniß ist ihr nothwendiges Erbtheil. Gott
allein - Er selbst der Existirende - wohnt im reinen
Lichte, denn er allein ist von sich selbst. Der
Eigendünkel des Menschen sträubt sich gegen diesen
Ursprung aus dem Grunde, und sucht sogar sittliche
Gründe dagegen auf. Dennoch wüßten wir nichts, das
den Menschen mehr antreiben könnte, aus allen Kräften
nach dem Lichte zu streben, als das Bewußtseyn der
tiefen Nacht, aus der er ans Daseyn gehoben worden.
Die weibischen Klagen, daß so das Verstandlose zur
Wurzel des Verstandes, die Nacht zum Anfang des
Lichtes gemacht werde, beruhen zwar zum Theil auf
Mißverstand der Sache (indem man nicht begreift, wie
mit dieser Ansicht die Priorität des Verstandes und
Wesens dem Begriff nach dennoch bestehen kann); aber
sie drücken das wahre System heutiger Philosophen aus,
die gern fumum ex fulgore machen wollten, wozu aber
selbst die gewaltsamste Fichtesche Präzipitation nicht
hinreicht. Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht;
das Samenkorn muß in die Erde versenkt werden und in
der Finsterniß sterben, damit die schönere Lichtgestalt
sich erhebe und am Sonnenstrahl sich entfalte. Der
Mensch wird im Mutterleibe gebildet; und aus dem
Dunkeln des Verstandlosen (aus Gefühl, Sehnsucht, der
herrlichen Mutter der Erkenntniß) erwachsen erst die
lichten Gedanken. So also müssen wir die ursprüngliche
Sehnsucht uns vorstellen, wie sie zwar zu dem
Verstande sich richtet, den sie noch nicht erkennt, wie
wir in der Sehnsucht nach unbekanntem namenlosem
Gut verlangen, und sich ahndend bewegt, als ein
wogend wallend Meer, der Materie des Platon gleich,
nach dunkelm ungewissem Gesetz, unvermögend etwas
Dauerndes für sich zu bilden. Aber entsprechend der
Sehnsucht, welche als der noch dunkle Grund die erste
Regung göttlichen Daseyns ist, erzeugt sich in Gott
selbst eine innere reflexive Vorstellung, durch welche,
da sie keinen andern Gegenstand haben kann als Gott,
Gott sich selbst in einem Ebenbilde erblickt. Diese
Vorstellung ist das Erste, worin Gott, absolut betrachtet,
verwirklicht ist, obgleich nur in ihm selbst, sie ist im
Anfange bei Gott, und der in Gott gezeugte Gott selbst.
Diese Vorstellung ist zugleich der Verstand - das Wort
jener Sehnsucht 14), und der ewige Geist, der das Wort
in sich und zugleich die unendliche Sehnsucht
empfindet, von der Liebe bewogen, die er selbst ist,
spricht das Wort aus, das nun der Verstand mit der
Sehnsucht zusammen freischaffender und allmächtiger
Wille wird und in der anfänglich regellosen Natur als in
seinem Element oder Werkzeuge bildet. Die erste
Wirkung des Verstandes in ihr ist die Scheidung der
Kräfte, indem er nur dadurch die in ihr unbewußt, als in
einem Samen, aber doch nothwendig enthaltene Einheit
zu entfalten vermag, so wie im Menschen in die dunkle
Sehnsucht, etwas zu schaffen, dadurch Licht tritt, daß in
dem chaotischen Gemenge der Gedanken, die alle
zusammenhängen, jeder aber den andern hindert
hervorzutreten, die Gedanken sich scheiden und nun die
im Grunde verborgen liegende, alle unter sich
befassende Einheit sich erhebt; oder wie in der Pflanze
nur im Verhältniß der Entfaltung und Ausbreitung der
Kräfte das dunkle Band der Schwere sich löst und die
im geschiedenen Stoff verborgene Einheit entwickelt
wird. Weil nämlich dieses Wesen (der anfänglichen
Natur) nichts anderes ist als der ewige Grund zur
Existenz Gottes, so muß es in sich selbst, obwohl
verschlossen, das Wesen Gottes gleichsam als einen im
Dunkel der Tiefe leuchtenden Lebensblick enthalten.
Die Sehnsucht aber, vom Verstande erregt, strebt
nunmehr, den in sich ergriffenen Lebensblick zu
erhalten, und sich in sich selbst zu verschließen, damit
immer ein Grund bleibe. Indem also der Verstand, oder
das in die anfängliche Natur gesetzte Licht, die in sich
selbst zurückstrebende Sehnsucht zur Scheidung der
Kräfte (zum Aufgeben der Dunkelheit) erregt, eben in
dieser Scheidung aber die im Geschiedenen
verschlossene Einheit, den verborgenen Lichtblick,
hervorhebt, so entsteht auf diese Art zuerst etwas
Begreifliches und Einzelnes, und zwar nicht durch
äußere Vorstellung, sondern durch wahre Ein-Bildung,
indem das Entstehende in die Natur hineingebildet wird,
oder richtiger noch, durch Erweckung, indem der
Verstand die in dem geschiedenen Grund verborgene
Einheit oder Idea hervorhebt. Die in dieser Scheidung
getrennten (aber nicht völlig auseinandergetretenen)
Kräfte sind der Stoff, woraus nachher der Leib
konfigurirt wird; das aber in der Scheidung, also aus der
Tiefe des natürlichen Grundes, als Mittelpunkt der
Kräfte entstehende lebendige Band ist die Seele. Weil
der ursprüngliche Verstand die Seele aus einem von ihm
unabhängigen Grunde als Inneres hervorhebt, so bleibt
sie eben damit selbst unabhängig von ihm, als ein
besonderes und für sich bestehendes Wesen.
Es ist leicht einzusehen, daß bei dem Widerstreben
der Sehnsucht, welches nothwendig ist zur
vollkommenen Geburt, das allerinnerste Band der
Kräfte nur in einer stufenweise geschehenden
Entfaltung sich löst, und bei jedem Grade der Scheidung
der Kräfte ein neues Wesen aus der Natur entsteht,
dessen Seele um so vollkommener seyn muß, je mehr es
das, was in den andern noch ungeschieden ist,
geschieden enthält. Zu zeigen, wie jeder folgende
Prozeß dem Wesen der Natur näher tritt, bis in der
höchsten Scheidung der Kräfte das allerinnerste
Centrum aufgeht, ist die Aufgabe einer vollständigen
Naturphilosophie. Für den gegenwärtigen Zweck ist nur
Folgendes wesentlich. Jedes der auf die angezeigte Art
in der Natur entstandenen Wesen hat ein doppeltes
Princip in sich, das jedoch im Grunde nur ein und das
nämliche ist, von den beiden möglichen Seiten
betrachtet. Das erste Princip ist das, wodurch sie von
Gott geschieden, oder wodurch sie im bloßen Grunde
sind; da aber zwischen dem, was im Grunde, und dem,
was im Verstande vorgebildet ist, doch eine
ursprüngliche Einheit stattfindet, und der Prozeß der
Schöpfung nur auf eine innere Transmutation oder
Verklärung des anfänglich dunkeln Princips in das Licht
geht (weil der Verstand oder das in die Natur gesetzte
Licht in dem Grunde eigentlich nur das ihm verwandte,
nach ihnen gekehrte Licht sucht): so ist das seiner Natur
nach dunkle Princip eben dasjenige, welches zugleich in
Licht verklärt wird, und beide sind, obwohl nur in
bestimmtem Grade, eins in jedem Naturwesen. Das
Princip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel
ist, ist der Eigenwille der Creatur, der aber, sofern er
noch nicht zur vollkommenen Einheit mit dem Licht
(als Princip des Verstandes) erhoben ist (es nicht faßt),
bloße Sucht oder Begierde, d.h. blinder Wille ist.
Diesem Eigenwillen der Creatur steht der Verstand als
Universalwille entgegen, der jenen gebraucht und als
bloßes Werkzeug sich unterordnet. Wenn aber endlich
durch fortschreitende Umwandlung und Scheidung aller
Kräfte der Innerste und tiefste Punkt der anfänglichen
Dunkelheit in einem Wesen ganz in Licht verklärt ist, so
ist der Wille desselben Wesens zwar, inwiefern es ein
Einzelnes ist, ebenfalls ein Particularwille, an sich aber,
oder als das Centrum aller andern Particularwillen, mit
dem Urwillen oder dem Verstande eins, so daß aus
beiden jetzt ein einiges Ganzes wird. Diese Erhebung
des allertiefsten Centri in Licht geschieht in keiner der
uns sichtbaren Creaturen außer im Menschen. Im
Menschen ist die ganze Macht des finstern Princips und
in ebendemselben zugleich die ganze Kraft des Lichts.
In ihm ist der tiefste Abgrund und der höchste Himmel,
oder beide Centra. Der Wille des Menschen ist der in
der ewigen Sehnsucht verborgene Keim des nur noch im
Grunde vorhandenen Gottes; der in der Tiefe
verschlossene göttliche Lebensblick, den Gott ersah, als
er den Willen zur Natur faßte. In ihm (im Menschen)
allein hat Gott die Welt geliebt; und eben dieß Ebenbild
Gottes hat die Sehnsucht im Centro ergriffen, als sie mit
dem Licht in Gegensatz trat. Der Mensch hat dadurch,
daß er aus dem Grunde entspringt (creatürlich ist), ein
relativ auf Gott unabhängiges Princip in sich; aber
dadurch, daß eben dieses Princip - ohne daß es deshalb
aufhörte dem Grunde nach dunkel zu seyn - in Licht
verklärt ist, geht zugleich ein Höheres in ihm auf, der
Geist. Denn der ewige Geist spricht die Einheit oder das
Wort aus in die Natur. Das ausgesprochene (reale) Wort
aber ist nur in der Einheit von Licht und Dunkel
(Selbstlauter und Mitlauter). Nun sind zwar in allen
Dingen die beiden Principien, aber ohne völlige
Konsonanz wegen der Mangelhaftigkeit des aus dem
Grunde Erhobenen. Erst im Menschen also wird das in
allen andern Dingen noch zurückgehaltene und
unvollständige Wort völlig ausgesprochen. Aber indem
ausgesprochenen Wort offenbart sich der Geist, d.h.
Gott als actu existirend. Indem nun die Seele lebendige
Identität beider Principien ist, ist sie Geist; und Geist ist
in Gott. Wäre nun im Geist des Menschen die Identität
beider Principien ebenso unauflöslich als in Gott, so
wäre kein Unterschied, d.h. Gott als Geist würde nicht
offenbar. Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich
ist, muß also im Menschen zertrennlich seyn, - und
dieses ist die Möglichkeit des Guten und des Bösen.
Wir sagen ausdrücklich: die Möglichkeit des Bösen,
und suchen vorerst auch nur die Zertrennlichkeit der
Principien begreiflich zu machen. Die Wirklichkeit des
Bösen ist Gegenstand einer ganz andern Untersuchung.
Das aus dem Grunde der Natur emporgehobene Princip,
wodurch der Mensch von Gott geschieden ist, ist die
Selbstheit in ihm, die aber durch ihre Einheit mit dem
idealen Princip Geist wird. Die Selbstheit als solche ist
Geist, oder der Mensch ist Geist als ein selbstisches,
besonderes (von Gott geschiedenes) Wesen, welche
Verbindung eben die Persönlichkeit ausmacht. Dadurch
aber, daß die Selbstheit Geist ist, ist sie zugleich aus
dem Creatürlichen ins Uebercreatürliche gehoben, sie
ist Wille, der sich selbst in der völligen Freiheit erblickt,
nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden
Universalwillens, sondern über und außer aller Natur
ist. Der Geist ist über dem Licht, wie er sich in der
Natur über der Einheit des Lichts und des dunkeln
Princips erhebt. Dadurch, daß sie Geist ist, ist also die
Selbstheit frei von beiden Principien. Nun ist aber diese
oder der Eigenwille nur dadurch Geist, und demnach
frei oder über der Natur, daß er wirklich in den Urwillen
(das Licht) umgewandelt ist, so daß er zwar (als
Eigenwille) im Grunde noch bleibt (weil immer ein
Grund seyn muß) - so wie im durchsichtigen Körper die
zur Identität mit dem Licht erhobene Materie deshalb
nicht aufhört Materie (finsteres Princip) zu seyn - aber
bloß als Träger und gleichsam Behälter des höheren
Princips des Lichts. Dadurch aber, daß sie den Geist hat
(weil dieser über Licht und Finsterniß herrscht) - wenn
er nämlich nicht der Geist der ewigen Liebe ist - kann
die Selbstheit sich trennen von dem Licht, oder der
Eigenwille kann streben, das, was er nur in der Identität
mit dem Universalwillen ist, als Particularwille zu seyn,
das, was er nur ist, inwiefern er im Centro bleibt (so wie
der ruhige Wille im stillen Grunde der Natur eben
darum auch Universalwille ist, weil er im Grunde
bleibt), auch in der Peripherie oder als Geschöpf zu seyn
(denn der Wille der Creaturen ist freilich außer dem
Grunde; aber er ist dann auch bloßer Particularwille,
nicht frei, sondern gebunden). Dadurch also entsteht im
Willen des Menschen eine Trennung der geistig
gewordenen Selbstheit (da der Geist über dem Lichte
steht) von dem Licht, d.h. eine Auflösung der in Gott
unauflöslichen Principien. Wenn im Gegentheil der
Eigenwille des Menschen als Centralwille im Grunde
bleibt, so daß das göttliche Verhältniß der Principien
besteht (wie nämlich der Wille im Centro der Natur nie
über das Licht sich erhebt, sondern unter demselben als
Basis im Grunde bleibt), und wenn statt des Geistes der
Zwietracht, der das eigne Princip vom allgemeinen
scheiden will, der Geist der Liebe in ihm waltet, so ist
der Wille in göttlicher Art und Ordnung. - Daß aber
eben jene Erhebung des Eigenwillens das Böse ist,
erhellt aus Folgendem. Der Wille, der aus seiner
Uebernatürlichkeit heraustritt, um sich als allgemeinen
Willen zugleich particular und creatürlich zu machen,
strebt das Verhältniß der Principien umzukehren, den
Grund über die Ursache zu erheben, den Geist, den er
nur für das Centrum erhalten, außer demselben und
gegen die Creatur zu gebrauchen, woraus Zerrüttung in
ihm selbst und außer ihm erfolgt. Der Wille des
Menschen ist anzusehen als ein Band von lebendigen
Kräften; solange nun er selbst in seiner Einheit mit dem
Universalwillen bleibt, so bestehen auch jene Kräfte in
göttlichem Maß und Gleichgewicht. Kaum aber ist der
Eigenwille selbst aus dem Centro als seiner Stelle
gewichen, so ist auch das Band der Kräfte gewichen;
statt desselben herrscht ein bloßer Particularwille, der
die Kräfte nicht mehr unter sich, wie der ursprüngliche,
vereinigen kann, und der daher streben muß, aus den
voneinander gewichenen Kräften, dem empörten Heer
der Begierden und Lüste (indem jede einzelne Kraft
auch eine Sucht und Lust ist) ein eignes und
absonderliches
Leben
zu
formiren
oder
zusammenzusetzen, welches insofern möglich ist, als
selbst im Bösen das erste Band der Kräfte, der Grund
der Natur, immer noch fortbesteht. Da es aber doch kein
wahres Leben seyn kann, als welches nur in dem
ursprünglichen Verhältniß bestehen konnte, so entsteht
zwar ein eignes, aber ein falsches Leben, ein Leben der
Lüge, ein Gewächs der Unruhe und der Verderbniß. Das
treffendste Gleichniß bietet hier die Krankheit dar,
welche als die durch den Mißbrauch der Freiheit in die
Natur gekommene Unordnung das wahre Gegenbild des
Bösen oder der Sünde ist. Universalkrankheit ist nie,
ohne daß die verborgenen Kräfte des Grundes sich
aufthun: sie entsteht, wenn das irritable Princip, das in
der Stille der Tiefe als das innerste Band der Kräfte
walten sollte, sich selbst aktuirt, oder der aufgereizte
Archäus seine ruhige Wohnung im Centro verläßt und
in den Umkreis tritt. So wie dagegen alle ursprüngliche
Heilung in der Wiederherstellung des Verhältnisses der
Peripherie zum Centro besteht, und der Uebergang von
Krankheit zur Gesundheit eigentlich nur durch das
Entgegengesetzte, nämlich Wiederaufnahme des
getrennten und einzelnen Lebens in den innern
Lichtblick des Wesens, geschehen kann, aus welcher die
Scheidung (Krisis) wieder erfolgt. Auch die
Particularkrankheit entsteht nur dadurch, daß das, was
seine Freiheit oder sein Leben nur dafür hat, daß es im
Ganzen bleibe, für sich zu seyn strebt. Wie die
Krankheit freilich nichts Wesenhaftes und eigentlich nur
ein Scheinbild des Lebens und bloß meteorische
Erscheinung desselben - ein Schwanken zwischen Seyn
und Nichtseyn - ist, nichtsdestoweniger aber dem
Gefühl sich als etwas sehr Reelles ankündigt, ebenso
verhält es sich mit dem Bösen.
Diesen allein richtigen Begriff des Bösen, nach
welchem es auf einer positiven Verkehrtheit oder
Umkehrung der Principien beruht, hat in neueren Zeiten
besonders Franz Baader wieder hervorgehoben und
durch tiefsinnige physische Analogien, namentlich die
der Krankheit, erläutert 15). Alle andern Erklärungen
des Bösen lassen den Verstand und das sittliche
Bewußtseyn gleich unbefriedigt. Sie beruhen im Grunde
sämtlich auf der Vernichtung des Bösen als positiven
Gegensatzes und der Reduktion desselben auf das
sogenannte
malum
metaphysicum
oder
dem
verneinenden Begriff der Unvollkommenheit der
Creatur. Es war unmöglich, sagt Leibniz, daß Gott dem
Menschen alle Vollkommenheit mittheilte, ohne ihn
selbst zum Gott zu machen; das Nämliche gilt von den
geschaffenen Wesen überhaupt; es mußten darum
verschiedene Grade der Vollkommenheit und alle Arten
der Einschränkung derselben stattfinden. Fragt man,
woher das Böse kommt, so ist die Antwort: aus der
idealen Natur der Creatur, sofern sie von den ewigen
Wahrheiten, die im göttlichen Verstande enthalten sind,
nicht aber von dem Willen Gottes abhängt. Die Region
der ewigen Wahrheiten ist die ideelle Ursache des
Bösen und Guten, und muß an die Stelle der Materie der
Alten gesetzt werden 16). Es gibt, sagt er an einer
andern Stelle, allerdings zwei Principien, aber beide in
Gott, diese sind der Verstand und der Wille. Der
Verstand gibt das Princip des Bösen her, ob er schon
dadurch nicht selbst böse wird; denn er stellt die
Naturen so vor, wie sie nach den ewigen Wahrheiten
sind; er enthält in sich den Grund der Zulassung des
Bösen, aber der Wille geht allein auf das Gute 17).
Diese einzige Möglichkeit hat Gott nicht gemacht, da
der Verstand nicht seine eigne Ursache ist 18). Wenn
diese Unterscheidung des Verstandes und Willens als
zweier Principien in Gott, wodurch die erste
Möglichkeit des Bösen vom göttlichen Willen
unabhängig gemacht wird, der sinnreichen Art dieses
Mannes gemäß ist, und wenn auch die Vorstellung des
Verstandes (der göttlichen Weisheit) als etwas, worin
sich Gott selbst eher leidend als thätig verhält, auf etwas
Tieferes hindeutet, so läuft das Böse, was aus jenem
lediglich idealen Grunde abstammen kann, dagegen
auch wieder auf etwas bloß Passives, auf
Einschränkung, Mangel, Beraubung hinaus, Begriffe,
die der eigentlichen Natur des Bösen völlig
widerstreiten. Denn schon die einfache Ueberlegung,
daß es der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren
Creaturen ist, der des Bösen allein fähig ist, zeigt, daß
der Grund desselben keineswegs in Mangel oder
Beraubung liegen könne. Der Teufel nach der
christlichen Ansicht war nicht die limitirteste Creatur,
sondern
vielmehr
die
illimitirteste
19).
Unvollkommenheiten im allgemeinen metaphysischen
Sinn ist nicht der gewöhnliche Charakter des Bösen, da
es sich oft mit einer Vortrefflichkeit der einzelnen
Kräfte vereinigt zeigt, die viel seltener das Gute
begleitet. Der Grund des Bösen muß also nicht nur in
etwas Positivem überhaupt, sondern eher in dem
höchsten Positiven liegen, das die Natur enthält, wie es
nach unserer Ansicht allerdings der Fall ist, da er in dem
offenbar gewordenen Centrum oder Urwillen des ersten
Grundes liegt. Leibniz versucht auf jede Weise
begreiflich zu machen, wie aus einem natürlichen
Mangel das Böse entstehen könne. Der Wille, sagt er,
strebt nach dem Guten im Allgemeinen und muß nach
Vollkommenheit verlangen, deren höchstes Maß in Gott
ist; wenn er aber in den Wollüsten der Sinne mit Verlust
höherer Güter verstrickt bleibt, so ist eben dieser
Mangel des Weiterstrebens die Privation, in welcher das
Böse besteht. Sonst, meint er, das Böse bedürfe so
wenig eines besonderen Princips als die Kälte oder
Finsterniß. Was im Bösen Bejahendes sey, komme nur
begleitungsweise in dasselbe, wie Kraft und
Wirksamkeit in die Kälte; frierendes Wasser zersprenge
das stärkste einschließende Gefäß und doch bestehe
Kälte eigentlich in einer Verminderung von Bewegung
20). Weil indes die Beraubung für sich gar nichts ist,
und, selbst um bemerklich zu werden, eines Positiven
bedarf, an dem sie erscheint, so entsteht nun die
Schwierigkeit, das Positive zu erklären, welches
dennoch im Bösen angenommen werden muß. Da
Leibniz dasselbe nur von Gott herleiten kann, so sieht er
sich genötigt, Gott zur Ursache des Materialen der
Sünde zu machen, und nur das Formelle derselben der
ursprünglichen
Einschränkung
der
Creatur
zuzuschreiben. Er sucht dieß Verhältniß durch den von
Kepler
gefundenen
Begriff
der
natürlichen
Trägheitskraft der Materie zu erläutern. Es sey diese,
sagt er, das vollkommene Bild einer ursprünglichen
(allem Handeln vorangehenden) Einschränkung der
Creatur. Wenn durch den nämlichen Antrieb zwei
verschiedene Körper von ungleicher Masse mit
ungleichen Geschwindigkeiten bewegt werden, so liegt
der Grund der Langsamkeit der Bewegung des einen
nicht in dem Antrieb, sondern in dem der Materie
angeborenen und eigentümlichen Hang zur Trägheit,
d.h. in der innern Limitation oder Unvollkommenheit
der Materie 21). Hierbei ist aber zu bemerken, daß die
Trägheit selbst als keine bloße Beraubung gedacht
werden kann, sondern allerdings etwas Positives ist,
nämlich Ausdruck der innern Selbstheit des Körpers,
der Kraft, wodurch er sich in der Selbständigkeit zu
behaupten sucht. Wir leugnen nicht, daß auf diese Art
die metaphysische Endlichkeit sich begreiflich machen
lasse; aber wir leugnen, daß die Endlichkeit für sich
selbst das Böse sey 22).
Es entspringt diese Erklärungsart überhaupt aus dem
unlebendigen Begriff des Positiven, nach welchem ihm
nur die Beraubung entgegenstehen kann. Allein es gibt
noch einen mittleren Begriff, der einen reellen
Gegensatz desselben bildet und von dem Begriff des
bloß Verneinten weit absteht. Dieser entspringt aus dem
Verhältniß des Ganzen zum Einzelnen, der Einheit zur
Vielheit, oder wie man es ausdrücken will. Das Positive
ist immer das Ganze oder die Einheit; das ihm
Entgegenstehende ist Zertrennung des Ganzen,
Disharmonie, Ataxie, der Kräfte. In dem zertrennten
Ganzen sind die nämlichen Elemente, die in dem
einigen Ganzen waren; das Materiale in beiden ist
dasselbe (von dieser Seite ist das Böse nicht limitirter
oder schlechter als das Gute), aber das Formale in
beiden ist ganz verschieden, dieses Formale aber kommt
eben von dem Wesen oder Positiven selber her. Daher
nothwendig im Bösen, wie im Guten, ein Wesen seyn
muß, aber in jenem ein dem Guten entgegengesetztes,
das die in ihm enthaltene Temperatur in Distemperatur
verkehrt. Dieses Wesen zu erkennen, ist der
dogmatischen Philosophie unmöglich, weil sie keinen
Begriff der Persönlichkeit, d.h. der zur Geistigkeit
erhobenen Selbstheit, sondern nur die abgezogenen
Begriffe des Endlichen und des Unendlichen hat. Wollte
daher jemand erwidern, daß ja eben die Disharmonie
eine Privation sey, nämlich eine Beraubung der Einheit,
so wäre, wenn selbst im allgemeinen Begriff der
Beraubung der von Aufhebung oder Trennung der
Einheit enthalten wäre, der Begriff dennoch an sich
ungenügend. Denn es ist nicht die Trennung der Kräfte
an sich Disharmonie, sondern die falsche Einheit
derselben, die nur beziehungsweise auf die wahre eine
Trennung heißen kann. Wird die Einheit ganz
aufgehoben, so wird eben damit der Widerstreit
aufgehoben. Krankheit wird durch den Tod geendigt,
und kein einzelner Ton für sich macht eine Disharmonie
aus. Aber eben jene falsche Einheit zu erklären, bedarf
es etwas Positives, welches sonach im Bösen
nothwendig angenommen werden muß, aber so lange
unerklärbar bleiben wird, als nicht eine Wurzel der
Freiheit in dem unabhängigen Grunde der Natur erkannt
ist.
Von der Platonischen Ansicht, soweit wir sie
beurtheilen können, wird besser bei der Frage der
Wirklichkeit des Bösen die Rede seyn. Die
Vorstellungen unseres über diesen Punkt bei weitem
leichteren und den Philanthropismus bis zur Leugnung
des Bösen treibenden Zeitalters stehen mit solchen
Ideen nicht in der entferntesten Verbindung. Jenen
zufolge liegt der einzige Grund des Bösen in der
Sinnlichkeit, oder in der Animalität, oder dem irdischen
Princip, indem sie dem Himmel nicht, wie sich
gebührte, die Hölle, sondern die Erde entgegensetzen.
Diese Vorstellung ist eine natürliche Folge der Lehre,
nach welcher die Freiheit in der bloßen Herrschaft des
intelligenten Princips über die sinnlichen Begierden und
Neigungen besteht, und das Gute aus reiner Vernunft
kommt, wonach es begreiflicherweise für das Böse
keine Freiheit gibt (indem hier die sinnlichen
Neigungen vorherrschen); richtiger zu reden aber das
Böse völlig aufgehoben wird. Denn die Schwäche oder
Nichtwirksamkeit des verständigen Princips kann zwar
ein Grund des Mangels guter und tugendhafter
Handlungen seyn, nicht aber ein Grund positiv-böser
und tugendwidriger. Gesetzt aber, die Sinnlichkeit oder
das leidende Verhalten gegen äußere Eindrücke brächte
mit einer Art von Nothwendigkeit böse Handlungen
hervor, so wäre der Mensch in diesen doch selbst nur
leidend, d.h. das Böse hätte in Ansehung seiner, also
subjektiv, keine Bedeutung, und da das, was aus einer
Bestimmung der Natur folgt, objektiv auch nicht böse
seyn kann, hätte es überhaupt keine Bedeutung. Daß
aber gesagt wird, das vernünftige Princip sey im Bösen
unwirksam, ist auch an sich kein Grund. Denn warum
übt es denn seine Macht nicht aus? Will es unwirksam
seyn, so liegt der Grund des Bösen in diesem Willen,
und nicht in der Sinnlichkeit. Oder kann es die
widerstrebende Macht der letzten auf keine Art
überwinden, so ist hier bloß Schwäche und Mangel,
aber nirgends ein Böses. Es gibt daher nach dieser
Erklärung nur Einen Willen (wenn er anders so heißen
kann), keinen zweifachen, und man könnte in dieser
Hinsicht die Anhänger derselben, nachdem bereits die
Namen der Arianer u. a. mit Glück in die
philosophische Kritik eingeführt sind, mit einem
ebenfalls aus der Kirchengeschichte, jedoch in einem
andern Sinne genommenen, Namen die Monotheleten
nennen. Wie es aber keineswegs das intelligente oder
Lichtprinzip an sich, sondern das mit Selbstheit
verbundene, d.h. zu Geist erhobene, ist, was im Guten
wirkt, ebenso folgt das Böse nicht aus dem Princip der
Endlichkeit für sich, sondern aus dem zur Intimität mit
dem Centro gebrachten finstern oder selbstischen
Princip; und wie es einen Enthusiasmus zum Guten gibt,
ebenso gibt es eine Begeisterung des Bösen. Im Thier,
wie in jedem andern Naturwesen, ist zwar auch jenes
dunkle Princip wirksam; aber es ist in ihm noch nicht
ins Licht geboren, wie im Menschen, es ist nicht Geist
und Verstand, sondern blinde Sucht und Begierde; kurz,
es ist hier kein Abfall möglich, keine Trennung der
Principien, wo noch keine absolute oder persönliche
Einheit ist. Bewußtloses und Bewußtes sind im
thierischen Instinkt nur auf eine gewisse und bestimmte
Weise vereinigt, die eben darum inalterabel ist. Denn
gerade deshalb, weil sie nur relative Ausdrücke der
Einheit sind, stehen sie unter dieser, und es erhält die im
Grunde wirkende Kraft die ihnen zukommende Einheit
der Principien in immer gleichem Verhältniß. Nie kann
das Thier aus der Einheit heraustreten, anstatt daß der
Mensch das ewige Band der Kräfte willkürlich
zerreißen kann. Daher Fr. Baader mit Recht sagt, es
wäre zu wünschen, daß die Verderbtheit im Menschen
nur bis zur Thierwerdung ginge; leider aber könne der
Mensch nur unter oder über dem Thiere stehen 23).
Wir haben den Begriff und die Möglichkeit des
Bösen aus den ersten Gründen herzuleiten und das
allgemeine Fundament dieser Lehre aufzudecken
gesucht, das in der Unterscheidung liegt zwischen dem
Existirenden und dem, was Grund von Existenz ist 24).
Aber die Möglichkeit schließt noch nicht die
Wirklichkeit ein, und diese eigentlich ist der größte
Gegenstand der Frage. Und zwar ist zu erklären nicht
etwa, wie das Böse nur im einzelnen Menschen wirklich
werde, sondern seine universelle Wirksamkeit, oder wie
es als ein unverkennbar allgemeines, mit dem Guten
überall im Kampf liegendes Princip aus der Schöpfung
habe hervorbrechen können. Da es unleugbar,
wenigstens als allgemeiner Gegensatz, wirklich ist, so
kann zwar zum voraus kein Zweifel seyn, daß es zur
Offenbarung Gottes nothwendig gewesen; eben dieses
ergibt sich auch aus dem früher Gesagten. Denn wenn
Gott als Geist die unzertrennliche Einheit beider
Principien ist, und dieselbe Einheit nur im Geist des
Menschen wirklich ist, so würde, wenn sie in diesem
ebenso unauflöslich wäre als in Gott, der Mensch von
Gott gar nicht unterschieden seyn; er ginge in Gott auf,
und es wäre keine Offenbarung und Beweglichkeit der
Liebe. Denn jedes Wesen kann nur in seinem
Gegentheil offenbar werden, Liebe nur in Haß, Einheit
in Streit. Wäre keine Zertrennung der Principien, so
könnte die Einheit ihre Allmacht nicht erweisen; wäre
nicht Zwietracht, so könnte die Liebe nicht wirklich
werden. Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er
die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen
gleicherweise in sich hat: das Band der Principien in
ihm ist kein nothwendiges, sondern ein freies. Er steht
am Scheidepunkt; was er auch wähle, es wird seine That
seyn, aber er kann nicht in der Unentschiedenheit
bleiben, weil Gott nothwendig sich offenbaren muß, und
weil in der Schöpfung überhaupt nichts Zweideutiges
bleiben kann. Dennoch scheint es, er könne auch nicht
aus seiner Unentschiedenheit heraustreten, eben weil sie
dieß ist. Es muß daher ein allgemeiner Grund der
Sollizitation, der Versuchung zum Bösen seyn, wäre es
auch nur, um die beiden Principien in ihm lebendig, d.h.
um ihn ihrer bewußt zu machen. Nun scheint die
Sollizitation zum Bösen selbst nur von einem bösen
Grundwesen herkommen zu können, und die Annahme
eines solchen dennoch unvermeidlich, auch ganz richtig
jene Auslegung der Platonischen Materie zu seyn, nach
welcher sie ein ursprünglich Gott widerstrebendes und
darum an sich böses Wesen ist. Solange dieser Theil der
Platonischen Lehre im bisherigen Dunkel liegt 25), ist
ein bestimmtes Urtheil über den angegebenen Punkt
zwar unmöglich. In welchem Sinne jedoch von dem
irrationalen Princip gesagt werden könne, daß es dem
Verstande oder der Einheit und Ordnung widerstrebe,
ohne es deswegen als böses Grundwesen anzunehmen,
ist aus den früheren Betrachtungen einleuchtend. So läßt
sich auch das Platonische Wort wohl erklären, das Böse
komme aus der alten Natur; denn alles Böse strebt in
das Chaos, d.h. in jenen Zustand zurück, wo das
anfängliche Centrum noch nicht dem Licht
untergeordnet war, und ist ein Aufwallen des Centri der
noch verstandlosen Sehnsucht. Allein wir haben ein für
allemal bewiesen, daß das Böse, als solches, nur in der
Creatur entspringen könne, indem nur in dieser Licht
und Finsterniß oder die beiden Principien auf
zertrennliche Weise vereinigt seyn können. Das
anfängliche Grundwesen kann nie an sich böse seyn, da
in ihm keine Zweiheit der Principien ist. Wir können
aber auch nicht etwa einen geschaffenen Geist
voraussetzen, der, selbst abgefallen, den Menschen zum
Abfall sollizitirte; denn eben wie zuerst das Böse in
einer Creatur entsprungen, ist hier die Frage. Es ist uns
daher auch zur Erklärung des Bösen nichts gegeben
außer den beiden Principien in Gott. Gott als Geist (das
ewige Band beider) ist die reinste Liebe, in der Liebe
aber kann nie ein Willen zum Bösen seyn: ebensowenig
auch in dem idealen Princip. Aber Gott selbst, damit er
seyn kann, bedarf eines Grundes, nur daß dieser nicht
außer ihm, sondern in ihm ist, und hat in sich eine
Natur, die, obgleich zu ihm selbst gehörig, doch von
ihm verschieden ist. Der Wille der Liebe und der Wille
des Grundes sind zwei verschiedene Willen, deren jeder
für sich ist; aber der Wille der Liebe kann dem Willen
des Grundes nicht widerstehen, noch ihn aufheben, weil
er sonst sich selbst widerstreben müßte. Denn der Grund
muß wirken, damit die Liebe seyn könne, und er muß
unabhängig von ihr wirken, damit sie reell existire.
Wollte nun die Liebe den Willen des Grundes
zerbrechen, so würde sie gegen sich selbst streiten, mit
sich selbst uneins seyn, und wäre nicht mehr die Liebe.
Dieses Wirkenlassen des Grundes ist der einzig
denkbare Begriff der Zulassung, welcher in der
gewöhnlichen Beziehung auf den Menschen völlig
unstatthaft ist. So kann freilich der Wille des Grundes
auch die Liebe nicht zerbrechen, noch verlangt er
dieses, ob es gleich oft so scheint; denn er muß, von der
Liebe abgewandt, ein eigner und besonderer Wille seyn,
damit nun die Liebe, wenn sie dennoch durch ihn wie
das Licht durch die Finsterniß hindurchbricht, in ihrer
Allmacht erscheine. Der Grund ist nur ein Willen zur
Offenbarung, aber eben, damit diese sey, muß er die
Eigenheit und den Gegensatz hervorrufen. Der Wille der
Liebe und der des Grundes werden also gerade dadurch
eins, daß sie geschieden sind, und vor Anbeginn jeder
für sich wirkt. Daher der Wille des Grundes gleich in
der ersten Schöpfung den Eigenwillen der Creatur mit
erregt, damit, wenn nun der Geist als der Wille der
Liebe aufgeht, dieser ein Widerstrebendes finde, darin
er sich verwirklichen könne.
Der Anblick der ganzen Natur überzeugt uns von
dieser geschehenen Erregung, durch welche alles Leben
erst den letzten Grad der Schärfe und der Bestimmtheit
erlangt hat. Das Irrationale und Zufällige, das in der
Formation der Wesen, besonders der organischen, mit
dem Nothwendigen sich verbunden zeigt, beweist, daß
es nicht bloß eine geometrische Nothwendigkeit ist, die
hier gewirkt hat, sondern daß Freiheit, Geist und
Eigenwille mit im Spiel waren. Zwar überall, wo Lust
und Begierde, ist schon an sich eine Art der Freiheit,
und niemand wird glauben, daß die Begierde, die den
Grund jedes besondern Naturlebens ausmacht, und der
Trieb, sich nicht nur überhaupt, sondern in diesem
bestimmten Daseyn zu erhalten, zu dem schon
erschaffenen Geschöpf erst hinzugekommen sey,
sondern vielmehr, daß sie das Schaffende selber
gewesen. Auch der durch Empirie aufgefundene Begriff
der Basis, der eine bedeutende Rolle für die ganze
Naturwissenschaft
übernehmen
wird,
muß,
wissenschaftlich gewürdigt, auf den Begriff der
Selbstheit und Ichheit führen. Aber es sind in der Natur
zufällige Bestimmungen, die nur aus einer gleich in der
ersten Schöpfung geschehenen Erregung des
irrationalen oder finstern Princips der Creatur - nur aus
aktivirter Selbstheit erklärlich sind. Woher in der Natur,
neben den präformirten sittlichen Verhältnissen,
unverkennbare Vorzeichen des Bösen, wenn doch die
Macht desselben erst durch den Menschen erregt
worden; woher Erscheinungen, die auch ohne Rücksicht
auf ihre Gefährlichkeit für den Menschen dennoch einen
allgemeinen Abscheu erregen. 26) Daß alle organischen
Wesen der Auflösung entgegengehen, kann durchaus als
keine ursprüngliche Nothwendigkeit erscheinen; das
Band der Kräfte, welche das Leben ausmachen, könnte
seiner Natur nach ebensowohl unauflöslich seyn, und
wenn irgend etwas, scheint ein Geschöpf, welches das
fehlerhaft Gewordene in sich durch eigne Kräfte wieder
ergänzt, dazu bestimmt, ein Perpetuum mobile zu seyn.
Das Böse inzwischen kündigt sich in der Natur nur
durch seine Wirkung an; es selbst, in seiner
unmittelbaren Erscheinung, kann erst am Ziel der Natur
hervorbrechen. Denn wie in der anfänglichen
Schöpfung, welche nichts anderes als die Geburt des
Lichts ist, das finstere Princip als Grund seyn mußte,
damit das Licht aus ihm (als aus der bloßen Potenz zum
Aktus) erhoben werden könnte: so muß ein anderer
Grund der Geburt des Geistes, und daher ein zweites
Princip der Finsterniß seyn, das um so viel höher seyn
muß, als der Geist höher ist denn das Licht. Dieses
Princip ist eben der in der Schöpfung durch Erregung
des finstern Naturgrundes erweckte Geist des Bösen,
d.h. der Entzweiung von Licht und Finsterniß, welchem
der Geist der Liebe, wie vormals der regellosen
Bewegung der anfänglichen Natur das Licht, so jetzt ein
höheres Ideales entgegensetzt. Denn wie die Selbstheit
im Bösen das Licht oder Wort sich eigen gemacht hat,
und darum eben als ein höherer Grund der Finsterniß
erscheint: so muß das im Gegensatz mit dem Bösen in
die Welt gesprochene Wort die Menschheit oder
Selbstheit annehmen, und selber persönlich werden.
Dieß geschieht allein durch die Offenbarung, im
bestimmtesten Sinne des Worts, welche die nämlichen
Stufen haben muß wie die erste Manifestation in der
Natur, so nämlich, daß auch hier der höchste Gipfel der
Offenbarung, der Mensch, aber der urbildliche und
göttliche Mensch ist, derjenige, der im Anfang bei Gott
war, und in dem alle anderen Dinge und der Mensch
selbst geschaffen sind. Die Geburt des Geistes ist das
Reich der Geschichte, wie die Geburt des Lichtes das
Reich der Natur ist. Dieselben Perioden der Schöpfung,
die in diesem sind, sind auch in jenem; und eines ist des
anderen Gleichniß und Erklärung. Das nämliche
Princip, das in der ersten Schöpfung der Grund war, nur
in einer höheren Gestalt, ist auch hier wieder Keim und
Samen, aus dem eine höhere Welt entwickelt wird.
Denn das Böse ist ja nichts anderes als der Urgrund zur
Existenz, inwiefern er im erschaffenen Wesen zur
Aktualisirung strebt, und also in der That nur die höhere
Potenz des in der Natur wirkenden Grundes. Wie aber
dieser ewig nur Grund ist, ohne selbst zu seyn, ebenso
kann das Böse nie zur Verwirklichung gelangen, und
dient bloß als Grund, damit aus ihm das Gute durch
eigne Kraft sich herausbildend, ein durch seinen Grund
von Gott Unabhängiges und Geschiedenes sey, in dem
dieser sich selbst habe und erkenne, und das als ein
solches (als ein Unabhängiges) in ihm sey. Wie aber die
ungetheilte Macht des anfänglichen Grundes erst im
Menschen als Inneres (Basis oder Centrum) eines
Einzelnen erkannt wird, so bleibt auch in der Geschichte
das Böse anfangs noch im Grunde verborgen, und dem
Zeitalter der Schuld und Sünde geht eine Zeit der
Unschuld oder der Bewußtlosigkeit über die Sünde
voran. Auf dieselbe Art nämlich, wie der anfängliche
Grund der Natur vielleicht lange zuvor allein wirkte und
mit den göttlichen in ihm enthaltenen Kräften eine
Schöpfung für sich versuchte, die aber immer wieder
(weil das Band der Liebe fehlte) zuletzt in das Chaos
zurücksank (wohin vielleicht die vor der jetzigen
Schöpfung
untergegangenen
und
nicht
wiedergekommenen Reihen von Geschlechtern deuten),
bis das Wort der Liebe erging, und mit ihm die
dauernde Schöpfung ihren Anfang nahm: so hat sich
auch in der Geschichte der Geist der Liebe nicht alsbald
geoffenbaret; sondern weil Gott den Willen des Grundes
als den Willen zu seiner Offenbarung empfand, und
nach seiner Fürsehung erkannte, daß ein von ihm (als
Geist) unabhängiger Grund zu seiner Existenz seyn
müsse, ließ er den Grund in seiner Independenz wirken,
oder, anders zu reden, Er selbst bewegte sich nur nach
seiner Natur und nicht nach seinem Herzen oder der
Liebe. Weil nun der Grund auch in sich das ganze
göttliche Wesen, nur nicht als Einheit, enthielt, so
konnten es nur einzelne göttliche Wesen seyn, die in
diesem für-sich-Wirken des Grundes walteten. Diese
uralte Zeit fängt daher mit dem goldnen Weltalter an,
von welchem dem jetzigen Menschengeschlecht nur in
der Sage die schwache Erinnerung geblieben, einer Zeit
seliger Unentschiedenheit, wo weder Gutes noch Böses
war; dann folgte die Zeit der waltenden Götter und
Heroen, oder der Allmacht der Natur, in welcher der
Grund zeigte, was er für sich vermöchte. Damals kam
den Menschen Verstand und Weisheit allein aus der
Tiefe; die Macht erdentquollener Orakel leitete und
bildete ihr Leben; alle göttlichen Kräfte des Grundes
herrschten auf der Erde und saßen als mächtige Fürsten
auf sichern Thronen. Es erschien die Zeit der höchsten
Verherrlichung der Natur in der sichtbaren Schönheit
der Götter und allem Glanz der Kunst und sinnreicher
Wissenschaft, bis das im Grunde wirkende Princip
endlich als welteroberndes Princip hervortrat, sich alles
zu unterwerfen und ein festes und dauerndes Weltreich
zu gründen. Weil aber das Wesen des Grundes für sich
nie die wahre und vollkommene Einheit erzeugen kann,
so kommt die Zeit, wo alle diese Herrlichkeit sich
auflöst, und wie durch schreckliche Krankheit der
schöne Leib der bisherigen Welt zerfällt, endlich das
Chaos wieder eintritt. Schon zuvor, und ehe noch der
gänzliche Zerfall da ist, nehmen die in jenem Ganzen
waltenden Mächte die Natur böser Geister an, wie die
nämlichen Kräfte, die zur Zeit der Gesundheit
wohlthätige Schutzgeister des Lebens waren, bei
herannahender Auflösung bösartiger und giftiger Natur
werden: der Glaube an Götter verschwindet, und eine
falsche Magie sammt Beschwörungen und theurgischen
Formeln strebt die entfliehenden zurückzurufen, die
bösen Geister zu besänftigen. Immer bestimmter zeigt
sich das Anziehen des Grundes, der, das kommende
Licht vorempfindend, schon zum voraus alle Kräfte aus
der Unentschiedenheit setzt, um ihm in vollem
Widerstreit zu begegnen. Wie das Gewitter mittelbar
durch die Sonne, unmittelbar aber durch eine
gegenwirkende Kraft der Erde erregt wird, so der Geist
des Bösen (dessen meteorische Natur wir schon früher
erklärt haben) durch die Annäherung des Guten, nicht
vermöge einer Mittheilung, sondern vielmehr durch
Vertheilung der Kräfte. Daher erst mit der
entschiedenen Hervortretung des Guten auch das Böse
ganz entschieden und als dieses hervortritt (nicht als
entstünde es erst, sondern weil nun erst der Gegensatz
gegeben ist in dem es allein ganz und als solches
erscheinen kann); wie hinwiederum eben der Moment,
wo die Erde zum zweitenmal wüst und leer wird, der
Moment der Geburt des höheren Lichts des Geistes
wird, das von Anbeginn in der Welt war, aber
unbegriffen von der für sich wirkenden Finsterniß und
in annoch verschlossener und eingeschränkter
Offenbarung; und zwar erscheint es, um dem
persönlichen und geistigen Bösen entgegenzutreten,
ebenfalls in persönlicher, menschlicher Gestalt und als
Mittler, um den Rapport der Schöpfung mit Gott auf der
höchsten Stufe wiederherzustellen. Denn nur
Persönliches kann Persönliches heilen, und Gott muß
Mensch werden, damit der Mensch wieder zu Gott
komme. Mit der hergestellten Beziehung des Grundes
auf Gott ist erst die Möglichkeit der Heilung (des Heils)
wiedergegeben. Ihr Anfang ist ein Zustand des
Hellsehens, der durch göttliches Verhängniß auf
einzelne Menschen (als hierzu auserwählte Organe)
fällt, eine Zeit der Zeichen und Wunder, in welcher
göttliche
Kräfte
den
überall
hervortretenden
dämonischen, die besänftigende Einheit der Vertheilung
der Kräfte entgegenwirkt. Endlich erfolgte die Krisis in
der Turba gentium, die den Grund der alten Welt
überströmen, wie einst die Wasser des Anfangs die
Schöpfungen der Urzeit wieder bedeckten, um eine
zweite Schöpfung möglich zu machen - eine neue
Scheidung der Völker und Zungen, ein neues Reich, in
welchem das lebendige Wort als ein festes und
beständiges Centrum im Kampf gegen das Chaos
eintritt, und ein erklärter, bis zum Ende der jetzigen Zeit
fortdauernder Streit des Guten und des Bösen anfängt,
in welchem eben Gott als Geist, d.h. als actu wirklich
sich offenbart 27).
Es gibt daher ein allgemeines, wenn gleich nicht
anfängliches, sondern erst in der Offenbarung Gottes
von Anfang, durch Reaktion des Grundes, erwecktes
Böses, das zwar nie zur Verwirklichung kommt, aber
beständig dahin strebt. Erst nach Erkenntniß des
allgemeinen Bösen ist es möglich, Gutes und Böses
auch im Menschen zu begreifen. Wenn nämlich bereits
in der ersten Schöpfung das Böse mit erregt und durch
das für-sich-Wirken des Grundes endlich zum
allgemeinen Princip entwickelt worden, so scheint ein
natürlicher Hang des Menschen zum Bösen schon
dadurch erklärbar, weil die einmal durch Erweckung des
Eigenwillens in der Creatur eingetretene Unordnung der
Kräfte ihm schon in der Geburt sich mittheilt. Allein es
wirkt der Grund auch im einzelnen Menschen
unablässig fort und erregt die Eigenheit und den
besonderen Willen, eben damit im Gegensatz mit ihm
der Wille der Liebe aufgehen könne. Gottes Wille ist,
alles zu universalisiren, zur Einheit mit dem Licht zu
erheben, oder darin zu erhalten; der Wille des Grundes
aber, alles zu particularisiren oder creatürlich zu
machen. Er will die Ungleichheit allein, damit die
Gleichheit sich und ihm selbst empfindlich werde.
Darum reagirt er nothwendig gegen die Freiheit als das
Uebercreatürliche und erweckt in ihr die Lust zum
Creatürlichen, wie den, welchen auf einem hohen und
jähen Gipfel Schwindel erfaßt, gleichsam eine geheime
Stimme zu rufen scheint, daß er herabstürze, oder wie
nach der alten Fabel unwiderstehlicher Sirenengesang
aus der Tiefe erschallt, um den Hindurchschiffenden in
den Strudel hinabzuziehen. Schon an sich scheint die
Verbindung des allgemeinen Willens mit einem
besondern Willen im Menschen ein Widerspruch,
dessen Vereinigung schwer, wenn nicht unmöglich ist.
Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus
dem Centrum, in das er erschaffen worden; denn dieses
als das lauterste Wesen alles Willens ist für jeden
besondern Willen verzehrendes Feuer; um in ihm leben
zu können, muß der Mensch aller Eigenheit absterben,
weshalb es ein fast nothwendiger Versuch ist, aus
diesem in die Peripherie herauszutreten, um da eine
Ruhe seiner Selbstheit zu suchen. Daher die allgemeine
Nothwendigkeit der Sünde und des Todes, als des
wirklichen Absterbens der Eigenheit, durch welches
aller menschlicher Wille als ein Feuer hindurchgehen
muß, um geläutert zu werden. Dieser allgemeinen
Nothwendigkeit unerachtet bleibt das Böse immer die
eigne Wahl des Menschen; das Böse, als solches, kann
der Grund nicht machen, und jede Creatur fällt durch
ihre eigne Schuld. Aber eben wie nun im einzelnen
Menschen die Entscheidung für Böses oder Gutes
vorgehe, dieß ist noch in gänzliches Dunkel gehüllt, und
scheint eine besondere Untersuchung zu erfordern.
Wir haben überhaupt bis jetzt das formelle Wesen
der Freiheit weniger ins Auge gefaßt, obgleich die
Einsicht
in
dasselbe
mit
nicht
geringeren
Schwierigkeiten verbunden scheint als die Erklärung
ihres realen Begriffs.
Denn der gewöhnliche Begriff der Freiheit, nach
welchem sie in ein völlig unbestimmtes Vermögen
gesetzt
wird,
von
zwei
kontradiktorisch
Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine
oder das andere zu wollen, schlechthin bloß, weil es
gewollt
wird,
hat
zwar
die
ursprüngliche
Unentschiedenheit des menschlichen Wesens in der Idee
für sich, führt aber, angewendet auf die einzelne
Handlung, zu den größten Ungereimtheiten. Sich ohne
alle bewegende Gründe für A oder -A entscheiden zu
können, wäre, die Wahrheit zu sagen, nur ein Vorrecht,
ganz unvernünftig zu handeln, und würde den
Menschen von dem bekannten Thier des Buridan, das
nach der Meinung der Verteidiger dieses Begriffes der
Willkür zwischen zwei Haufen Heu von gleicher
Entfernung, Größe und Beschaffenheit verhungern
müßte (weil es nämlich jenes Vorrecht der Willkür nicht
hat), eben nicht auf die vorzüglichste Weise
unterscheiden. Der einzige Beweis für diesen Begriff
besteht in dem Berufen auf die Thatsache, indem es z.B.
jeder in seiner Gewalt habe, seinen Arm jetzt
anzuziehen oder auszustrecken, ohne weitem Grund;
denn wenn man sage, er strecke ihn, eben um seine
Willkür zu beweisen, so könnte er ja dieß ebensogut,
indem er ihn anzöge; das Interesse, den Satz zu
beweisen, könne ihn nur bestimmen, eins von beiden zu
thun; hier sey also das Gleichgewicht handgreiflich
usw.; eine überall schlechte Beweisart, indem sie von
dem Nichtwissen des bestimmenden Grundes auf das
Nichtdaseyn schließt, die aber hier gerade umgekehrt
anwendbar wäre; denn eben, wo das Nichtwissen
eintritt, findet um so gewisser das Bestimmtwerden
statt. Die Hauptsache ist, daß dieser Begriff eine
gänzliche Zufälligkeit der einzelnen Handlungen
einführt und in diesem Betracht sehr richtig mit der
zufälligen Abweichung der Atomen verglichen worden
ist, die Epikurus in der Physik in gleicher Absicht
ersann, nämlich dem Fatum zu entgehen. Zufall aber ist
unmöglich, widerstreitet der Vernunft wie der
nothwendigen Einheit des Ganzen; und wenn Freiheit
nicht anders als mit der gänzlichen Zufälligkeit der
Handlungen zu retten ist, so ist sie überhaupt nicht zu
retten. Es setzt sich diesem System des Gleichgewichts
der Willkür, und zwar mit vollem Fug, der
Determinismus (oder nach Kant Prädeterminismus)
entgegen, indem er die empirische Nothwendigkeit aller
Handlungen aus dem Grunde behauptet, weil jede
derselben durch Vorstellungen oder andere Ursachen
bestimmt sey, die in einer vergangenen Zeit liegen, und
die bei der Handlung selbst nicht mehr in unserer
Gewalt stehen. Beide Systeme gehören dem nämlichen
Standpunkt an; nur daß, wenn es einmal keinen höheren
gäbe, das letzte unleugbar den Vorzug verdiente. Beiden
gleich unbekannt ist jene höhere Nothwendigkeit, die
gleichweit entfernt ist von Zufall als Zwang oder
äußerem Bestimmtwerden, die vielmehr eine innere, aus
dem Wesen des Handelnden selbst quellende
Nothwendigkeit ist. Alle Verbesserungen aber, die man
bei dem Determinismus anzubringen suchte, z.B. die
Leibnizische, daß die bewegenden Ursachen den Willen
doch nur inkliniren, aber nicht bestimmen, helfen in der
Hauptsache gar nichts.
Ueberhaupt erst der Idealismus hat die Lehre von
der Freiheit in dasjenige Gebiet erhoben, wo sie allein
verständlich ist. Das intelligible Wesen jedes Dings, und
vorzüglich des Menschen, ist diesem zufolge außer
allem Kausalzusammenhang, wie außer oder über aller
Zeit. Es kann daher nie durch irgend etwas
Vorhergehendes bestimmt seyn, indem es selbst
vielmehr allem andern, das in ihm ist oder wird, nicht
sowohl der Zeit, als dem Begriff nach als absolute
Einheit vorangeht, die immer schon ganz und vollendet
da seyn muß, damit die einzelne Handlung oder
Bestimmung in ihr möglich sey. Wir drücken nämlich
den Kantischen Begriff nicht eben genau mit seinen
Worten, aber doch so aus, wie wir glauben, daß er, um
verständlich zu seyn, ausgedrückt werden müsse. Wird
aber dieser Begriff angenommen, so scheint auch
Folgendes richtig geschlossen zu werden. Die freie
Handlung folgt unmittelbar aus dem Intelligibeln des
Menschen. Aber sie ist nothwendig eine bestimmte
Handlung, z.B. um das Nächste anzuführen, eine gute
oder böse. Vom absolut-Unbestimmten zum
Bestimmten gibt es aber keinen Uebergang. Das etwa
das
intelligible
Wesen
aus
purer
lauterer
Unbestimmtheit heraus ohne allen Grund sich selbst
bestimmen sollte, führt auf das obige System der
Gleichgültigkeit der Willkür zurück. Um sich selbst
bestimmen zu können, müßte es in sich schon bestimmt
seyn, nicht von außen freilich, welches seiner Natur
widerspricht, auch nicht von innen durch irgend eine
bloß zufällige oder empirische Nothwendigkeit, indem
dieß alles (das Psychologische so gut wie das
Physische) unter ihm liegt; sondern es selber als sein
Wesen, d.h. seine eigne Natur, müßte ihm Bestimmung
seyn. Es ist ja kein unbestimmtes Allgemeines, sondern
bestimmt das intelligible Wesen dieses Menschen; von
einer solchen Bestimmtheit gilt der Spruch: Determinato
est negatio, keineswegs, indem sie mit der Position und
dem Begriff des Wesens selber eins, also eigentlich das
Wesen in dem Wesen ist. Das intelligible Wesen kann
daher, so gewiß es schlechthin frei und absolut handelt,
so gewiß nur seiner eignen innern Natur gemäß handeln,
oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach
dem Gesetz der Identität und mit absoluter
Nothwendigkeit folgen, welche allein auch die absolute
Freiheit ist; denn frei ist, was nur den Gesetzen seines
eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem
weder in noch außer ihm bestimmt ist.
Es ist mit dieser Vorstellung der Sache wenigstens
Eines gewonnen, daß die Ungereimtheit des Zufälligen
der einzelnen Handlung entfernt ist. Dieß muß
feststehen, auch in jeder höheren Ansicht, daß die
einzelne Handlung aus innerer Nothwendigkeit des
freien Wesens, und demnach selbst mit Nothwendigkeit
erfolgt, die nur nicht, wie noch immer geschieht, mit der
empirischen auf Zwang beruhenden (die aber selber nur
verhüllte Zufälligkeit ist) verwechselt werden muß.
Aber was ist denn jene innere Nothwendigkeit des
Wesens selber? Hier liegt der Punkt, bei welchem
Nothwendigkeit und Freiheit vereinigt werden müssen,
wenn sie überhaupt vereinbar sind. Wäre jenes Wesen
ein todtes Seyn und in Ansehung des Menschen ein ihm
bloß gegebenes, so wäre, da die Handlung aus ihm nur
mit
Nothwendigkeit
folgen
kann,
die
Zurechnungsfähigkeit und alle Freiheit aufgehoben.
Aber eben jene innere Nothwendigkeit ist selber die
Freiheit, das Wesen des Menschen ist wesentlich seine
eigne That; Nothwendigkeit und Freiheit stehen
ineinander, als Ein Wesen, das nur von verschiedenen
Seiten betrachtet als das eine oder andere erscheint, an
sich Freiheit, formell Nothwendigkeit ist. Das Ich, sagte
Fichte, ist seine eigne That; Bewußtseyn ist Selbstsetzen
- aber das Ich ist nichts von diesem Verschiedenes,
sondern eben das Selbstsetzen selber. Dieses
Bewußtseyn aber, inwiefern es bloß als selbst-Erfassen
oder Erkennen des Ich gedacht wird, ist nicht einmal das
Erste, und setzt wie alles bloße Erkennen das
eigentliche Seyn schon voraus. Dieses vor dem
Erkennen vermuthete Seyn ist aber kein Seyn, wenn es
gleich kein Erkennen ist; es ist reales Selbstsetzen, es ist
ein Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu etwas
macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist.
Aber in viel bestimmterem als diesem allgemeinen
Sinne gelten jene Wahrheiten in der unmittelbaren
Beziehung auf den Menschen. Der Mensch ist in der
ursprünglichen
Schöpfung,
wie
gezeigt,
ein
unentschiedenes Wesen - (welches mythisch als ein
diesem Leben vorausgegangener Zustand der Unschuld
und anfänglichen Seligkeit dargestellt werden mag) -;
nur er selbst kann sich entscheiden. Aber diese
Entscheidung kann nicht in die Zeit fallen; sie fällt
außer aller Zeit und daher mit der ersten Schöpfung
(wenn gleich als eine von ihr verschiedene That)
zusammen. Der Mensch, wenn er auch in der Zeit
geboren wird, ist doch in den Anfang der Schöpfung
(das Centrum) erschaffen. Die That, wodurch sein
Leben in der Zeit bestimmt ist, gehört selbst nicht der
Zeit, sondern der Ewigkeit an: sie geht dem Leben auch
nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit
(unergriffen von ihr) hindurch als eine der Natur nach
ewige That. Durch sie reicht das Leben des Menschen
bis an den Anfang der Schöpfung; daher er durch sie
auch außer dem Erschaffenen, frei und selbst ewiger
Anfang ist. So unfaßlich diese Idee der gemeinen
Denkweise vorkommen mag, so ist doch in jedem
Menschen ein mit derselben übereinstimmendes Gefühl,
als sey er, was er ist, von aller Ewigkeit schon gewesen
und keineswegs in der Zeit erst geworden. Daher,
unerachtet der unleugbaren Nothwendigkeit aller
Handlungen, und obgleich jeder, wenn er auf sich
aufmerksam ist, sich gestehen muß, daß er keineswegs
zufällig oder willkürlich böse oder gut ist, der Böse z.B.
sich doch nichts weniger als gezwungen vorkommt
(weil Zwang nur im Werden, nicht im Seyn empfunden
werden kann), sondern seine Handlungen mit Willen,
nicht gegen seinen Willen tut. Daß Judas ein Verräter
Christi wurde, konnte weder er selbst noch eine Creatur
andern, und dennoch verriet er Christum nicht
gezwungen, sondern willig und mit völliger Freiheit
28). Ebenso verhält es sich mit dem Guten, daß er
nämlich nicht zufällig oder willkürlich gut, und dennoch
so wenig gezwungen ist, daß vielmehr kein Zwang, ja
selbst die Pforten der Hölle nicht imstande wären, seine
Gesinnung zu überwältigen. In dem Bewußtseyn, sofern
es bloßes Selbsterfassen und nur idealisch ist, kann jene
freie That, die zur Nothwendigkeit wird, freilich nicht
vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es
erst macht; aber sie ist darum doch keine That, von der
dem Menschen überall kein Bewußtseyn geblichen;
indem derjenige, welcher etwa, um eine unrechte
Handlung zu entschuldigen, sagt: so bin ich nun einmal,
doch sich wohl bewußt ist, daß er durch seine Schuld so
ist, so sehr er auch Recht hat, daß es ihm unmöglich
gewesen anders zu handeln. Wie oft geschieht es, daß
ein Mensch von Kindheit an, zu einer Zeit, da wir ihm,
empirisch betrachtet, kaum Freiheit und Ueberlegung
zutrauen können, einen Hang zum Bösen zeigt, von dem
vorauszusehen ist, daß er keiner Zucht und Lehre
weichen werde, und der in der Folge wirklich die argen
Früchte zur Reife bringt, die wir im Keime
vorausgesehen hatten; und daß gleichwohl niemand die
Zurechnungsfähigkeit derselben bezweifelt, und von der
Schuld dieses Menschen so überzeugt ist, als es nur
immer seyn könnte, wenn jede einzelne Handlung in
seiner Gewalt gestanden hätte. Diese allgemeine
Beurtheilung eines seinem Ursprung nach ganz
bewußtlosen und sogar unwiderstehlichen Hangs zum
Bösen als eines Aktus der Freiheit weist auf eine That,
und also auf ein Leben vor diesem Leben hin, nur daß es
nicht eben der Zeit nach vorangehend gedacht werde,
indem das Intelligible überhaupt außer der Zeit ist. Weil
in der Schöpfung der höchste Zusammenklang und
nichts so getrennt und nacheinander ist, wie wir es
darstellen müssen, sondern im Früheren auch schon das
Spätere mitwirkt und alles in Einem magischen Schlage
zugleich geschieht, so hat der Mensch, der hier
entschieden und bestimmt erscheint, in der ersten
Schöpfung sich in bestimmter Gestalt ergriffen, und
wird als solcher, der er von Ewigkeit ist, geboren, indem
durch jene That sogar die Art und Beschaffenheit seiner
Korporisation bestimmt ist. Von jeher war die
angenommene
Zufälligkeit
der
menschlichen
Handlungen im Verhältniß zu der im göttlichen
Verstände zuvor entworfenen Einheit des Weltganzen,
der größte Anstoß in der Lehre der Freiheit. Daher denn,
indem weder die Präszienz Gottes noch die eigentliche
Fürsehung aufgegeben werden konnte, die Annahme der
Prädestination. Die Urheber derselben empfanden, daß
die Handlungen des Menschen von Ewigkeit bestimmt
seyn müßten; aber sie suchten diese Bestimmung nicht
in der ewigen, mit der Schöpfung gleichzeitigen,
Handlung, die das Wesen des Menschen selbst
ausmacht, sondern in einem absoluten, d.h. völlig
grundlosen, Ratschluß Gottes, durch welchen der eine
zur Verdammniß, der andere zur Seligkeit
vorherbestimmt worden, und hoben damit die Wurzel
der Freiheit auf. Auch wir behaupten eine
Prädestination, aber in ganz anderm Sinne, nämlich in
diesem: wie der Mensch hier handelt, so hat er von
Ewigkeit und schon im Anfang der Schöpfung
gehandelt. Sein Handeln wird nicht, wie er selbst als
sittliches Wesen nicht wird, sondern der Natur nach
ewig ist. Es fällt damit auch jene oft gehörte peinliche
Frage hinweg: warum ist eben dieser bestimmt, böse
und ruchlos, jener andere dagegen fromm und gerecht
zu handeln? denn sie setzt voraus, daß der Mensch nicht
schon anfänglich Handlung und That sey, und daß er als
geistiges Wesen ein Seyn vor und unabhängig von
seinem Willen habe, welches, wie gezeigt worden,
unmöglich ist.
Nachdem einmal in der Schöpfung, durch Reaktion
des Grundes zur Offenbarung, das Böse allgemein
erregt worden, so hat der Mensch sich von Ewigkeit in
der Eigenheit und Selbstsucht ergriffen, und alle, die
geboren werden, werden mit dem anhängenden finstern
Princip des Bösen geboren, wenn gleich dieses Böse zu
seinem Selbstbewußtseyn erst durch das Eintreten des
Gegensatzes erhoben wird. Nur aus diesem finstern
Princip kann, wie der Mensch jetzt ist, durch göttliche
Transmutation, das Gute als das Licht herausgebildet
werden. Dieses ursprüngliche Böse im Menschen, das
nur derjenige in Abrede ziehen kann, der den Menschen
in sich und außer sich nur oberflächlich kennen gelernt
hat, ist, obgleich in bezug auf das jetzige empirische
Leben ganz von der Freiheit unabhängig, doch in
seinem Ursprung eigne That, und darum allein
ursprüngliche Sünde, was von jener, freilich ebenfalls
unleugbaren, nach eingetretener Zerrüttung als
Kontagium fortgepflanzten Unordnung der Kräfte nicht
gesagt werden kann. Denn nicht die Leidenschaften an
sich sind das Böse, noch haben wir allein mit Fleisch
und Blut, sondern mit einem Bösen in und außer uns zu
kämpfen, das Geist ist. Nur jenes durch eigne That, aber
von der Geburt, zugezogene Böse kann daher das
radikale Böse heißen, und bemerkenswert ist, wie Kant,
der sich zu einer transzendentalen alles menschliche
Seyn bestimmenden That in der Theorie nicht erhoben
hatte, durch bloße treue Beobachtung der Phänomene
des sittlichen Urtheils in späteren Untersuchungen auf
die Anerkennung eines, wie er sich ausdrückt,
subjektiven, aller in die Sinne fallenden That
vorangehenden Grundes der menschlichen Handlungen,
der doch selbst wiederum ein Aktus der Freiheit seyn
müsse, geleitet wurde; indes Fichte, der den Begriff
einer solchen That in der Spekulation erfaßt hatte, in der
Sittenlehre wieder dem herrschenden Philanthropismus
zufiel und jenes allem empirischen Handeln
vorangehende Böse nur in der
menschlichen Natur finden wollte.
Trägheit
der
Es scheint nur Ein Grund zu seyn, der gegen diese
Ansicht angeführt werden könnte: dieser, daß sie alle
Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten, und
umgekehrt, für dieses Leben wenigstens abschneide.
Allein es sey nun, daß menschliche oder göttliche
H�lfe - (einer H�lfe bedarf der Mensch immer) - ihn
zu der Umwandlung ins Gute bestimme, so liegt doch
dies, daß er dem guten Geist jene Einwirkung verstattet,
sich ihm nicht positiv verschließt, ebenfalls schon in
jener anfänglichen Handlung, durch welche er dieser
und kein anderer ist. Daher in dem Menschen, in
welchem jene Transmutation noch nicht vorgegangen,
aber auch nicht das gute Princip völlig erstorben ist, die
innere Stimme seines eignen, in bezug auf ihn, wie er
jetzt ist, besseren Wesens, nie aufhört ihn dazu
aufzufordern, so wie er erst durch die wirkliche und
entschiedene Umwendung den Frieden in seinem eignen
Innern, und, als wäre erst jetzt der anfänglichen Idea
Genüge gethan, sich als versöhnt mit seinem
Schutzgeist findet. Es ist im strengsten Verstande wahr,
daß, wie der Mensch überhaupt beschaffen ist, nicht er
selbst, sondern entweder der gute oder der böse Geist in
ihm handelt; und dennoch tut dieß der Freiheit keinen
Eintrag. Denn eben das in-sich-handeln-Lassen des
guten oder bösen Princips ist die Folge der intelligiblen
That, wodurch sein Wesen und Leben bestimmt ist.
Nachdem wir also Anfang und Entstehung des
Bösen bis zur Wirklichwerdung im einzelnen Menschen
dargethan haben, so scheint nichts übrig, als seine
Erscheinung im Menschen zu beschreiben.
Die allgemeine Möglichkeit des Bösen besteht, wie
gezeigt, darin, daß der Mensch seine Selbstheit, anstatt
sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum
Herrschenden und zum Allwillen zu erheben, dagegen
das Geistige in sich zum Mittel zu machen streben kann.
Ist in dem Menschen das finstere Princip der Selbstheit
und des Eigenwillens ganz vom Licht durchdrungen und
mit ihm eins, so ist Gott, als die ewige Liebe, oder als
wirklich existirend, das Band der Kräfte in ihm. Sind
aber die beiden Principien in Zwietracht, so schwingt
sich ein anderer Geist an die Stelle, da Gott seyn sollte;
der umgekehrte Gott nämlich; jenes durch die
Offenbarung Gottes zur Aktualisirung erregte Wesen,
das nie aus der Potenz zum Aktus gelangen kann, das
zwar nie ist, aber immer seyn will, und daher, wie die
Materie der Alten, nicht mit dem vollkommenen
Verstande, sondern nur durch falsche Imagination
(λογισμῶι νόθωι 29)) - welche eben die Sünde ist - als
wirklich erfaßt (aktualisirt) werden kann; weshalb es
durch spiegelhafte Vorstellungen, indem es, selbst nicht
seyend, den Schein von dem wahren Seyn, wie die
Schlange die Farben vom Licht, entlehnt, den Menschen
zur Sinnlosigkeit zu bringen strebt, in der es allein von
ihm aufgenommen und begriffen werden kann. Es wird
daher mit Recht nicht nur als ein Feind aller Creatur
(weil diese nur durch das Band der Liebe besteht) und
vorzüglich des Menschen, sondern auch als Verführer
desselben vorgestellt, der ihn zur falschen Lust und
Aufnahme des Nichtseyenden in seine Imagination
lockt, worin es von der eignen bösen Neigung des
Menschen unterstützt wird, dessen Auge, unvermögend,
auf den Glanz des Göttlichen und der Wahrheit
hinschauend,
standzuhalten,
immer
auf
das
Nichtseyende hinblickt. So ist denn der Anfang der
Sünde, daß der Mensch aus dem eigentlichen Seyn in
das Nichtseyn, aus der Wahrheit in die Lüge, aus dem
Licht in die Finsterniß übertritt, um selbst schaffender
Grund zu werden, und mit der Macht des Centri, das er
in sich hat, über alle Dinge zu herrschen. Denn es bleibt
auch dem aus dem Centro gewichenen immer noch das
Gefühl, daß er alle Dinge gewesen ist, nämlich in und
mit Gott; darum strebt er wieder dahin, aber für sich,
nicht wo er es seyn könnte, nämlich in Gott. Hieraus
entsteht der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als
sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer
dürftiger, ärmer, aber eben darum begieriger, hungriger,
giftiger wird. Es ist im Bösen der sich selbst
aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß
es creatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band
der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth, alles
zu seyn, ins Nichtseyn fällt. Uebrigens erfüllt die
offenbare Sünde nicht wie bloße Schwäche und
Unvermögen mit Bedauern, sondern mit Schrecken und
Horror, ein Gefühl, das nur daher erklärbar ist, daß sie
das Wort zu brechen, den Grund der Schöpfung
anzutasten und das Mysterium zu profaniren strebt.
Allein auch dieses sollte offenbar werden, denn nur im
Gegensatz der Sünde offenbart sich jenes Innerste Band
der Abhängigkeit der Dinge und das Wesen Gottes, das
gleichsam vor aller Existenz (noch nicht durch sie
gemildert), und darum schrecklich ist. Denn Gott selbst
überkleidet dieses Princip in der Creatur und bedeckt es
mit Liebe, indem er es zum Grund und gleichsam zum
Träger der Wesen macht. Wer es nun durch Mißbrauch
des zum Selbstseyn erhobenen Eigenwillens aufreizt,
für den und gegen den wird es aktuell. Denn weil Gott
in seiner Existenz doch nicht gestört, noch weniger
aufgehoben werden kann, so wird nach der
nothwendigen Korrespondenz, die zwischen Gott und
seiner Basis stattfindet, eben jener in der Tiefe des
Dunkels auch in jedem einzelnen Menschen leuchtende
Lebensblick dem Sünder zum verzehrenden Feuer
entflammt, so wie im lebendigen Organismus das
einzelne Glied oder System, sobald es aus dem Ganzen
gewichen ist, die Einheit und Konspiration selbst, der es
sich entgegensetzt, als Feuer (= Fieber) empfindet und
von innerer Glut entzündet wird.
Wir haben gesehen, wie durch falsche Einbildung
und nach dem Nichtseyenden sich richtende Erkenntniß
der Geist des Menschen dem Geist der Lüge und
Falschheit sich öffnet, und bald von ihm faszinirt der
anfänglichen Freiheit verlustig wird. Hieraus folgt, daß
im Gegentheil das wahre Gute nur durch eine göttliche
Magie bewirkt werden könne, nämlich durch die
unmittelbare Gegenwart des Seyenden im Bewußtseyn
und der Erkenntniß. Ein willkürliches Gutes ist so
unmöglich als ein willkürliches Böses. Die wahre
Freiheit ist im Einklang mit einer heiligen
Nothwendigkeit, dergleichen wir in der wesentlichen
Erkenntniß empfinden, da Geist und Herz, nur durch ihr
eignes Gesetz gebunden, freiwillig bejahen, was
nothwendig ist Wenn das Böse in einer Zwietracht der
beiden Principien besteht, so kann das Gute nur in der
vollkommenen Eintracht derselben bestehen, und das
Band, das beide vereinigt, muß ein göttliches seyn,
indem sie nicht auf bedingte, sondern auf vollkommene
und unbedingte Weise eins sind. Das Verhältniß beider
läßt sich daher nicht als selbstbeliebige, oder aus
Selbstbestimmung
hervorgegangene
Sittlichkeit
vorstellen. Der letzte Begriff setzte voraus, daß sie nicht
an sich eins seyen; wie sollen sie aber eins werden,
wenn sie es nicht sind? außerdem führt er zu dem
ungereimten System des Gleichgewichts der Willkür
zurück. Das Verhältniß beider Principien ist das einer
Gebundenheit des finstern Princips (der Selbstheit) an
das Licht. Es sey uns erlaubt, dies, der ursprünglichen
Wortbedeutung nach, durch Religiosität auszudrücken.
Wir verstehen darunter nicht, was ein krankhaftes
Zeitalter so nennt, müßiges Brüten, andächtelndes
Ahnden, oder Fühlen-wollen des Göttlichen. Denn Gott
ist in uns die klare Erkenntniß oder das geistige Licht
selber, in welchem erst alles andere klar wird, weit
entfernt, daß es selbst unklar seyn sollte; und in wem
diese Erkenntniß ist, den läßt sie wahrlich nicht müßig
seyn oder feiern. Sie ist, wo sie ist, etwas viel
Substantielleres, als unsere Empfindungsphilosophen
meinen. Wir verstellen Religiosität in der
ursprünglichen, praktischen Bedeutung des Worts. Sie
ist Gewissenhaftigkeit, oder daß man handle, wie man
weiß, und nicht dem Licht der Erkenntniß in seinem
Thun widerspreche. Einen Menschen, dem dieß nicht
auf eine menschliche, physische oder psychologische,
sondern auf eine göttliche Weise unmöglich ist, nennt
man religiös, gewissenhaft im höchsten Sinne des
Worts. Derjenige ist nicht gewissenhaft, der sich im
vorkommenden Fall noch erst das Pflichtgebot
vorhalten muß, um sich durch Achtung für dasselbe
zum Rechtthun zu entscheiden. Schon der
Wortbedeutung nach läßt Religiosität keine Wahl
zwischen Entgegengesetzten zu, kein aequilibrium
arbitrii (die Pest aller Moral), sondern nur die höchste
Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl.
Gewissenhaftigkeit erscheint nicht eben nothwendig
und immer als Enthusiasmus oder als außerordentliche
Erhebung über sich selbst, wozu, wenn der Dünkel
selbstbeliebiger Sittlichkeit niedergeschlagen ist, ein
anderer und noch viel schlimmerer Hochmuthsgeist
gerne auch diese machen möchte. Sie kann ganz
formell, in strenger Pflichterfüllung, erscheinen, wo ihr
sogar der Charakter der Härte und Herbheit beigemischt
ist, wie in der Seele des M. Cato, dem ein Alter jene
innere und fast göttliche Nothwendigkeit des Handelns
zuschreibt, indem er sagt, er sey der Tugend am
ähnlichsten gewesen, indem er nie recht gehandelt,
damit er so handelte (aus Achtung für das Gebot),
sondern weil er gar nicht anders habe handeln können.
Diese Strenge der Gesinnung ist, wie die Strenge des
Lebens in der Natur, der Keim, aus welchem erst wahre
Anmuth und Göttlichkeit als Blüte hervorgeht; aber die
vermeintlich vornehmere Moralität, welche diesen Kern
verschmähen zu dürfen glaubt, ist einer tauben Blüte
gleich, die keine Frucht erzeugt 30). Das Höchste ist,
eben darum weil es dieß ist, nicht immer das
Allgemeingültige; und wer das Geschlecht geistiger
Wollüstlinge kennen gelernt, dem gerade das Höchste
der Wissenschaft wie des Gefühls zur ausgelassensten
Geistes-Un-Zucht und Erhebung über die sogenannte
gemeine Pflichtmäßigkeit dienen muß, wird sich wohl
bedenken, es als solches auszusprechen. Schon ist
vorauszusehen, daß auf dem Wege, wo jeder früher eine
schöne Seele als eine vernünftige seyn, und lieber edel
heißen als gerecht seyn will, die Sittenlehre noch auf
den allgemeinen Begriff des Geschmacks zurückgeführt
werden wird, wonach sodann das Laster nur noch in
einem schlechten oder verdorbenen Geschmack
bestehen würde. 31) Wenn in der ernsten Gesinnung das
göttliche Princip derselben, als solches, durchschlägt, so
erscheint Tugend als Enthusiasmus; als Heroismus (im
Kampf gegen das Böse), als der schöne freie Muth des
Menschen, zu handeln, wie der Gott ihn unterrichtet,
und nicht im Handeln abzufallen von dem was er im
Wissen erkannt hat; als Glaube, nicht im Sinn eines
Fürwahrhaltens, das gar als verdienstlich angesehen
wird, oder dem zur Gewißheit etwas abgeht - eine
Bedeutung, die sich diesem Wort durch den Gebrauch
für gemeine Dinge angehängt hat -, sondern in seiner
ursprünglichen Bedeutung als Zutrauen, Zuversicht auf
das Göttliche, die alle Wahl ausschließt. Wenn endlich
in den unverbrüchlichen Ernst der Gesinnung, der aber
immer vorausgesetzt wird, ein Strahl göttlicher Liebe
sich senkt, so entsteht die höchste Verklärung des
sittlichen Lebens in Anmuth und göttliche Schönheit.
Die Entstehung des Gegensatzes von Gut und Bös,
und wie beides in der Schöpfung durcheinander wirkt,
haben wir nun soviel möglich untersucht; aber noch ist
die höchste Frage dieser ganzen Untersuchung zurück.
Gott ist bis jetzt bloß betrachtet worden als sich selbst
offenbarendes Wesen. Aber wie verhält er sich denn zu
dieser Offenbarung als sittliches Wesen? Ist sie eine
Handlung, die mit blinder und bewußtloser
Nothwendigkeit erfolgt, oder ist sie eine freie und
bewußte That? Und wenn sie das letzte ist, wie verhält
sich Gott als sittliches Wesen zu dem Bösen, dessen
Möglichkeit
und
Wirklichkeit
von
der
Selbstoffenbarung abhängt? Hat er, wenn er diese
gewollt, auch das Böse gewollt, und wie ist dieses
Wollen
mit
der
Heiligkeit
und
höchsten
Vollkommenheit in ihm zu reimen, oder im
gewöhnlichen Ausdruck, wie ist Gott wegen des Bösen
zu rechtfertigen?
Die vorläufige Frage wegen der Freiheit Gottes in
der Selbstoffenbarung scheint zwar durch das
Vorgehende entschieden. Wäre uns Gott ein bloß
logisches Abstraktum, so müßte dann auch alles aus ihm
mit logischer Nothwendigkeit folgen; er selbst wäre
gleichsam nur das höchste Gesetz, von dem alles
ausfließt, aber ohne Personalität und Bewußtseyn
davon. Allein wir haben Gott erklärt als lebendige
Einheit von Kräften; und wenn Persönlichkeit nach
unserer früheren Erklärung auf der Verbindung eines
Selbständigen mit einer von ihm unabhängigen Basis
beruht, so nämlich, daß diese beiden sich ganz
durchdringen und nur Ein Wesen sind, so ist Gott durch
die Verbindung des idealen Princips in ihm mit dem
(relativ auf dieses) unabhängigen Grunde, da Basis und
Existirendes in ihm sich nothwendig zu Einer absoluten
Existenz vereinigen, die höchste Persönlichkeit; der
auch, wenn die lebendige Einheit beider Geist ist, so ist
Gott, als das absolute Band derselben, Geist im
eminenten und absoluten Verstände. So gewiß ist es,
daß nur durch das Band Gottes mit der Natur die
Personalität in ihm begründet ist, da im Gegentheil der
Gott des reinen Idealismus, so gut wie der des reinen
Realismus, nothwendig ein unpersönliches Wesen ist,
wovon der Fichtesche und Spinozische Begriff die
klarsten Beweise sind. Allein weil in Gott ein
unabhängiger Grund von Realität und daher zwei gleich
ewige Anfänge der Selbstoffenbarung sind, so muß auch
Gott nach seiner Freiheit in Beziehung auf beide
betrachtet werden. Der erste Anfang zur Schöpfung ist
die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären, oder
der Wille des Grundes. Der zweite ist der Wille der
Liebe, wodurch das Wort in die Natur ausgesprochen
wird, und durch den Gott sich erst persönlich macht.
Der Wille des Grundes kann daher nicht frei seyn in
dem Sinne, in welchem es der Wille der Liebe ist. Er ist
kein bewußter oder mit Reflexion verbundener Wille,
obgleich Mich kein völlig bewußtloser, der nach blinder
mechanischer Nothwendigkeit sich bewegte, sondern
mittlerer Natur, wie Begierde oder Lust, und am ehesten
dem schönen Drang einer werdenden Natur
vergleichbar, die sich zu entfalten strebt, und deren
innere Bewegungen unwillkürlich sind (nicht
unterlassen werden können), ohne daß sie doch sich in
ihnen gezwungen fühlte. Schlechthin freier und
bewußter Wille aber ist der Wille der Liebe, eben weil
er dieß ist; die aus ihm folgende Offenbarung ist
Handlung und That. Die ganze Natur sagt uns, daß sie
keineswegs vermöge einer bloß geometrischen
Nothwendigkeit da ist; es ist nicht lautere reine
Vernunft in ihr, sondern Persönlichkeit und Geist (wie
wir den vernünftigen Autor vom geistreichen wohl
unterscheiden); sonst hätte der geometrische Verstand,
der so lange geherrscht hat, sie längst durchdringen und
sein Idol allgemeiner und ewiger Naturgesetze mehr
bewahrheiten müssen, als es bis jetzt geschehen ist, da
er vielmehr das irrationale Verhältniß der Natur zu sich
täglich mehr erkennen muß. Die Schöpfung ist keine
Begebenheit, sondern eine That. Es gibt keine Erfolge
aus allgemeinen Gesetzen, sondern Gott, d.h. die Person
Gottes, ist das allgemeine Gesetz, und alles, was
geschieht, geschieht vermöge der Persönlichkeit Gottes;
nicht nach einer abstrakten Nothwendigkeit, die wir im
Handeln nicht ertragen würden, geschweige Gott. In der
nur zu sehr vom Geist der Abstraktion beherrschten
Leibnizischen Philosophie ist die Anerkennung der
Naturgesetze als sittlich-, nicht aber geometrischnothwendiger, und ebensowenig willkürlicher Gesetze,
eine der erfreulichsten Seiten. «Ich habe gefunden,»
sagt Leibniz, «daß die in der Natur wirklich
nachzuweisenden Gesetze doch nicht absolut
demonstrabel sind, was aber auch nicht nothwendig ist.
Zwar können sie auf verschiedene Art bewiesen
werden; aber immer muß etwas vorausgesetzt werden,
das nicht ganz geometrisch nothwendig ist. Daher sind
diese Gesetze der Beweis eines höchsten, intelligenten
und freien Wesens gegen das System absoluter
Nothwendigkeit. Sie sind weder ganz nothwendig (in
jenem abstrakten Verstande), noch ganz willkürlich,
sondern stehen in der Mitte als Gesetze, die von einer
über alles vollkommenen Weisheit abstammen» 32).
Das höchste Streben der dynamischen Erklärungsart ist
kein anderes als diese Reduktion der Naturgesetze auf
Gemüth, Geist und Willen.
Um jedoch das Verhältniß Gottes als moralischen
Wesens zur Welt zu bestimmen, reicht die allgemeine
Erkenntniß der Freiheit in der Schöpfung nicht hin; es
fragt sich noch außerdem, ob die That der
Selbstoffenbarung in dem Sinne frei gewesen, daß alle
Folgen derselben in Gott vorgesehen worden. Auch
dieses aber ist nothwendig zu bejahen; denn es würde
der Wille zur Offenbarung selbst nicht lebendig seyn,
wenn ihm nicht ein anderer auf das Innere des Wesens
zurückgehender Wille entgegenstünde; aber in diesem
an-sich-Halten entsteht ein reflexives Bild alles dessen,
was in dem Wesen implicite enthalten ist, in welchem
Gott sich ideal verwirklicht, oder, was dasselbe ist, sich
in seiner Verwirklichung zuvor erkennt. So muß also
doch, da eine dem Willen zur Offenbarung
entgegenwirkende Tendenz in Gott ist, Liebe und Güte
oder das Communicativum sui überwiegen, damit eine
Offenbarung sey; und dieses, die Entscheidung,
vollendet erst eigentlich den Begriff derselben als einer
bewußten und sittlich-freien That.
Unerachtet dieses Begriffs, und obwohl die
Handlung der Offenbarung in Gott nur sittlich- oder
beziehungsweise auf Güte und Liebe nothwendig ist,
bleibt die Vorstellung einer Beratschlagung Gottes mit
sich selbst, oder einer Wahl zwischen mehreren
möglichen Welten eine grundlose und unhaltbare
Vorstellung. Im Gegentheil, sobald nur die nähere
Bestimmung
einer
sittlichen
Nothwendigkeit
hinzugefügt wird, ist ganz unleugbar der Satz: daß aus
der göttlichen Natur alles mit absoluter Nothwendigkeit
folgt, daß alles, was kraft derselben möglich ist, auch
wirklich seyn muß, und was nicht wirklich ist, auch
sittlich-unmöglich seyn muß. Der Spinozismus fehlt
keineswegs durch die Behauptung einer solchen
unverbrüchlichen Nothwendigkeit in Gott, sondern
dadurch, daß er dieselbe unlebendig und unpersönlich
nimmt. Denn da dieses System von dem Absoluten
überhaupt nur die eine Seite begreift - nämlich die reale
oder inwiefern Gott nur im Grunde wirkt, so führen jene
Sätze allerdings auf eine blinde und verstandlose
Nothwendigkeit. Wenn aber Gott wesentlich Liebe und
Güte ist, so folgt auch das, was in ihm sittlichnothwendig ist, mit einer wahrhaft metaphysischen
Nothwendigkeit. Würde zur vollkommenen Freiheit in
Gott die Wahl im eigentlichsten Verstände erfordert, so
müßte dann noch weitergegangen werden. Denn eine
perfekte Freiheit der Wahl würde erst dann gewesen
seyn, wenn Gott auch eine weniger vollkommene Welt,
als nach allen Bedingungen möglich war, hätte
erschaffen können, wie denn, da nichts so ungereimt ist,
das nicht einmal vorgebracht worden, von einigen auch
wirklich und im Ernst - nicht bloß wie von dem
Kastillanischen König Alphonsus, dessen bekannte
Aeußerung nur das damals herrschende Ptolomäische
System traf - behauptet worden: Gott hätte, wenn er
gewollt, eine bessere Welt als diese erschaffen können.
So sind auch die Gründe gegen die Einheit der
Möglichkeit und Wirklichkeit in Gott von dem ganz
formellen Begriff der Möglichkeit hergenommen, daß
alles möglich ist, was sich nicht widerspricht; z.B. in der
bekannten Einrede, daß dann alle verständig erfundenen
Romane wirkliche Begebenheiten seyn müssen. Einen
solchen bloß formalen Begriff hatte selbst Spinoza
nicht; alle Möglichkeit gilt bei ihm mir beziehungsweise
auf die göttliche Vollkommenheit, und Leibniz nimmt
diesen Begriff offenbar bloß an, um eine Wahl in Gott
herauszubringen, und sich dadurch so weit als möglich
von Spinoza zu entfernen. «Gott wählt,» sagt er,
«zwischen Möglichkeiten, und wählt darum frei, ohne
Nezessitirung: dann erst wäre keine Wahl, keine
Freiheit, wenn nur Eines möglich wäre.» Wenn zur
Freiheit nichts weiter als eine solche leere Möglichkeit
fehlt, so kann zugegeben werden, daß formell, oder
ohne auf die göttliche Wesenheit zu sehen, Unendliches
möglich war und noch ist; allein dieß heißt die göttliche
Freiheit durch einen Begriff behaupten wollen, der an
sich falsch ist, und der bloß in unserem Verstand, aber
nicht in Gott möglich ist, in welchem ein Absehen von
seinem Wesen oder seinen Vollkommenheiten wohl
nicht gedacht werden kann. Was die Pluralität
möglicher Welten betrifft, so scheint ein an sich
Regelloses, dergleichen nach unserer Erklärung die
ursprüngliche Bewegung des Grundes ist, wie ein noch
nicht geformter, aber aller Formen empfänglicher Stoff,
allerdings eine Unendlichkeit von Möglichkeiten
darzubieten, und wenn etwa darauf die Möglichkeit
mehrerer Welten gegründet werden sollte, so wäre nur
zu bemerken, daß daraus doch keine solche Möglichkeit
in Ansehung Gottes folgen würde, indem der Grund
nicht Gott zu nennen ist, und Gott nach seiner
Vollkommenheit nur Eines wollen kann. Allein es ist
auch jene Regellosigkeit keineswegs so zu denken, als
wäre nacht in dem Grunde doch der Urtypus der nach
dem Wesen Gottes allein möglichen Welt enthalten,
welcher in der wirklichen Schöpfung nur durch
Scheidung, Regulirung der Kräfte und Ausschließung
des ihn hemmenden oder verdunkelnden Regellosen aus
der Potenz zum Aktus erhoben wird. In dem göttlichen
Verstände selbst aber, als in uranfänglicher Weisheit,
worin sich Gott ideal oder urbildlich verwirklicht, ist,
wie nur Ein Gott ist, so auch nur Eine mögliche Welt.
In dem göttlichen Verstande ist ein System, aber
Gott selbst ist kein System, sondern ein Leben, und
darin liegt auch allein die Antwort auf die Frage, um
deren willen dieß vorausgeschickt worden, wegen der
Möglichkeit des Bösen in bezug auf Gott. Alle Existenz
fordert eine Bedingung, damit sie wirkliche, nämlich
persönliche Existenz werde. Auch Gottes Existenz
könnte ohne eine solche nicht persönlich seyn, nur daß
er diese Bedingung in sich, nicht außer sich hat. Er kann
die Bedingung nicht aufheben, indem er sonst sich
selbst aufheben müßte; er kann sie nur durch Liebe
bewältigen und sich zu seiner Verherrlichung
unterordnen. Auch in Gott wäre ein Grund der
Dunkelheit, wenn er die Bedingung nicht zu sich
machte, sich mit ihr als eins und zur absoluten
Persönlichkeit verbände. Der Mensch bekommt die
Bedingung nie in seine Gewalt, ob er gleich im Bösen
danach strebt; sie ist eine ihm nur geliehene, von ihm
unabhängige; daher sich seine Persönlichkeit und
Selbstheit nie zum vollkommenen Aktus erheben kann.
Dieß ist die allem endlichen Leben anklebende
Traurigkeit, und wenn auch in Gott eine wenigstens
beziehungsweise unabhängige Bedingung ist, so ist in
ihm selber ein Quell der Traurigkeit, die aber nie zur
Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der
Ueberwindung dient. Daher der Schleier der
Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist,
die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens.
Freude muß Leid haben, Leid in Freude verklärt
werden. Was daher aus der bloßen Bedingung oder dem
Gründe kommt, kommt nicht von Gott, wenn es gleich
zu seiner Existenz nothwendig ist. Aber es kann auch
nicht gesagt werden, daß das Böse aus dem Grunde
komme, oder daß der Wille des Grundes Urheber
desselben sey. Denn das Böse kann immer nur entstehen
im Innersten Willen des eignen Herzens und wird nie
ohne eigne That vollbracht. Die Sollizitation des
Grundes oder die Reaktion gegen das Uebercreatürliche
erweckt nur die Lust zum Creatürlichen oder den eignen
Willen, aber sie erweckt ihn nur, damit ein
unabhängiger Grund des Guten da sey, und damit er
vom Guten überwältiget und durchdrungen werde. Denn
nicht die erregte Selbstheit an sich ist das Böse, sondern
nur sofern sie sich gänzlich von ihrem Gegensatz, dem
Licht oder dem Universalwissen, losgerissen hat. Aber
eben dieses Lossagen vom Guten ist erst die Sünde. Die
aktivirte Selbstheit ist nothwendig zur Schärfe des
Lebens; ohne sie wäre völliger Tod, ein Einschlummern
des Guten; denn wo nicht Kampf ist, da ist nicht Leben.
Nur die Erweckung des Lebens also ist der Wille des
Grundes, nicht das Böse unmittelbar und an sich.
Schließt der Wille des Menschen die aktivirte Selbstheit
mit der Liebe ein und ordnet sie dem Licht als dem
allgemeinen Willen unter, so entsteht daraus erst die
aktuelle, durch die in ihm befindliche Schärfe
empfindlich gewordene Güte. Im Guten also ist die
Reaktion des Grundes eine Wirkung zum Guten, im
Bösen eine Wirkung zum Bösen, wie die Schrift sagt: in
den Frommen bist du fromm, und in den Verkehrten
verkehrt. Ein Gutes ohne wirksame Selbstheit ist selbst
ein unwirksames Gutes. Dasselbe, was durch den
Willen der Creatur böse wird (wenn es sich ganz
losreißt, um für sich zu seyn), ist an sich selbst das
Gute, solang es nämlich im Guten verschlungen und im
Grunde bleibt. Nur die überwundene, also aus der
Aktivität zur Potentialität zurückgebrachte Selbstheit ist
das Gute, und der Potenz nach, als überwältigt durch
dasselbe, bleibt es im Guten auch immerfort bestehen.
Wäre im Körper nicht eine Wurzel der Kälte, so könnte
die Wärme nicht fühlbar seyn. Eine attrahirende und
eine repellirende Kraft für sich zu denken, ist
unmöglich, denn worauf soll das Repellirende wirken,
wenn ihm nicht das Attrahirende einen Gegenstand
macht, oder worauf das Anziehende, wenn es nicht in
sich selbst zugleich ein Zurückstoßendes hat? Daher
dialektisch ganz richtig gesagt wird: Gut und Bös seyen
dasselbe, nur von verschiedenen Seiten gesehen, oder,
das Böse sey an sich d.h. in der Wurzel seiner Identität
betrachtet, das Gute, wie das Gute dagegen, in seiner
Entzweiung oder Nicht-Identität betrachtet, das Böse.
Aus diesem Grunde ist auch jene Rede ganz richtig,
daß, wer keinen Stoff noch Kräfte zum Bösen in sich
hat, auch zum Guten untüchtig sey, wovon wir zu
unserer Zeit genugsame Beispiele gesehen. Die
Leidenschaften, welchen unsere negative Moral den
Krieg macht, sind Kräfte, deren jede mit der ihr
entsprechenden Tugend eine gemeinsame Wurzel hat.
Die Seele alles Hasses ist Liebe, und im heftigsten Zorn
zeigt sich nur die im innersten Centrum angegriffene
und aufgereizte Stille. Im gehörigen Maß und
organischen Gleichgewicht sind sie die Stärke der
Tugend selbst und ihre unmittelbaren Werkzeuge.
«Wenn die Leidenschaften Glieder der Unehre sind,»
sagt der treffliche J. G. Hamann, «hören sie deswegen
auf, Waffen der Mannheit zu seyn? Versteht ihr den
Buchstaben der Vernunft klüger als jener allegorische
Kämmerer der alexandrinischen Kirche den der Schrift,
der sich selbst zum Verschnittenen machte um des
Himmelreichs willen? - Die größten Bösewichter gegen
sich selbst macht der Fürst dieses Aeons zu seinen
Lieblingen - - seine (des Teufels) Hofnarren sind die
ärgsten Feinde der schönen Natur, die freilich
Korybanten und Gallier zu Bauchpfaffen, aber starke
Geister zu wahren Anbetern hat» 33). Nur mögen dann
diejenigen, deren Philosophie mehr für das Gynäzeum
als für die Akademie oder die Palästra des Lyzeums
gemacht ist, jene dialektischen Sätze nicht vor ein
Publikum bringen, das sie ebenso wie sie selber
mißverstehend,
darin
eine
Aufhebung
alles
Unterschiedes von Recht und Unrecht, Gut und Böse
sieht, und vor welches sie so wenig als etwa die Sätze
der alten Dialektiker, des Zenon und der übrigen
Eleaten, vor das Forum seichter Schöngeister gehören.
Die Erregung des Eigenwillens geschieht nur, damit
die Liebe im Menschen einen Stoff oder Gegensatz
finde, darin sie sich verwirkliche. Inwiefern die
Selbstheit in ihrer Lossagung das Princip des Bösen ist,
erregt der Grund allerdings das mögliche Princip des
Bösen, aber nicht das Böse selber, noch zum Bösen.
Aber auch diese Erregung geschieht nicht nach dem
freien Willen Gottes, der sich in dem Grunde nicht nach
diesem oder seinem Herzen, sondern nur nach seinen
Eigenschaften bewegt.
Wer daher behauptete, Gott selbst habe das Böse
gewollt, müßte den Grund dieser Behauptung in der
That der Selbstoffenbarung als der Schöpfung suchen,
wie auch sonst oft gemeint worden, derjenige, der die
Welt gewollt, habe auch das Böse wollen müssen.
Allein daß Gott die unordentlichen Geburten des Chaos
zur Ordnung gebracht und seine ewige Einheit in die
Natur ausgesprochen, dadurch wirkte er vielmehr der
Finsterniß entgegen, und setzte der regellosen
Bewegung des verstandlosen Princips das Wort als ein
beständiges Centrum und ewige Leuchte entgegen. Der
Wille zur Schöpfung war also unmittelbar nur ein Wille
zur Geburt des Lichtes, und damit des Guten; das Böse
aber kam in diesem Willen weder als Mittel, noch
selbst, wie Leibniz sagt, als Conditio sine qua non der
möglich größten Vollkommenheit der Welt 34) in
Betracht. Es war weder Gegenstand eines göttlichen
Ratschlusses, noch und viel weniger einer Erlaubniß.
Die Frage aber, warum Gott, da er nothwendig
vorgesehen, daß das Böse wenigstens begleitungsweise
aus der Selbstoffenbarung folgen würde, nicht
vorgezogen habe, sich überhaupt nicht zu offenbaren,
verdient in der That keine Erwiderung. Denn dieß hieße
ebensoviel als, damit kein Gegensatz der Liebe seyn
könne, soll die Liebe selbst nicht seyn, d.h. das absolutPositive soll dem, was nur eine Existenz als Gegensatz
hat, das Ewige dem bloß Zeitlichen geopfert werden.
Daß die Selbstoffenbarung in Gott, nicht als eine
unbedingt willkürliche, sondern als eine sittlich-
nothwendige Theil betrachtet werden müsse, in welcher
Liebe und Güte die absolute Innerlichkeit überwunden,
haben wir bereits erklärt. So denn also Gott um des
Bösen willen sich nicht geoffenbart, hätte das Böse über
das Gute und die Liebe gesiegt. Der Leibnizische
Begriff des Bösen als Conditio sine qua non kann nur
auf den Grund angewendet werden, daß dieser nämlich
den creatürlichen Willen (das mögliche Princip des
Bösen) als Bedingung errege, unter welcher allein der
Wille der Liebe verwirklicht werden könne. Warum nun
Gott den Willen des Grundes nicht wehre oder ihn
aufhebe, haben wir ebenfalls schon gezeigt. Es wäre
dieß ebensoviel, als daß Gott die Bedingung seiner
Existenz, d.h. seine eigne Persönlichkeit, aufhöbe.
Damit also das Böse nicht wäre, müßte Gott selbst nicht
seyn.
Eine andre Gegenrede, welche aber nicht bloß diese
Ansicht, sondern jede Metaphysik trifft, ist diese, daß,
wenn auch Gott das Böse nicht gewollt habe, er doch in
dem Sünder fortwirke und ihm die Kraft gebe, das Böse
zu vollbringen. Dieses ist denn mit der gehörigen
Unterscheidung ganz und gar zuzugeben. Der Urgrund
zur Existenz wirkt auch im Bösen fort, wie in der
Krankheit die Gesundheit noch fortwirkt, und auch das
zerrüttetste, verfälschteste Leben bleibt und bewegt sich
noch in Gott, sofern er Grund von Existenz ist. Aber es
empfindet ihn als verzehrenden Grimm, und wird durch
das Anziehen des Grundes selbst in immer höhere
Spannung gegen die Einheit, bis zur Selbstvernichtung
und endlichen Krisis, gesetzt.
Nach allem diesem bleibt immer die Frage übrig:
endet das Böse, und wie? Hat überhaupt die Schöpfung
eine Endabsicht, und wenn dieß ist, warum wird diese
nicht unmittelbar erreicht, warum ist das Vollkommene
nicht gleich von Anfang? Es gibt darauf keine Antwort
als die schon gegebene: weil Gott ein Leben ist, nicht
bloß ein Seyn. Alles Leben aber hat ein Schicksal und
ist dem Leiden und Werden Unterthan. Auch diesem
also hat sich Gott freiwillig unterworfen, schon da er
zuerst, um persönlich zu werden, die Licht- und die
finstre Welt schied. Das Seyn wird sich nur im Werden
empfindlich. Im Seyn freilich ist kein Werden; in
diesem vielmehr ist es selber wieder als Ewigkeit
gesetzt; aber in der Verwirklichung durch Gegensatz ist
nothwendig ein Werden. Ohne den Begriff eines
menschlich leidenden Gottes, der allen Mysterien und
geistigen Religionen der Vorzeit gemein ist, bleibt die
ganze Geschichte unbegreiflich; auch die Schrift
unterscheidet Perioden der Offenbarung, und setzt als
eine ferne Zukunft die Zeit, da Gott Alles in Allem, d.h.
wo er ganz verwirklicht seyn wird. Die erste Periode der
Schöpfung ist, wie früher gezeigt worden, die Geburt
des Lichts. Das Licht oder das ideale Princip ist als ein
ewiger Gegensatz des finstern Princips das schaffende
Wort, welches das im Grunde verborgene Leben aus
dem Nichtseyn erlöst, es aus der Potenz zum Aktus
erhebt. Ueber dem Wort gehet der Geist auf, und der
Geist ist das erste Wesen, welches die finstre und die
Lichtwelt vereiniget und beide Principien sich zur
Verwirklichung und Persönlichkeit unterordnet. Gegen
diese Einheit reagirt jedoch der Grund und behauptet die
anfängliche Dualität, aber nur zu immer höherer
Steigerung und zur endlichen Scheidung des Guten vom
Bösen. Der Wille des Grundes muß in seiner Freiheit
bleiben, bis daß alles erfüllt, alles wirklich geworden
sey. Würde er früher unterworfen, so bliebe das Gute
sammt dem Bösen in ihm verborgen. Aber das Gute soll
aus der Finsterniß zur Aktualität erhoben werden, um
mit Gott unvergänglich zu leben; das Böse aber von
dem Guten geschieden, um auf ewig in das Nichtseyn
verstoßen zu werden. Denn dieß ist die Endabsicht der
Schöpfung, daß, was nicht für sich seyn könnte, für sich
sey, indem es aus der Finsterniß, als einem von Gott
unabhängigen Grunde, ins Daseyn erhoben wird. Daher
die Nothwendigkeit der Geburt und des Todes. Gott gibt
die Ideen, die in ihm ohne selbständiges Leben waren,
dahin in die Selbstheit und das Nichtseyende, damit,
indem sie aus diesem ins Leben gerufen werden, sie als
unabhängig existirende wieder in ihm seyen 35). Der
Grund wirkt also in seiner Freiheit die Scheidung und
das Gericht (κρίσις), und eben damit die vollkommene
Aktualisirung Gottes, Denn das Böse, wenn es vom
Guten gänzlich geschieden ist, ist auch nicht mehr als
Böses. Es konnte nur wirken durch das (mißbrauchte)
Gute, das ihm selbst unbewußt in ihm war. Es genoß im
Leben noch der Kräfte der äußern Natur, mit denen es
versuchte zu schaffen, und hatte noch mittelbaren
Antheil an der Güte Gottes. Im Sterben aber wird es von
allem Guten geschieden, und bleibt zwar zurück als
Begierde, als ewiger Hunger und Durst nach der
Wirklichkeit, aber ohne aus der Potentialität
heraustreten zu können. Sein Zustand ist daher ein
Zustand des Nichtseyns, ein Zustand des beständigen
Verzehrtwerdens der Aktivität, oder dessen, was in ihm
aktiv zu seyn strebt. Es bedarf darum auch zur
Realisirung der Idee einer endlichen allseitigen
Vollkommenheit keineswegs einer Wiederherstellung
des Bösen zum Guten (der Wiederbringung aller
Dinge); denn das Böse ist nur bös, inwiefern es über die
Potentialität hinausgeht; auf das Nichtseyn aber, oder
den Potenzzustand reducirt, ist es, was es immer seyn
sollte, Basis, Unterworfenes, und als solches nicht mehr
im Widerspruch mit der Heiligkeit noch der Liebe
Gottes. Das Ende der Offenbarung ist daher die
Ausstoßung des Bösen vom Guten, die Erklärung
desselben als gänzlicher Unrealität. Dagegen wird das
aus dem Grunde erhobene Gute zur ewigen Einheit mit
dem ursprünglichen Guten verbunden; die aus der
Finsterniß ans Licht Gebornen schließen sich dem
idealen Princip als Glieder seines Leibes an, in welchem
jenes vollkommen verwirklicht und nun ganz
persönliches Wesen ist. Solange die anfängliche
Dualität dauerte, herrschte das schaffende Wort in dem
Grunde, und diese Periode der Schöpfung geht durch
alle hindurch bis zum Ende. Wenn aber die Dualität
durch die Scheidung vernichtet ist, ordnet das Wort oder
das ideale Princip sich und das mit ihm eins gewordene
reale gemeinschaftlich dem Geist unter, und dieser, als
das göttliche Bewußtseyn, lebt auf gleiche Weise in
beiden Principien; wie die Schrift von Christus sagt: Er
muß herrschen, bis daß er alle seine Feinde unter seine
Füße lege. Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der
Tod (denn der Tod war nur nothwendig zur Scheidung,
das Gute muß sterben, um sich vom Bösen, und das
Böse, um sich vom Guten zu scheiden). Wenn aber alles
ihm Unterthan seyn wird, alsdann wird auch der Sohn
selbst Unterthan seyn dem, der ihm alles untergethan
hat, auf daß Gott sey Alles in Allem. Denn auch der
Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist,
oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das
Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund
und ehe das Existirende (als getrennte) waren, aber noch
nicht war als Liebe, sondern - wie sollen wir es
bezeichnen?
Wir treffen hier endlich auf den höchsten Punkt der
ganzen Untersuchung. Schon lange hörten wir die
Frage; wozu soll doch jene erste Unterscheidung dienen,
zwischen dem Wesen, sofern es Grund ist und inwiefern
es existirt? Denn entweder gibt es für die beiden keinen
gemeinsamen Mittelpunkt: dann müssen wir uns für den
absoluten Dualismus erklären. Oder es gibt einen
solchen: so fallen beide in der letzten Betrachtung
wieder zusammen. Wir haben dann Ein Wesen für alle
Gegensätze, eine absolute Identität von Licht und
Finsterniß, Gut und Bös und alle die ungereimten
Folgen, auf die jedes Vernunftsystem geraten muß, und
die auch diesem System vorlängst nachgewiesen sind.
Was wir in der ersten Beziehung annehmen, haben
wir bereits erklärt: es muß vor allem Grund und vor
allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität,
ein Wesen seyn; wie können wir es anders nennen als
den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen
Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht
unterscheidbar noch auf irgend eine Weise vorhanden
seyn. Es kann daher nicht als die Identität, es kann nur
als die absolute Indifferenz beider bezeichnet werden.
Die meisten, wenn sie bis zu dem Punkt der Betrachtung
kommen, wo sie ein Verschwinden aller Gegensätze
erkennen müssen, vergessen, daß diese nun wirklich
verschwunden sind, und prädiciren sie wieder als solche
von der Indifferenz, die ihnen doch eben durch ein
gänzliches Aufhören derselben entstanden war. Die
Indifferenz ist nicht ein Produkt der Gegensätze, noch
sind sie implicite in ihr enthalten, sondern sie ist ein
eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen, an
dem alle Gegensätze sich brechen, das nichts anderes ist
als eben das Nichtseyn derselben, und das darum auch
kein Prädicat hat als eben das der Prädicatlosigkeit,
ohne daß es deswegen ein Nichts oder ein Unding wäre.
Entweder also sie setzen in dem vor allem Grund
vorhergehenden Ungrund wirklich die Indifferenz: so
haben sie weder gut noch bös (denn daß die Erhebung
des Gegensatzes von Gut und Bös auf diesen
Standpunkt überhaupt unstatthaft ist, lassen wir
einstweilen auf sich beruhen) - und können von ihm
auch weder das eine noch das andere, noch auch beides
zugleich prädiciren. Oder sie setzen Gut und Bös: so
setzen sie auch gleich die Dualität und also schon nicht
mehr den Ungrund oder die Indifferenz. Zur Erläuterung
des letzten sey Folgendes gesagt! Reales und Ideales,
Finsterniß und Licht, oder wie wir die beiden Principien
sonst bezeichnen wollen, können von dem Ungrund
niemals als Gegensätze prädicirt werden. Aber es
hindert nichts, daß sie nicht als Nichtgegensätze, d.h. in
der Disjunktion und jedes für sich von ihm prädicirt
werden, womit aber eben die Dualität (die wirkliche
Zweiheit der Principien) gesetzt ist. In dem Ungrund
selbst ist nichts, wodurch dieß verhindert würde. Denn
eben weil er sich gegen beide als totale Indifferenz
verhält, ist er gegen beide gleichgültig. Wäre er die
absolute Identität von beiden, so könnte er nur beide
zugleich seyn, d.h. beide müßten als Gegensätze von
ihm prädicirt werden, und wären dadurch selber wieder
eins. Unmittelbar aus dem Weder - Noch oder der
Indifferenz bricht also die Dualität hervor (die etwas
ganz anderes ist als Gegensatz, wenn wir auch bisher,
da wir noch nicht zu diesem Punkt der Untersuchung
gelangt waren, beides als gleichbedeutend gebraucht
haben sollten), und ohne Indifferenz, d.h. ohne einen
Ungrund, gäbe es keine Zweiheit der Principien. Anstatt
also, daß dieser die Unterscheidung wieder aufhöbe, wie
gemeint wurde, setzt und bestätigt er sie vielmehr. Weit
entfernt, daß die Unterscheidung zwischen dem Grund
und dem Existirenden eine bloß logische, oder nur zur
Aushilfe herbeigerufene und am Ende wieder als unecht
zu befindende gewesen wäre, zeigte sie sich vielmehr
als eine sehr reelle Unterscheidung, die von dem
höchsten Standpunkt aus erst recht bewährt und völlig
begriffen wurde.
Nach dieser dialektischen Erörterung können wir
uns also ganz bestimmt auf folgende Art erklären. Das
Wesen des Grundes, wie das des Existirenden, kann nur
das vor allem Gründe Vorhergehende seyn, also das
schlechthin betrachtete Absolute, der Ungrund. Er kann
es aber (wie bewiesen) nicht anders seyn, als indem er
in zwei gleich ewige Anfänge auseinandergeht, nicht
daß er beide zugleich, sondern daß er in jedem
gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes
Wesen ist. Der Ungrund theilt sich aber in die zwei
gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm,
als Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten,
durch Liebe eins werden, d.h. er theilt sich nur, damit
Leben und Lieben sey und persönliche Existenz. Denn
Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo
Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung
zum Seyn bedürfen, sondern (um ein schon gesagtes
Wort zu wiederholen) dieß ist das Geheimniß der Liebe,
daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn
könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das
andere 36). Darum sowie im Ungrund die Dualität wird,
wird auch die Liebe, welche das Existirende (Ideale) mit
dem Grund zur Existenz verbindet. Aber der Grund
bleibt frei und unabhängig von dem Wort bis zur
endlichen gänzlichen Scheidung. Dann löst er sich auf,
wie im Menschen, wenn er zur Klarheit übergeht und
als bleibendes Wesen sich gründet, die anfängliche
Sehnsucht sich löst, indem alles Wahre und Gute in ihr
ins lichte Bewußtseyn erhoben wird, alles andere aber,
das Falsche nämlich und Unreine, auf ewig in die
Finsterniß beschlossen, um als ewig dunkler Grund der
Selbstheit, als Caput mortuum seines Lebensprozesses
und als Potenz zurückzubleiben, die nie zum Aktus
hervorgehen kann. Dann wird alles dem Geist
unterworfen: in dem Geist ist das Existirende mit dem
Grunde zur Existenz eins; in ihm sind wirklich beide
zugleich, oder er ist die absolute Identität beider. Aber
über dem Geist ist der anfängliche Ungrund, der nicht
mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht
Identität beider Principien, sondern die allgemeine,
gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene
Einheit, das von allem freie und doch alles
durchwirkende Wohlthun, mit Einem Wort die Liebe,
die Alles in Allem ist.
Wer also (wie vorhin) sagen wollte: es sey in diesem
System Ein Princip für alles, es sey ein und dasselbe
Wesen, das im finstern Naturgrund und das in der
ewigen Klarheit waltet, ein und dasselbe, das die Härte
und Abgeschnittenheit der Dinge, und das die Einheit
und Sanftmuth wirkt, das nämliche, das mit dem Willen
der Liebe im Guten und mit dem Willen des Zornes im
Bösen herrscht, der hätte, obgleich er das alles ganz
richtig sagt, doch dieß nicht zu vergessen: daß das Eine
Wesen in seinen zwei Wirkungsweisen sich wirklich in
zwei Wesen scheidet, daß es in dem einen bloß Grund
zur Existenz, in dem andern bloß Wesen (und darum nur
ideal ist); ferner daß nur Gott als Geist die absolute
Identität beider Principien, aber nur dadurch und
insofern ist, daß und inwiefern beide seiner
Persönlichkeit unterworfen sind. Wer aber vollends auf
dem höchsten Standpunkt dieser Ansicht eine absolute
Identität des Guten und Bösen fände, zeigte seine
gänzliche Unkunde, indem Böses und Gutes durchaus
keinen ursprünglichen Gegensatz, am allerwenigsten
aber eine Dualität bilden. Dualität ist, wo sich wirklich
zwei Wesen entgegenstehen. Das Böse aber ist kein
Wesen, sondern ein Unwesen, das nur im Gegensatz
eine Realität ist, nicht an sich. Auch ist die absolute
Identität, der Geist der Liebe, eben darum eher als das
Böse, weil dieses erst im Gegensatz mit ihm erscheinen
kann. Daher es auch nicht von der absoluten Identität
begriffen seyn kann, sondern ewig von ihr
ausgeschlossen und ausgestoßen ist 37).
Wer endlich darum, weil in bezug auf das Absolute
schlechthin betrachtet alle Gegensätze verschwinden,
dieses System Pantheismus nennen wollte, dem möchte
auch dieses vergönnt seyn 38). Wir lassen gern jedem
seine Weise, sich die Zeit, und was in ihr ist,
verständlich zu machen. Der Name tuts nicht; auf die
Sache kommt es an. Die Eitelkeit einer Polemik aus
bloßen Allgemeinbegriffen philosophischer Systeme
gegen ein Bestimmtes, das wohl mit ihnen manchen
Berührungspunkt gemein haben kann und daher auch
schon mit allen verwechselt worden ist, das aber in
jedem einzelnen Punkt seine eigentümlichen
Bestimmungen hat - die Eitelkeit einer solchen Polemik
haben wir schon im Eingange zu dieser Abhandlung
berührt. So ist es geschwind zu sagen, ein System lehre
die Immanenz der Dinge in Gott; und doch wäre z.B. in
bezug auf uns damit nichts gesagt, ob es gleich nicht
geradezu unwahr heißen könnte. Denn wir haben
genugsam gezeigt, daß alle Naturwesen ein bloßes Seyn
im Grunde, oder in der noch nicht zur Einheit mit dem
Verstande gelangten anfänglichen Sehnsucht haben, daß
sie also in bezug auf Gott bloß peripherische Wesen
sind. Nur der Mensch ist in Gott, und eben durch dieses
in-Gott-Seyn der Freiheit fähig. Er allein ist ein
Centralwesen und soll darum auch im Centro bleiben. In
ihm sind alle Dinge erschaffen, so wie Gott nur durch
den Menschen auch die Natur annimmt und mit sich
verbindet. Die Natur ist das erste oder alte Testament,
da die Dinge noch außer dem Centro und daher unter
dem Gesetze sind. Der Mensch ist der Anfang des neuen
Bundes, durch welchen als Mittler, da er selbst mit Gott
verbunden wird, Gott (nach der letzten Scheidung) auch
die Natur annimmt und zu sich macht. Der Mensch ist
also der Erlöser der Natur, auf den alle Vorbilder
derselben zielen. Das Wort, das im Menschen erfüllt
wird, ist in der Natur als ein dunkles, prophetisches
(noch nicht völlig ausgesprochenes) Wort. Daher die
Vorbedeutungen, die in ihr selbst keine Auslegung
haben und erst durch den Menschen erklärt werden.
Daher die allgemeine Finalität der Ursachen, die
ebenfalls nur von diesem Standpunkt verständlich wird.
Wer nun alle diese Mittelbestimmungen ausläßt oder
übersieht, der hat leicht zu widerlegen. Es ist um die
bloß historische Kritik zwar eine bequeme Sache. Man
braucht dabei nichts selbst, aus eignem Vermögen,
hinzustellen, und kann das Caute, per Deos! incede,
latet ignis sub cinere doloso, trefflich beobachten. Dabei
sind
aber
willkürliche
und
unbewiesene
Voraussetzungen unvermeidlich. So um zu beweisen,
daß es nur zwei Erklärungsarten des Bösen gebe - die
dualistische, nach welcher ein böses Grundwesen,
gleichviel mit welchen Modifikationen unter oder neben
dem guten, angenommen wird, und die kabbalistische,
nach welcher das Böse durch Emanation und
Entfernung erklärt wird - und daß deshalb jedes andere
System den Unterschied von Gut und Bös aufheben
müsse; um dieß zu beweisen, würde nichts weniger als
die ganze Macht einer tief ersonnenen und gründlich
ausgebildeten Philosophie erfordert. In dem System hat
jeder Begriff seine bestimmte Stelle, an der er allein
gilt, und die auch seine Bedeutung, so wie seine
Limitation bestimmt. Wer nun nicht auf das Innere
eingeht, sondern nur die allgemeinsten Begriffe aus dem
Zusammenhange heraushebt, wie mag der das Ganze
richtig beurtheilen? So haben wir den bestimmten Punkt
des Systems aufgezeigt, wo der Begriff der Indifferenz
allerdings der einzige vom Absoluten mögliche ist.
Wird er nun allgemein genommen, so wird das Ganze
entstellt, es folgt dann auch, daß dieses System die
Personalität des höchsten Wesens aufhebe. Wir haben
zu diesem oft gehörten Vorwurf wie zu manchem
andern bisher geschwiegen, glauben aber in dieser
Abhandlung den ersten deutlichen Begriff derselben
aufgestellt zu haben. In dem Ungrund oder der
Indifferenz ist freilich keine Persönlichkeit; aber ist
denn der Anfangspunkt das Ganze? Nun fordern wir
die, welche jenen Vorwurf so leichthin gemacht, auf,
uns dagegen nach ihren Ansichten auch nur das
geringste
Verständliche
über
diesen
Begriff
vorzubringen. Ueberall finden wir vielmehr, daß sie die
Persönlichkeit Gottes als unbegreiflich und auf keine
Weise verständlich zu machen angeben, woran sie auch
ganz recht thun, indem sie eben jene abstrakten
Systeme, in denen alle Persönlichkeit überhaupt
unmöglich ist, für die einzigen vernunftgemäßen halten,
was vermuthlich auch der Grund ist, daß sie jedem die
nämlichen zutrauen, der nicht Wissenschaft und
Vernunft verachtet. Wir im Gegentheil sind der
Meinung, daß eben von den höchsten Begriffen eine
klare Vernunfteinsicht möglich seyn muß, indem sie nur
dadurch uns wirklich eigen, in uns selbst aufgenommen
und ewig gegründet weiden können. Ja, wir gehen noch
weiter, und halten mit Lessing selbst die Ausbildung
geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten für
schlechterdings nothwendig, wenn dem menschlichen
Geschlecht damit geholfen werden soll 39). Ebenso sind
wir überzeugt, daß, um jeden möglichen Irrthum (in
eigentlich geistigen Gegenständen) darzuthun, die
Vernunft
vollkommen
hinreiche,
und
die
Ketzerrichtende
Miene
bei
Beurtheilung
philosophischer Systeme ganz entbehrlich sey 40). Ein
absoluter Dualismus von Gut und Bös in die Geschichte
übergetragen, wonach in allen Erscheinungen und
Werken des menschlichen Geistes entweder das eine
oder das andere Princip herrscht, wonach es nur zwei
Systeme und zwei Religionen gibt, eine absolut gute
und eine schlechthin böse; ferner die Meinung, daß alles
vom Reinen und Lautem angefangen, und alle späteren
Entwicklungen (die doch nothwendig waren, um die in
der ersten Einheit enthaltenen partiellen Seiten und
dadurch sie selbst vollkommen zu offenbaren) nur
Verderbniß und Verfälschungen gewesen: diese ganze
Ansicht dient zwar in der Kritik als ein mächtiges
Alexanders-Schwert, um überall den gordischen Knoten
ohne Mühe entzwei zu hauen, führt aber in die
Geschichte einen durchaus illiberalen und höchst
beschränkenden Gesichtspunkt ein. Es war eine Zeit, die
vor jener Trennung vorherging, und eine Weltansicht
und Religion, die, obgleich der absoluten
entgegengesetzt, doch aus eignem Gründe entsprang,
und nicht aus Verfälschung der ersten. Das Heiligthum
ist, historisch genommen, so ursprünglich als das
Christenthum und, wenn gleich nur Grund und Basis
des Höheren, doch von keinem andern abgeleitet.
Diese
Betrachtungen
führen
auf
unsern
Anfangspunkt zurück. Ein System, das den heiligsten
Gefühlen, das dem Gemüth und sittlichen Bewußtseyn
widerspricht, kann, in dieser Eigenschaft wenigstens,
nie ein System der Vernunft, sondern nur der
Unvernunft heißen. Dagegen würde ein System, worin
die Vernunft sich selbst wirklich erkennte, alle
Anforderungen des Geistes wie des Herzens, des
sittlichsten Gefühls wie des strengsten Verstandes
vereinigen müssen. Die Polemik gegen Vernunft und
Wissenschaft verstattet zwar eine gewisse vornehme
Allgemeinheit, die genaue Begriffe umgeht, so daß wir
leichter die Absichten derselben als ihren bestimmten
Sinn erraten können. Indes fürchten wir, wenn wir es
auch ergründeten, doch auf nichts Außerordentliches zu
stoßen. Denn so hoch wir auch die Vernunft stellen,
glauben wir doch z.B. nicht, daß jemand aus reiner
Vernunft tugendhaft, oder ein Held, oder überhaupt ein
großer Mensch sey; ja nicht einmal, nach der bekannten
Rede, daß das Menschengeschlecht durch sie
fortgepflanzt werde. Nur in der Persönlichkeit ist Leben;
und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde,
der also allerdings auch Grund der Erkenntniß seyn
muß. Aber nur der Verstand ist es, der das in diesem
Grunde verborgene und bloß potentialiter enthaltene
herausbildet und zum Aktus erhebt. Dieß kann nur
durch Scheidung geschehen, also durch Wissenschaft
und Dialektik, von denen wir überzeugt sind, daß sie
allein es seyn werden, die jenes öfter, als wir denken, da
gewesene, aber immer wieder entflohene, uns allen
vorschwebende und noch von keinem ganz ergriffene
System festhalten und zur Erkenntniß auf ewig bringen
werden. Wie wir im Leben eigentlich nur kräftigem
Verstände trauen, und am meisten bei denen, die uns
immer ihr Gefühl zur Schau legen, jedes wahre
Zartgefühl vermissen, so kann auch, wo es sich um
Wahrheit und Erkenntniß handelt, die Selbstheit, die es
bloß bis zum Gefühl gebracht hat, uns kein Vertrauen
abgewinnen. Das Gefühl ist herrlich, wenn es im
Gründe bleibt; nicht aber, wenn es an den Tag tritt, sich
zum Wesen machen und herrschen will. Wenn, nach
den trefflichen Ansichten Franz Baaders, der
Erkenntnißtrieb die größte Analogie mit dem
Zeugungstrieb hat 41), so gibt es auch in der Erkenntniß
etwas der Zucht und Verschämtheit Analoges, und
dagegen auch eine Un-Zucht und Schamlosigkeit, eine
Art faunischer Lust, die an allem herumkostet, ohne
Ernst und ohne Liebe, etwas zu bilden oder zu gestalten.
Das Band unserer Persönlichkeit ist der Geist, und wenn
nur die werkthätige Verbindung beider Principien
schaffend und erzeugend werden kann, so ist
Begeisterung im eigentlichen Sinn das wirksame Princip
jeder erzeugenden und bildenden Kunst oder
Wissenschaft. Jede Begeisterung äußert sich auf eine
bestimmte Weise; und so gibt es auch eine, die sich
durch dialektischen Kunsttrieb äußert, eine eigentlich
wissenschaftliche Begeisterung. Es gibt darum auch
eine dialektische Philosophie, die als Wissenschaft
bestimmt, z.B. von Poesie und Religion, geschieden,
und etwas ganz für sich Bestehendes, nicht aber mit
allem Möglichen nach der Reihe eins ist, wie die
behaupten, welche jetzt in so vielen Schriften alles mit
allem zu vermischen bemüht sind. Man sagt, die
Reflexion sey gegen die Idee feindselig; aber gerade
dieß ist der höchste Triumph der Wahrheit, daß sie aus
der äußersten Scheidung und Trennung dennoch
siegreich hervortritt. Die Vernunft ist in dem Menschen
das, was nach den Mystikern das Primum passivum in
Gott oder die anfängliche Weisheit ist, in der alle Dinge
beisammen und doch gesondert, eins und doch jedes frei
in seiner Art sind. Sie ist nicht Thätigkeit, wie der Geist,
nicht absolute Identität beider Principien der
Erkenntniß, sondern die Indifferenz; das Maß und
gleichsam der allgemeine Ort der Wahrheit, die ruhige
Stätte, darin die ursprüngliche Weisheit empfangen
wird, nach welcher, als dem Urbild hinblickend, der
Verstand bilden soll. Die Philosophie hat ihren Namen
einerseits von der Liebe, als dem allgemein
begeisternden Princip, andererseits von dieser
ursprünglichen Weisheit, die ihr eigentliches Ziel ist.
Wenn der Philosophie das dialektische Princip, d.h.
der sondernde, aber eben darum organisch ordnende und
gestaltende, Verstand, zugleich mit dem Urbild, nach
dem er sich richtet, entzogen wird, so, daß sie in sich
selbst weder Maß noch Regel mehr hat: so bleibt ihr
allerdings nichts anderes übrig, als daß sie sich
historisch zu orientiren sucht, und die Ueberlieferung,
an welche bei einem gleichen Resultat schon früher
verwiesen worden, zur Quelle und Richtschnur nimmt.
Dann ist es Zeit, wie man die Poesie bei uns durch die
Kenntniß der Dichtungen aller Nationen zu begründen
meinte, auch für die Philosophie eine geschichtliche
Norm und Grundlage zu suchen. Wir hegen die größte
Achtung für den Tiefsinn historischer Nachforschungen,
und glauben gezeigt zu haben, daß die fast allgemeine
Meinung, als habe der Mensch erst allmählich von der
Dumpfheit des thierischen Instinkts zur Vernunft sich
aufgerichtet, nicht die unserige sey. Dennoch glauben
wir, daß die Wahrheit uns näher liege, und daß wir für
die Probleme, die zu unserer Zeit rege geworden sind,
die Auflösung zuerst bei uns selbst und auf unserem
eignen Boden suchen sollen, ehe wir nach so entfernten
Quellen wandeln. Die Zeit des bloß historischen
Glaubens ist vorbei, wenn die Möglichkeit
unmittelbarer Erkenntniß gegeben ist. Wir haben eine
ältere Offenbarung als jede geschriebene, die Natur.
Diese enthält Vorbilder, die noch kein Mensch gedeutet
hat, während die der geschriebenen ihre Erfüllung und
Auslegung längst erhalten haben. Das einzig wahre
System der Religion und Wissenschaft würde, wenn das
Verständniß jener ungeschriebenen Offenbarung
eröffnet
wäre,
nicht
in
dem
dürftig
zusammengebrachten Staat einiger philosophischen und
kritischen Begriffe, sondern zugleich in dem vollen
Glänze der Wahrheit und der Natur erscheinen. Es ist
nicht die Zeit, alte Gegensätze wieder zu erwecken,
sondern das außer und über allem Gegensatz Liegende
zu suchen.
Gegenwärtiger Abhandlung wird eine Reihe anderer
folgen, in denen das Ganze des ideellen Theils der
Philosophie allmählich dargestellt wird.
___________
1) Diese Bemerkungen bildeten ursprünglich einen
Theil der Vorrede zu Schellings Philosophischen
Schriften, erster Band, Landshut 1809, wo die
Abhandlung zuerst erschien. D. H.
2) [Schellings Werke I, IV.]
3) Sext. Empir. adv. Grammaticos L. I, c. 13, p. 238. ed.
Fabric.
4) Frühere Behauptungen der Art sind bekannt. Ob die
Aeußerung von Fr. Schlegel in der Schrift: Ueber die
Sprache und Weisheit der Indier S. 141: «der
Pantheismus ist das System der reinen Vernunft» etwa
einen andern Sinn haben könne, lassen wir
dahingestellt.
5) Auch Hr. Reinhold, welcher die ganze Philosophie
durch Logik umschaffen wollte, der aber nicht zu
kennen scheint, was schon Leibniz, in dessen Fußtapfen
er zu wandeln sich vorstellt, bei Gelegenheit der
Einwürfe des Wissowatius (Opp. T. I ed. Dutens, p. 11)
über den Sinn der Copula gesagt hat, zerarbeitet sich
noch immer an diesem Irrsal, nach welchem er Identität
mit Einerleiheit verwechselt. In einem vor uns liegenden
Blatt steht folgende von ihm herrührende Stelle: «Nach
der Anforderung Platons und Leibnizens besteht die
Aufgabe der Philosophie in Aufweisung der
Unterordnung des Endlichen unter das Unendliche, nach
der Anforderung Xenophanes, Brunos, Spinozas,
Schellings im Aufweisen der unbedingten Einheit
beider.» Inwiefern hier Einheit dem Gegensatz zufolge
offenbar Gleichheit bezeichnen soll, versichere ich Hrn.
Reinhold, daß er, wenigstens was die beiden letzten
betrifft, sich im Irrthum befinde. Wo ist für die
Unterordnung des Endlichen unter das Unendliche ein
schärferer Ausdruck zu finden als der obige des
Spinoza? Die Lebenden müssen sich der nicht mehr
Gegenwärtigen wider Verunglimpfungen annehmen,
wie wir erwarten, daß im gleichen Falle die nach uns
Lebenden in Ansehung unsrer thun werden. Ich rede nur
von Spinoza, und frage, wie man dieses Verfahren
nennen soll, über Systeme, ohne sie gründlich zu
kennen, in den Tag hinein zu behaupten, was man gut
findet, gleich als wäre es eben eine Kleinigkeit, ihnen
dieß oder jenes anzudichten? In der gewöhnlichen
sittlichen Gesellschaft würde es gewissenlos genannt
werden. - Nach einer andern Stelle in dem nämlichen
Blatt liegt für Hrn. R. der Grundfehler aller neueren
Philosophie, ebenso wie jener älteren, in der
Nichtunterscheidung (Verwirrung, Verwechslung) der
Einheit (Identität) mit dem Zusammenhang (Nexus), so
wie der Verschiedenheit (Diversität) mit dem
Unterschiede. Es ist nicht das erste Beispiel, daß Hr. R.
in seinen Gegnern eben die Fehler findet, die er zu
ihnen mitgebracht hat. Es scheint dieß die Art zu seyn,
wie er die nötige Medicina mentis für sich gebraucht;
wie man Beispiele haben will, daß Personen von
reizbarer Einbildungskraft durch Arzneien, die sie
andere für sich nehmen ließen, genesen sind. Denn wer
begeht diesen Fehler der Verwechslung - dessen, was er
Einheit nennt, was aber Einerleiheit ist - mit dem
Zusammenhang in bezug auf ältere und neuere
Philosophie bestimmter als eben Hr. R. selbst, der das
Begriffenseyn der Dinge in Gott dem Spinoza als
behauptete Gleichheit beider auslegt, und der allgemein
die Nichtverschiedenheit (der Substanz oder dem Wesen
nach) für einen Nichtunterschied (der Form oder dem
logischen Begriff nach) hält. Wenn Spinoza wirklich so
zu verstehen ist, wie ihn Hr. Reinhold auslegt, so müßte
auch der bekannte Satz, daß das Ding und der Begriff
des Dings eins ist, so verstanden werden, als könnte
man z.B. den Feind anstatt mit einer Armee mit dem
Begriff einer Armee schlagen usw., Consequenzen, zu
denen der ernsthafte und nachdenkliche Mann sich doch
gewiß selbst zu gut findet.
6) Den Rath, den Hr. Fr. Schlegel in einer Recension
der neueren Schriften Fichtes in den Heidelbergischen
Jahrb. der Literatur (1. Jahrg., 6. Heft, S. 139) dem
letzten ertheilt, sich bei seinen polemischen
Unternehmungen ausschließlich an den Spinoza zu
halten, weil bei diesem allein das der Form und
Konsequenz nach durchaus vollendete System des
Pantheismus - welcher nach der oben angeführten
Aeußerung zugleich das System der reinen Vernunft
wäre - angetroffen werde; dieser Rat mag zwar übrigens
gewisse Vortheile gewähren, fällt aber doch dadurch ins
Sonderbare, daß Hr. Fichte ohne Zweifel der Meinung
ist, den Spinozismus (als Spinozismus) bereits durch die
Wissenschaftslehre widerlegt zu haben, woran er auch
ganz Recht hat. - Oder ist der Idealismus vielleicht kein
Werk der Vernunft, und bleibt die vermeintliche
traurige Ehre, Vernunftsystem zu seyn, wirklich nur
dem Pantheismus und Spinozismus?
7) Hr. Fr. Schlegel hat das Verdienst, in seiner Schrift
über Indien und an mehreren Orten diese Schwierigkeit
besonders gegen den Pantheismus geltend gemacht zu
haben; wobei bloß zu bedauern ist, daß dieser
scharfsinnige Gelehrte seine eigne Ansicht vom
Ursprung des Bösen und seinem Verhältniß zum Guten
nicht mitzutheilen für gut befunden hat.
8) Ennead. I, L. VIII, c. 8.
9) Man s. dieselbe in der Zeitschr. für spekul. Physik
Bd. II, Heft 2, § 54 Anm. [IV, S. 146] ferner Anm. 1 zu
§ 93 und die Erklärung S. 114. [Schellings Werke IV, S.
203].
10) A. a. O. S. 59. 60. [Schellings Werke IV, S. 163].
11) Ebendas. S. 41. [Schellings Werke IV, S. 146].
12) Das S. 114. [Schellings Werke IV, S. 203].
13) Es ist dieß der einzig rechte Dualismus, nämlich
der, welcher zugleich eine Einheit zuläßt. Oben war von
dem modificirten Dualismus die Rede, nach welchem
das böse Princip dem guten nicht bei-, sondern
untergeordnet ist. Kaum ist zu fürchten, daß jemand das
hier aufgestellte Verhältniß mit jenem Dualismus
verwechseln werde, in welchem das Untergeordnete
immer ein wesentlich-böses Princip ist und eben darum
seiner Abkunft aus Gott nach völlig unbegreiflich bleibt.
14) In dem Sinne, wie man sagt: das Wort des Räthsels.
15) In der Abhandlung: «Ueber die Behauptung, daß
kein übler Gebrauch der Vernunft seyn kann», im
Morgenblatt 1807, Nr. 197, und: «Ueber Starres und
Fließendes», in den Jahrbüchern der Medicin als
Wissenschaft III. Bd., 2. Heft. Zur Vergleichung und
weitem Erläuterung stehe auch hier die hierher
bezügliche Anmerkung am Ende dieser Abhandlung S.
203: «Einen lehrreichen Aufschluß gibt hier das
gemeine Feuer (als wilde, verzehrende, peinliche Glut)
im Gegensatze der sogenannten organischen
wohltuenden Lebensglut, indem hier Feuer und Wasser
in Einem (wachsenden) Grunde zusammen, oder in
Konjunktion eingehen, während sie dort in Zwietracht
auseinander treten. Nun war aber weder Feuer noch
Wasser, als solche, d.h. als geschiedene Sphären im
organischen Prozesse, sondern jenes war als Centrum
(mysterium), dieses als offen oder Peripherie in ihm,
und eben die Aufschließung, Erhebung, Entzündung des
ersten zusammen mit der Verschließung des zweiten
gab Krankheit und Tod. So ist nun allgemein die
Ichheit, Individualität freilich die Basis, das Fundament
oder natürliches Centrum jedes Creaturlebens; sowie
selbes aber aufhört dienendes Centrum zu seyn und
herrschend in Peripherie tritt, brennt es als tantalischer
Grimm der Selbstsucht und des Egoismus (der
entzündeten Ichheit) in ihr. Aus wird nun - das heißt:
an einer einzigen Stelle des Planetensystems ist jenes
finstere Naturcentrum verschlossen, latent, und dient
eben darum als Lichtträger dem Eintritt des höheren
Systems (Lichteinstrahl- oder Offenbarung des
Ideellen). Eben darum ist also diese Stelle der offene
Punkt (Sonne - Herz - Auge) im Systeme - und erhöbe
oder öffnete sich auch dort das finstere Naturcentrum,
so verschlösse sich eo ipso der Lichtpunkt, das Licht
würde zur Finsterniß im System, oder die Sonne
erlösche!»
16) Tentam. theod. Opp. T. I., p. 136.
17) Ebendas. S. 240.
18) Ebendas. S. 387.
18) Es ist in dieser Beziehung auffallend, daß nicht erst
die Scholastiker, sondern schon unter den früheren
Kirchenvätern mehrere, vorzüglich Augustinus, das
Böse in eine bloße Privation setzten. Merkwürdig ist
besonders die Stelle contr. Jul. L. 1, C. III: Quaerunt ex
nobis, unde sit malum? Respondemus ex bono, sed non
summo, ex bonis igitur orta sunt mala. Mala enim
omnia participant ex bono, merum enim et ex omni
parte tale dari repugnat. - - Haud vero difficulter omnia
expediet, qui conceptum mali semel recte formaverit,
eumque semper defectum aliquem involvere attenderit,
perfectionem autem omnimodam incommunicabiliter
possidere Deum; neque magis possibile esse, creaturam
illimitatam adeoque independentem creari, quam creari
alium Deum.
20) Tentam. theod. p. 242.
21) Ebendas. P. I. § 30.
22) Aus dem gleichen Grunde muß jede andere
Erklärung der Endlichkeit, z.B. aus dem Begriff der
Relationen, zur Erklärung des Bösen unzureichend seyn.
Das Böse kommt nicht aus der Endlichkeit an sich,
sondern aus der zum Selbstseyn erhobenen Endlichkeit.
23) In der oben angeführten
Morgenblatt 1807, S. 786.
Abhandlung
im
24) Augustinus sagt gegen die Emanation: aus Gottes
Substanz könne nichts hervorgehen denn Gott; darum
sey die Creatur aus Nichts erschaffen, woher ihre
Korruptibilität und Mangelhaftigkeit komme (de lib.
arb. L. I, C. 2). Jenes Nichts ist nun schon lange das
Kreuz des Verstandes. Einen Aufschluß gibt der
Ausdruck der Schrift: der Mensch sey ἐκ τῶν μὴ ὄντων,
aus dem, das da nicht ist, geschaffen, so wie das
berühmte μὴ ὄν der Alten, welches, so wie die
Schöpfung aus Nichts, durch die obige Unterscheidung
zuerst eine positive Bedeutung bekommen möchte.
25) Möge es einst der treffliche Erklärer des Platon,
oder noch früher der wackere Böckh aufhellen, der dazu
schon durch seine Bemerkungen bei Gelegenheit der
von ihm dargestellten Platonischen Harmonik und durch
die Ankündigung seiner Ausgabe des Timäos die besten
Hoffnungen gegeben hat.
26) So ist die nahe Verbindung, in welche die
Imagination aller Völker, besonders alle Fabeln und
Religionen des Morgenlandes, die Schlange mit dem
Bösen setzen, gewiß nicht umsonst. Die vollkommene
Ausbildung der H�lfsorgane, die im Menschen aufs
Höchste gediehen ist, deutet nämlich schon die
Unabhängigkeit des Willens von den Begierden oder ein
Verhältniß von Centrum und Peripherie an, welches das
einzig eigentlich gesunde ist, in dem das erste in seine
Freiheit und Besonnenheit zurückgetreten sind, und
vom bloß Werkzeuglichen (Peripherischen) sich
geschieden hat. Wo hingegen die H�lfsorgane nicht
ausgebildet sind oder ganz mangeln, da ist das Centrum
in die Peripherie getreten, oder es ist der mittelpunktlose
Ring in der oben angeführten Stelle von Fr. Baader.
27) Man vergleiche mit diesem ganzen Abschnitt des
Verfassers Vorlesungen über die Methode des
akademischen Studiums, VIII. Vorlesung über die
historische Construktion des Christenthums [Schellings
Werke Bd. II, 616 ff.].
28) So Luther im Traktat de servo arbitrio: mit Recht,
wenn er auch die Vereinigung einer solchen unfehlbaren
Nothwendigkeit mit der Freiheit der Handlungen nicht
auf die rechte Art begriffen.
29) Der Platonische Ausdruck im Timäos S. 349, Vol.
IX. der Zweibr. Ausg.; früher in Tim. Locr. de an.
mundi, ebendas. S. 5
30) Sehr richtige Bemerkungen über diese moralische
Genialität des Zeitalters enthält die mehrmals
angeführte Recension von Hrn. Fr. Schlegel in den
Heidelb. Jahrbüchern, S. 154.
31) Ein junger Mann, der wahrscheinlich, wie jetzt viele
andere, zu hochmüthig, den ehrlichen Weg Kants zu
wandeln, und doch unfähig, sich zum wirklich Besseren
zu erheben, ästhetisch irre redet, hat bereits eine solche
Begründung der Moral durch Aesthetik angekündigt.
Bei solchen Fortschritten wird vielleicht aus dem
Kantischen Scherz, den Euklides als eine etwas
schwerfällige Anleitung zum Zeichnen zu betrachten,
auch noch Ernst werden.
32) Tentam. theod. Opp. T. I, p. 365. 366.
33) Kleeblatt hellenistischer Briefe II, S. 196.
34) Tentam. theod. p. 139: «Ex bis concludendum est,
Deum antecedenter velle omne bonum in se, velle
consequenter optimum tanquam finem; indifferens et
malum physicum tanquam medium; sed velle tantum
permittere malum morale, tanquam conditionem, sine
qua non obtineretur optimum, ita nimirum, ut malum
nonnisi titulo necessitatis hypotheticae, id ipsum cum
optimo connectentis, admittatur». - p. 292: Quod ad
vitium attinet, superius ostensum est, illud non esse
objectum decreti divini, tanquam medium, sed tanquam
conditionem sine qua non - et ideo duntaxat permitti. Diese zwei Stellen enthalten den Kern der ganzen
Leibnizischen Theodicee.
35) Philosophie und Religion, (Tübingen. 1804) S. 73.
[Schellings Werke IV, S. 63].
36) Aphorismen über die Naturphilosophie in den
Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft. Bd. I, Heft
1. Aphor. 162. 163. [Schellings Werke I, VII 174: 162.
Der Unterschied einer göttlichen Identität von einer
bloß endlichen ist, daß in jener nicht Entgegengesetzte
verbunden werden, die der Verbindung bedürfen,
sondern solche, deren jedes für sich seyn könnte und
doch nicht ist ohne das andere. 163. Dieß ist das
Geheimniß der ewigen Liebe, daß, was für sich absolut
seyn möchte, dennoch es für keinen Raub achtet, es für
sich zu seyn, sondern es nur in und mit dem andern ist.
Wäre nicht jedes ein Ganzes, sondern nur Theil des
Ganzen, so wäre nicht Liebe: Darum aber ist Liebe, weil
jedes ein Ganzes ist und dennoch nicht ist und nicht
seyn kann ohne das andere.]
37) Hieraus erhellt, wie sonderbar es ist, zu fordern, daß
der Gegensatz von Gut und Bös gleich in den ersten
Principien erklärt werde. So reden muß freilich, wer Gut
und Bös für eine wirkliche Dualität und den Dualismus
für das vollkommenste System hält.
38) Niemand kann mehr als der Verfasser in den
Wunsch einstimmen, den Hr. Fr. Schlegel in den
Heidelb. Jahrb. H. 2, S. 242 äußert, daß der
unmännliche pantheistische Schwindel in Deutschland
aufhören möge, besonders, da Hr. S. auch die
ästhetische Träumerei und Einbildung dazusetzt, und
inwiefern wir zugleich die Meinung von der
allsschließenden Vernunftmäßigkeit des Spinozismus
mit zu jenem Schwindel rechnen dürfen. Es ist zwar in
Deutschland, wo ein philosophisches System
Gegenstand literarischer Industrie wird, und so viele,
denen die Natur selbst für alltägliche Dinge den
Verstand versagt hat, sich zum Mitphilosophiren
berufen glauben, sehr leicht, eine falsche Meinung, ja
sogar einen Schwindel zu erregen. Beruhigen kann
wenigstens das Bewußtseyn, ihn nie persönlich
begünstigt oder durch eigne hilfreiche Unterstützung
aufgemuntert zu haben, sondern mit Erasmus (so wenig
man sonst mit ihm gemein haben mag) sagen zu
können: semper solus esse volui nihilque pejus odi
quam juratos et factiosos. Der Verfasser hat nie durch
Stiftung einer Sekte andern, am wenigsten sich selbst
die Freiheit der Untersuchung nehmen wollen, in
welcher er sich noch immer begriffen erklärte und wohl
immer begriffen erklären wird. Den Gang, den er in
gegenwärtiger. Abhandlung genommen, wo, wenn auch
die äußere Form des Gesprächs fehlt, doch alles wie
gesprächsweise entsteht, wird er auch künftig
beibehalten. Manches konnte hier schärfer bestimmt
und weniger lässig gehalten, manches vor Mißdeutung
ausdrücklicher verwahrt werden. Der Verf. unterließ es
zum Theil absichtlich. Wer es nicht so von ihm nehmen
kann oder will, der nehme überhaupt nichts von ihm, er
suche andere Quellen. Vielleicht aber, daß, von
unberufenen Nachfolgern und Gegnern, dieser
Abhandlung die Achtung zutheil wird, die sie der
früheren, verwandten Schrift Philosophie und Religion
durch gänzliches Ignoriren erwiesen haben, wozu die
ersten gewiß weniger durch die Drohworte der Vorrede
oder die Darstellungsart, als durch den Inhalt selbst
bewogen wurden.
39) Erziehung des Menschengeschlechts, § 76.
40) Besonders wenn man auf der andern Seite da nur
von Ansichten reden will, wo man von
alleinseligmachenden Wahrheiten sprechen sollte.
41) Man s. die Abhandlung obigen Inhalts in den
Jahrbüchern für Medicin. Bd. III, 1. Heft, S. 113.
20. Jahrhundert
Georg Simmel
1858 - 1918
Der Autor
Georg Simmel, Soziologe und neukantianischer
Philosoph, wurde 1858 in Berlin geboren. 1901 wird er
Professor in Berlin, 1914 in Straßburg. Beeinflußt von
Kant und dem südwestdeutschen Neukantianismus ist er
der Begründer der formalen Soziologie als einer
selbständigen
Einzelwissenschaft.
Deren
Untersuchungsgegenstand ist das Spektrum der
abstrakt-generellen sozialen Formen (Über- und
Unterordnung, Opposition, Konkurrenz, Arbeitsteilung
usw.). Er stirbt 1918 in Straßburg.
Die Verwandtenehe
ex: Vossische Zeitung (Berlin), Sonntagsbeilagen Nr.
22-23 vom 3. und 10. 6. 1894.
I
Die wachsende Kenntnis von der Vergangenheit und der
Gegenwart
der
Völker
vertieft
nach
zwei
entgegengesetzten Richtungen unsere Vorstellungen
von dem, was an ihnen vergleichbar ist.
Unter
der
buntesten
Mannigfaltigkeit
der
oberflächlichen Erscheinung überrascht uns tiefgelegene
Gleichheit; was als prinzipielle Verschiedenheit auftritt,
zeigt genauere Erkenntnis unzählige Male als bloße
Variation des überall gleichen Themas.
Und umgekehrt bewahrheitet die ausgedehntere
Erfahrung täglich jenen alten philosophischen
Glaubenssatz, dass es nicht zwei Erscheinungen in der
Welt gäbe, die wirklich ganz und gar übereinstimmten:
nicht zwei Baumblätter wären absolut gleich; und nach
der Gleichheit des ersten Anblicks macht sich die
Individualität jedes Wesens und jedes Geschehens
geltend; neben dem, worin jedes mit jedem vergleichbar
ist, stehen die Seiten, in denen keines mit keinem
verglichen werden kann.
Es gibt vielleicht kein Gebiet, auf dem eine allgemeine,
die ganze bekannte Welt beherrschende Gleichheit sich
in
ebenso
merkbare
Verschiedenheiten
der
Ausgestaltung verzweigt, wie die Beziehungen
zwischen Mann und Weib.
Über den natürlichen Grundlagen dieser Beziehungen
erheben sich überall, wo wir überhaupt von einer
»Gesellschaft«, einem Zusammenleben Mehrerer in
einer Gruppe hören, auch Gesetze zu ihrer Regelung,
Normen und Formen fester wie loserer Bindungen,
aufrecht erhalten durch Ordnungen der öffentlichen
Gewalt oder, meistens nicht weniger streng, durch Sitte
und Instinkt.
Es werden zwar einige wilde Völker genannt, bei denen
die Reisenden keine noch so unvollkommene
Beziehung, die man als Ehe bezeichnen könnte,
entdeckt haben; von den Buschmännern Südafrikas, von
einigen Bewohnern Sumatras und Kaliforniens, welche
letztere in ihrer Sprache kein Wort für »heiraten« haben,
von ein paar kleinen Negerstämmen wird der Mangel
aller Gesetze und Verbote auf diesem Gebiete gemeldet.
Allein diese Fälle sind so verschwindend gering
gegenüber denjenigen, wo sonst völlig gesetzlose, völlig
kulturfremde Völker wenigstens hier eine Schranke der
Willkür anerkennen, dass man sie ruhig als
»unmessbare Größen« vernachlässigen kann, oder
annehmen darf, dass eine ungenügende Beobachtung
seitens des Berichterstatters vorliegt.
Zu den verschiedensten Zeiten wie an den
verschiedensten Punkten der Welt, unter den wildesten
wie unter den höchststehenden Völkern treffen wir die
Monogamie an, die unsere Kultur uns als das
Selbstverständliche zu betrachten gelehrt hat; wir finden
aber ebenso die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen,
auch die Ehe mehrerer Männer mit einer Frau; ja, auch
eine »Gruppenehe« findet sich, in der eine gewisse
Anzahl von Männern mit einer gewissen Anzahl von
Frauen in eheliche Verbindung tritt.
Bald begegnet uns ein strenges Gebot, nur innerhalb des
eigenen Stammes zu heiraten, bald ein ebenso strenges,
nur außerhalb desselben die Gattin zu suchen. Neben
der fast durchgehenden Herrschaft des Mannes gibt es
doch auch Beispiele von Naturvölkern, die der Frau den
überwiegenden Einfluss in der Familie einräumen.
Während manche Völker dem Mädchen eine Mitgift
zugestehen und ihr gewissermaßen den Mann kaufen,
werden bei anderen umgekehrt die Frauen wie eine
Ware gekauft; und wenn bei einigen die Frau durch die
Ehe in die Familie des Mannes eintritt, geht anderwärts
der Mann durch die Heirat in die Familie seiner Frau
über.
So gibt es keine ausdenkbare Kombination ehelicher
Verhältnisse, zu der uns nicht die Geschichte und die
Völkerkunde Beispiele aus der Wirklichkeit lieferte.
Diese fast unübersehbare Mannigfaltigkeit der
Eheformen aber birgt wieder einen durchgehenden
gemeinsamen Zug: das Verbot der Ehe zwischen nahen
Verwandten.
Zwar sollen auch hier Ausnahmen vorkommen; von den
Chippewäh-Indianern und den Karenen in Asien wird
erzählt, dass sie gelegentlich ihre Mütter, Schwestern
und Töchter heiraten.
Sollte diese Tatsache aber auch wirklich unanzweifelbar
sein, so geht sie wahrscheinlich auf eine jener
merkwürdigen, mit der Verwandtenehe verbundenen
Vorstellungen zurück, auf die ich später zu sprechen
komme, und die nicht sowohl eine Gleichsetzung der
Verwandtenehe mit jeder anderen, als eine Missdeutung
gerade derjenigen Triebe und Erfahrungen beweist, die
anderwärts zu ihrem Verbote geführt haben.
Solchen vereinzelten Beispielen steht die ungeheure
Anzahl der oft rigorosen Gesetze gegenüber, mit denen
auch die rohesten Völker die eheliche Beziehung
zwischen Verwandten verbieten, und die z.B. bei den
Bataks auf Sumatra dies Verbrechen mit Tötung und
Gefressenwerden bestrafen.
Einige Munda-Kols stützten einem Missionär gegenüber
ihre Behauptung, dass die Tiere nicht wüssten, was
recht und was unrecht sei, durch die Begründung, dass
die Tiere weder Mutter, noch Schwester, noch Tochter
respektierten.
An der Wiege der modernen Kultur war dies Gefühl
nicht weniger lebendig: Plato nennt die Blutschande den
schändlichsten, der Gottheit verhassten Frevel, und
Lucan meint, wer dies tue, der scheue vor keiner
sonstigen Untat zurück.
Welches nun die verbotenen Verwandtschaftsgrade
sind, darüber gibt es wieder eine Unermesslichkeit
verschiedener Bestimmungen. Ich hebe von diesen als
besonders wunderlich nur einige hervor, die die
Geschwisterehe nicht schlechthin verbieten, sondern sie
von dem Altersverhältnis der Geschwister abhängen
lassen.
Bei den Veddahs auf Ceylon, einem halbvertierten, in
den Wäldern lebenden Stamme, in dem aber auf die
strengste eheliche Treue gehalten wird, ist die Ehe mit
der jüngeren Schwester durchaus legitim und natürlich,
dagegen die mit der älteren Schwester oder der Tante
wird mit demselben Abscheu betrachtet, den wir vor
einer Geschwisterehe empfinden.
Von den Nairs wird berichtet: »Sie ehren ihre älteren
Schwestern, denen sie die gleiche Stellung wie der
Mutter einräumen. Mit den jüngeren Schwestern aber
bleiben sie niemals in demselben Zimmer und bewahren
ihnen gegenüber die größte Reserve. Ohne dies, sagen
sie, würden sie in zu große Versuchungen geraten während, was die älteren Schwestern betrifft, jede Idee
einer näheren Verbindung durch den Respekt
ausgeschlossen ist.«
Obgleich die Nairs also den Veddahs gegenüber schon
zu dem Verbot der Ehe auch mit der jüngeren Schwester
vorgeschritten sind, zeigt dies eigentümliche Verhalten
und seine Begründung doch, dass der Instinkt noch
nicht mit völliger Selbstverständlichkeit eine solche Ehe
verhindern würde, während dies der älteren Schwester
gegenüber schon stattfindet.
Auch zwischen verschwägerten Personen ist die
Erlaubtheit der Ehe manchmal nicht von dem Grade der
Verwandtschaft, sondern von dem Altersverhältnis
abhängig.
Bei einigen Stämmen der schon erwähnten Bataks fällt
die Witwe des älteren Bruders dem jüngeren als Gattin
zu, während die Ehe zwischen dem älteren Bruder und
der Witwe des jüngeren als Blutschande bestraft wird.
Gerade das umgekehrte Verhältnis herrscht bei den
Alfuren von Buru. Dem jüngeren Bruder ist es hier
verboten, die Witwe des älteren zu heiraten, während
der Ehe mit der Witwe des jüngeren nichts im Wege
steht.
Um die familienrechtlichen Verhältnisse bei den
Naturvölkern zu verstehen, muss man im Auge haben,
dass der Begriff der Verwandtschaft bei ihnen etwas
ganz anderes bedeutet als bei uns.
Er umschließt bei ihnen nicht nur, und oft gar nicht,
jenen engen, durch das Blut gemeinsamer Eltern
zusammengehaltenen Kreis, der sich zunächst auf ein
einzelnes Haus beschränkt und sich allenfalls durch das
Selbständigwerden
der
Kinder
und
ihre
Verschwägerung erweitert.
Die Zusammengehörigkeit in Gesinnung und Leistung
vielmehr, die bei höherer Kultur der blutsverwandten
Familie eigen ist, kommt in niederen Verhältnissen
meistens dem Stamme zu, d. h. einer größeren Gruppe,
in der zwar das Band der Blutsverwandtschaft nicht
unwesentlich ist, die aber im ganzen nur durch
gemeinsamen
Namen,
gemeinsame
Interessen,
gemeinsame soziale Organisation zusammengehalten
ist.
Die Abstammung von einem sagenhaften Vorfahren, die
wir häufig angenommen finden, ist nicht sowohl die
Ursache,
als
der
mystische
Ausdruck
der
Zusammengehörigkeit jener Gruppe von Familien, die
bei den Naturvölkern dem Individuum gegenüber die
Rechte und Pflichten der uns vertrauteren Einzelfamilie
ausübt.
Sehr oft ist auch die Verwandtschaft durch die Mutter
die allein gültige, während dem Vater kein Anteil an
dem Blute des Kindes zukommt, so dass nur die
Geschwister mütterlicherseits miteinander verwandt
sind, und nur die Geschwister der Mutter, nicht aber die
des Vaters zum Familienverband gerechnet werden.
Diese Formen des letzteren entscheiden nun auch über
die Zulässigkeit der Ehen. Bei den Irokesen nahmen die
Kinder den Stammesnamen der Mutter an.
Gehörte z. B. die Mutter zum Bärenstamm, so war der
Sohn ein Bär und durfte daher kein Bärenmädchen
heiraten, sondern musste sich sein Weib aus dem
Stamme der Hirsche oder der Reiher wählen.
In Indien darf kein Brahmane ein Weib heiraten,
welches denselben Stammesnamen führt wie er,
während bei den Juden kein Mann ein Mädchen heiraten
durfte, das auch nur denselben Vornamen führte, wie
seine Mutter, und bei Australiern genügt es zur
Verhinderung der Ehe, dass das Mädchen denselben
Totem hat wie der Mann, also nur eine symbolische
Verwandtschaft stattfindet, die kein reales Blutband
mehr zu ihrer Begründung aufweisen kann.
Noch weiter vielleicht gehen die Verbote in China. Dort
führen große Gruppen von Personen den gleichen
Zunamen, da es in dem ganzen Reiche nicht mehr als
etwa 530 Zunamen gibt; und nun ist es jedem verboten,
eine Person mit dem gleichen Zunamen, wie er selbst,
zu ehelichen - bei Strafe von 60 Bambushieben.
Auch im alten Mexiko und bei den Tscherkessen
zerfallen
die
Gemeinschaften
in
große
Unterabteilungen, die nur gegenseitig heiraten dürfen,
während keine derselben in ihren eigenen Grenzen eine
Eheschließung duldet; bei den letztgenannten Völkern
umfasst jeder dieser Klane, innerhalb deren eine Ehe als
blutschänderisch gilt, mehrere 1000 Personen, so dass
von Blutsverwandtschaft in unserem Sinne dabei nicht
die Rede sein kann.
Diese Ausdehnung des Eheverbotes auf die politische
Gruppe hat die Folge, dass gerade echten
Blutsverwandten, die sich aber zufällig in verschiedenen
Klanen finden, was durch Übersiedelung, heimliche
Ehen usw. möglich ist, die Ehe ohne weiteres erlaubt ist.
Von den Pomtschas in Bogota wird berichtet, dass die
Männer und Weiber einer und derselben Stadt sich als
Geschwister betrachten und deshalb keine Ehen
miteinander eingingen; war aber die wirkliche
Schwester zufällig in einer anderen Stadt geboren, als
der Bruder, so durften sie einander heiraten.
So können auch, wo die Verwandtschaft durch die
Mutter gilt, Schwesterkinder sich nicht heiraten, wo
umgekehrt ausschließlich Vaterverwandtschaft herrscht,
dürfen Bruderkinder es nicht - wohl aber in beiden
Fällen Kinder von Bruder und Schwester, weil nun, in
Bezug auf die erste Eventualität die Mütter, in Bezug
auf die zweite die Väter verschiedenen Blutes sind.
Ja, solche Ehen werden
besonders bevorzugt.
sogar
verschiedentlich
Auf diese unter primitiven Völkern höchst häufige
Vorstellung, dass das Kind nicht mit beiden Eltern
gleichmäßig, sondern nur entweder mit dem Vater oder
mit der Mutter verwandt sei, gründet es sich auch, dass
die Osseten die Ehe mit der Schwester der Mutter für
ganz gesetzlich halten, die mit der Schwester des Vaters
dagegen als höchst blutschänderisch bestrafen.
Demgegenüber bestimmt die moderne Kultur die
Verwandtschaft nebst ihren ehehindernden Folgen
gleichmäßig nach der Abstammung vom Vater und von
der Mutter, aber auch ausschließlich nach dieser. Die
Grundlage hierfür bilden die Eheverbote des alten
Testamentes,
die
im
ganzen
fünfzehn
Verwandtschaftsgrade als eheunfähig bezeichnen.
Das spätere Judentum ging insofern darüber hinaus, als
es die ganze Linie verbot, in der man auf einen biblisch
verbotenen Grad stößt, also z. B. die Großmutter, weil
die Mutter biblisch verboten ist; die logische Strenge,
die das Judentum hier zeigt, bewahrte es auch darin,
dass es sich beharrlich der Dispensationen erwehrte,
durch die der Katholizismus gelegentlich die Ehe in
sonst verbotenen Verwandtschaftsgraden gestattet.
Dies
wurde
schließlich
allerdings
praktisch
unumgänglich, da die mittelalterliche Kirchenweisheit
die biblischen Eheverbote wegen Verwandtschaft
außerordentlich erweitert und aus den ursprünglichen
fünfzehn nicht weniger als fünfzig gemacht hatte.
Die Päpste verboten die Ehe bis zum siebenten Grade,
und zwar mit der Begründung: weil Gott am siebenten
Tage von seinen Werken geruht habe!
Die praktischen und theoretischen Schwierigkeiten, die
sich daraus ergaben, riefen von der Reformationszeit an
eine höchst umfängliche Literatur hervor; ich will von
dieser hier nur eine Probe geben, die die eigentümliche
Einteilung der Ehehindernisse, zu der man schließlich
gekommen war, gut charakterisiert.
Im Jahre 1539 wurde in Freiberg in Sachsen ein
Flugblatt öffentlich verkauft, das jene 50 Grade dem
Volke beschrieb und mit Strenge auf die Sündhaftigkeit
der Ehe innerhalb derselben hinwies.
Hierdurch fühlte sich ein Zehnder, Namens Wolff Loß,
in seinem moralischen Bewusstsein irritiert, er fühlt
Mitleid mit "den armen einfeldigen Leuten in Fellen, so
sich mit ihnen aus Unwissenheit zugetragen", und
veröffentlicht eine kleine Schrift, in der er die
Eheverbote auf ihren Ursprung untersucht und die
Jenigen Grade zusammenstellt, die durch göttliches,
kaiserliches und päpstliches Recht gemeinsam, dann die
durch kaiserliches und päpstliches Recht gemeinsam,
endlich die nur durch den Papst verboten sind.
In die erste Kategorie gehören Geschwister und Eltern,
Onkel und Tanten, des Bruders Weib, der Schwester
Mann usw. Darunter auch: Seines Sohnes Tochter, ihrer
Tochter Sohn.
In der zweiten Kategorie steht nun aber: Ihres Vaters
Vater, seiner Mutter Mutter - was eben dasselbe ist. Für
den Aszendenten ist also die gleiche Ehe nach allen drei
Rechten, für den Deszendenten nur nach zweien
verhindert.
Die zweite Kategorie verbietet fast ausschließlich Ehen
des
zweiten
Aszendenzgrades
direkter
und
verschwägerter Weise.
Die dritte Kategorie enthält höchst verwickelte und
abstruse Grade, z. B.: Ihres Vaters Vaters Schwester
Mann; ihres Bruders Sohnes Tochter Mann; seiner
Schwester Tochter Sohnes Weib. In dieser dritten
Nummer sind hauptsächlich die Fälle der Verwitwetheit
berücksichtigt, deren Verbot also als das kirchliche
Interesse im engeren Sinne erscheint.
Übrigens will er mit dieser Unterscheidung niemandem
»Ursach noch Raum geben haben, sich wider Zucht und
Ehre einzulassen, sondern habe allein den Unterschied
göttlichs und menschlichs Verbots anzeigen wollen« um die etwaigen Gewissensskrupel der vorhin
erwähnten einfältigen Leute zu heben.
Luther selbst hat gegenüber der Rigorosität des
katholischen Standpunktes einen entschieden liberaleren
eingenommen, der ihm in einem konkreten Falle
zugleich die schärfere Betonung des sittlichen Wertes
der Ehe ermöglichte.
Als Heinrich VIII. von England die Gattin seines
verstorbenen Bruders geheiratet hatte und diese Ehe als
eine in verbotenem Grade geschlossene aufgelöst
werden sollte, schrieb Luther, diese Ehegesetze bänden
uns nicht mehr im buchstäblichen Sinne.
Der König habe allerdings vielleicht mit seiner Heirat
gegen weltliches und menschliches Gesetz gesündigt,
allein wenn er sich nun von seiner Frau scheiden ließe,
so sündige er gegen ein göttliches Gesetz, das die Ehe
unauflösbar mache.
Grade umgekehrt hatte die katholische Kirche die
Heiligkeit der Ehe gegenüber dem Verbot der
Verwandtenehe hintangesetzt- sie hatte bestimmt, dass
die aus einer Verwandtenehe hervorgegangenen Kinder
in keinen Orden aufgenommen werden sollten, während
sie dies unehelichen Kindern ohne weiteres gewährte.
Nach jüdischem Rechte sollen die Kinder einer
Verwandtenehe ihrerseits unverheiratet bleiben. Es ist
sehr bezeichnend für das, was dem asketischen
Christentum und das, was dem weltfreudigen Judentum
als das Heiligste galt, dass jenes den Sprösslingen einer
verbrecherischen Vereinigung den geweihten Stand der
Ehelosigkeit, dieses aber gerade ihnen den Stand der
Ehe verweigerte.
Was die Eheschwierigkeiten in der Christenheit
besonders komplizierte, war der Umstand, dass über die
reale, wenn auch noch so entfernte Verwandtschaft
hinaus noch eine künstliche oder »geistliche«
Verwandtschaft (cognatio spiritualis) geschaffen wurde.
Seit nämlich die Taufe üblich geworden war, wurden
auch Ehen zwischen Paten und Patenkindern verboten,
da dies eine Nachbildung des elterlichen Verhältnisses
sei; ja auch die Ehen der Paten eines Kindes unter
einander wurden verboten.
Audovera, Königin zu Soissons, wurde ihrer Krone
beraubt und ihre Ehe für ungültig und blutschänderisch
erklärt, weil sie ihr eigenes Kind zur Taufe hielt und
dadurch ihres Gemahles Chilperich Gevatter wurde!
Nachbildungen des Verhältnisses zwischen Eltern und
Kindern - noch außer der nachher zu besprechenden
Adoption - finden sich auch bei nichtchristlichen
Völkern, und zwar mit demselben Erfolge, alle an die
Ehe erinnernde Beziehung zwischen den so Vereinten
auszuschließen.
In sinniger Weise hat sich das Rechtsbewusstsein in
dem folgenden Falle dieses Umstandes zu bedienen
gewusst.
In einer indischen Provinz muss ein Mann, der des
Ehebruchs mit einer Frau angeklagt, aber nicht
überwiesen ist, eine Garantie dafür geben, dass
wenigstens künftig nichts Derartiges vorkommt: er legt
seinen Mund einen Augenblick an die Brust der Frau,
wodurch sie zu seiner Mutter wird und nie ein anderes
als das so symbolisierte Verhältnis zwischen ihnen
bestehen darf.
Das auf diese Weise geknüpfte Band wird als so heilig
betrachtet, dass es noch nie gebrochen sein soll. Dem
entspricht es, dass die feierlichste Ehescheidungsformel
bei den Arabern ist: »Du bist mir wie der Rücken
meiner Mutter«, was übrigens keine Beleidigung für die
Frau, sondern im Gegenteil etwas Ehrenvolles ist; es
verhindert zugleich, dass die Frau in die Hände der
Brüder dieses Mannes fällt; denn durch diese Erklärung
macht er sie zugleich symbolisch zur Mutter seiner
Brüder.
Die gleiche Wirkung hat nun fast überall auch die
Adoption. Nach dem römischen und den meisten
modernen Rechten ist die Ehe zwischen Adoptiveltern
und Adoptivkindern verboten; nur das österreichische
Gesetz hat sich dem entzogen.
In Indien gibt es eine Form der Adoption, Dattaka
genannt, bei der der Adoptierte so sehr Mitglied der
adoptierenden Familie wird, dass er überhaupt nicht in
dieser, auch in ihren entfernteren Gliedern nicht,
heiraten kann.
Dagegen wird bei einigen anderen Völkern die Ehe
zwischen wirklichen und Adoptivkindern nicht nur
gestattet, sondern sogar gewissermaßen nachträglich
bewirkt: in Japan und bei den Yallatonns in Indien wird,
wenn ein Geschlecht bis auf eine Tochter ausstirbt,
häufig der Mann dieser vom Schwiegervater adoptiert also eine Ehe zwischen Adoptivgeschwistern hergestellt
- damit das Geschlecht nicht ausstirbt und die
Nachkommen Enkel männlicher Linie sind.
Hier wie sonst sind es also die soziologischen
Verhältnisse und Zwecke, die über die Zulässigkeit der
Ehe unter Adoptivverwandten entscheiden; deshalb fällt
aber auch diese Entscheidung oft den wunderlichsten
historischen Zufällen anheim.
Als Mohammed das Weib seines Adoptivsohnes Zaid,
Zainab, geheiratet hatte, wurde ihm vorgeworfen, dass
der Koran selbst es für Blutschande erklärte, wenn ein
Vater eine Frau heiratete, die seines Sohnes Weib
gewesen wäre.
Kurz nachher erhielt Mohammed eine besondere
Offenbarung, des Inhalts, dass der Adoptivsohn nicht,
wie es bisher in Arabien der Fall war, als eigener Sohn
zu gelten habe. Endlich sind noch zwei Fälle der
fiktiven Verwandtschaft in Bezug auf Eheverbote zu
erwähnen: die Milchgeschwisterschaft und die
Wahlbrüderschaft.
Die Ehe mit der Milchschwester ist auf das strengste
verboten in Dardistan, im mohammedanischen Rechte,
bei den Armeniern und den Truchmenen. Die
Wahlbrüderschaft ist eine in primitiven Kulturen
häufige, in Europa jetzt nur noch bei den südlichen
Slaven vorkommende Form einer lebenslänglichen,
durch irgend eine feierliche Zeremonie geschlossenen
Interessengemeinschaft mehrerer Personen.
Bei den Südslaven, in Montenegro und im griechischbyzantinischen Rechte bildet diese Wahlbrüderschaft
ein Ehehindernis; Männer und Weiber gehen
untereinander jene Verbrüderung zu Schutz und Trutz,
zu Besitzgemeinschaft und Blutrache ein, und von dem
Augenblick an verkehren sie nur wie leibliche
Geschwister untereinander.
In Polynesien erstreckt sich das Verbot sogar auf die
ganzen Familien, denen die Wahlbrüder angehören und
in denen diese also sich keine Frauen suchen dürfen.
Diesen Tatsachen aber steht nun eine Reihe anderer allerdings eine unvergleichlich kleinere - gegenüber, in
der die Verwandtenehe Sitte und Gebot ist.
Der besondere Charakter, den gerade diese Ehen tragen,
wird auch durch solche entgegengesetzten Ordnungen
bezeugt; denn sie werden keineswegs als gleichgültig,
jeder anderen Ehe koordiniert betrachtet.
Vielmehr wird nun eine besondere Betonung auf sie
gelegt, die Momente, auf die sonst ihr Verbot erfolgt,
sind hier nicht einfach ausgelöscht, sondern wirken
wahrscheinlich auch hier, nur gleichsam mit
umgekehrtem Vorzeichen.
Bei manchen Malayen, z. B. den Kalangs auf Java,
findet direkte eheliche Verbindung mit der Mutter oder
der Schwester statt, und zwar von der Vorstellung
begleitet, dass solche Bündnisse besonders segensreich
seien.
Der berühmteste Fall einer direkt gebotenen
Geschwisterehe ist der der Inkas im alten Peru. Diese
waren verpflichtet, ihre älteste Schwester von derselben
Mutter heimzuführen. Der Grund hierzu lag in der
eigentümlichen
Fürstenhauses.
historischen
Stellung
jenes
Die Herrschaft des Inka war ein absoluter
»Cäsaropapismus«, er ist schlechthin der Gott auf
Erden, und durch die Ehe mit der Schwester wird die
ungemischte Vererbung des Gottgeistes gesichert.
Dadurch waren sowohl die Anhänger des alten
Glaubens, welche noch an der Vererbung von der
Mutter her festhielten, wie diejenigen, die schon zur
Vaterfolge vorgeschritten waren, darüber versichert,
dass der rechte Geist der Inkas in dieser Ehe
fortgepflanzt würde.
Von diesem Gesichtspunkt der Reinhaltung des Blutes
aus finden wir die Geschwisterehe als politischreligiöses Gebot gerade bei einer Reihe von
Fürstenhäusern; in einem afrikanischen Stamm heiratet
zu diesem Zwecke der König seine Tochter, die Königin
ihren ältesten Sohn; bei den Ptolemäern in Ägypten war
die Geschwisterehe üblich, ohne dass man bei ihren
Untertanen eine derartige Sitte feststellen könnte; auf
den Sandwichinseln, wo in der Herrscherfamille
gleichfalls Bruder und Schwester einander heiraten,
wird eine derartige Verbindung, wenn sie bei dem
übrigen Volke vorkommen sollte, mit dem größten
Abscheu betrachtet; und entsprechend haben die
Kalmücken ein Sprichwort: »Die vornehmen Leute und
die Hunde kennen keine Verwandtschaft« - womit sie
andeuten, dass die Herrscher, aber auch nur diese, in der
eigenen Familie heiraten dürfen.
Ebenso unterschieden sich die orientalischen Magier
von dem unpriesterlichen Volke dadurch, dass sie die
Ehe zwischen Vater und Tochter, zwischen Mutter und
Sohn als eine ihnen besonders zukommende Pflicht
betrachteten.
Von den anderweitigen Verwandtschaftsgraden, die
zwar nicht nach unseren, wohl aber nach den Begriffen
vieler primitiver Völker die Ehe ausschließen, finden
sich dennoch einige, die umgekehrt gelegentlich eine
Verpflichtung zur Ehe mit sich bringen.
Die bekannteste Bestimmung dieser Art ist das jüdische
Levirat, d. h. die Pflicht des Mannes, nach dem Tode
des Bruders dessen Witwe zu ehelichen. Diese Sitte ist
außerordentlich verbreitet, und es gibt keinen Weltteil
außer Europa, in dem sie nicht bei einigen Stämmen
nachweisbar wäre.
Es herrscht indes ein bemerkenswerter Unterschied
innerhalb der gleichen Sitte: in einigen Fällen erscheint
die Witwe samt ihren Kindern erster Ehe
gewissermaßen als Erbstück, das auf den Bruder
übergeht; in anderen Fällen aber liegt nicht nur ein
solches Recht der Besitzergreifung, sondern eine direkte
Pflicht vor.
Dies insbesondere dann, wenn der Verstorbene keine
Kinder hinterlassen hat, und nun der Bruder, wie es die
Bibel ausdrückt, ihm »Samen erwecken« muss, so dass
seine Kinder mit der Witwe des Verstorbenen als
Kinder dieses letzteren angesehen werden.
Dies begegnet außer im jüdischen auch im indischen
und malagassischen Rechte. Eine Umkehrung davon
zeigt das chinesische Strafgesetz, das die Ehe mit der
Witwe des Bruders mit Erdrosselung bedroht, während
die mit der Schwester der verstorbenen Gattin als
besonders ehrenvoll empfohlen wird.
Und eine andere, sehr eigentümliche Variation wird von
einigen Malayenvölkern berichtet: es komme dort vor,
dass dem noch knabenhaften Jüngling ein schon
erwachsenes Mädchen verlobt wird; bis zu der
Ehemündigkeit des ersteren aber tritt sein Vater zu der
Braut in ein eheähnliches Verhältnis, und die diesem
entsprießenden Kinder heißen die Enkel ihres
wirklichen Vaters. Hier ist es also der Vater, der dem
Sohne »Samen erweckt«.
Einige der Motive wenigstens, aus denen so das sonst
Verabscheute direkt geboten wird, liegen auf der Hand:
die Reinhaltung des Blutes, vielleicht auch das
Zusammenhalten von Besitz und Macht einerseits, der
Wert der Nachkommenschaft andererseits, den man
auch dem Verstorbenen noch nachträglich verschaffen
möchte, die Pflicht der Fürsorge für die Witwe, der man
am besten nachkommt, wenn man sie heiratet.
Sind dies auch keineswegs die einzigen Gründe der
Verwandtenehen, wirken dazu auch noch mystische
Ideen und Erinnerungen längst entschwundener
Sozialverfassungen mit - man hat z. B. das Levirat als
ein Überbleibsel prähistorischer Vielmännerei gedeutet
- so ist doch das Gebot der Verwandtenehe in seiner
Motivierung klar im Verhältnis zu ihrem Verbote.
Die Ausnahme ist hier begreiflicher als die Regel.
Denn so unzweideutig und leicht festzustellen die
Tatsachen des Verbotes der Verwandtenehe sind, so
dunkel und schwierig ist ihre Motivierung, der wir uns
nun zuwenden.
Von den Naturvölkern, die uns die primitivsten Formen
und oft eine äußerste Ausdehnung dieses Verbotes
zeigen, können wir fast keine direkte, wenn auch nur
vermutungsweise Auskunft über seine Entstehung
bekommen.
Wenn Reisende oder Missionare nach einem Grunde
dafür fragten, erhielten sie keine Antwort als etwa, dass
es eben von jeher so Gesetz gewesen wäre, oder dass
die Scham solche Verbindungen hindere - letzteres eine
der typischen Täuschungen, aus denen auch z. B. die
Vorstellung hervorgeht, die Menschen seien durch das
Schamgefühl dazu gekommen, sich zu bekleiden.
Die Kleidung ist offenbar aus Bedürfnissen des
Schutzes und des Schmuckes hervorgegangen und dann
erst hat die Gewöhnung ihrer das Gefühl der
Beschämung an ihr Fehlen geknüpft.
So kann man auch das Verbot der Verwandtenehe so
wenig aus dem Gefühl der Scham herleiten, - was
übrigens auch noch in neuerer Zeit versucht worden ist,
- dass die ganze Frage vielmehr ist, aus welchen
Ursachen an diese Ehen eben eine solche Empfindung
sich habe knüpfen können.
Nur von einigen wenigen Völkern, den zisnatalischen
Kaffern, den Eskimos, den alten Arabern wird berichtet,
dass ihrer Meinung nach aus Verwandtenehen eine
schlechte Nachkommenschaft hervorgeht, und dass sie
deshalb verboten seien.
Dies ist auch der populäre Glaube bei uns und die
zunächst sich darbietende Begründung jener Gebote.
Der augenblickliche Stand dieser Frage innerhalb der
anthropologischen Wissenschaft ist der, dass allerdings
ein ungünstiger Einfluss zu nahe verwandten Blutes auf
die Nachkommenschaft stattfindet, dass derselbe aber
lange nicht so verderblich ist, wie es in weiten Kreisen
angenommen wird. Man weiß von einigen isolierten
Gemeinden in Frankreich, England, Skandinavien, in
denen beständige Wechselheiraten stattfinden, ohne
dass irgend eine Entartung der Kinder wahrzunehmen
wäre; die Berichte der Tierzüchter über die Erfolge der
Inzucht und der Kreuzung widersprechen sich, von einer
Seite wird die Verbesserung, von der anderen die
Verschlechterung der Rasse durch die Paarung eng
verwandter Tiere behauptet.
Im großen Ganzen ist aber nicht zu zweifeln, dass
irgend
ein
entartender
Einfluss
auf
die
Nachkommenschaft von der Verwandtenehe ausgeht.
Die Frage ist nur, ob derselbe stark genug ist, um die
Entstehung eines derartig heiligen Gebotes, eines
derartig unüberwindlichen Instinktes zu erklären.
Dass bewusste Überlegung, vordenkende Furcht vor
derartigen Folgen der sozialen Gruppe jene Verbote
eingeprägt hätten, ist völlig ausgeschlossen.
Der einzig mögliche Weg wäre der der natürlichen
Zuchtwahl.
Stämme, in denen die Verwandtenehe allgemein geübt
wurde, seien zu Grunde gegangen, während diejenigen,
in denen sie aus zufälligen Gründen vermieden worden
wäre, die kräftigeren und darum im Kampfe ums Dasein
siegreichen Individuen hervorgebracht hätten.
Da nun gegen das, was tatsächlich nicht geübt wird,
schließlich ein Widerwille entsteht, so kann in den
Stämmen, die schließlich über ihre Mitbewerber
obsiegten, d. h. in den jetzt existierenden, jene nützliche
Enthaltung gezüchtet und zu dem direkten Abscheu vor
der Verwandtenehe ausgewachsen sein; dieser sei also
entstanden, wie alle anderen nützlichen Instinkte, wie
der Widerwille gegen unzuträgliche Speisen, wie die
unwillkürlichen Schutzbewegungen bei nahender
Gefahr usw., ohne dass irgend ein bewusster oder
überlegender Wille den Anstoß dazu gegeben hätte.
Dass eine derartige Erklärung eine äußerst luftige,
keiner historischen Bestätigung zugängige Vermutung
ist, ist allerdings ebenso sicher, wie dass wir auf andere
Erklärungen als die aus der Nützlichkeit des
betreffenden Verbotes nicht hoffen können.
Deshalb aber dürfen wir uns, um es zu verstehen, nicht
mit einer Möglichkeit begnügen, sondern müssen,
möglichst viele aufsuchend, durch die Anzahl der
Wahrscheinlichkeiten die Unsicherheit der einzelnen
ergänzen.
Die älteren Theorien über unser Problem erwähnen
einen Zweck, dem das Verbot der Verwandtenheirat
dienen soll, und den ich mindestens dem oben
genannten Zuchtwahlmomente an Wirksamkeit
gleichsetzen möchte.
Der alte jüdische Philosoph Maimonides führte nämlich
als Grund jener Verbote die Gefahr der Unsittlichkeit
an, die bei den in einem Hause Zusammenlebenden
allzu nahe läge.
In Folge des Verbotes der Ehe aber wüsste nun jeder
Mann, dass er seine Neigungen und Gedanken
überhaupt nicht nach dieser Richtung wenden dürfte.
Der Grundgedanke dabei ist also der, dass Zucht und
Sitte
innerhalb
des
engen
Kreises
der
Zusammenlebenden aufrecht erhalten werden muss,
wenn nicht jegliche soziale Ordnung zerstört und ein
unübersehbares Chaos in allen sittlichen und rechtlichen
Verhältnissen entstehen soll.
Angesichts der Verlockung indes, die die fortwährende
gegenseitige Nähe der Hausgenossen bietet, der steten
Gelegenheit, solcher Lockung zum Opfer zu fallen,
bedurfte es der schärfsten Trennungsmaßregel, und
diese war offenbar das Verbot der ehelichen
Verbindung.
Wenn nur diejenigen Verbote des Anstandes und der
Reserve, die auch zwischen Fernerstehenden gelten, die
Mitglieder einer Familie trennten, so würden sie sich
nicht nur so machtlos erweisen, wie sie es tatsächlich oft
genug zwischen jenen tun, sondern angesichts der
besonderen Situation derer, die in enger äußerlicher
Verbundenheit leben, noch viel machtloser.
Deshalb musste eine Barriere zwischen diesen
aufgerichtet werden, die zwischen den Nichtverwandten
nicht bestand, und als solche bot sich die Untersagung
der Ehe zunächst dar.
II
Auch Montesquieu und Hume begründeten die Verbote
der Verwandtenehe auf die Erhaltung der
Familienzucht.
Eine anonyme Schrift vom Jahre 1740: »Bescheidene
doch gründliche Gegenvorstellung von der Zulässigkeit
der Ehe mit des verstorbenen Weibes Schwester«
verwirft auch die Ehe mit des verstorbenen Mannes
Bruder, und zwar genau aus dem hier betonten
Gesichtspunkt, der in diesem Falle und für moderne
Verhältnisse freilich einen wunderlichen Eindruck
macht- damit der Mann nicht sein Recht, eventuell nach
dem Tode des Gatten die Frau zu heiraten, noch bei
Lebzeiten desselben missbrauche, wozu das häufige
familiäre Beisammensein besondere Gelegenheit gebe.
Beachtet man die ungeheure Wichtigkeit, die die
Regulierung der hier mitsprechenden Verhältnisse selbst
in ihren rohesten Anfängen und bei den primitivsten
Völkern besitzt, so ist es begreiflich, dass das strengste
Verbot ehelicher Beziehungen zwischen den
Familiengenossen ebenso durch den bewussten Willen
führender Persönlichkeiten wie durch die unbewussten
Prozesse eingeprägt wurde, die alle zweckmäßigen
Instinkte in unserer Gattung fest werden lassen.
Darum finden wir auch diese Verbote da besonders
streng eingehalten, wo auf die häusliche Disziplin
großer Wert gelegt wird; z. B. in China, wo Blutschande
als Kapitalverbrechen bestraft wird, wie Vatermord,
Familienzwietracht und Hochverrat. So lange in Rom
die Strenge der häuslichen Zucht auf ihrer Höhe stand,
war allen Personen, die unter derselben väterlichen
Gewalt standen, d. h. den Verwandten bis zum 6. Grade,
die Ehe mit einander verboten; in dem Maße, in dem der
enge Zusammenhalt, die strenge Einheitlichkeit des
Hauses sich lockerte, wurde auch dies Gebot gemildert,
bis in der Kaiserzeit sogar die Ehe zwischen Onkel und
Nichte legitimiert wurde.
Es bedarf eben der Prophylaxis nicht mehr, sobald die
Enge des Zusammenlebens sich löst.
Aus demselben Motive erklärt sich aber auch die
scheinbar entgegengesetzte Erscheinung: dass nämlich
das Gebot der Zucht unter entfernten Verwandten
besonders scharf betont wurde.
Hat nämlich das Verbot der Verwandtenehe schon so
lange bestanden, dass ein fester Instinkt dafür sich
entwickelt hat, so wird dieser natürlich am kräftigsten
den nächsten Verwandten gegenüber wirken und im
Verhältnis der Entferntheit der Verwandtschaft
schwächer werden; um einem von dieser Seite her noch
drohenden Bruche der Sitte zu begegnen, bedarf es
gerade einer energischeren Prophylaxis als für den Fall
der Geschwister oder der Eltern und Kinder, die schon
der Instinkt auseinander hält.
Darum heißt es in der peinlichen Gerichtsordnung Karls
V.: So eyner unkeusch mit seiner Stieftochter, mit
seines suns Eheweib oder mit seiner Stiefmutter treibt,
in solchen und noch näheren Sipschaften - die also gar
nicht erst näher erwähnt werden - soll die straf
gebraucht werden.
Auf diesem Prinzip der Vorsorge beruhen
wahrscheinlich auch die allenthalben unzutreffenden
Verbote eines auch nur äußerlichen Verkehrs von
Personen, zwischen denen das Eheverbot gilt.
Auf den Fidschiinseln, bei den Braknas und sonst
dürfen Bruder und Schwester, Vetter und Base,
Schwager und Schwägerin mit einander weder sprechen
noch essen.
In Ceylon dürfen Vater und Tochter, Mutter und Sohn
sich nicht gegenseitig betrachten.
Die überall vorkommenden Verbote des Verkehrs
zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern - in
der Urbevölkerung Amerikas, im Südseegebiet, unter
den mongolischen Stämmen, allenthalben in Afrika wie
in Indien - betreffen in vielen Fällen insbesondere den
Verkehr der Schwiegermutter mit dem Schwiegersohn,
des Schwiegervaters mit der Schwiegertochter.
Bei den Kirgisen darf die junge Frau nach der Hochzeit
sich überhaupt keinem männlichen Mitglied der Familie
ihres Mannes zeigen.
Sollte dies nicht gleichfalls darauf beruhen, dass mit
diesen neu geknüpften engen Beziehungen schlechte
Erfahrungen gemacht worden sind?
Bei vielen Völkern, z. B. den Alfuren von Buru, den
Dajaks, einigen Malayen, den Serben u. a. dürfen Braut
und Bräutigam überhaupt nicht mit einander verkehren,
und die Neger halten es für besonders ehrbar, wenn ein
Mann ein Mädchen heiratet, das er nie zuvor gesehen
hat.
Kurz, an allen möglichen Orten zeigt sich eine
prophylaktische Tendenz, die Versuchung da aus dem
Wege zu räumen, wo ihr nachzugeben eine besonders
verabscheute oder besonders nahegelegte Tat wäre; und
eine derartige Barriere, ebenso wie das Verkehrsverbot,
ist offenbar das Gebot und der Instinkt, dass Verwandte,
selbst wenn sonst nichts im Wege stände, nur weil sie
Verwandte sind, nie zur Ehe schreiten dürfen.
Und wiederum unter der scheinbar entgegengesetzten
Tatsache zeigt sich dieselbe Vorsorge, nur eine Stufe
höher hinaufgerückt, wenn das islamische Gesetz
verbietet, das Gesicht anderer Frauen zu sehen als derer,
die man nicht heiraten darf.
Eine weitere Reihe von Tatsachen kommt hinzu, um die
Begründung der Eheverbote auf das Interesse an der
Zucht des Zusammenlebens zu unterstützen.
Diese Verbote betreffen nämlich in sehr vielen Fällen
keineswegs nur die wirklichen Verwandten, sondern,
wie wir an den Fällen der Milchgeschwister, der Klanund Gruppenverwandtschaft gesehen haben, die
überhaupt in enger räumlicher Verbindung lebenden
Personen. Die Jameos am Amazonenstrom, einige
Stämme in Australien und auf Sumatra gestatten keine
Ehe innerhalb desselben Dorfes.
Je größer die Haushaltungen sind, desto strenger sind
die Verbote der Wechselehen innerhalb derselben, z. B.
bei den Hindus, den Südslawen, in Ranusa, bei den
Nairs.
Es ist offenbar viel schwieriger, in einem sehr großen
als in einem kleinen Hause Anstand und Ordnung zu
bewahren; darum genügte das Verbot der Ehe der nahen
Verwandten nicht, sondern es mussten die umfassenden
Gesetze eintreten, die bei jenen Völkern das gesamte
Haus unter das Eheverbot stellten. Sobald die einzelnen
Familien
getrennter
leben,
verhindert
selbst
Blutsverwandtschaft unter ihnen die Ehe in nur
geringem Grade.
Bei den Thanea-Indianern Brasiliens, bei denen die
Ehen zwischen Verwandten zweiten Grades sehr häufig
sind, bewohnt jede Familie ihr eigenes Haus, und
ebenso verhält es sich mit den Buschmännern und den
Singhalesen; auch dass bei den Juden die Ehe zwischen
Geschwistern
streng
verpönt,
die
zwischen
Geschwisterkindern aber gestattet war, hat man damit
erklärt, dass die letzteren nicht in einem Haushalte
zusammen lebten. im großen und ganzen sind die
Eheverbote bei primitiven Völkern ausgedehntere und
strengere, als bei fortgeschritteneren, sie beschränken
sich im Laufe der Entwicklung mehr und mehr auf den
eigentlichen engeren Familienkreis - offenbar weil die
Enge des Zusammenlebens immer mehr nur den
letzteren einschließt.
Je ausgedehnter und vielgestaltiger das soziale Ganze
ist, das uns umgibt, desto kleiner werden die familiären
Unterabteilungen, die sich als ein zusammengehöriges
Ganzes fühlen, auf desto weniger Personen erstrecken
sich also jene Gefahren des engen Beieinanderlebens,
gegen die das Eheverbot eine Vorbeugungsmaßregel
bildet.
Es ist vor kurzem die Ansicht aufgestellt worden, dass
dieses Verbot ursprünglich nur innerhalb der
»Mutterfamilie« gilt, d. h. jener primitiven
Gesellschaftsform, in der die Verwandtschaft nur durch
die weibliche Linie fortgepflanzt wurde, die Kinder nur
als Kinder der Mutter, nicht aber als die des Vaters
galten, benannt wurden und erbten, und der Mann, der
eine Frau ehelichte, damit in ihre Familie übertrat.
Es ist ferner behauptet, dass diese Mutterfamilie sich
keineswegs
mit
dem
Komplex
der
Zusammenwohnenden deckt.
Wenn beide Behauptungen richtig sind, so scheint damit
die Hypothese widerlegt, dass das Verbot der
Verwandtenehe aus dem Interesse von der Hauszucht
entsprungen sei.
Allein immer wird man sagen können, dass zu der Zeit,
wo der Mann sein mütterliches Haus verlässt, um in
einen anderen Lokalverband einzutreten, die
Hauptgefahr für die Zucht schon beseitigt ist.
Für die Zeit des Erwachens jener Triebe, deren
ungeordneter Befriedigung das Eheverbot einen Riegel
vorschieben soll, fällt jedenfalls Familiengemeinschaft
und Hausgemeinschaft zusammen.
Wenn der Mann dann auch bei räumlicher Entfernung
jenem Verbote unterliegt, so kann dies sehr wohl eine
festgewordene Weiterwirkung der Zeiten sein, in denen
er nicht nur Familiengenosse, sondern auch
Hausgenosse der Seinigen war.
Sicher treten auch andere Nützlichkeiten zu diesen
Gründen des Verbotes hinzu.
Wenn heutzutage noch die Ehe keineswegs als eine
bloße Privatsache der Ehreschließenden gilt, sondern
die beiderseitigen Familien daran entweder durch
Förderung oder durch Herabsetzung interessiert sind, so
wird dies in noch höherem Maße in jenen früheren
Zeiten der Fall gewesen sein, wo die soziale Gruppe,
der der Einzelne angehörte, noch viel enger innerlich
verknüpft war, wo die Interessen des Stammes und der
Familie noch viel solidarischer mit denen des
Individuums waren.
Die fortwährende Bedrohtheit der Existenz durch
Feinde, die Notwendigkeit des Zusammenschlusses
kleiner Gruppen für Land- und Kriegsgewinn, musste
jeder Gruppe die Anknüpfung von Beziehungen zu
anderen als politische Notwendigkeit erscheinen lassen;
und solche Beziehungen konnten nicht fester begründet
werden als durch Wechselheiraten.
So hatte denn der Stamm ein höchstes Interesse daran,
dass Ehen nicht innerhalb seiner geschlossen wurden,
sondern mit außerhalb gelegenen; diese allein trugen zur
Ausbreitung seines Einflusses, zum Gewinn neuer
Bundesgenossen bei, und es ist deshalb wohl
begreiflich, dass die politische Selbsterhaltung die für
die Gesamtheit unnütze Ehe innerhalb des eigenen
Stammes untersagte.
Welche Bedeutung diese familiären und sozialen
Beziehungen der Ehe für unsere Frage haben, wie sie
sogar wichtiger werden können, als diejenigen
Hemmnisse, die aus der wirklichen Blutsverwandtschaft
hervorgehen, ersieht man daraus, dass viele
Gesetzgebungen die Verwandtschaft, die durch
uneheliche Verbindungen entsteht, keineswegs ebenso
als Ehehindernis ansehen, als die nur ebenso enge, die
legitimen Charakter trägt. -
Es ist ferner kein Zweifel, dass dieses Verbot irgend
eine Verbindung mit dem uralten Institut der Raubehe
besitzt.
Bei allen Völkern finden wir, wenigstens noch in
symbolischen Hochzeitsgebräuchen, Reste der Sitte,
dass die Braut gewaltsam aus dem Hause ihrer Eltern
entführt wurde.
Es ist sicher, dass vielleicht in dem größten Teil der
Erde die Ehen ursprünglich nicht durch friedliche
Werbung, sondern durch gewaltsamen Raub
geschlossen wurden - ähnlich wie der primitive Handel
sich oft in der Form der Kriegszüge vollzog.
Welche Ursachen diese Erscheinung produzierten, ist
nur unsicher zu vermuten: ob ausschließlich die
Begierde der Männer, die nie genug Frauen haben
können - ob der häufig geübte Kindermord, der
hauptsächlich die Mädchen traf und dadurch die
erwachsenen Frauen zu seltenen Kampfpreisen machte ob der Umstand, dass das geraubte Weib ein
angenehmerer, weil unbeschränkterer Besitz war, als
das aus dem eigenen Stamme, das immer ihre eigene
Familie als Rückhalt hatte.
Gleichviel, die Tatsache steht fest, und ebenso, dass sie
nicht weniger Ursache als Folge des Verbotes war, im
eigenen Stamm zu heiraten.
Dieses Verbot war für die jungen Männer der stärkste
Stachel, kriegerische Tüchtigkeit zu erwerben, weil sie
nur durch diese zu einem Weibe kommen konnten;
andererseits musste der Gebrauch, der die Tapferkeit
und den Ruhm des Kriegers mit dem Erwerb der Frau
assoziierte, zu einer Herabwürdigung der Frauen des
eigenen Stammes führen und musste es als eine
Ehrensache erscheinen lassen, einer so leichten Beute zu
entsagen. -
Es ist endlich das folgende Moment hervorgehoben
worden, nach dem das Verbot der Verwandtenehe nicht
aus einer sozialen Zweckmäßigkeit, sondern aus einer
individuellen Empfindungsweise hervorgehen soll.
Ganz entgegen nämlich dem Motive, das ich für das
wahrscheinlichste halte: der Verlockung durch das
intime Beisammenleben - hat man behauptet, dass ein
solches Beisammenleben, wie Hausgenossen es führen,
gerade den sinnlichen Reiz abstumpfe; was man von
frühester Kindheit an täglich und stündlich vor Augen
habe, begehre man nicht mit Leidenschaft; die
Gewohnheit des Zusammenlebens dämpfe die Phantasie
und Begierde, die vielmehr nur von dem Fernen und
Neuen gereizt werde.
Aus diesem psychologischen Grunde seien es nicht die
Mitglieder der eigenen Familie, sondern immer Fremde,
auf die sich der Wunsch des Heiratslustigen wende.
Die psychologische Richtigkeit dieser Theorie ist doch
nur eine bedingte.
Das intime Beisammenleben wirkt keineswegs nur
abstumpfend, sondern in vielen Fällen gerade anreizend,
sonst würde die alte Erfahrung nicht gelten, dass die
Liebe, wo sie beim Eingehen der Ehe fehlte, oft im
Laufe derselben entsteht; sonst würde nicht in gewissen
Jahren gerade die erste intimere Bekanntschaft mit einer
Person des anderen Geschlechts so sehr gefährlich sein.
Auch dürfte den ganz primitiven Entwicklungsstufen,
auf denen das fragliche Verbot entsteht, jener feinere
Sinn für die Individualität fehlen, in Folge dessen nicht
die Frau als solche reizvoll ist, sondern ihre von allen
anderen unterschiedene Persönlichkeit.
Dieser Sinn aber ist die Bedingung, unter der allein der
Wunsch sich von den Wesen, die man schon genau
kennt, die einem keinen neuen, individuellen Reiz zu
bieten haben, zu fremden, von noch ungekannter
Individualität wendet.
Solange die Begierde in ihrer ursprünglichen Rohheit
den Mann beherrscht, ist ihm jede Frau gleich jeder
Frau, insoweit sie nicht allzu alt oder seinen Begriffen
nach hässlich ist; und jenes höhere psychologische
Abwechselungsbedürfnis dürfte kaum die Kraft gehabt
haben, die natürliche Trägheit, die ihn zunächst an die
ihm nächsten weiblichen Wesen wies, gründlich zu
überwinden - so gründlich, dass jenes rein persönliche
Moment größeren oder geringeren Reizes, das jeder mit
sich abzumachen hatte, zu einem heiligen, von einem
Wall furchtbarster Strafen umgebenen Gesetze wurde.
Man mag indes ruhig zugeben, dass auch dieses
Moment gelegentlich seinen Beitrag zu der Vermeidung
der Verwandtenehe geliefert habe.
Denn das Prinzip, mit dem man allein sich dem
Verständnis einer sozialen Erscheinung nähern kann, ist
dies, dass man die Erklärung nie mit einer einzelnen
Ursache für abgeschlossen halte.
Die
moderne
Geologie
ebenso
wie
die
Entwicklungslehre unterscheiden sich von früheren
Meinungen dadurch, dass sie die Entstehung oder die
Veränderung des Seienden nicht auf je eine einfache,
auf einmal eintretende katastrophenhafte Veranlassung,
sondern auf das langsame Zusammenwirken unzähliger
kleiner Anstöße zurückführen.
Unendlich kleine Schritte und unendlich
Zeiträume sind ihre Voraussetzungen.
lange
Die Wissenschaft von den sozialen Zuständen muss
demselben Motto folgen und ihm noch hinzufügen:
unendlich verschiedene Ursachen.
Das Verbot der Verwandtenehe ist eine besonders
lehrreiche soziologische Bestimmung, weil seine
Verbreitung durch die ganze Welt und unter den
verschiedensten überhaupt vorkommenden Kulturen es
doppelt annehmbar macht, dass an einer Stelle die eine
Ursache, an der zweiten die gerade entgegengesetzte, an
der dritten beide zusammen darauf hingewirkt haben.
Die freundschaftlichen und Bündnisbeziehungen zu
fremden Stämmen können das Verbot ebenso
hervorgerufen haben, wie das Verhältnis von
Feindseligkeit und Raub; die Gleichgültigkeit gegen die
Familienmitglieder,
mit
denen
man
immer
zusammenlebt, ebenso wie die Nähe des Reizes, den
dieser Umstand gerade hervorrief und dem man
zuvorkommen
wollte;
der
Instinkt
der
Rassenverbesserung ebenso wie der persönliche
Wunsch, an dem Weibe einen möglichst unabhängigen
Besitz zu haben.
Diesen Erklärungsversuchen, von denen sicher keiner
für sich allein ganz zureichend, von denen aber
sicherlich jeder für irgend einen Teil der Erscheinungen
zutreffend ist, steht eine Reihe anderer Theorien über
die Verwandtenehe gegenüber, die nicht sowohl
historische, auch sonst als wirksam anerkannte
Ursachen jenes Verbotes kenntlich machen, sondern
dasselbe aus philosophischen Gründen zu rechtfertigen
suchen - meistens Theorien jenes nebelhaften Gebietes,
auf dem zwischen dem rechtfertigenden Grunde, den
der Denker seinerseits wohl für das Entstehen einer
fraglichen Erscheinung geltend machen könnte, und der
objektiven Ursache nicht unterschieden wird, die diese
Erscheinung historisch hervorgebracht hat.
Es wird also z. B. von einer Seite behauptet, es sei die
»Bestimmung« der Ehe, dass sie durch die Begründung
und Kreuzung der Familien die Menschheit zu einer
Einheit verbinden soll.
Verwandtenehe sei deshalb unzulässig, "weil sie die
Familien isoliere und die Liebe selbstsüchtig auf den
kleinen Kreis der Verwandten beschränke."
Es ist interessant festzustellen, dass einerseits diese
feinsinnige Begründung offenbar nicht im geringsten
die realen Kräfte kenntlich macht, aus denen das Verbot
der Verwandtenehe geflossen ist, dass sie aber
andererseits nichts anderes als eine Vergeistigung des
vorhin erwähnten Grundes ist!
Die Heirat außerhalb des Stammes bezw. der Familie ist
ein Mittel der Verbindung mit anderen sozialen
Gruppen, also von greifbarem Nutzen für jede von
beiden.
Indem diese Bestimmung in das metaphysische
Stockwerk aufsteigt, verwandelt sie sich in jene, die
nicht als in dem historischen Verlauf der Dinge
nachgewiesen, sondern, wenn sie mehr als eine
subjektive Idee zu sein beansprucht, nur als Moment
innerhalb eines göttlichen Weltplans behauptet werden
kann; so dass alle die historischen Kräfte, die die
einzelne Erscheinung dieses Gebiets hervorbringen, nur
untergeordnete Mittel waren, die jener gottgewollte
Zweck der Vereinheitlichkeit des Menschengeschlechts
sich dienstbar machte.
Tatsächlich ist es auch eine kirchliche Seite, von der
jene Behauptung ausgegangen ist.
Anderthalb Jahrtausende vor ihr hatte ein Kirchenvater
schon behauptet, die Verbote der Verwandtenehe hätten
den Zweck, zu hindern, dass die Liebe allzu stark
würde.
Hier dokumentiert sich noch schärfer die Abschiebung
der Begründung von der Wirklichkeit auf dasjenige, was
man als Ansicht Gottes zu vermuten wagt.
Der fromme Vater meinte jedenfalls, dass die
Kombination so mannigfaltiger Gemütsinteressen wie
das geschwisterliche und das eheliche Verhältnis sie in
sich schließt, die Seele gar zu ausschließlich
beherrschen und von der Hinwendung auf ihre nichtIrdischen Interessen ableiten würde.
Nach dem Prinzip des divide et impera glaubt er, dass
die Herrschaft Gottes oder der Kirche über die Seele
eine vollständigere sei, wenn diese ihre Neigungen auf
mehrere Personen verteilte.
Eine anders gerichtete Philosophie betont es, dass das
Verbot der Verwandtenehe der Mannigfaltigkeit
innerhalb unserer Rasse diene.
»Ob zwar«, so drückt sich Kant aus, »der Abscheu
wider die Vermischung der zu nahe Verwandten wohl
großenteils moralische Ursachen haben mag - so gibt
doch seine weite Ausbreitung Anlass zur Vermutung,
dass der Grund dazu auf entfernte Art in der Natur
selbst gelegen sei, welche nicht will, dass immer die
alten Formen wieder reproduziert werden, sondern alle
Mannigfaltigkeit herausgebracht werden soll, die sie in
die ursprünglichen Keime des Menschenstammes gelegt
hatte.«
Andere Philosophen des vorigen Jahrhunderts hatten
schon hervorgehoben, dass häufige Ehen unter nahen
Verwandten die Familien zu einförmig machten, dass
die sinnlichen Anlagen nicht hinreichend gemischt
würden und die Menschheit nicht nur physisch, sondern
auch
moralisch
verlieren
würde,
weil
die
Mannigfaltigkeit der Pflichterfüllungen verkümmern
müsste; zu je mehr Personen man in pflichtfordernden
Verhältnissen stände, desto größer sei die Summe
sittlicher Interessen, die in dem Maße abnehmen
müsste, in dem diese Interessen auf wenigere
konzentriert werden.
Auch dieser Gedanke, dass die Mannigfaltigkeit der
Gestaltungen an sich wertvoll, dass es ein Zweck der
Natur sei, durch Kombination aller Elemente alle
überhaupt mögliche Verschiedenheit auch zur
Verwirklichung zu bringen, dieser Gedanke ist offenbar
auch nur eine metaphysische Variation der Erfahrung
oder des Instinktes dafür, dass die Inzucht eine
Verschlechterung der Rasse bewirkt, eine Tatsache
freilich, deren tiefere Gründe noch unbekannt, aber in
keinem Fall aus einer Tendenz der Natur auf wachsende
Mannigfaltigkeit ihrer Produkte zu schöpfen sind.
Es ist dies eine der wunderlichsten Vermenschlichungen
der Natur, die damit wie ein abwechslungsbedürftiger
Mensch, den seine Unruhe zu immer neuen
Unternehmungen treibt, vorgestellt wird.
Es ist übrigens interessant, dass man zwar die
Verwandtenehe verboten sein lässt, weil eine
möglichste Mannigfaltigkeit von Bildungen im
göttlichen Schöpferplane läge, andererseits aber die
rätselhafte Unfruchtbarkeit der Bastarde, der Mischlinge
verschiedener Tier- und Menschenrassen, damit
begründete, dass nach göttlichem Ratschlusse die
Gattungen sich nicht ins Unendliche vermannigfaltigen
sollten! -
Eine dritte Deutung endlich verwirft jede natürliche und
äußerliche Begründung des Verbotes und basiert es
vielmehr auf eine im engeren Sinne sittliche Einsicht:
eine solche müsste die Vermischung verschiedener
sittlicher Verhältnisse verurteilen, deren jedes bloß rein
für sich seine eigentümliche Schönheit und Würde
entfalten könnte; mehrere unserer feinsinnigsten
Philosophen, z. B. Lotze, haben diese Ansicht vertreten.
Wer indes eine Einsicht in die »sittlichen« Verhältnisse
hat, die bei der Mehrzahl der Naturvölker zwischen
Geschwistern einerseits, Ehegatten andererseits
bestehen, wird kaum eines von diesen für so schön und
würdevoll halten, dass es durch Kombination mit dem
anderen viel zu verlieren hätte; ja umgekehrt, bei der
Schwäche dieser sittlichen Bindung könnte man gerade
voraussetzen, dass ihre Summierung ein zweckmäßiges
Mittel wäre, um in dem Einzelnen überhaupt erst einmal
eine größere Stärke der sittlichen Impulse zu wecken.
In keinem Falle dürfte dieser zarte und ideale
Gesichtspunkt das Verbot der Verwandtenehe bei
Menschenfressern
und
nackten
Waldmenschen
hervorgebracht haben.
Aber auch innerhalb der höchsten Kulturen ist seine
Geltung nicht unzweifelhaft.
Vor allem deshalb, weil die Ehe selbst durchaus kein
einheitliches, nur nach einer Richtung hin gestaltetes
Verhältnis ist.
Sie schließt vielmehr eine große Anzahl durchaus
unterscheidbarer sittlicher Beziehungen ein, sie ist
keineswegs nur eine Form und Betätigung individueller
Liebe, sondern sie enthält ebenso Elemente der
Freundschaft, wie des Vermögensrechtes, sie ist ebenso
eine soziale wie eine religiöse Institution.
Gerade auf der Fülle der äußeren und inneren
Interessen, die sie berührt, beruht ihr besonderer
sittlicher Wert, in der Weite ihres Rahmens, der einer
Unerschöpflichkeit immer neue Lebensbeziehungen
Raum bietet, liegt ihr Reiz und ihre Bedeutsamkeit.
Gerade die feinste sittliche Charakterisierung der Ehen
zeigt, dass manche einen Ton von väterlichem, manche
von mütterlichem Verhältnis in sich schließen, ja
vielleicht ist keine von einem leisen Hauch so gefärbter
Empfindungen ganz frei.
Und weshalb es den Begriff der Ehe stören sollte, wenn
etwa noch das geschwisterliche Empfinden in den
Bezirk der von ihr umschlossenen äußeren und inneren
Bindungen eintrete - ist rein theoretisch in keiner Weise
einzusehen.
Indes berührt sich diese Theorie mit einer anderen,
hundert Jahre älteren, die im Anschluss an ein ehemals
mit dem größten Interesse behandeltes Problem entstand
und die ich als Schlussanmerkung hier zufüge.
Es handelt sich um die jüdischen Eheverbote, die die
Christenheit, weil sie in der Bibel standen, als auch für
sich gültig und eben dadurch sanktioniert ansah. Nun
wurde aber im vorigen Jahrhundert die Frage
aufgeworfen: Die jüdischen Ehegesetze seien im
Zusammenhange mit den übrigen Ritualgesetzen
gegeben; entweder nun seien sie für alle Menschheit
gegeben, und dann müssten wir auch jenen
Ritualgesetzen gehorchen, oder sie seien nur speziell für
die Juden gegeben, dann hätten sie für die Christen
keine Gültigkeit.
Es kam die Schwierigkeit dazu, dass Gott in offenbarem
Widerspruch gegen sein späteres Verbot der
Verwandtenehe dieselbe im Anfang nicht nur
zugelassen, sondern nötig gemacht habe, indem er nur
ein einziges Menschenpaar schuf, dessen Kinder keine
Wahl hatten, sondern sich nur untereinander
fortpflanzen konnten.
Dies letztere Problem ist ein schon lange bestehendes,
denn Beatrice in »Viel Lärm um nichts« weigert sich
scherzhaft, zu heiraten, weil alle Männer als Adams
Söhne ihre Brüder wären und sie nicht in so nahe
Verwandtschaft heiraten möchte; und sogar ein wilder
Stamm in Kalifornien empfand diese Schwierigkeit so,
dass in seiner Mythologie behauptet wurde, es wären
am Anfang aller Dinge zwei Paare geschaffen worden,
um der Notwendigkeit der Blutschande zu entgehen.
Innerhalb der christlichen Kirche suchte man sich in
verschiedener Weise hiermit abzufinden.
Von einer Seite wurde behauptet, Gott habe für diesen
Fall einen besonderen Dispens erteilt; andere meinten,
die Geschwisterehe habe vor dem Sündenfall mit dem
göttlichen und Naturgesetz harmoniert, und erst nach
diesem sei sie zur Sünde geworden; wieder andere, sie
sei überhaupt nicht durch ein Gesetz der Natur, sondern
durch
ein
positives
Gesetz,
aus
Zweckmäßigkeitsgründen, wenn auch immerhin durch
Gott verboten worden.
Welche Zweckmäßigkeitsgründe dies gewesen sein
mögen, wird von einer interessanten anonymen Schrift
aus dem Jahre 1761 »Historische Abhandlung von den
Ehegesetzen
und
den
verbotenen
Ehen«
auseinandergesetzt.
Die peinliche Genauigkeit und feine Ausarbeitung, so
meint der Verfasser, welche dem Erbrecht bei den Juden
eigen war, setzte eine Maßregel voraus, die alle
Verwirrung durch Komplikation verwandtschaftlicher
Erbanteile ausschloss.
Es wird hier zum ersten Male also die Vermutung
ausgesprochen, die in neuester Zeit wieder aufgetaucht
ist, dass die vermögensrechtlichen Beziehungen in eine
unheilbare Konfusion durch die Verwandtenehe geraten
wären,
und
dass
man
sie
aus
diesem
Zweckmäßigkeitsgrunde ausgeschlossen hätte.
Ferner betont der Verfasser, dass das enge
Familienleben der Juden, die Bedeutung, die sie der
Verwandtschaft beilegten, ganz besonders zur
Vermeidung von Ehen disponieren mussten, die die im
Hause erforderliche Subordination und Gliederung
völlig zerrüttet hätten.
Beides sind durchaus verständige und diskutierbare
Gründe, und bilden eine greifbare Hypothese, als deren
metaphysische Verfeinerung
Theorie Lotzes erscheint.
die
schon
erwähnte
Statt des ästhetisch unerfreulichen Bildes, dass sich
nach dieser Theorie aus der Vermischung
verwandtschaftlicher und ehelicher Verhältnisse
ergeben würde, bekommen wir hier ein rechtlich und
organisatorisch ungenügendes, dem eine viel realere
Kraft für die Herbeiführung des Verbotes zuzuschreiben
ist.
Seinen letztgenannten Grund verallgemeinert der
ungenannte Verfasser zu dem Prinzip: alle diejenigen
Ehen seien unrechtmäßig, in denen die natürliche durch den Verwandtschaftsgrad gegebene - Superiorität
der einen Person durch die Ehe gekränkt werde. Je
näher eine Person dem gemeinschaftlichen Stamme,
desto größer sei ihre Superiorität.
Da nun in der Ehe der Mann der übergeordnete Teil ist,
so sei es unrechtmäßig, dass er seine Mutter oder Tante
heirate, da diese ihm von Natur untergeordnet sind;
ebenso dürfe er nicht seine Schwester heiraten, da diese
ihm von Natur gleichgestellt ist, durch die Ehe aber ihm
untergeordnet würde, usw.
Dies zeigt natürlich der erste Blick als ein ganz
unzureichendes Prinzip; dennoch berührt es sich mit
einigen interessanten Tatsachen dieses Gebietes, die
allerdings zeigen, dass die hier fraglichen Beziehungen
manchmal in ihrer Erlaubtheit oder Unerlaubtheit davon
abhängig sind, welches Verhältnis der sozialen Überoder Unterordnung zwischen den betreffenden Personen
besteht.
Bei den Singhalesen ist es der verheirateten Frau
gestattet, so viele Liebhaber zu haben, wie sie will, nur
dürfen diese nie einer geringeren Kaste als sie selbst
angehören.
Offenbar herrscht die Vorstellung, dass die Superiorität
der Frau, die sie durch ihre Zugehörigkeit zu einer
höheren Kaste besitzt, durch das Verhältnis zu einem
Mitglied der niederen herabgesetzt werden würde.
Eben dieselbe Empfindung, auf einer anderen Stufe,
liegt in der berichteten Tatsache, dass ein Beduinenweib
in Dschidda gar kein Bedenken trägt, die Maitresse des
ersten besten Europäers zu werden, sich dagegen ewig
für entehrt halten würde, wenn sie die Ehegattin eines
solchen werden sollte.
Ihr Rassenstolz dem Europäer gegenüber würde durch
diejenige Superiorität, die sie in allgemeiner und
rechtlicher Beziehung dem Ehemann einräumen müsste,
gekränkt werden, während eine flüchtige und illegitime
Beziehung diese herabsetzenden Folgen nicht hat.
Ferner: wo Standesunterschiede Ehehindernisse bilden,
werden diese oft so modifiziert, dass wenigstens ein
Mann des höheren Standes eine Frau des niedrigeren
heiraten darf, nicht umgekehrt.
So auf Loti, bei den Makassaren, im früheren Indien.
Die Superiorität des Mitgliedes des höheren Standes
über das des niederen kann eben in der Ehe nur erhalten
werden, wenn jenes der Mann, dieses die Frau ist. -
Kurz,
die
Vorstellung,
dass
gewisse
Überordnungsverhältnisse durch eheliche Beziehungen
gekreuzt und gestört werden könnten, bildet manchmal
das Motiv für Eheverbote, und so ist es nicht
ausgeschlossen, dass auch die Verbote der
Verwandtenehe teilweise auf eben dieselbe zurückgehen
mögen.
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Hans-Jürgen Krahl
1943 - 1970
Der Autor
Hans-Jürgen Krahl wird 1943 in Sarstedt bei Hannover
geboren. Bei einem Bombenangriff verliert er als
kleines Kind ein Auge. Nach dem Abitur an einem
humanistischen Gymnasium beginnt er 1963 in
Göttingen das Studium der Philosophie, Germanistik,
Geschichte und Mathematik. 1961 war er der CDU
beigetreten und in Göttingen wird er Mitglied einer
schlagenden Verbindung. 1964 tritt er in den
Sozialistischen Deutschen Studentenbund ein. 1965
immatrikuliert er sich an der Frankfurter Universität und
beginnt bei Theodor W. Adorno seine Dissertation mit
dem Thema «Naturgesetze der kapitalistischen
Entwicklung bei Marx». 1967 ist er der führende Kopf
des Frankfurter SDS. Uwe Wesel schreibt in seinem
Artikel «Der Krahl» (DIE ZEIT, 12.9.2002): «Überall
ist Krahl 1968 dabei. Beim großen Vietnam-Kongress in
Berlin und bei der Debatte mit Ralf Dahrendorf auf dem
Frankfurter Soziologentag... Im Herbst ... wird er vor
der Paulskirche von der Polizei verprügelt, diskutiert
darüber mit Adorno, Günter Grass und Habermas und
ist im Wintersemester beim aktiven Streik Sprecher
aller
protestierenden
Studenten.
Nach
der
Institutsbesetzung und der Verhaftung (im Januar 1969)
ist Krahl ihr Held... Kaum aus der Untersuchungshaft
entlassen, eilt er wieder von Auftritt zu Auftritt... Seit
Oktober läuft in Frankfurt ein neuer Prozeß wegen
Landfriedensbruch... Heiligabend das absurd harte
Urteil: ein Jahr und neun Monate Gefängnis. Krahl geht
in Revision und bleibt auf freiem Fuß. Und dann das
Ende auf der Bundesstraße 252 ... etwa 50 Kilometer
vor Marburg, am späten Abend des 14. Februar 1970.
Hans-Jürgen Krahl sitzt neben dem Fahrer, der Wagen
gerät auf der eisglatten Straße ins Schleudern und stößt
zusammen mit einem Lastwagen, der ihnen
entgegenkommt. Krahl ist sofort tot.»
A n g a b e n z u r P e r s o n *)
____________________________________________
Angaben zur Person zu machen, kann nicht heissen auch nicht im Hinblick auf ein Gericht wie dieses -, zu
definieren, was man heute noch hämisch genug
«Persönlichkeit» nennt. Es kommt darauf an, dass wir
den Erfahrungshintergrund darstellen, der den
Politisierungsprozess
und
damit
auch
die
Studentenbewegung, so wie sie in ihrer antiautoritären
Phase sich gebildet hat, erklärt. Und es sind, was meine
Person
anbelangt,
sehr
andere
Erfahrungszusammenhänge als die des Genossen
Amendt.
Ich musste aufgrund meiner Herkunft sehr viel längere
Umwege machen, um die bürgerliche Klasse, der ich
entstamme, zu verraten. Da ich aus einem
unterentwickelten Land komme, nämlich aus
Niedersachsen, und zwar aus den finstersten Teilen
dieses Landes, war es mir noch nicht einmal vergönnt selbst im Rahmen der bürgerlichen Klasse nicht -, die
aufgeklärte Ideologie dieser Klasse zu rezipieren; und
ich meine, dass eine kurze Darstellung dieser Ideologie
notwendig ist, weil diese Ideologien, die ich selbst
kennengelernt habe, mit denen ich mich identifizieren
musste, denjenigen ähnlich sind, die auch Themen
dieses Prozesses bilden werden, nämlich denen
Senghors.
In Niedersachsen, jedenfalls in den Teilen, aus denen
ich komme, herrscht noch zum starken Teil das, was
man als Ideologie der Erde bezeichnen kann, und so
habe auch ich mich, als ich meinen politischen
Bildungsprozess durchmachte, zunächst nicht anders als
im Bezugsrahmen der Deutschen Partei bis zur
Welfenpartei bewegen können. Ich konnte mir nicht
einmal die Ideologien erarbeiten, die Liberalität und
Parlamentarismus bedeuten, - wenn man bedenkt, dass
die Dörfer, in denen ich aufgewachsen bin, jene NichtÖffentlichkeit noch pflegen in ihren Zusammenkünften,
die an die Rituale mittelalterlicher Hexenprozesse
erinnern. Wenn man davon ausgeht, dass heute noch in
vielen Teilen der Bundesrepublik, vom bayerischen
Wald bis zur niedersächsischen Heide, finsterste
Ideologien der Mystik stattfinden, so war es sehr
verständlich, dass mich mein Bildungsprozess zunächst
einmal in den Ludendorffbund trieb, so dass ich
begriffliches Denken nicht anders als aus der Mystik
Meister Eckharts und Hroswithas von Gandersheim
erfahren habe, d.h. Ideologien, die, wenn man sie
marxistisch interpretieren will, sicherlich ausgelegt
werden können im Sinne eines utopischen Denkens, wie
es Ernst Bloch getan hat, die aber, wenn man sie aus
dem Erfahrungszusammenhang der herrschenden Klasse
rezipiert, finsterste Unmündigkeit reproduzieren. Und
so war es schon ein enormer Schritt an Aufklärung, als
ich in meiner Heimatstadt Alfeld im Jahre1961 die
Junge Union gründete und der CDU beitrat.
Das war der erste Schritt, um mich aus diesen noch an
Blut und Boden orientierten Ideologien zu befreien, aus
dem feudalen Naturzustand einer Agrarwirtschaft
überzutreten
in
die
moderne
kapitalistische
Industriegesellschaft. Und hier muss ich sagen, dass da
gewissermassen
eine
Odyssee
durch
die
Organisationsformen der herrschenden Klasse hindurch
begann, und es gehört, das möchte ich mir ganz
persönlich zugute halten, ein enormes Ausmass auch an
psychischer Konsistenz dazu, in dieser finsteren Provinz
zwei Jahre kontinuierlich an CDU-Versammlungen von
Kleinstadt-Honoratioren teilzunehmen, denn nach
kurzer Zeit stellten sich - und das ist nicht blosse
Metapher - Daumiersche Halluzinationen ein, so dass
sich die Zusammenkünfte in Versammlungen von
Hammel-Lamm- und Rindsköpfen verwandelten.
Der nächste Schritt, nämlich der zur Aufklärung über
die CDU, war die christliche Kirche. Denn hier
zumindest, in der christlichen Kirche, wieviel
Pfadfinderideologie sie auch immer mit sich
fortschleppt, erfuhr ich zum ersten Mal etwas über den
Widerstand gegen den Faschismus - durchaus noch auf
dem Boden der inneren Emigration und der
Innerlichkeitsideologien im Sinne Bonhoeffers. Aber
selbst das war in den Kleinstadtgymnasien, die meinen
Bildungsprozess gezeichnet haben, noch viel zu viel.
Denn ich erfuhr von dem Direktor unserer Schule, dass
Dietrich Bonhoeffer ein perverser Homosexueller
gewesen sei und schon deshalb nicht im Sinne eines
anständigen Deutschen interpretiert werden könnte, und
ich musste von demselben Direktor erfahren, dass alles
Übel der Welt von den Engländern und den Juden
gekommen sei und dass das grösste Verbrechen in der
Geschichte der Menschheit wohl doch der Nürnberger
Prozess war. Das waren also Leute, die sich dann
öffentlich damit brüsteten, wie oft und mit welchem
Grad sie entnazifiziert worden seien.
Doch selbst diese anachronistischen Ideologien
ermöglichten es einem in dieser finsteren Provinz noch
nicht, irgendeine Bewusstseinsalternative zu sehen, und
auf diese Weise machte ich auch meine erste Erfahrung
mit
der
Justiz.
Als
ich
von
einem
Burschenschaftskonvent nach dem Abitur eingeladen
wurde, machte ich die Bekanntschaft eines sogenannten
Alten
Herrn,
eines
Amtsgerichtsrats,
der
lammkotelettverzehrend mir erklärte, dass die
Arbeiterklasse doch ewig unmündig und dumm bleiben
müsse und wir dazu berufen seien, die Elite zu bilden.
Das überzeugte mich zwar nicht, gleichwohl wurde ich,
als ich anfing zu studieren, Mitglied einer schlagenden
Verbindung; das gab dann allerdings auch den
Ausschlag. Es war natürlich, dass ich solch eine
schlagende Verbindung zunächst einmal selber nur
elitär erfahren konnte, d.h. dass ich selber nur elitäre
Kategorien ihr gegenüber entwickeln konnte, denn was
dort an Stumpfsinn und Unterdrückung produziert wird,
was dort in hirnlosen Köpfen, die alle permanent
Faschismus produzieren, vor sich geht, kann man
zunächst gar nicht anders als elitär interpretieren. Aus
dieser schlagenden Verbindung wurde ich allerdings
rausgeworfen, nachdem ich einen antiautoritären
Aufstand gegen einen Alten Herrn vorgenommen hatte.
Die rückständigen und feudalen Ideologien, die es
immer noch gibt, können sich so läutern, dass sie zur
herrschenden Lehrmeinung in den Instituten, den
Akademien und den Universitäten werden: Von der
Mystik des gefälschten siebten Buchs Mose war es kein
weiter Weg für mich, um in dem Fach, in dem ich
studiere, zur theoretischen Selbstbestimmung zu finden,
nämlich zu Martin Heidegger. Und hier möchte ich, um
klarzumachen, von welcher Art Ideologie man sich in
diesem Zusammenhang lösen musste, ein Zitat bringen.
Heidegger schreibt in den «Holzwegen»: «Der Mensch,
dessen Wesen das aus dem Willen zur Macht gewillt ist,
ist der Übermensch. Das Wollen dieses so gewillten
Wesens muss dem Willen zur Macht als dem Sein des
Seienden entsprechen. Darum entspringt in eins mit dem
Denken, das den Willen zur Macht denkt, notwendig die
Frage: in welche Gestalt muss sich das aus dem Sein des
Seienden gewillte Wesen des Menschen stellen und
entfalten, damit es dem Willen zur Macht genügt und so
die Herrschaft über das Seiende zu übernehmen
vermag? Unversehens und vor allem Unversehen findet
sich der Mensch aus dem Sein des Seienden vor die
Aufgabe gestellt, die Erdherrschaftzu übernehmen.»
(Ffm. 1950, S. 232)
Eine imperialistisch abenteuernde Philosophie - und ich
muss sagen, dass ich aus diesem ideologischen Kontext
schliesslich mich lösen und zum fortgeschrittenen
logischen
Positivismus
und
schliesslich
zur
marxistischen Dialektik übergehen konnte, was auch
den Bildungsgang vieler derjeniger kennzeichnet, die es
von ihrer Klassenlage her eigentlich nicht nötig haben,
sich der Praxis des Proletariats zuzurechnen, denen aber
Übelkeit ankommt, wenn sie ihre eigene Klasse und ihre
eigenen Klassengesellen kennenlernen, nämlich ihre
Lügen und korrupten Einstellungen, mit denen sie
täglich sich selber und das Proletariat bis zur
Unkenntlichkeit unterdrücken. Wohlgemerkt, diese
Lügen sind noch nicht Ideologie, denn Lügen haben
kurze und Ideologien lange Beine; Ideologien sind
verschleiernd. Was man selber in der herrschenden
Klasse, wenn man ihr Mitglied ist, zu hören bekommt,
das sind einfach dumme bornierte Lügen - bei den
Kleinstadthonoratioren der CDU, bei den Studienräten
und den Amtsgerichtsräten, die sich einer weinseligen
Solidarität versichern, in Wirklichkeit aber wie die
Wölfe untereinander sind. Da hat sich in der
herrschenden Klasse nichts geändert.
Eine ganz andere Frage ist es, diese Ideologien zu
entlarven - und hier muss ich sagen, dass Heidegger
(das, was Adorno als «Jargon der Eigentlichkeit»
destruiert hat) einer der entscheidenden Ideologen der
herrschenden Klasse geworden war -, Ideologien, die
noch heute ihre Attraktion nicht verloren haben, wenn
man bedenkt, dass er vor der Weltwirtschaftskrise von
1928/29 das Sein zum Tode feierte und damit jenen
imperialistischen Krieg vorwegnahm, den Hitler 1939
entfesseln sollte, dass er eine Entschlossenheit predigte,
die nicht weiss, wozu sie sich entschliesst, und darum
immer an den Führer sich gebunden hat, dass er eine
Bindung predigte nach 1945, ohne zu sagen, woran man
sich binden soll, um die Bindungen an die CDU um so
fester zu machen, und sicherlich wird er auch noch
heute einen Seinstrick finden, nachdem Strauss und
Kiesinger in die Seinsvergessenheit, d.h. aus der
Regierung gestossen sind, um klarzumachen, dass auch
in Brandt, Wehner und Scheel das Sein aufleuchtet.
Nachdem mich die herrschende Klasse rausgeworfen
hatte, entschloss ich mich dann auch, sie gründlich zu
verraten, und wurde Mitglied im SDS. Im SDS erfuhr
ich zum ersten Mal, was es heisst: Solidarität - nämlich
Verkehrsformen herauszubilden, die sich aus den
Unterdrückungen und Knechtungen der herrschenden
Klasse lösen. Im SDS haben wir zum ersten Mal
erfahren, dass es in der Dritten Welt eine greuelhafte
Unterdrückung gibt von seiten der USA und des
Systems, das sie repräsentieren; im SDS haben wir zum
ersten Mal erfahren, dass, wenn die herrschende Klasse
Freiheit sagt, sie die Freiheit meint, sich ihre Macht zu
nehmen, und die Freiheit zu unterdrücken, dass, wenn
die herrschende Klasse Toleranz sagt, sie Toleranz
gegenüber ihrer Herrschaft meint und Intoleranz gegen
diejenigen, die zwar alles sagen, aber nichts ändern
dürfen. Im SDS haben wir zum ersten Mal erfahren, was
es heisst, dass es heute überhaupt noch Ausbeutung gibt.
Ausbeutung und Unterdrückung sind sicherlich nicht
unmittelbar identisch. Was wir in der Dritten Welt
erfahren,
ist
offene,
brutale,
terroristische
Unterdrückung.Was wir hier als Ausbeutung erfahren,
ist im hohen Grade verschleiert, sodass es selbst
diejenigen, die am unmittelbarsten davon betroffen sind,
nämlich das Proletariat, nicht adäquat wahrnehmen
können. Und gerade im Hinblick auf diesen Prozess, in
dem es sicherlich um die Dialektik von Ausbeutung in
den spätkapitalistischen Industriemetropolen einerseits
und unmittelbarer Unterdrückung andererseits in den
Kolonien und in den im Elend und Hunger gehaltenen
Ländern der Dritten Welt geht, möchte ich Sartre
zitieren. Er schreibt in seiner «Critique de la raison
dialectique» über den Unterschied von Ausbeutung und
Unterdrückung:
«Man hätte unrecht, mir die kapitalistische Ausbeutung
und die Unterdrückung entgegenzuhalten. Denn dabei
muss man bedenken, dass der eigentliche Schwindel der
Ausbeutung auf der Grundlage eines Vertrages
geschieht. Und wenn es stimmt, dass dieser Vertrag d.h. die Praxis - zwangsläufig in inerte Ware verwandelt
wird, so trifft es ebenso zu, dass er gerade in seiner
Form ein Wechselverhältnis darstellt: es handelt sich
um einen freien Tausch zwischen zwei Menschen, die
sich in ihrer Freiheit anerkennen. Der eine gibt lediglich
vor, nicht zu wissen, dass der andere unter dem Druck
der Bedürfnisse gezwungen ist, sich wie ein materieller
Ge
genstand zu verkaufen. Aber das ganze gute Gewissen
des Unternehmers beruht auf dem Moment des
Tausches, bei dem der Lohnempfänger scheinbar seine
Arbeitskraft in voller Freiheit anbietet. Zwar ist er nicht
frei gegenüber dem Elend, aber juristisch ist er doch
tatsächlich frei gegenüber dem Unternehmer, da dieser zumindest theoretisch - im Moment der Einstellung
keinen Druck auf die Arbeiter ausübt und sich nur
darauf beschränkt, einen Maximallohn festzulegen und
alle, die mehr verlangen, zurückzuweisen. Auch hier
noch ist es die Konkurrenz und der Antagonismus der
Arbeiter selbst, die ihre Forderungen herabsinken
lassen; der Unternehmer dagegen wäscht seine Hände in
Unschuld. Dieses Beispiel zeigt zur Genüge, dass der
Mensch nur für den anderen und für sich selbst Ding
wird, eben weil er zunächst durch die Praxis als eine
menschliche Freiheit gesetzt ist. Die absolute Achtung
der Freiheit des Elenden ist die beste Weise, ihn im
Augenblick des Vertrages dem materiellen Druck
auszuliefern.» (Hamburg 1967, S. 116)
Sartre hat hier das, was in der marxistischen Lehre als
Lehrmeinung tradiert wurde, sehr konzentriert
zusammengefasst: dass nämlich Ausbeutung eine
Herrschaft ist, die auf einem hohen Grad von
Verschleierung beruht, verschleiert durch den
Tauschverkehr, verschleiert auch durch die Institutionen
der Unterdrückung, die bürgerlichen Gerichte, durch die
Zwangsgewalt von Recht und Staat. Das bedeutet - und
das ist auch die Rolle, die wir im SDS als Intellektuelle
in der Aktualisierung des Klassenkampfes zu
übernehmen haben -, dass wir im praktischen Kampf die
Theorie entfalten müssen, die für das Proletariat, seine
Sprach- und Bewusstseinswelt die Herrschaft hier im
Spätkapitalismus verständlich macht, die so unendlich
manipulativ und integrativ überdeckt ist, sie entschleiert
und aufdeckt; dass es unsere Funktion ist, als politische
Intellektuelle unser Wissen in den Dienst des
Klassenkampfes zu stellen.
Die Solidarisierung mit den sozialrevolutionären
Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt war
entscheidend für die Ausbildung unseres antiautoritären
Bewusstseins. Denn dort liegt die Unterdrückung offen
zutage; dort ist sie noch nicht verschleiert durch einen
schon etablierten bürgerlichen Tauschverkehr. So lehrte
uns die Dritte Welt einen Begriff kompromissloser und
radikaler Politik, der sich von der seichten,
prinzipienlosen bürgerlichen Realpolitik absetzt. Che
Guevara, Fidel Castro, Ho Tschi Minh und Mao Tsetungsind Revolutionäre, die uns eine politische Moral
kompromissloser Politik vermittelten, die uns zweierlei
ermöglichte: Erstens konnten wir uns absetzen von der
Politik der friedlichen Koexistenz, wie sie von der
Sowjetunion - selbst schon realpolitisch verkommen. betrieben wird, und zweitens konnten wir den Terror,
den die USA und in ihrem Gefolge auch die
Bundesrepublik in der Dritten Welt ausüben,
identifizieren. Auch hier hat Sartre - wenn man das als
Kontrast setzt zu der ideologisch verschleierten
Unterdrückung in den spätkapitalistischen Metropolen,
d.h. der Herleitung der poli
tischen Freiheit aus ökonomischer Ausbeutung, die in
den
funktionierenden
Verwertungsphasen
des
Kapitalismus als solche nicht erkannt wird - die
Unterdrückung in der Dritten Welt prägnant gezeichnet.
Er sagt im Gegensatz zu dem, was er als Ausbeutung
gekennzeichnet hat: «Die Unterdrückung dagegen
besteht vielmehr darin, den anderen als Tier zu
behandeln. Im Namen ihrer Achtung der Tiere
verurteilten die amerikanischen Südstaatler die
Fabrikanten des Nordens, weil diese die Arbeiter wie
Material behandelten. Nur ein Tier kann man ja durch
Abrichtung, Schläge und Drohungen zur Arbeit
zwingen und nicht das «Material». Dennoch erhält der
Sklave durch den Herren seine Animalität nach der
Anerkennung seiner Menschlichkeit. Es ist bekannt,
dass die amerikanischen Pflanzer im 17. Jahrhundert die
schwarzen Kinder auf keinen Fall in der christlichen
Religion erziehen lassen wollten, weil sie damit das
Recht verloren hätten, sie als Untermenschen behandeln
zu können. Das heisst implizite anerkennen, dass sie
schon Menschen waren. Der Beweis dafür ist, dass sie
sich von ihren Herren nur durch einen religiösen
Glauben unterschieden, von dem man gerade durch den
Eifer, den Schwarzen diesen Glauben zu verwehren,
zugab, dass sie in der Lage wären, ihn zu erwerben.
Selbst die demütigendste Ordnung muss in Wirklichkeit
von Mensch zu Mensch gegeben sein, auch der Herr
muss auf den Menschen in der Person seiner Sklaven
setzen. Man kennt ja den Widerspruch des Rassismus,
des Kolonialismus und aller Formen von Diktatur: um
einen Menschen wie einen Hund zu behandeln, muss
man ihn zuerst als Menschen anerkannt haben. Das
geheime Unbehagen des Herrn rührt daher, dass er
ständig gezwungen ist, die menschliche Realität in
seinen Sklaven in Rechnung zu stellen ... und ihnen
gleichzeitig den ökonomischen und politischen Status
zu verweigern, der in dieser Zeit die menschlichen
Wesen definiert.» (ibid.)
Wenn man diesen Unterschied von Ausbeutung und
Unterdrückung, den Sartre gekennzeichnet hat, in
Rechnung stellt, so gibt es gleichwohl eine objektive
Identität, die als wiederum objektive Motivation unseres
antiautoritären Protests in den Metropolen durchscheint.
Während in den ehemaligen Kolonien, in den
ausgebeuteten Ländern der Dritten Welt die
unterdrückten Massen auf den Status einer brutalen
Animalität reduziert werden, haben sicherlich jene
Analytiker und Theoretiker recht (und das erklärt es
auch, warum Söhne aus der bürgerlichen Klasse,
keineswegs verwöhnt - Zuckerschlecken haben wir alle
nicht gehabt, wie es die bürgerliche Presse uns
suggeriert -, gleichsam übergelaufen sind zu der Klasse,
in der sich die befreiende Menschheit repräsentiert,
nämlich im Proletariat), dass es auch hier auf dem
entwickeltsten Stand des technischen Fortschritts und
auf
dem
forgeschrittensten
Stand
der
Bedürfnisbefriedigung, weit über das Mass physischer
Selbsterhaltung hinaus, so etwas gibt wie eine
Vertierung des Menschen. Denn nicht anders ist es zu
erklären, dass selbst das bürgerliche Individuum, das
unter sehr vielen Zwängen und unter sehr viel
Leistungsdruck sich herausbildete, im Grunde
genommen durch den Prozess des Faschismus hindurch
vernichtet wurde; dass, wie es Theoretiker der
Frankfurter Schule einmal gesagt haben, sich einige
Menschen schämen müssten, wenn sie «ich» sagen, das bedeutet, dass im bürgerlichen Ich, so wie Marcuse
es ausführte, immer noch die Fähigkeit zur Kritik, zur
Erfahrung, zur Erinnerung und zum Begreifen enthalten
war, dass aber heute im Zuge des technischen
Fortschritts und der anarchischen Verwaltung des
industriellen
Maschinenparkes
durch
wenige
Kapitaleigentümer die Menschen auf blosse Reaktion,
gleichsam nach dem Pawlowschen Reflex, reduziert
werden; dass sie nurmehr reagieren, aber in keinerlei
Weise mehr agieren können.
Dieser Verfall des bürgerlichen Individuums ist eine der
wesentlichen
Begründungen,aus
der
die
Studentenbewegung
den antiautoritären
Protest
entwickelte. In Wirklichkeit bedeutete ihr antiautoritärer
Anfang ein Trauern um den Tod des bürgerlichen
Individuums, um den endgültigen Verlust der Ideologie
liberaler
Öffentlichkeit
und
herrschaftsfreier
Kommunikation, die entstanden sind aus einem
Solidaritätsbedürfnis, das die bürgerliche Klasse in
ihren heroischen Perioden, etwa der französischen
Revolution, der Menschheit versprochen hatte, das sie
aber nie einzulösen vermochte, und das jetzt endgültig
zerfallen ist. Die Form liberaler Öffentlichkeit,
gewaltlosen Machtkampfes im Parlament, und auch jene
forensischen emanzipativen Leistungen, die einstmals
die Zwangsgewalt im Bürgertum, die Zwangsgewalt der
richterlichen Gewalt, parlamentarisieren sollten - all
diese emanzipativen Gehalte des Bürgertums sind längst
zerfallen. Wir trauerten ihnen nach, wir meinten sogar,
dass allein Randgruppen, intellektuelle, privilegierte
Randgruppen in Stellvertretung für die Arbeiterklasse
handeln
und
gewissermassen
eine
Art
Menschheitsrevolution, ohne Unterschied der Klassen,
initiieren könnten. Das alles hat sich sicherlich als
Ideologie herausgestellt.
Gleichwohl war in diesem Solidaritätsbedürfnis eine
entscheidende Wahrheit enthalten, nämlich diese, dass
man das Proletariat nur unter Unterdrückung seiner
emanzipativen Regungen davon abhalten kann, sich auf
irgendeine selbsttätige Weise zu solidarisieren und
untereinander zu organisieren. Die wilden Streiks in der
letzten Zeit haben gezeigt, dass dies auf die Dauer nicht
gelingen wird, dass es wahrscheinlich noch nicht einmal
dem
grossen
Disziplinierungsapparat
der
Gewerkschaften gelingen wird, das Proletariat an
selbsttätiger Organisation zu hindern. Wir haben in
einem marxistischen Lernprozess, der durch die
Aktionen gegen den Krieg in Vietnam, gegen den
Springer-Konzern
und
die
Notstandsgesetze
hindurchging, die ersten klassenbewussten Kriterien des
Proletariats erkannt. Die antiautoritäre Revolte war ein
marxistischer Lernprozess, in dem wir uns allmählich
von den Ideologien des Bürgertums gelöst und ihre
Emanzipationsversprechen als
blosse
Ideologie
entschleiert haben, und in dem wir uns endgültig
klargeworden sind, dass selbst die klassischen Formen
der Liberalität und der Emanzipation, die noch den
liberalen Konkurrenzkapitalismus leiteten, endgültig
dahin sind; dass es jetzt darauf ankommt, im Kampf
gegen den Staat, gegen diese bürgerliche Justiz und
gegen die organisierte Macht des Kapitals in einem
langwierigen und sicherlich schwierigen Prozess
Bedingungen
zu
erarbeiten,
damit
wir
in
organisatorischen Kontakt mit der Arbeiterklasse treten
können und die geschichtlichen Bedingungen für die
Bildung von Klassenbewusstsein schaffen können. Das
war ein langfristiger Bildungsprozess, der sich im SDS
selber durchsetzen musste.
Dazu ist noch ein anderes zu sagen: die entscheidende
Erfahrung, die im SDS gemacht worden ist, ist die, dass
die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den
Menschen heute so durch Herrschaft zersetzt sind, dass
ein Verkehr, in dem die Menschen sich nicht
gegenseitig wie Dinge behandeln, sondern die einzelnen
Subjekte sich in ihrer Objektivität als besondere
Subjekte anerkennen, geradezu unmöglich geworden ist.
Und das, was im Prozess der Auseinandersetzungen in
derAusserparlamentarischen Opposition, in den
Kerngruppen des SDS, in den Basisgruppen von jungen
Lehrlingen, von der bürgerlichen Presse immer wieder
als selbstzerstörerisch interpretiert wurde, nämlich
unsere unendlichen Diskussionen und auch jene
Aggressionen, die in unseren eigenen Reihen immer
wieder
auftreten,
ist
Ausdruck
einer
organisationspraktischen Bildungsgeschichte, die es
bislang in der Geschichte der Bundesrepublik und in der
Geschichte Deutschlands seit dem Faschismus nicht
gegeben hat: nämlich dass es hier eine Gruppe gibt, die
durch alle Irrationalitäten hindurch - denn sicherlich
sind wir selbst noch mit den Malen kapitalistischer
Herrschaft geschlagen, gegen die wir kämpfen - um
herrschaftsfreie Beziehungen, um einen Abbau an
Herrschaft und Aggression kämpft; dass dies die einzige
Gruppe ist, die versucht, rational darüber zu diskutieren,
dass Gewaltlosigkeit in dieser Gesellschaft schon immer
eine Ideologie war, dass unter dem Deckmantel der
Gewaltlosigkeit Gewalt angewandt wird von der
herrschenden Klasse; dass wir diskutieren, was die
herrschende Klasse ihrem Gewaltbegriff gegenüber
nicht diskutieren kann, nämlich unter welchen
gesellschaftlichen Unterdrückungssituationen Gewalt
historisch legitim ist. Die Legalität bürgerlicher
Gerichte kann sich nicht mehr legitim begründen. Sie ist
blanke, unbegründete Gewalt geworden, sie verfügt
über keinen Emanzipations- und Legitimationsbegriff,
sie übt nur Unterdrückung im Dienste des Kapitals aus.
Wir demgegenüber haben erkannt und gesehen, dass es,
wenn man gegen diese Gesellschaft kämpft, notwendig
ist, die ersten Keimformen der künftigen Gesellschaft
schon in der Organisation des politischen Kampfes
selbst zu entfalten - die ersten Keimformen anderer
menschlicher
Beziehungen,
herrschaftsfreien
menschlichen Verkehrs, selbst um den Preis einer hohen
Disziplinierung und Unterdrückung, die wir uns selbst
auferlegen müssen. Auch wir können, wie Marx sagt,
das künftige Jerusalem in unseren Organisationen nicht
vorwegnehmen. Auch in unseren Organisationen, das
können wir der herrschenden Klasse offen sagen,
herrscht noch - allerdings selbstauferlegte Unterdrückung. Aber der Unterschied zur blinden
Unterdrückung der bürgerlichen Klasse ist der:
In der bürgerlichen Klasse und ihren Theorien bestand
immer schon die antagonistische Wirtschaftsideologie,
dass entweder der Egoismus der Menschen den
Fortschritt in der Wirtschaft vorantreibt oder dass jeder
von seinem einzelnen Egoismus radikal abzusehen
habe. In Wirklichkeit, sagt Marx, ist es so, dass im
bürgerlichen Tauschverkehr, der auf nichts anderes als
auf Profit ausgerichtet ist, jeder einzelne absolut seinen
einzelnen und beschränkten Egoismus verfolgt und dass
in diesem Konkurrenzkrieg aller Einzelegoismen - und
die Konkurrenz ist immer ein latenter Kriegszustand sich das gesellschaftliche Allgemeininteresse als
besonderes der bürgerlichen Klasse durchsetzt. Wenn
wir diese Gesellschaft verneinen wollen, und zwar in
einer bestimmten Form verneinen wollen, so dass sich
schon die ersten Keimformen anderer Beziehungen in
unserer Organisation selbst andeuten, dann bedeutet das,
dass jeder einzelne um der Freiheit des anderen willen
von seinem einzelnen Egoismus abstrahieren muss, dass
er sich selbst Unterdrückung auferlegen muss, wenn er
mit der Freiheit eines jeden anderen, wie es heisst, will
zusammenstimmen können.
Die kommunistische Organisation des politischen
Kampfes löst die Emanzipationsversprechen des
bürgerlichen Tauschverkehrs überhaupt erst ein. Und
auf diesem Wege werden sich Formen herausbilden, die
schliesslich das, was Marx als den Verein freier
Menschen, die kommunistisch assoziiert sind, die
herrschaftsfrei miteinander verkehren, versteht,
zustande bringen.
Uns wird immer wieder gesagt, ihr seid deshalb nicht
legitim, weil ihr nicht angeben könnt, wie die künftige
Gesellschaft aussehen soll. Das sagen immer diejenigen,
die meinen, nun gebt uns erst einmal ein Rezept, und
dann entschliessen wir uns vielleicht, ob wir mittun
wollen. Das sagen jene Heuchler und Feiglinge, die
meistens in den Redaktionen der bürgerlichen Presse
sitzen. Die künftige Gesellschaft kann man nicht
vorwegnehmen. Wir können sagen, wie der technische
Fortschritt in hundert Jahren aussehen wird, aber wir
können nicht sagen, wie die menschlichen Beziehungen
in hundert Jahren aussehen werden, wenn wir nicht
anfangen, sie ad hoc, unter uns, im gesellschaftlichen
Verkehr zu verändern.
Was wir machen können, ist. immanent anzusetzen an
jenen verzerrten, unterdrückten Verkehrsformen, die die
bürgerliche Gesellschaft entwickelt hat. Wir negieren
sie, d.h. wir lösen überhaupt erst im politischen Kampf
die Emanzipationsversprechen ein, die Ihr, also die
Vertreter auch der bürgerlichen Justiz, gegeben, aber
nicht gehalten habt. Diesen Sachverhalt der Solidarität
und der Herrschaftsfreiheit in der Organisation des
politischen Kampfes hat Maurice Mer-leau-Ponty, einer
der grossen französischen Revolutionstheoretiker,
dargelegt. Er sagt: «Der tiefe philosophische Sinn des
Begriffs der Praxis besteht darin, uns in eine Ordnung
einzuführen, welche nicht die der Erkenntnis, sondern
die der Kommunikation, des Austauschs, des Umgangs
ist... Die Partei im kommunistischen Sinne ist diese
Kommunikation, und eine solche Auffassung von der
Partei ist kein Anhängsel des Marxismus; sie ist sein
Zentrum. Es sei denn, man macht daraus wieder einen
Dogmatismus - aber wie sollte er zustandekommen, da
er sich von vornherein nicht in der Selbstgewissheit
eines universellen Subjekts installieren kann. Der
Marxismus verfügt nicht über eine Totalansicht der
Weltgeschichte, und seine ganze Geschichtsphilosophie
ist nur die Entwicklung partieller Einsichten, die ein
geschichtlich situierter Mensch, der sie zu verstehen
sucht, über seine Vergangenheit und Gegenwart
gewinnt. Sie bleibt hypothetisch, abgesehen davon, dass
sie im bestehenden Proletariat und in seiner
Einwilligung die einzige Garantie findet, die es ihr
gestattet, als Seinsgesetz zu gelten. Die Partei ist also
wie ein Mysterium derVernunft: sie ist derjenige Ort der
Geschichte, an dem der seiende Sinn seiner selbst inne,
an dem der Begriff zum Leben wird, und jede
Abweichung, welche die Beziehungen von Partei und
Klasse denen von Führern und Truppe anähnelte, indem
sie die den Marxismus beglaubigende Prüfung listig
umginge, würde aus ihm eine «Ideologie» machen.»
(«Die Abenteuer der Dialektik», Ffm. 1968, S.62ff.)
Das, was ich eben dargelegt habe und von dem jeder
sich überzeugen kann, der in unsere öffentlich tagenden
Versammlungen kommt, bestätigt, dass es bei uns im
Prinzip um die noch herzustellende Beziehung von
Organisation und Klasse geht, dass es bei uns um eben
diese Kommunikation geht, nicht aber darum, was uns
hier von den bürgerlichen Gerichten immer wieder
unterstellt wird, nämlich um das Verhältnis von Führer
und Truppe; dass es nicht um jene Projektion geht, die
immer wieder vorgenommen wird, nämlich die
Organisation des Polizeiapparats auf unsere eigene
Organisation zu projizieren. Die Phantasielosigkeit, die
Begriffsstutzigkeit und die Dummheit der Vertreter der
herrschenden Klasse kann natürlich nicht anders, als
ihre eigenen autoritären Hierarchien auf uns übertragen.
Sie kann, will und darf nicht glauben, dass es bei uns
um Fragen herrschaftsfreier Kommunikation geht.
Wir machen solange individuelle und vereinzelte
Bildungsprozesse mit allen Entstellungen und Narben
durch, solange wir entweder Mitglieder der
herrschenden Klasse oder der unorganisierten, in sich
zerrissenen Arbeiterklasse sind, in der jeder einzelne
gezwungen ist, seine Haut zu Markt zu tragen; wir
machen
solange
entstellte
und
verzerrte
Bildungsprozesse durch, solange wir vereinzelt sind und
nicht organisiert, solange wir uns den Ideologien der
herrschenden Klasse und des kapitalistischen
Maschinenparkes unterwerfen müssen. In dem
Augenblick aber wird unser Bildungsprozess ein
kollektiver, nicht im Sinne der Vernichtung von
Individualität, sondern überhaupt erst in der Herstellung
von Individualität, so wie er metaphysisch in Hegels
«Phänomenologie des Geistes», materialistisch in
Marxens «Kapital» und psychoanalytisch in den
Theorien Freuds formuliert ist, indem wir diese
Gesellschaft als ein totales Ausbeutungssystem
durchschauen, in dem die produktive Lebenstätigkeit
der Menschennatur verkümmert. Wir machen
Bildungsprozesse
durch,
die
überhaupt
erst
Individualität wieder herstellen und das, was
Individualität ist, in einem emanzipativen Sinne
rekonstruieren, indem wir uns im praktischen Kampf
gegen dieses System zusammenschliessen.
Marcuse hat recht, wenn er sagt, dass selbst für die
kapitalistische Gesellschaft, in der so viele so ruhig
materiell gesichert leben, gilt, dass man nicht Mensch
bleibt, wenn man nicht diese Gesellschaft radikal
bekämpft; und wir haben eine Legitimation. Diejenigen,
die heute die Macht im Staate innehaben, können nur
begriffslos um Positionen konkurrieren. Sie haben die
Macht inne und nichts anderes. Auch wir kämpfen um
die politische Macht im Staat, aber wir haben eine
Legitimation, denn unser Machtkampf ist begleitet von
einem permanenten Kommunikationsprozess, in dem
sich die Kategorien der Emanzipation, die erst im
abstrakten Prinzip existieren, realisieren und entfalten,
wo sie zum praktischen Dasein werden.
Selbst in diesem System, in dem keiner mehr zu
hungern hat, in dem kein physisches Elend besteht,
bleibt eines bestehen: diese Gesellschaft, so wie sie
organisiert ist, hat es im Laufe der Entwicklung der
Menschengeschichte nicht nur fertiggebracht, dass man
Messer und Gabel hat, dass man sogar Fernsehapparate
und Kühlschränke hat, sie hat auch ein hohes
Kulturniveau produziert und eine wunderbar
reibungslose Zivilisation - Bedürfnisse, die alle den
Stand
der
physischen
Selbsterhaltung
weit
überschreiten. Aber die Allgegenwart eines autoritären
Staats und die Abhängigkeit vom Kapital, die die
Massen zwingt, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen,
fesselt das Bewusstsein der Massen immer wieder an
jene Formen elementarer Bedürfnisbefriedigung; denn
dieser Staat und das Kapital können die Massen - und
sie tun es auch - permanent mit der Angst aufstacheln,
dass es ihnen auch wieder anders gehen könnte. Jene
erweiterte Bedürfnisbefriedigung war nicht verbunden
mit einem Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, war
nicht verbunden mit einer Entfaltung der Phantasie und
der schöpferischen Tätigkeit der Menschennatur. Aber
sie ist immer noch, auch hier, obwohl sie all diesen
verdinglichten gesellschaftlichen Reichtum besitzt,
ängstlich an die materielle Sicherheit und
Bedürfnisbefriedigung gebunden, obwohl wir einen
Stand materieller Sicherheit haben, der längst eine
Entfaltung der Menschen ermöglichte, die weit darüber
hinausgehen könnte. Das ist die eigentliche
Knechtschaft im Kapitalismus. Das ist das Moment
sozialer Unterdrückung, das wir als diejenigen, die
privilegiertsind, zu studieren, auch einsehen konnten.
Und dieses Privileg wollen wir durchbrechen, so dass
man noch einmal die Frage beantworten kann, warum
eigentlich solche, die es ihrer Herkunft nach eigentlich
nicht nötig haben - das gilt sicherlich auch in der
Studentenbewegung nur für einen kleinen Teil -, warum
diejenigen, die es ihrer Herkunft nach nicht nötig haben,
zur Rebellion und zur Revolution überzugehen,
gleichwohl sich fortschrittlichen sozialrevolutionären
Bewegungen anschliessen. Es ist nicht das blosse
Trauern um den Tod des bürgerlichen Individuums,
sondern es ist die intellektuell vermittelte Erfahrung
dessen, was Ausbeutung in dieser Gesellschaft heisst,
nämlich die restlose und radikale Vernichtung der
Bedürfnisentwicklung
in der
Dimension des
menschlichen Bewusstseins. Es ist immer noch die
Fesselung der Massen, bei aller materiellen
Bedürfnisbefriedigung, an die elementarsten Formen der
Bedürfnisbefriedigung - aus Angst, der Staat und das
Kapital könnten ihnen die Sicherheitsgarantien
entziehen. So hat auch Ernst Bloch -derjenige, dem (vor
dem Imperialisten Senghor) als Revolutionär und
utopischen Marxisten der Friedenspreis verliehen wurde
- argumentiert, wenn er im «Prinzip Hoffnung» die
Frage stellt: Warum sind diejenigen, die es nicht nötig
haben, zur roten Fahne übergelaufen? Er sagt: «Es ist
die sich tätig begreifende Menschlichkeit.»
________________
*)
Diese politische Autobiographie war der Beitrag H.-J.
Krahls zur Personenbefragung im Prozess wegen
Rädelsführerei usw., in dem er zusammen mit den
Genossen G. Amendt und K. D. Wolff wegen der
Protestaktionen
gegen
die
Verleihung
des
Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1968 an
den Präsidenten der Republik Senegal. L. S. Senghor,
angeklagt war. Der Beitrag war ohne Konzept frei
gehalten worden. Das Tonbandprotokoll wurde im SCInfo 19. Frankfurt 1969. veröffentlicht. (Anm. d. Hg.)
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