Stimmen zu Grundwerten - Renner Institut Oberösterreich

Werbung
Frühlingswerkstatt 2013
Geschichten zu den
sozialdemokratischen
Grundwerten
Bernd Dobesberger
Linz, 30. März 2013
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Inhaltsverzeichnis
Ganz Allgemein _______________________________________________________ 3
Historisches __________________________________________________________ 4
125 Jahre sozialdemokratische Parteiprogramme ____________________________ 5
Stimmen zu Grundwerten _______________________________________________ 8
Aus sozialdemokratischer Sicht ___________________________________________ 9
Diese Freiheit meinen wir! ____________________________________________ 9
Gerechte Gleichheit ist das Ziel ________________________________________ 11
Was heißt eigentlich Solidarität? ______________________________________ 12
Grundwerte österreichischer Parteien ____________________________________ 14
Krawall in der Stadt ___________________________________________________ 15
Streik der Straße _____________________________________________________ 20
Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht ___________________________ 22
Schule und Kulturkampf _______________________________________________ 28
Sozialreform und Sozialstaat ____________________________________________ 33
Weiße Sklavinnen ____________________________________________________ 37
„Grenzenloses Vergnügen“ oder „Kampf dem Schund“ ______________________ 40
Frühlingswerkstatt 2013
2
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Ganz Allgemein
Definitionen aus Wikipedia
Grundwert bzw. Grundwerte kann bedeuten:

Die grundlegenden Wertvorstellungen einer religiösen oder politischen
Gruppierung

Die Grundrechte (siehe auch Menschenrechte)

Das Naturrecht

In Naturwissenschaft oder Technik der Ausgangswert (Startwert) einer
Modellierung

den Grundwert (Basiswert) bei der Prozentrechnung
Siehe auch:
 Grundsatz

Werte, Wertewandel

Ethik
http://de.wikipedia.org/wiki/Grundwert (04.01.2013)
Werte oder Wertvorstellungen:
Wertvorstellungen oder kurz Werte bezeichnen im allgemeinen Sprachgebrauch unter
anderem als erstrebenswert, in sich wertvoll oder moralisch gut betrachtete
Eigenschaften bzw. Qualitäten, die Objekten, Ideen, praktischen bzw. sittlichen
Idealen, Sachverhalten, Handlungsmustern, Charaktereigenschaften und dergleichen
beigelegt werden.
http://de.wikipedia.org/wiki/Werte (04.01.2013)
Frühlingswerkstatt 2013
3
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Historisches
Unter Napoleon III. wurde Liberté, Égalité, Fraternité über 50 Jahre nach der
Französischen Revolution zu deren Parole erklärt. Nachdem sie mehrmals in Frage
gestellt worden war, setzte sie sich nach 1871 unter der Dritten Republik durch. Man
verankerte sie in der Verfassung der Fünften Republik von 1958. Heute ist sie Teil des
nationalen Erbes Frankreichs und praktisch an jedem Rathaus sowie anderen
öffentlichen Gebäuden zu finden.
(…)
Während der Französischen Revolution war „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eine
der zahlreichen Losungen, auf die man sich berief. In einer Rede über die Organisation
der Nationalgarde sprach sich Maximilien de Robespierre im Dezember 1790 dafür aus,
die Worte „Das französische Volk“ und „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf
Flaggen und Uniformen zu schreiben; sein Vorhaben wurde jedoch nicht
angenommen.
(…)
Aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Freiheit,_Gleichheit,_Br%C3%BCderlichkeit (30.04.2013)
Frühlingswerkstatt 2013
4
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
125 Jahre sozialdemokratische Parteiprogramme
Prinzipienerklärung der SDAP, beschlossen am Einigungsparteitag in
Hainfeld 1888/89
„Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und
seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu
erhalten, ist daher das eigentliche Programm der Sozialdemokratischen Partei in
Österreich, zu dessen Durchführung sie sich aller zweckdienlichen und dem natürlichen
Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mittel bedienen wird.“
Programm der SDAP in Österreich, beschlossen am Parteitag in Wien
1901
„Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich wird in allen politischen und
ökonomischen Fragen jederzeit das Klasseninteresse des Proletariats vertreten und
Frühlingswerkstatt 2013
5
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
aller Verdunkelung und Verhüllung der Klassengegensätze sowie der Ausnützung der
Arbeiter zugunsten von bürgerlichen Parteien energisch entgegenwirken.
Die Sozialdemokratische Partei in Österreich ist eine internationale Partei: sie
verurteilt die Vorrechte der Nationen ebenso wie die der Geburt und des Geschlechts,
des Besitzes und der Abstammung und erklärt, dass der Kampf gegen die Ausbeutung
international sein muss wie die Ausbeutung selbst. Sie verurteilt und bekämpft alle
Einschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung sowie jede Bevormundung durch
Staat und Kirche. Sie erstrebt gesetzlichen Schutz der Lebenshaltung der arbeitenden
Klassen, und sie kämpft dafür, dem Proletariat auf allen Gebieten des öffentlichen
Lebens möglichst großen Einfluss zu verschaffen.“
Programm der SDAP Österreichs, beschlossen am Parteitag in Linz 1925
„Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs, gestützt auf die Lehren
des wissenschaftlichen Sozialismus und auf die Erfahrungen jahrzehntelanger
siegreicher Kämpfe, eng verbunden den sozialistischen Arbeiterparteien aller
Nationen, führt den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und setzt ihm als Ziel die
Überwindung
der
kapitalistischen,
den
Aufbau
der
sozialistischen
Gesellschaftsordnung.“
Aktionsprogramm der Sozialistischen Partei Österreichs, beschlossen am
Parteitag in Wien 1947
„Die Sozialistische Partei Österreichs ist die Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und
Land. Sie will Hüter der Menschenrechte sein, Anwalt der Enterbten und
Unterdrückten, Kämpfer für eine sozialistische Gesellschaftsordnung.
Die Sozialistische Partei ist die Sammlung aller Kräfte des Aufbaus und des
Freiheitskampfes.
Die Welt ist auch nach dem Ende des Krieges nicht zur Ruhe gekommen. In Österreich
leidet das arbeitende Volk unter dem Elend, das eine Folge der Kriegs- und
Nachkriegsereignisse ist. Es wird bedrückt durch die Unsicherheit seiner Existenz.
Die Sozialistische Partei Österreichs weist den Weg aus der Zerstörung.“
Programm der SPÖ, beschlossen am Parteitag in Wien 1958
„Die Grundsätze der Sozialisten
Die Sozialisten wollen eine Gesellschaftsordnung, also eine Ordnung der
Lebensverhältnisse und der Beziehung der Menschen zueinander, deren Ziel die freie
Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ist. Sie wollen die Klassen beseitigen und
den Ertrag der gesellschaftlichen Arbeit gerecht verteilen.
Daher kämpfen die Sozialisten für die Freiheit der Menschen, für ihre volle
Gleichberechtigung und für soziale Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft. (…)
Frühlingswerkstatt 2013
6
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Der auf Freiheit und Gerechtigkeit gegründeten Lebensordnung, die die Sozialisten
erstreben, entspricht ihre sittliche Lebensauffassung.“
Programm der SPÖ, beschlossen am Parteitag in Wien 1978
Wir Sozialsten streben eine klassenlose Gesellschaft an, in der Herrschaftsverhältnisse
und Privilegien überwunden sind, und die auf den Grundwerten Freiheit, Gleichheit,
Gerechtigkeit und Solidarität aufbaut.“ (…)
Die soziale Demokratie wird eine Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit, der
Gerechtigkeit und Solidarität sein, in der umfassende soziale Sicherheit durch das
Recht auf Arbeit und durch Sorge um die Wohlfahrt der Menschen in allen
Lebenslagen, das Recht auf humane Umwelt, auf umfassende Bildung und Ausbildung
nach freier Wahl, auf Mitbestimmung und Mitverwaltung lebendige Wirklichkeit sind.
Sie soziale Demokratie wird verwirklicht, indem immer neue Bereiche der Gesellschaft
mit den Ideen der Demokratie durchdrungen werden.“
Programm der SPÖ, beschlossen am Parteitag in Wien 1998
„Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten streben eine Gesellschaft an, in der
sich die menschliche Persönlichkeit frei entfalten kann. Unsere politische Arbeit zielt
darauf ab, eine Gesellschaft ohne Privilegien und Herrschaftsverhältnisse zu schaffen,
die demokratisch organisiert ist und auf den Werten der Freiheit, der Gleichheit, der
Gerechtigkeit und der Solidarität beruht. Entscheidungsgrundlagen für die
Lebensgestaltung jeder und jedes Einzelnen müssen vor allem die Verantwortung
gegenüber sich selbst, gegenüber den Mitmenschen und der Gesellschaft, gegenüber
der Umwelt sowie gegenüber den künftigen Generationen sein.
Dieses Ideal einer humanen Gesellschaft ist jenes Ziel, um dessen schrittweise
Verwirklichung wir uns im demokratischen Wettbewerb mit anderen politischen
Konzeptionen bemühen.
Das Streben nach Verwirklichung des uralten Menschheitstraums von einer gerechten
Gesellschaftsordnung, in der alle Menschen in Frieden und Freiheit leben ist weiter
lebendig und bietet auch für das 21. Jahrhundert die Grundlage für solidarische Arbeit
an der Realisierung des sozialdemokratischen Ideals.
Die Sozialdemokratie stützt sich auf Frauen und Männer, die bereit sind, an der
Verwirklichung sozialdemokratischer Ziele mitzuarbeiten, die sich zu solidarischem
Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen bekennen und im Sinne dieses Bekenntnisses
handeln.
Dem Programm der Sozialdemokratie liegt ein Menschenbild zugrunde, wonach alle
Menschen als vernunftbegabte und zu Verantwortung fähige Wesen mit gleichen
Rechten und Pflichten geboren und mit gleicher Würde ausgestattet sind; es liegt
ihnen eine Geschichtsauffassung zugrunde, wonach die Geschichte ein offener und
nicht determinierter Prozess ist, der Chancen und Risken enthält und der von uns
Menschen in Wechselwirkung mit unserer Umwelt gestaltet wird.“
Frühlingswerkstatt 2013
7
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Stimmen zu Grundwerten
Gleichheit
„…das am häufigsten zur Unterscheidung von rechts und links angewandte Kriterium
das der unterschiedlichen Haltung ist, die die in einer Gesellschaft lebenden Menschen
in Hinblick auf das Ideal der Gleichheit einnehmen….“
Aus: Bobbio, Norberto; „Rechts und Links“; Berlin 1994; S. 76
„Gleiche Volkserziehung“
"Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats:
1. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht.
Unentgeltlichen Unterricht."
Gleiche Volkserziehung? Was bildet man sich unter diesen Worten ein? Glaubt man,
dass in der heutigen Gesellschaft (und man hat nur mit der zu tun) die Erziehung für
alle Klassen gleich sein kann? Oder verlangt man, dass auch die höheren Klassen
zwangsweise auf das Modikum Erziehung - der Volksschule - reduziert werden sollen,
das allein mit den ökonomischen Verhältnissen nicht nur der Lohnarbeiter, sondern
auch der Bauern verträglich ist?
‚Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht.‘ Die erste existiert in Deutschland,
das zweite in der Schweiz [und] den Vereinigten Staaten für Volksschulen. Wenn in
einigen Staaten der letzteren auch "höhere" Unterrichtsanstalten "unentgeltlich" sind,
so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem
allgemeinen Steuersäckel bestreiten.“
Aus: Marx, Karl; „Kritik des Gothaer Programms“; geschrieben 1875; MEW 19; S. 13 – 32
http://mlwerke.de/me/me19/me19_013.htm#Kap_I (20. 2. 2013)
Frühlingswerkstatt 2013
8
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Aus sozialdemokratischer Sicht
Der „Bildungskurier“ - die Zeitschrift der sozialdemokratischen Bildungsorganisation in
Oberösterreich – beschäftigte sich in seinen vier Ausgaben des Jahres 2012 mit den
vier Grundwerten der SPÖ. Dabei erschienen insgesamt drei einführende Artikel von
Bernd Dobesberger.
Bildungskurier 1/2012
Diese Freiheit meinen wir!
Freiheit ist ein vielschichtiger Begriff, oftmals missbraucht und ebenso oft
missverstanden. Aber es ist ein sehr aktueller politischer Wert. Freiheit wird nicht
einmal errungen, sondern muss ständig gelebt und weiterentwickelt werden.
Im Parteiprogramm der Sozialdemokratie ist „Freiheit“ einer der vier Grundwerte –
neben Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Allerdings hat auch die
Sozialdemokratie so ihre liebe Not klar sagen zu können, was denn aus ihrer Sicht mit
Freiheit gemeint ist. Historisch geht das ziemlich einfach. Die heftigen Konflikte um
Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, der Kampf gegen die Zensur im 19. Jahrhundert
usw. – das waren wichtige Auseinandersetzungen um die Verwirklichung von
Freiheitsrechten.
Aber heute? Alle sind frei bei uns, warum also über Freiheit philosophieren? Einfache
Antwort: Weil Freiheit ständig gelebt werden muss und dazu ist es notwendig zu
wissen, was denn das überhaupt ist!
Freiheit ist kein egomanischer Trip
Bereits vor den politischen Kämpfen des liberalen Bürgertums und der
Arbeiterbewegung um die bereits aufgezählten und um weitere Freiheitsrechte, gab es
besonders im 18. Jahrhundert einschlägige philosophische Debatten. Das individuelle
Denken und Handeln sollte vom Individuum bestimmt und nicht von Kirche und König
festgelegt werden. Nicht zufällig heißt ein altes Lied aus dieser Zeit „Die Gedanken sind
frei!“. Das impliziert natürlich, dass es beim Denken und Handeln immer mehrere
unterschiedliche Möglichkeiten gibt und es in der Verantwortung des Einzelnen bzw.
der Gesellschaft liegt, die jeweils passende Antwort zu geben. Heute werden immer
wieder politische Handlungen als alternativlos hingestellt. Damit wird gesagt, dass es
dabei keine Handlungsfreiheit gibt. Die Begründung von Margaret Thatcher „There is
no alternative!“ für ihre neoliberale Politik ist legendär und signalisierte, dass es keine
Freiheit für andere politische Optionen gäbe. Übrigens hat auch Werner Faymann das
aktuelle Sparpaket als alternativlos bezeichnet. Derartige Begründungen meinen stets:
Ende der politischen Debatte! Freiheit meint das eben nicht. Ist der/die Einzelne für
sein und ihr Denken und Handeln selbst verantwortlich, dann stellt sich natürlich stets
die Frage: Wie geht das mit dem Denken und Handeln der anderen Subjekte
zusammen? Die Freiheit des einen Einzelmenschen betrifft immer auch die Freiheiten
anderer Einzelmenschen. Daher wurde philosophisch schnell klargelegt, dass Denken
und Handeln des einen einzelnen Menschen nicht das Denken und Leben der Anderen
Frühlingswerkstatt 2013
9
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
beeinträchtigen darf. Damit ist Freiheit eben kein egomanischer Trip von Einzelnen
mehr, sondern hat immer auch eine gesellschaftliche Dimension.
Freiheit muss man sich auch leisten können
Um frei handeln zu können, muss man (und natürlich auch frau) in zweifacher Hinsicht
das Zeug dazu haben. Einerseits muss der/die Einzelne durch Erziehung, Bildung und
Persönlichkeit dazu befähigt sein, unterschiedliche Alternativen zu sehen und auch
entsprechend handeln zu können. Andererseits braucht es, um frei handeln zu können
oftmals auch materielle Voraussetzungen. Ich bin freier, wenn ich mir mehr
Möglichkeiten leisten kann und nicht nur eine! So ist aber auch deutlich, dass Freiheit
nicht nur die individuelle und die soziale Dimensionen hat, sondern auch die Aspekte
des Wissens und Könnens bzw. der materiellen Ermöglichung. Das einfache und
selbstverständliche Recht der Freiheit wird damit zunehmend anspruchsvoller! In den
eben beschriebenen Aspekten von Freiheit ist aber endgültig deutlich geworden, dass
wirklich gelebte Freiheitsrechte auch heute noch oftmals nicht selbstverständlich sind.
Wenn jemand eben nicht das Zeug hat, selbstbewusst und selbstbestimmt zu handeln
und zu leben, dann ist er/sie nicht wirklich frei! Eine Alleinerzieherin in einem
typischen Frauenjob ist wegen ihrer Einkommenssituation, der fehlenden
Kinderbetreuungseinrichtungen, der nach wie vor existierenden Vorurteile etc. in ihren
Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt – sie ist nicht wirklich frei, das gibt es auch
noch im 21. Jahrhundert in Europa. Und Jugendliche (mit ihren Eltern), die mit 15
Jahren als Mädchen nach wie vor weit überdurchschnittlich oft die Berufe der
Friseurin, der Sekretärin und der Verkäuferin erlernen bzw. als Burschen besonders
häufig Automechaniker werden, haben offensichtlich nicht das Zeug dazu, bessere
Alternativen für ihre berufliche Zukunft zu wählen. Also ist ihre Freiheit eingeschränkt.
Freiheit darf nicht nur als abstrakt gegebene Denk- und Handlungsalternative gesehen
werden, gerade die Sozialdemokratie hat sich immer auch damit beschäftigt, möglichst
allen Menschen möglichst alle existierenden Optionen tatsächlich als Möglichkeiten zu
eröffnen. Es ist eine gesellschaftliche und damit politische Verantwortung den
Menschen das doppelt nötige Zeug zur Verfügung zu stellen.
Neoliberale Verheißung produziert Ungleichheit
Bewusst muss uns sein, dass es derzeit auch im Denken eine neoliberale Hegemonie
gibt. Handlungs- und Lebensmaximen wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder in
Werbedeutsch „Mach dein Ding“ dominieren das gesellschaftliche Bewusstsein. Und
Freiheit ist bei den Neoliberalen immer ein ganz wichtiges Argument gewesen. Jeder
muss eben die Freiheit haben seines Glückes Schmied zu sein. Real sehen wir aber,
dass der neoliberale Furor der vergangenen Jahrzehnte zu mehr Ungleichheit geführt
hat, materiell und auch in der Möglichkeit, das Leben tatsächlich frei in die eigenen
Hände nehmen zu können. Es wird zwar gesagt, dass Arbeitslose vorher „freigesetzt“
wurden, aber ohne Job sind sie nicht frei, sondern ganz im Gegenteil. Geringverdiener
haben zwar einen Arbeitsplatz, aber das geringe Einkommen schränkt sie extrem in
ihrer Handlungsfreiheit ein. Die neoliberalen Verheißungen von der Freiheit haben nur
für eine kleine Minderheit funktioniert. Die Erklärung, dass ja jeder seines Glückes
Schmied und damit selbst Schuld am Scheitern sei, ist vor dem Hintergrund des oben
Frühlingswerkstatt 2013
10
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Beschriebenen zynisch und falsch. Man und frau muss eben doppelt das Zeug zur
Freiheit haben!
Kleine Eliten bestimmen was wirklich passiert
Victor Adler, der Einiger der Sozialdemokratie in der Habsburger-Monarchie, wurde am
Ende des 19. Jahrhunderts mehrmals eingesperrt, weil er mit Aussagen und politischen
Handlungen gegen die Gesetze des Kaisers, des Adels und der Kirche verstoßen hatte.
Adler hatte Freiheitsrechte in Anspruch nehmen wollen und die Mächtigen haben ihn
deswegen verfolgt. Eigene politische Ansichten zu äußern wurde mit Repression
beantwortet. Heute ist es bei uns – im Regelfall – selbstverständlich möglich, sagen zu
können, was man denkt: Und nichts passiert! Wegen freier Meinungsäußerung wird
normalerweise niemand eingesperrt. Aber es passiert auch sonst nichts! Das
gesellschaftliche und politische Klima ist derartig auf Beliebigkeit getrimmt, dass es
egal ist, ob etwas gesagt wird und was gesagt wird, alles ist möglich und nichts zeigt
Wirkung. Alle können sagen, was sie wollen, aber kleine Eliten bestimmen, was
wirklich passiert und gesellschaftliche Relevanz erlangt. Freiheit wird nicht nur von
Kerkermauern eingeschränkt, sondern auch von endlosen, beliebigen Freiräumen.
Freiheit, wirkliche Freiheit hat auch die Dimension der Verbindlichkeit!
Bildungskuriere 3/2012
Gerechte Gleichheit ist das Ziel
Gerechtigkeit ist nur dann mehr als eine bloße Formel, wenn die Gleichheit von
Chancen, Fähigkeiten usw. gegeben ist. In der politischen Praxis muss also stets
untersucht werden, ob Gleichheit und Gerechtigkeit gewährleistet sind.
Vor mehr als 200 Jahren entstand in der Französischen Revolution der politische
Kampfruf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Damit war in einer von Adel, Kirche und
feudalem Dünkel geprägten Gesellschaft auch die „Gleichheit“ als Forderung und Ziel
formuliert worden. Im berühmten „Godesberger Programm“ von 1959 hat die
deutsche SPD statt „Gleichheit“ den Grundwert „Gerechtigkeit“ verwendet. Die
Befürchtung, dass der Ausdruck „Gleichheit“ vom politischen Gegner als
„Gleichmacherei“ gedeutet würde, ließ die deutsche Sozialdemokratie auf die
Nennung des Wertes „Gleichheit“ verzichten. Anders agiert die SPÖ. Seit dem
Parteiprogramm 1978 finden sich sowohl Gleichheit, als auch Gerechtigkeit unter den
Grundwerten der Sozialdemokratie (neben Freiheit und Solidarität). Diese Orientierung
macht insgesamt durchaus Sinn, denn nur durch die ständige Kombination und
Verknüpfung von Gleichheit und Gerechtigkeit kann das richtige politische
Koordinatensystem entstehen.
Natürlich ist es möglich mit dem Schlagwort „Gleichheit“ eine ganz plumpe und
Menschenrechte einschränkende Gleichmacherei zu rechtfertigen. Das würde aber der
persönlichen „Freiheit“, also einem weiteren sozialdemokratischen Grundwert,
widersprechen. Bereits Karl Marx, quasi einer der Überväter programmatischer
Diskussionen innerhalb der Arbeiterbewegung, hat 1875 in seiner Schrift „Kritik des
Frühlingswerkstatt 2013
11
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Gothaer Programms“ folgende Formel gegen derartige Gleichmacherei verwendet:
„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“. Damit ist eindeutig
klargestellt, dass die „Gleichheit“, die der sozialdemokratische Grundwert meint, eben
nicht eine uniformierende Einheitsbehandlung bedeuten kann.
Gerechtigkeit muss mit Gleichheit kombiniert sein
Warum dann nicht einfach nur den Wert „Gerechtigkeit“ verwenden, so wie es eben
die SPD tut? Als erstes Indiz dagegen, kann angeführt werden, dass Konservative und
Neoliberale Ungleichheiten bei Besitz oder Lebenschancen konsequent durch
unterschiedlich großen Einsatz oder Fleiß gerechtfertigt sehen. Jener, der mehr
verdient, arbeitet mehr, geht mehr Risiken ein, trägt mehr Verantwortung – so die
wiederkehrenden Argumente. Denkt man das konsequent weiter, dann kann zum
Beispiel auch ein Zensuswahlrecht als „gerecht“ eingestuft werden. Bei einem
derartigen System ist das Gewicht einer Wählerstimme von der Steuerleistung des
Wählers bzw. der Wählerin abhängig. In Österreich – wahlberechtigt waren nur
Männer – wurde dies bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts so praktiziert. Nach einer
entsprechenden Logik ist dies eigentlich gerecht, die die mehr beitragen, können auch
mehr bestimmen! Demokratisches Wahlrecht ist aber eben keine Frage der
Gerechtigkeit, sondern muss die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger und
Bürgerinnen gewährleisten. Der Grundwert „Gerechtigkeit“ kann also nur dann
verwendet werden, wenn er mit dem Grundwert „Gleichheit“ kombiniert wird.
Bildungskurier 4/2012
Was heißt eigentlich Solidarität?
Neben Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ist Solidarität der vierte
sozialdemokratische Grundwert. Und der, der die anderen erst unverwechselbar
macht!
Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit kann man auch liberal lesen: Die Freiheiten des
Handels und der Konsumenten oder auch die persönliche Freiheit sind zum Beispiel
durchaus auch Anliegen von Neoliberalen. Die Gleichheit lässt sich bloß formal
beschreiben, also Gleichheit vor dem Gesetz oder das gleiche Stimmrecht bei Wahlen.
Mit Gerechtigkeit ist es aus der liberalen Perspektive ganz einfach, jede Ungleichheit,
ja sogar viele augenfällige Ungerechtigkeiten lassen sich mit dem Argument der
Gerechtigkeit vom Tisch wischen. Zum Beispiel unvorstellbar ungleiche Einkommen –
Gerecht wegen entsprechend unterschiedlicher Leistung, Verantwortung oder
Risikobereitschaft. Die Sozialdemokratie meint mit diesen drei Grundwerten immer
(auch) etwas anderes, bestimmt wird dies durch den vierten Wert: Die Solidarität.
Solidarität steht dafür, dass einzelne Menschen nicht einfach nur isolierte
Einzelpersonen sind, die nur nach dem jeweils individuellen Nutzen und Vorteil
handeln.
Der einzelne Mensch ist ein gesellschaftlicher Mensch, der andere Menschen braucht
um sich individuell bestmöglich entwickeln zu können. Damit ist bereits die erste
Frühlingswerkstatt 2013
12
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Dimension des Grundwerts „Solidarität“ angeführt. Gefordert ist eine Organisation der
Gesellschaft, die auf dem solidarischen Prinzip basiert, das reicht von guter sozialer
Absicherung bis zu umfassender demokratischer Partizipation.
Um die Unterschiede deutlich zu machen, nochmals die klare Grenzziehung zu
Neoliberalen: Margareth Thatcher sprach davon, dass es keine Gesellschaft gebe,
sondern nur einzelne Individuen und deren Familien. Denken in dieser Eindeutigkeit ist
selten und auch leicht widerlegbar. Die Vorstellung aber, dass eine Gesellschaft aus
Einzelmenschen besteht, die nebeneinander leben, miteinander konkurrieren und
regelmäßig auch mittels Zweckbündnissen kooperieren, wenn es den Beteiligten
Vorteile bringt, ist weit verbreitet. Neoliberale Propaganda hat das in den vergangenen
Jahrzehnten tief im Denken der Gesellschaft verankert. Eine wirklich solidarische
Gesellschaft wird aber von einem anderen Verständnis bestimmt. Nämlich dass die
bestmögliche Entfaltung der einzelnen Menschen die bestmögliche Entwicklungen der
anderen Individuen braucht. Entfaltung geht dabei nicht auf Kosten von anderen,
sondern nur mittels der Entfaltung aller.
Solidarität ist aber nicht nur dieses beschriebene Organisationsprinzip von
Gesellschaften, es ist auch eine politische Verhaltensweise – damit ist die zweite
Dimension des Grundwerts angesprochen. In Epochen, in denen die vier Grundwerte
nicht alltägliche, selbstverständliche und gelebte Organisationsmodelle einer
Gesellschaft sind, muss Solidarität das zentrale politische Handlungsprinzip der
Sozialdemokratie sein. Nur solidarisch kann es gelingen, die Grundwerte der
Sozialdemokratie zu verwirklichen. Und wieder muss dafür dieser Grundwert für die
politische Bewegung definiert werden. Solidarität steht dabei in einem unmittelbaren
Zusammenhang mit Demokratie und Beteiligung.
Frühlingswerkstatt 2013
13
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Grundwerte österreichischer Parteien
SPÖ
Grundwerte:
 Freiheit
 Gleichheit
 Gerechtigkeit
 Solidarität
Parteiprogramm der
SPÖ,
beschlossen
am
Parteitag im Oktober
1998
ÖVP
Unsere Grundsätze:
 Unser Menschenbild
 Freiheit
 Verantwortung
 Nachhaltigkeit
 Gerechtigkeit
 Leistung
 Sicherheit
 Partnerschaft
 Subsidiarität
 Mitwirkung
 Toleranz
Österreich zuerst
 Freiheit und Verantwortung
 Heimat, Identität und Umwelt
 Recht und Gerechtigkeit
 Familie und Generationen
 Wohlstand und soziales Gleichgewicht
 Gesundheit
 Sicherheit
 Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur
 Weltoffenheit und Eigenständigkeit
 Europa der Vielfalt
Grundwerte:
 ökologisch
 solidarisch
 selbstbestimmt
 basisdemokratisch
 gewaltfrei
 feministisch
 Die Würde des Menschen ist unantastbar
 Freiheit braucht Eigenverantwortung und
Ordnung
 Gerechtigkeit statt Gleichmacherei
 Zukunft braucht Heimat
 Keine Freiheit ohne Eigentum
 Wohlstand und Fortschritt beruhen auf Leistung
 Sicherheit ist ein Bürgerrecht
 Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft
 Nur Bildung eröffnet Zukunftschancen
 Nachhaltigkeit heute für die Generationen von
morgen
Grundsatzprogramm,
beschlossen am 30.
ordentlichen
Parteitag am 22. April
1995 in Wien
Unsere zentralen Werte
 Wahrheit
 Transparenz
 Fairness
Grundsatzprogramm,
Unterlage in Arbeit –
Stand 2. November
2012
FPÖ
Grüne
BZÖ
Team Stronach
Frühlingswerkstatt 2013
Parteiprogramm,
beschlossen
vom
Bundesparteitag
am 18. Juni 2011 in
Graz
Grundsatzprogramm,
beschlossen beim 20.
Bundeskongress am
7. und 8. Juli 2001 in
Linz
Programm
des
Bündnis
Zukunft
Österreich,
beschlossen auf dem
außerordentlichen
Bundeskonvent am 2.
Mai 2010 in Wien
14
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Krawall in der Stadt
Bierkrawall in Linz
„Am 7. November 1871 versammelten sich um vier Uhr nachmittags etwa 400 Arbeiter
vor dem Rathaus in Steyr, um gegen den von den Brauereien eingebrachten Antrag auf
eine Bierpreiserhöhung zu protestieren. Um die Menge zu beruhigen, ließ der
Bürgermeister die drei Brauereibesitzer Haratzmüller, Seidl und Jäger ins Rathaus
kommen, und nach kurzer Beratung mit ihnen verkündete man vom Balkon des
Rathauses, dass es zu keiner Preiserhöhung kommen werde. Die Arbeiter gaben sich
aber noch nicht zufrieden und forderten auch die Garantie, dass es nicht durch ein
schwächeres Bier zu einer indirekten Erhöhung kommen könne. Erst als die
Brauereibesitzer auch dieses Zugeständnis machten, zerstreute sich die Menge.
Wesentlich gewalttätiger reagierte man knapp drei Jahre später in Linz auf eine
Bierpreiserhöhung. Diese trat am 1. Mai 1874 in Kraft, und gegen 19 Uhr sammelte
sich eine erregte Menschenmenge an der unteren Donaulände. Diese Demonstration,
überwiegend Arbeiter, Gesellen und auch Arbeitslose, zogen zum Brauhaus und zur
Gastwirtschaft Franz Affenzellers und warfen Steine durch die Fenster, worauf die
Gäste das Lokal fluchtartig verließen. Die Demonstranten drangen sogar in die
Gasträume ein, zertrümmerten Tische, Stühle, Spiegel, Uhren, Öfen und vor allem
Gläser. Mit einem Bierwagen wurde das Hoftor aufgebrochen, Bierwagen und Fässer
landeten in der Donau. Als Militär mit aufgepflanzten Bajonetten aufzog, verbreitete
sich unter den tausend Demonstranten der Ruf: ‚In den Hatschekkeller!‘, und schon
machte man sich quer durch die Stadt auf den Weg zu dieser Gaststätte, die auch
unter dem Namen ‚Märzenkeller‘ bekannt ist. Dort drängte allerdings Gendarmerie die
Menge bis zum Eintreffen des Militärs zurück. Einige Unentwegte wollten als nächstes
Poschachers Bräuhaus in Lustenau stürmen, aber der weite Weg dorthin und die späte
Stunde ließ die meisten Demonstranten resignieren. Die ganze Nacht waren die
Straßen jedoch voller Soldaten und Gendarmeriebeamten. Ihr Ziel, die Erhöhung des
Bierpreises rückgängig zu machen, erreichten die Demonstranten nicht.“
Aus: Konrad, Helmut; „Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich“; Wien 1981; Seite 110f.
Preiserhöhung durch nichts gerechtfertigt
„Bierkrawall. Gestern Abends hatte Linz auch einen Bierkrawall. Nach
einer gemeinschaftlichen Verabredung der Brauereibesitzer trat mit 1. d. M.
eine Erhöhung der Bierpreise ein, so daß Krügel Bier mit 10 kr. geschänkt
wurde. Ohne daß man früher von einer beabsichtigten Demonstration etwas
gewußt hätte, erschienen gestern um beiläufig 8 Uhr Abends vor dem
Hatschek’schen Brauhause ein Volkshaufe, der sogleich einen Tumult
begann und in kurzer Zeit in völliger Raserei ausartete (…)
Obwohl wir zugestehe, dass die Erhöhung der Bierpreise gegenwärtig
durch nichts gerechtfertigt ist, so muß doch Jedermann ein solch
vandalisches Vorgehen entschieden verdammen, da eine solche
Zerstörungswuth eines zivilisierten Volkes geradezu unwürdig ist, und wenn
Frühlingswerkstatt 2013
15
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
stets solche Krawalle entstehen müßten, so oft die Arbeiter ihre Löhne nach
Belieben in die Höhe schrauben, wenn die Handwerker und Geschäftsleute
den Preis ihrer Arbeit und Erzeugnisse höher stellen, das ganze staatlichsoziale Leben aufhören und indianische Urzustände herbeigeführt werden
müßten. Schließlich bemerken wir noch, daß laut Bekanntmachung der
Brauereibesitzer Herren Gebrüder Hatschek und Poschacher, denen sich
auch vorläufig, bis auf weitere Entscheidung der Brauerei, Herr Abtstadler
angeschlossen hat, die Preiserhöhung rückgängig gemacht wird, und das
Bier bei dem alten Preise bleibt.“
Aus: „Nachrichten aus Linz und Oberösterreich. Linz am 2. Mai 1874
Teuerungskrawall in Wien
„Es war der 11. September 1911, als seit den frühen Morgenstunden an die 100.000
Menschen von den verschiedensten Bezirken auf den Rathausplatz und vor das
Parlament in Wien gezogen waren. Rote Fahnen und Transparente mit Aufschriften
wie „Nieder mit den Fleischwucherern“ oder „Die Grenzen auf“ säumten die Wege. Die
sozialdemokratische Partei hatte an diesem Tag zu einer Massendemonstration gegen
die herrschende Teuerung aufgerufen. Im Gegensatz zu ihrer sonstigen Praxis aber
hatte die Arbeiterpartei keinen Ordnerdienst aufgeboten sowie keinerlei Auf- und
Abmarschrouten vorgegeben.
Als gegen 11 Uhr die Kundgebung endete und der Abmarsch der Demonstranten
begann, befanden sich noch einige tausend Menschen auf dem Rathausplatz, „eine
ungeheure ziel- und planlos zwischen den vielen Polizei- und Militärkordons hin und
her wirbelnde Masse“, zum überwiegenden Teil zusammengesetzt aus „jenen
verantwortungslosen jungen Leute(n), die keiner Parole gehorchen“ weiß die ArbeiterZeitung sieben Tage später zu berichten. Laut Polizeibericht sind diese jugendlichen
Demonstranten vorwiegend Halbwüchsige aus dem Arbeiterbezirk Ottakring.
Die aufgestaute Wut entlädt sich plötzlich
Ein plötzlicher lauter Knall – ein Jugendlicher hatte einen Revolverschuss in die Luft
abgefeuert – lässt die Masse zu toben beginnen; die Wut war entfacht, der erste Stein
flog gegen das Rathaus, der Auftakt zu einem wahren Steinbombardement. Bis in den
ersten Stock blieb kein Fenster ganz; ebenso wurde der Justizpalast beschossen. Erst
nach höchst mühevollen Auseinandersetzungen, so der Polizeibericht, gelang es den
Sicherheitskräften, die Demonstranten auseinander zu treiben und sie gegen die
Bezirke Neubau und Josefstadt abzudrängen.
Nun zog die Menge durch die Lerchenfelder Straße und Burggasse stadtauswärts.
Mehrere Gruppen schlugen in Häusern und Geschäften Fenster ein, zertrümmerten
Gaslaternen, verwüsteten das Café Brillantengrund, griffen das Amtshaus des 8.
Bezirks in der Schmidgasse an, und eröffneten gegen die vorrückenden
Wachmannschaften wahre Steinhagel. Auf der ganzen Lerchenfelderstraße bis hinauf
zum Gürtel blieb keine Straßenlaterne, keine größere Auslagenscheibe von der
scheinbar sinnlosen Wut der durch die permanenten Polizeiattacken höchst erregten
Menge verschont. Es kam zu ersten Plünderungen und spätestens zu diesem Zeitpunkt
Frühlingswerkstatt 2013
16
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
beteiligte sich auch das sog. „Lumpenproletariat“, die „Ottakringer Elendsjugend“, jene
– wie es die Arbeiter-Zeitung formuliert – „ganz junge(n) und unverantwortliche(n)
Leute, die niemand kannte und niemand gerufen hatte“; mit den Worten der Neuen
Freien Presse: der „bekannte Troß einer Großstadt“. So waren vom Gürtel her (also aus
entgegengesetzter Richtung) in der Wimbergergasse plötzlich rund zehn 14- bis 15jährige Burschen aufgetaucht, die bis in die Höhe des zweiten Stockwerks Fenster
einwarfen. Sobald der eigentliche Zug der Demonstranten näher kam, waren sie so
schnell, wie sie aufgetaucht waren, wieder verschwunden.
Die "Kinder der steinbesäten Schmelz" machen Revolte in Ottakring
Der eigentliche Schauplatz dieser Revolte der Straße aber sollte dann das damals als
„Neu-Ottakring“ bezeichnete Viertel sein, wobei die aufständische Menge ihren Zuzug
von der angrenzende Schmelz, eine riesige „G’stetten“, erhielt. Auf dem Gürtel und in
der Panikengasse brannten umgeworfene Straßenbahnwaggons, an der Kreuzung
Thaliastraße und Lerchenfelder Gürtel war eine erste Barrikade errichtet worden und
die ganze Thaliastraße entlang wurden Stacheldrahtzäune gespannt. Polizei und
Militärassistenz scheiterten letztendlich an ihrer Ortsunkenntnis und die
Straßenräumungen zeitigten nur vorübergehenden Erfolg.
Es waren die „Kinder der steinbesäten Schmelz“, überwiegend 12- bis 14-Jährige, die
sich in einen „Rausch der Zerstörung“ steigerten. Zur Seite traten der Straßenjugend
die Frauen und Mütter, zu denen, wie die Arbeiter-Zeitung beklagte, „die Aufklärung
so schwer kommen kann“, die sich vom Schauspiel mitreißen ließen und in ihren
Schürzen den Jungen die Steine zutrugen. In der Tagespresse ist von
„Knabenrevolution“, einer „Bubenschlacht“ oder einer „Revolte der Ottakringer
Jugend“ zu lesen.
Sturm auf Schulen, alles „Papierene“ brennt, zwei Menschen sterben
Der Sturm richtete sich gegen die Realschule am Habsburgplatz, gegen die
Impfstoffgewinnungsanstalt in der Possingergasse, gegen die Volksschulen am
Hofferplatz und in der Koppstraße. Kataloge, Bücher, Hefte, alles „Papierene“ wurde
zerstört, auf die Straße geworfen und angezündet, die anrückende Feuerwehr am
Eingreifen gehindert. Die Realschule Thalhaimergasse ebenso wie die
Impfstoffgewinnungsanstalt waren in Brand gesteckt worden. Der 20-jährige Franz
Joachimsthaler stirbt an einem Bauchschuss, der 19-jährige Otto Brötzenberger, der
sich in das Ottakringer Arbeiterheim zu retten versuchte, erliegt einem Bruststich. Erst
gegen zehn Uhr abends, als Ottakring in völliger Dunkelheit lag, brachten Polizei und
Militär die Lage unter Kontrolle.
Verelendung der Zuwanderung ähnlich den Pariser Vorstädten
Die
„Hungerrevolte“
geht
über
ein
„bloßes“
Aufbegehren
gegen
Nahrungsmittelknappheit, Mietzinserhöhung und soziales Elend allerdings weit hinaus.
Die Angriffe auf Schriftgut und die Zerstörungsgewalt gegen nicht weniger als zehn
Volks- und Bürgerschulen verweisen vor allem auf kulturelle Differenzen: Die
vernachlässigten vorstädtischen Massen setzten sich nicht nur aus den „immer schon
hier gewesenen“ urbanen Unterschichten zusammen, sondern aus erst jüngst
zugewanderten Migrantinnen und Migranten, deren Sehnsüchte nach einem besseren
Leben in der Stadt an den Realitäten von Arbeit und Konsum zu zerbrechen drohten.
Frühlingswerkstatt 2013
17
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Sie hatten ihre meist ländlich-vormodern geprägten Herkunftskulturen hinter sich
gelassen, um in der Metropole neue Lebensperspektiven zu finden und zu entfalten.
Aber an den äußersten Rand gedrängt, sollten sie sich zunächst keine neue Heimat
schaffen, sondern sich vielmehr in Verelendung und Entfremdung wieder finden.
In der Zerstörung von Schrift- und Kulturgut artikuliert sich auch ein – wenn auch
aussichtsloser – Angriff auf die symbolische Ordnung der Moderne, auf die modernen
Stadt mit ihrem bürgerlichen Rationalismus, deren Teil sie nicht werden konnten.
Aus: Maderthaner, Wolfgang und Musner, Lutz; „Anarchie in der Vorstadt“; Frankfurt/New York, 20002;
Seite 24 ff
Wut!
„Zum ersten Male seit dem Oktobertag 1848, an dem die Truppen
Windischgrätz‘ die Hauptstadt dem Kaiser wiedererobert haben, ist in Wien
auf das Volk geschossen worden. Was selbst in den gewaltigen Stürmen des
Wahlkampfes nicht geschehen ist, hat sich am 17. September in Wien
ereignet. In ganzen Stadtvierteln blieb kein Haus, kein Fenster, keine
Laterne unversehrt. In dem Proletarierviertel Ottakring wurden
Schulgebäude und Straßenbahnwagen in Brand gesetzt. Barrikaden wurden
gebaut, die Truppen schossen auf das Volk, und im Rücken der wild
erregten Menge plünderte das Lumpenproletariat Geschäftsläden.
Die blutigen Ereignisse sind die Wirkung der furchtbaren Teuerung, die die
Wiener Arbeiter zur Verzweiflung getrieben hat. Das schnelle Steigen der
Warenpreise gibt der Phase der kapitalistischen Entwicklung, die wir
gerade durchleben, in aller Welt ihr Gepräge. Aber in Österreich ist die
Weltkalamität der Teuerung durch eine Reihe besonderer Umstände
verschärft. (…) Indessen hatte die Lebensmittelteuerung die Volksmassen
erbittert. (…)
In Meidling kam es zu spontanen Demonstrationen gegen Hausbesitzer, die
die Wohnungspreise erhöht hatten. Die Nachrichten über die
Teuerungsunruhen in Frankreich und in Belgien, vor allem aber die
Streikbewegung in England fanden lauten Widerhall. (…) In den
Organisationen drängten die Genossen nach der Veranstaltung einer
großen Straßendemonstration. In einigen Bezirken wurde unter den
organisierten Arbeitern eine Strömung bemerkbar, die erklärte, da die
friedlichen Demonstrationen nichts genutzt hätten, müsse man einmal
energischer, radikaler vorgehen. Man müsse englisch oder französisch
reden. Die Parteivertretung sah die drohende Gefahr. Sie zögerte, die
Massen auf die Straße zu rufen. Aber die Massen setzten in den
Organisationen selbst ihren Willen durch. Für den 17. September wurde
eine Massenversammlung auf der Ringstraße angekündigt. Tage vorher
fürchteten alle Besonnen, dass die Demonstration nicht so ruhig verlaufen
werde wie sonst. Aber die Ereignisse übertrafen alle Erwartungen. Ein
Zufall löste die Wut der sonst so disziplinierten Masse aus, und nun war sie
nicht mehr zu halten.“
Aus: Bauer, Otto; „Die Teuerungs-revolte in Wien“; in Die Neue Zeit, September 1911
(abgedruckt: Otto Bauer Werkausgabe; Bd. 7; Wien 1979, Seite 978ff)
Frühlingswerkstatt 2013
18
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Nutznießer der kapitalistischen Gesellschaftsordnung
„In ihren Versammlungen wie in ihrer Presse haben die
sozialdemokratischen Führer kein Mittel unversucht gelassen, um ihre
Anhänger bis zur Raserei aufzuhetzen durch die stets wiederholte
Behauptung, dass die besitzenden Klassen, die ‚Nutznießer der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung‘ die einzige Schuld an der Teuerung
tragen und dass die bürgerlichen Abgeordneten aus Rücksicht auf die
Kapitalisten nicht bereit sind, die Forderungen des Volkes zu bewilligen.
Und dann kam, was kommen musste. Am letzten Sonntag, der eine
Massenversammlung der Wiener Sozialdemokraten unter freiem Himmel
brachte, hat der Ordnerdienst der Umsturzpartei – willkürlich oder
unwillkürlich? – versagt, die entfesselten Horden stürzten sich auf das
Eigentum ruhiger Bürger und ließen auf dem Wege vom Rathaus bis nach
Ottakring eine einzige große Spur der Verwüstung zurück. Allzu spät griffen
die Organe der Staatsgewalt ein. Die entfesselte Wut der fanatisierten
Genossen, zu denen sich, wie stets in solchen Fällen, die Hefe der
Großstadtbevölkerung gesellt hatte, machte den Widerstand der
Sicherheitswache vollständig zunichte und setzte selbst dem Militär einen so
erbitterten Widerstand entgegen, dass von der Schusswaffe Gebrauch
gemacht werden musste. Ein Toter und zahlreiche Verletzte blieben auf dem
Platze als Opfer der sozialdemokratischen Agitation.
Und nun kommen die sozialdemokratischen Führer und wollen alle Schuld
von sich abwälzen und sie der Regierung, dem System, der
Gesellschaftsordnung aufhalsen. ‚Menschenleben für Fensterscheiben!‘
entrüstet sich scheinheilig die ‚Arbeiter-Zeitung‘. Ja konnte sie denn
ernstlich glauben, dass man ihrem revoltierenden Pöbel das Eigentum der
Bürger schutzlos preisgeben werde? Und ‚Wer mitfühlen kann, was das
Wohnungselend für die Arbeiter bedeutet, der wird sich nicht über die paar
tausend Menschen entrüsten, die gestern ihre Wut nicht mehr bezähmen
konnten, sondern die Hunderttausend bewundern, die trotz alledem in
musterhafter Disziplinruhig nach Hause gezogen sind, nachdem sie ihren
Willen in würdiger Ordnung bekundet hatten.‘ Mag sein! Aber wodurch
wurde denn diese unbezähmbare Wut erregt? Nicht durch die Tatsache des
Wohnungselends – sonst wäre sie wohl längst herangebrochen – sondern
durch die skrupellosen Agitationen und Verhetzungen der
Sozialdemokraten, die, weit entfernt davon, eine ernstliche Abhilfe zu
wünschen oder gar zu schaffen, vergnügten Sinnes ihren parteipolitischen
Vorteil aus der Not des Volkes zu schlagen suchen. (…)
‚Menschenleben für Fensterscheiben!‘ heißt es nun, und unter diesem
Gesichtswinkel wird abermals gegen den verbrecherischen Klassenstaat
gehetzt, wird abermals für den Zukunftsstaat agitiert, in dem wahrscheinlich
jeder Genosse beliebig viele Fensterscheiben einschlagen, beliebig viel
'gemeinsames Eigentum' vernichten, beliebig viele Gebrauchsartikel wird
stehlen dürfen."
Aus: Die Arbeit - Politische Zeitschrift. Zentralorgan der österreichischen Arbeitgeber;
Wien, 24. September 1911
Frühlingswerkstatt 2013
19
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Streik der Straße
„Zu Oster 1888 trat ein Großteil der Bediensteten der Wiener Tramway-Gesellschaft in
den Ausstand. Am 4. November 1865 hatte der erste Pferdetramway-Wagen die
Strecke Dornbach-Schottenring durchfahren; drei Jahre später waren für die für den
Personenverkehr wichtigsten Hauptstraßen Wiens beschient, die rentable
Verkehrsanstalt wurde von einer privaten Aktiengesellschaft erworben. Mitte der
achtziger Jahre umfasste das gesamte städtische Schienennetz rund 60 Kilometer (…)
Die hochprofitable Tramway-Gesellschaft hatte die Dienst-, Lohn- und
Arbeitsverhältnisse ihres zumeist aus Tschechen, Slowaken oder Polen bestehenden
Personals in einem komplexen System von Überwachung, Disziplinierung und
Bestrafung festgelegt, niedergeschrieben in einem 45 Druckseiten umfassenden
Dienstregulativ. (…)
Die effektive Arbeitszeit für Kutscher und Kondukteure betrug 16 bis 18, in
Ausnahmefällen bis zu 21 Stunden. Die Pferdewärter und Fouragearbeiter hatten an
Wochentagen mindestens 16, an Sonn- und Feiertagen mindestens 17 Stunden zu
arbeiten. Die rund 300 Stallarbeiter rekrutierten sich fast zur Gänze aus ehemaligen
Angehörigen der k.k. Kavallerie und hatten in neun geräumigen und peinlichst sauber
gehaltenen Stallungen etwa 2500 Pferde zu betreuen. Somit kamen auf einen Mann
zehn zweispännige (kleinere) oder neun einspännige (größere) Pferde, während bei
der Kavallerie einem Soldaten nur in Ausnahmefällen zwei, in äußerst seltenen
Notfällen auch drei Pferde zugewiesen waren. Umgangston und –formen der
‚Stallschaffer‘ waren dementsprechend sprichwörtlich derb und rauh, ihre Anfälligkeit
für übermäßigen Branntwein- und Tabakgenuss notorisch und ihre äußere Erscheinung
geprägt von Unterernährung, Auszehrung und Überarbeitung. (…)
Die Tramway-Gesellschaft, resümierte Victor Adler, habe eben zwei Gattungen von
Bediensteten. Die einen hätten eine Arbeitszeit von 16 bis 21 Stunden und ganz
ungenügende Ernährung, die anderen arbeiteten vier Stunden und seien reichlich
genährt. Das eine seien Menschen, das andere die Pferde. (…)
Als im April 1888 die Direktion der Gesellschaft eine weitere Zerstückelung und
Zergliederung der Fahrstrecken und damit der Arbeitszeit vornahm, war allerdings das
Ausmaß von Zumutungen für die immer wieder als ‚arme Teufel von Tramwaysklaven‘
apostrophierten Bediensteten – befehligt von ‚Obersklavenaufsehern‘ und
‚Tramwaypaschas‘ und ‚Sklaven nicht nur ihrer Lage, sondern auch ihrer Gesinnung
nach‘ – nachhaltig überschritten. Die minutengenaue Dauer von Teilstrecken war so
festgelegt worden, dass deren Über- oder Unterschreitung eine Vielzahl von
Straftouren, die am arbeitsfreien siebten Tag zu absolvieren waren, nach sich zog; der
Organisator des Streiks, Victor Adler, rechnete demnach detailliert vor, dass auf diese
Weise auf nur einer Strecke in nur einer einzigen Woche 22 Kutschern 43 zusätzliche
Straftouren aufgebürdet worden waren. Die Kutscher, Kondukteure und Stallschaffer
traten in ihrer überwältigenden Mehrheit in den Ausstand.“
Aus: Maderthaner, Wolfgang und Musner, Lutz; „Anarchie in der Vorstadt“; Frankfurt/New York,
20002;Seite 167 ff.
Frühlingswerkstatt 2013
20
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Victor Adler in der „Gleichheit“
„Die unmenschliche Arbeitszeit, die elenden Löhne von 5 fl. 50 kr. bis 9 fl.
50 kr. Wöchentlich, die durch Abzüge aller Art noch vermindert werden,
diese ärgsten Dinge können durch einmüthiges Zusammenstehen beseitigt
werden. Freilich wird die Gesellschaft, d.h. Reitzes, Polizei und Zeitungen,
zusammenstehen, angeblich ‚im Interesse des Publikums‘, welches fahren
muß und sei es über die gemarterten Leiber gequälter und hungernder
Menschen hinweg. Aber die Energie der Arbeiter muß eben unbeugsam sein
und sie können der werkthätigen Theilnahme und Unterstützung der
Arbeiter aller anderen Zweige sicher sein. Sie werden erfahren, daß
Solidarität kein leeres Wort ist. (…)
Das wichtigste ist, daß auch die anderen Bediensteten der Tramway sich
der Bewegung anschließen. Die ‚Stallschaffer‘ haben 15 Stunden, zweioder dreimal die Woche, wenn sie Inspektion haben, aber 21 Stunden
Dienst, von 4 Uhr früh bis 1 Uhr nachts. Die Pferdewärter müssen 1 fl. 20
Kreuzer, abzüglich der Strafen, 15 Stunden arbeiten; den Professionisten
geht es nicht besser. Alle diese Mitsklaven müssen mit den muthigen
Kutschern, die vorangingen, gemeinsame Sache machen; dann ist der Sieg
bald errungen.
Aus: Adler, Victor; „Zum Streik der Tramwaykutscher.“ In „Gleichheit. Sozialdemokratisches
Wochenblatt“; Wien, 12. April 1989; zit. nach: Adler, Victor; Engels, Friedrich; „Briefwechsel“;
Berlin 2011; S. 125f.
Frühlingswerkstatt 2013
21
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht
„Der Weg aus der absoluten Monarchie Kaiser Franz Josephs I zum heutigen
allgemeinen Wahlrecht hatte einige Etappen: Begonnen hat alles mit der Revolution
von 1848
Revolution 1848: Der erste Versuch
Erstes Wetterleuchten
Die Entwicklung begann im Revolutionsjahr 1848. Die Protestbewegung erzwang ein
für damalige Verhältnisse sehr weitreichendes Wahlrecht. Auf dieser Grundlage
konstituierte sich der erste frei gewählte Reichstag. Die von ihm ausgearbeitete
Verfassung konnte jedoch nicht mehr beschlossen werden: Die Revolution wurde
militärisch niedergeschlagen.
Kurienwahlrecht 1861: Der erste Schritt
Der Kaiser regiert wieder absolut
Es folgte die Zeit des Neoabsolutismus: Kaiser Franz Joseph I. regierte wieder ohne
Verfassung und ohne Parlament. Nach verlorenen Kriegen geriet er jedoch unter
Druck: Der Kaiser brauchte Geld, wofür das Bürgertum Zugeständnisse wollte.
Geburtsurkunde des ersten österreichischen Parlaments
1861 erließ Franz Joseph das Februarpatent. Es war quasi die Geburtsurkunde des
ersten österreichischen Parlaments. Der Reichsrat bestand aus zwei Kammern,
Herrenhaus und Abgeordnetenhaus. Letzteres wurde von den Landtagen beschickt, die
sich wiederum auf Grund des umständlichen Kurienwahlrechts zusammensetzten.
Kurienwahlrecht: Indirektes Wahlrecht für ganz, ganz wenige
Die Abgeordneten wurden nicht direkt gewählt, sondern über vier Kurien entsandt: die
Kurie des Großgrundbesitzes, die Kurie der Städte, Märkte und Industrieorte, die Kurie
der Handels- und Gewerbekammern sowie die Kurie der Landgemeinden schickten
über die Landtage Vertreter in das Abgeordnetenhaus. Wahlberechtigt zu den Kurien
waren Männer ab dem 24. Lebensjahr.
Der Kaiser gibt Macht ab: Erste Verfassung
Dieses Wahlsystem wurde von der Dezemberverfassung 1867 übernommen: Das war
die erste Verfassung, die nicht vom Kaiser, sondern vom Reichsrat erlassen wurde. So
wurde Österreich zu einer konstitutionellen Monarchie.
Zensuswahlrecht 1873: Wer Geld hat, schafft an
Direktes Wahlrecht für ganz, ganz wenige
Die erste Bresche in das Kurienwahlrecht wurde im Jahr 1873 geschlagen, als die
Obrigkeit der immer stärker gewordenen Forderung nach direkten Wahlen nachgab.
Die Abgeordneten wurden nun aufgrund des Zensuswahlrechts direkt in drei Kurien
gewählt.
Frühlingswerkstatt 2013
22
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
System des Zensuswahlrechts
Ein Zensuswahlrecht ist ein Wahlsystem, das die Gewichtung der Stimmen eines
Wählers von dessen Steueraufkommen oder Besitz abhängig macht. Hier war das
Wahlrecht an eine bestimmte Mindeststeuerleistung gebunden. Nur in der Kurie der
Landgemeinden wurden weiterhin indirekte Wahlen durch Wahlmänner abgehalten.
Nur sechs Prozent der Männer ab 24 Jahren
Trotz dieses Fortschritts waren nur sechs Prozent der Männer ab dem 24. Lebensjahr
wahlberechtigt.
1882: Wählen wird billiger
Unmut zeigt Wirkung
Die große Unzufriedenheit über den Ausschluss so vieler bewirkte den nächsten
Schritt: 1882 wurde der Zensus zum Teil von zehn auf fünf Gulden gesenkt
Badenische Wahlrechtsreform 1896: Mehr Wähler, keine Gleichheit
Auch Ärmere dürfen wählen
1896 schuf man eine fünfte Wählerklasse: alle Männer, die in keiner anderen Kurie
wahlberechtigt waren. Diese Gruppe musste keinerlei Mindeststeuerleistung bringen,
aber seit mindestens sechs Monaten in einer österreichischen Gemeinde leben.
Aber die Stimmen sind nicht gleich viel wert
Stimmen waren damals nicht gleich viel wert. Ein Beispiel: Großgrundbesitzer bekamen
für ca. 5000 Stimmen 85 Abgeordnete im Reichsrat. In der allgemeinen Wählerklasse
konnten 5,3 Millionen Menschen nur 72 Abgeordnete in den Reichsrat entsenden.
Geburtsstunde der modernen Parteien
Übrigens: Die Reform des Ministerpräsidenten Kasimir Felix Badeni führte zu einer
grundlegenden Umgestaltung der österreichischen Parteienlandschaft. Erstmals war es
notwendig, Wähler zu mobilisieren. Drei Massenparteien entstanden:
Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Deutschnationale. Sie prägen Österreichs
Innenpolitik bis heute.
1907: Männerwahlrecht
Allgemeines Wahlrecht für Männer
Im Jahr 1907 wurde dieses Privilegienwahlrecht schließlich abgeschafft (Beck'sche
Wahlrechtsreform). Das Gesetz schrieb ausnahmslos die direkte Wahl ohne
Wählerklassen durch Abgabe eines Stimmzettels vor und machte das Wahlrecht zu
einem direkten, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht für Männer.
Kein Wahlrecht (mehr) für Frauen
Die wenigen Frauen, die zuvor ein Wahlrecht hatten, verloren es (meist
Großgrundbesitzerinnen).
Frühlingswerkstatt 2013
23
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
1918: Allgemeines Wahlrecht
Wahlrecht für alle
Nach der Gründung der Republik kam es 1918 zu einer Wahlordnung für die
Konstituierende Nationalversammlung: Hier wurde auch den Frauen das Wahlrecht
gewährt. 1920 wurde diese Wahlordnung durch das Bundesverfassungsgesetz mit
einer eigenen Wahlordnung für den Nationalrat abgelöst. Das Wahlalter betrug 21
Jahre.
Die Wahl erfolgte nach dem Grundsatz des Verhältniswahlrechts und des
Listenwahlrechts“
Aus: http://www.parlament.gv.at/PERK/PARL/DEM/ENTW/index.shtml (15.1.13)
Aus der Debatte im Abgeordnetenhaus zur Wahlrechtsreform 1907
Am 5. November 1906 befasste sich das Abgeordnetenhaus mittels eines
Dringlichkeitsantrages erstmals mit der Thematik einer Wahlrechtsreform,
die ein halbes Jahr später zu den ersten gleichen, geheimen, direkten und
freien Wahlen (allerdings nur für Männer!) führen sollte. (…)
Als erster meldete sich ein Contra-Redner zu Wort. Ernst Graf SilvaTarouca (1860-1936) vertrat seit 1891 den böhmischen Großgrundbesitz
und die konservative Partei. (…)
"Vom ersten Tag an hat man diesen Reformentwurf auf Demonstrationen
gestützt, welche, weit die Grenzen legitimer Agitation hinter sich lassend,
unter Kenntnis und wohlwollender Duldung der jeweiligen Regierung die
Beschlüsse des Hauses unter den Einfluss des Terrorismus stellen sollten."
Der von außen in die Kammer getragene Druck habe eine emotionslose
Erörterung der Thematik verunmöglicht, und es stehe zu befürchten, "dass
der Terrorismus sich auch in Zukunft einstellen und maßgeblichen Einfluss
auf die Gesetzgebung unseres Parlaments ausüben wird. Die Folgen dieses
von Schritt zu Schritt erfolgenden Zurückweichens der Staatsautorität und
der Gesetzmäßigkeit musste die traurigsten Konsequenzen zeitigen und wir
halten es für unsere Pflicht, heute wiederum darauf hinzuweisen und zu
warnen." (…)
Adalbert Graf Sternberg (1868-1930) vermochte sich der allgemeinen
Euphorie bezüglich einer Wahlreform sichtlich nicht anzuschließen.
Vielmehr ortete er ein rein taktisches Kalkül des Hofes hinter dieser
Initiative: die tschechischen und die sozialen Parteien sollten ihres
Hauptargumentes gegen den Status Quo beraubt werden. Real werde dieser
Schritt jedoch nur dazu führen, die Arbeitsfähigkeit des Hauses ernsthaft in
Frage zu stellen, meinte der Graf. Noch häufiger als bisher werde es zu
Obstruktion kommen, und diese sei ja kein Attentat auf die Regierung,
sondern vielmehr eines auf den Parlamentarismus selbst. Schon bisher fehle
jedwede Inkompatibilitätsregelung, und diese werde wohl erst recht nicht
kommen, wenn es einmal ein allgemeines Wahlrecht gebe. Zudem würde ein
Wahlrecht, wie es in der Reform angedacht sei, den "Terrorismus der
Gasse" nur noch weiter befördern. Dieser aber würde verhindern, dass "ein
Frühlingswerkstatt 2013
24
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Konservativer, ein Patriot und ein anständig denkender Nationaler
überhaupt noch gewählt werden" könne, da deren Wahlversammlungen
einfach vom politischen Gegner gesprengt werden würden. (…)
Am 6. November 1906, wenige Minuten vor Mittag, fuhr das
Abgeordnetenhaus mit seiner Debatte zum Dringlichkeitsantrag über die
Wahlreform fort. (…) (Es) trat der Sozialdemokrat Engelbert Pernerstorfer
(1850-1918) ans Rednerpult. Pernerstorfer kam ursprünglich aus der
deutschnationalen Bewegung, ehe er sich der Sozialdemokratie anschloss.
Er hatte dem Haus schon 1885 bis 1897 angehört und war 1901 für den
Wahlkreis Wiener Neustadt wieder ins Parlament eingezogen. 1907 sollte er
zum ersten sozialdemokratischen Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses
avancieren.
Pernerstorfer verwies darauf, dass die Sozialdemokratie seit Anbeginn ihres
Bestehens stets die Forderung nach dem allgemeinen und gleichen
Wahlrecht zu einer absoluten Fahnenfrage gemacht habe. Eine Forderung
im übrigen, die "in den Arbeiterbewegungen aller modernen Kulturstaaten
und Kulturnationen immer wieder als die erste" erhoben werde. Und
"länger als ein Menschenalter kämpfte auch in Österreich die
Arbeiterschaft für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, und sie
kämpfte nicht bloß platonisch, nicht bloß mit mehr oder weniger eleganten
Äußerungen, Resolutionen, sie kämpfte durch mehr als ein Menschenalter
mit der größten Anstrengung all ihrer Kräfte für dieses Recht."
Pernerstorfer erinnerte an dieser Stelle an die zahllosen Opfer, die man
habe bringen müssen, um endlich so weit zu kommen, dass diese zentrale
Forderung der Arbeiterschaft endlich auf der allgemeinen politischen
Agenda stehe. Die österreichische Arbeiterschaft habe für die Erringung
dieses Rechtes "auch ihr Blut fließen lassen, und zwar nicht einmal, sondern
wiederholt". Sie habe die blutige Ära der Verfolgungen überwunden und
ihre Bewegung habe dahin geführt, dass es im Jahre 1896 wirklich zu einer
ersten Wahlreform gekommen sei. Doch diese sei, wie die
Arbeiterbewegung nicht müde geworden sei, zu betonen, eine "Karikatur
des Wahlrechtes" gewesen, "und es war ganz natürlich, dass der Verlauf der
politischen Dinge in Österreich von 1897 bis heute nicht dazu geeignet war,
das ohnehin niemals sehr in hohem Ansehen stehende österreichische
Parlament etwa in einen besseren Geruch zu bringen."
Schließlich ergriff Georg Ritter von Schönerer (1842-1921), der Führer der
Alldeutschen, das Wort. "Judenpack und Pfaffenpack schlägt sich und
verträgt sich. Und das entnervte, verpfaffte, korrumpierte, entrechtete,
schwachsinnig gemachte deutsche Volk in Österreich folgt willenlos diesen
bewussten Schädigern und den bei den wichtigen Dingen frivol lächelnden
Durchlauchten, wie eine in der Nähe hier vor mir steht." Durch dieses
Gesetz werde, meinte Schönerer behaupten zu müssen, "dem Slawentum und
dem Juden- und Pfaffentum Wasser auf seine Mühlen" getrieben, würde
doch damit den "Slawen zur Herrschaft verholfen" und "unsere
Volksgenossen unterdrückt und von ihrer geschichtlich begründeten
Stellung immer mehr beseitigt werden." (…)
Frühlingswerkstatt 2013
25
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Dieses Gesetz, fuhr Schönerer fort, werde nur "im Interesse und zu Gunsten
des Judentums und des ihm in diesem Falle alliierten Pfaffentums." Und so
appellierte Schönerer an die deutschsprachigen Abgeordneten, sich des
"alten nationalen Spruches" zu erinnern, "der da lautet: wer nicht
vertrieben werden will, muss vertreiben!" Denn: "Wenn wir die Juden nicht
vertreiben, so werden wir Deutschen vertrieben." Keinesfalls also dürften
die "deutschen Stimmen" diese "Selbstentrechtung, ja diese
Selbstentmannung" durchführen. Vielmehr sollten sie dem "natürlichen
Trieb des deutschen Mannes folgen, mit deutschen Männerstolz zu sagen:
Rühre nicht an die geschichtlich begründete und kulturell berechtigte
Vorherrschaft der Deutschen." Schönerer weiter: "Damit es zu keiner
deutschen Mannestat komme, entmannen sich die Vertreter deutscher
Wahlbezirke selbst, um herabzusinken auf den Standpunkt internationaler
Kastraten und Eunuchen." (…)
(Es) ergriff nun am 8. November 1906 der unumstrittene Frontmann der
Sozialdemokraten Victor Adler (1852-1918) das Wort. (…)
Die Sozialdemokraten hätten sich von allem Anfang an für dieses Wahlrecht
eingesetzt, hätten "entsprechend dem Charakter der aufstrebenden
Arbeiterklasse, entsprechend dem Grundzuge des proletarischen Kampfes in
der Politik" die Idee des gleichen Wahlrechts "mutig, entschlossen und
opferfähig verfochten", doch man müsse sehen, dass diese Vorlage nicht
eine der Sozialdemokratie sei, sondern eine der Regierung: "Wir haben ein
allgemeines Wahlrecht, aber wir können kein Wahlrecht ein allgemeines
nennen, solange die Hälfte der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen
ist. Wir verfechten mit allem Ernste und mit allem Nachdruck das Recht der
Frau auf politische Vertretung." Er denke dabei insbesondere an die
"breiten Schichten des arbeitenden weiblichen Proletariats, die in
demselben Mühsal stünden wie die Männer, die mehr als die Männer
ausgebeutet und denen mehr Lasten als den Männern obliegen würden: "Ich
wiederhole, wir können das Wahlrecht kein allgemeines nennen, solange
nicht die Frauen das Wahlrecht haben, und wir werden niemals aufhören,
für das Frauenwahlrecht einzutreten." Gleichzeitig legte Adler neuerlich
Protest gegen die Einschränkung des Wahlrechts durch die einjährige
Sesshaftigkeit ein, die praktisch ausnahmslos die werktätigen Schichten
benachteilige.
Aus: http://www.parlament.gv.at/ZUSD/PDF/Die_Wahlrechtsreform_1907.pdf (28. 03. 2013)
Nochmals Victor Adler
Diskussionsbeitrag des Parteivorsitzenden Victor Adler zur
Frauenstimmrecht-Resolution der 2. Konferenz der sozialdemokratischen
Frauen Österreichs (1903):
"Es hat niemals eine Sozialdemokratie gegeben, die nicht das
Frauenwahlrecht als eine ebenso notwendige Sache angesehen hätte wie
das der Männer. (...) Aber es fragt sich, ob die politische Lage reif ist, um
einen Feldzug für das Frauenwahlrecht zu unternehmen. Und da sage ich
ihnen rundweg, in Ländern wie Österreich, Belgien usw., wo das
Frühlingswerkstatt 2013
26
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Männerwahlrecht noch nicht einmal erkämpft ist, wo wir alle Kräfte auf
diesen Punkt konzentrieren müssen, wäre es eine politische Torheit, diesen
Kampf abzulenken auf einen Punkt, der voraussichtlich erst später zu
erreichen sein wird. Von diesem Standpunkt der politischen Taktik muss ich
sagen: Wir müssen bei jeder Gelegenheit erklären, dass wir für das
Frauenwahlrecht sind, dass wir auch den ersten Schritt auf diesem Gebiet
machen wollen, aber dass der letzte Schritt erst dann gemacht werden kann,
wenn der erste Schritt gemacht ist, und der ist: die Erkämpfung des
Wahlrechtes für die Männer."
Aus:http://www.renner-institut.at/materialien/frauen-machengeschichte/frauenstimmrechtsbewegung/ (29.03.2013)
Frühlingswerkstatt 2013
27
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Schule und Kulturkampf
Österreichische Schulpolitik im 19. Jahrhundert
„1805
Politische Verfassung der deutschen Schulen, der sogenannte „Schulkodex“. Er
antwortete auf die Säkularisierung durch die Französische Revolution, indem Religion
als Unterrichtsprinzip festgeschrieben wurde (Wissen und Fertigkeiten orientierten
sich am Katechismus) und die Schulaufsicht der katholischen Kirche übertrug. Vor
allem aber schrieb der „Schulkodex“ fest, dass nicht mehr Bildung vermittelt werden
sollte, als der Stand es zu seiner Berufsqualifikation erforderte. (…)
1868
Reichsvolksschulgesetz: Vor dem gesellschaftlichen Hintergrund des Wirtschaftsbooms
der „Gründerzeit“ und der entsprechenden Nachfrage nach qualifizierten
Facharbeitern, Technikern und Angestellten sowie außenpolitischen Misserfolgen der
Regierung kam es zu einer kurzen liberalen Ära. Ebenso wie das Staatsgrundgesetz von
1967 ist das Reichsvolksschulgesetz ein Produkt dieser Ära. Die Ergebnisse legten den
Grundstein zum heutigen Bildungssystem in Österreich: Eine achtjährige
interkonfessionelle, staatliche Pflichtschule:








5.-8. Schulstufe in der Volks- oder der Bürgerschule
Die staatliche Schulaufsicht wird den staatlichen Behörden übertragen
Der Lehrberuf wird zum „öffentlichen Amt“
Religionsunterricht ist zwar obligatorisch, verliert aber den Status als
Unterrichtsprinzip
Lehrerstand und Schule werden entkonfessionalisiert, d.h. es können z.B. auch
Protestanten als Schuldirektoren arbeiten
Der Fächerkanon wird umgestaltet: Naturwissenschaften und Geschichte
(Mädchen erhalten jedoch Unterricht in Handarbeiten und dafür weniger
Unterricht in Mathematik und Zeichnen)
Gründung von Lehrerbildungsanstalten und einer ersten staatlichen
Lehrerinnenbildungsanstalt
Fabrikschulen bleiben erhalten
Dieses Gesetz löste heftige Debatten aus: Die „Konfessionalisten“ kämpften mit dem
Begriff der „Herzensbildung“ und der Sorge vor dem Sozialismus gegen das weltliche
staatliche Bildungssystem von Minister Leopold Hasner, während den Verfechtern
eines horizontalen Bildungssystems im Sinne des Neuhumanismus die Reformen nicht
weit genug gingen. (…)
1883
Novelle des Reichsvolksschulgesetzes: Mit der Diskreditierung des Liberalismus durch
den Börsenkrach von 1873 war es in Österreich auch mit der kurzen liberalen Ära
vorbei, die konservative klerikal-föderalistische Regierung unter Ministerpräsident
Taaffe ab 1979 erließ eine entsprechende Novelle:
Frühlingswerkstatt 2013
28
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger



Rekonfessionalisierung des Schulwesens: Religion als fächerübergreifendes
Unterrichtsprinzip und Katholizismus als Bedingung für die Besetzung von
Direktionen.
Politische Kontrolle der Lehrerschaft
Schulbesuchserleichterungen der 7. und 8. Schulstufe“
Aus: http://www.kife.hu/lernpotentiale/conferences/krakau-bildungsferne-de.pdf
Wappelshammer (Zugriff: 19.1.2013)
- Elisabeth O.
Der Staat gegen die Mütter
In der Debatte des Reichstages über das „Reichsvolksschulgesetz“ im Jahr 1869
sprach als Hauptredner für die „Konfessionalisten“ der Abgeordnete Pater Greuter
aus Tirol:
„Nun, wie steht es denn nach dem Gesetzentwurf mit diesem Rechte der
Eltern, wie steht es mit der Freiheit? Mein Gott, man redet in Österreich so
oft wie in keinem anderen Staate von der Freiheit, und wahrhaftig, wenn wir
die Verhältnisse so recht genau und unparteiisch untersuchen, sind wir nie
weniger frei gewesen als jetzt, den Beweis hiefür liefert mir das vorliegende
Gesetz. Ich sage gar nicht, dass die Jünglinge konskribiert werden, dass
dadurch unsere Staatsgesetze, auch wenn der Jüngling zum Manne
geworden ist, der Staat ihn mit dem Fiskus wieder lehrt, was ein freier
Mann sein heißt. Ich schaue in dieses Gesetz, und da kommt der Staat und
nimmt im Namen der Freiheit der Mutter das Kind aus dem Arme und
verpflichtet es durch den obligatorischen Zwang, in seine Schule zu
kommen. Ja, meine Herren, ich finde sogar, dass selbst das Hausrecht nach
diesem Gesetz nicht gewährt wird. Es ist erlaubt, dass die Inspektoren selbst
in die Familie kommen, um nachzuschauen, nicht etwa, ob das Kind
physisch gedeiht, ob es Schuhe hat, ob es bekleidet ist, ob es zu essen hat,
sondern um nachzuschauen, ob es das Abc nach der Methode des
Unterrichtsministerium lernt.
Es ist also, meine Herren, sehr inkonsequent, wenn Sie den Arbeitern immer
nur von Selbsthilfe vorreden, während Sie mit dem Unterrichtszwang und
mit dem Unterrichtsbudget dieser Verpflichtung der sozialen Notwendigkeit
auf dem Gebiete des Unterrichts gerade im gegenteiligen Sinne zu
entsprechen suchen. Die Konsequente Durchführung dieses sogenannten
Staatsmonopols im Unterrichte führt notwendig zum Sozialismus. Wenn Sie
also konsequent sein wollen, so müssen Sie die Freiheit des Unterrichts
proklamieren, und auf der Basis der Freiheit des Unterrichtes müssen Sie
einen Gesetzesentwurf erlassen.“
Zitiert nach: Schnell, Hermann; Die österreichische Schule im Umbruch; Wien 1974; Seite 20
Frühlingswerkstatt 2013
29
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Kulturkampf in Oberösterreich
Durch das Reichsvolksschulgesetz aus dem Jahr 1869 war die Kompetenz für die
Elementarschule von der Kirche auf den Staat übergegangen. Erst mit diesem Gesetz
und den darauf basierenden Regelungen kam es zur wirklichen Einführung der
Schulpflicht in Österreich. Basierend auf diesem Gesetz wurde danach auch das
Schulgeld für die Volksschulen abgeschafft und die Lehrerausbildung verbindlich
geregelt1. Im Reichsrat gab es gegen dieses wichtige Gesetz, sowohl bei der
Beschlussfassung, als auch in den Jahrzehnten danach, ständig Widerstand.
(…) Die Gegner der Schulpflicht und einer staatlichen Schule fanden aber im Reichstag
keine Mehrheit, daher verlegten sie ihre Politik auf indirekte Einflussnahme: so wurden
die Schüler und Schülerinnen verpflichtet, an von kirchlichen Behörden veranlassten
und organisierten Übungen teilzunehmen. 1883 wurde gesetzlich festgelegt, dass nur
mehr jene Lehrer Schulleiter werden konnten, die den Befähigungsnachweis für den
Religionsunterricht hatten.2 In einem Erlass des österreichischen Ministeriums für
Kultus und Unterricht vom 10. November 1884, der „an alle Landeschefs“ gerichtet ist,
heißt es unter anderem: „... dass es die Aufgabe des Unterrichts ist, alle geistigen
Fähigkeiten der Kinder anzuregen und die lebensfreudige Entwicklung des Gemütes zu
fördern, aber auch deshalb in den realistischen insbesondere geschichtlichen
Gegenständen auf das sorgfältigste alles zu vermeiden, was, wenngleich
wissenschaftlich feststehend und wertvoll für Forschung und Lehre, doch in den
Volksschulen geeignet ist, die kindlichen Begriffe zu verwirren und die Grundlagen der
in den Schulen heranzubildenden religiösen Überzeugung und ihrer Anhänglichkeit und
Liebe zum gemeinsamen Vaterlande unsicher und schwanken werden zu lassen.“3
Wie oben bereits gezeigt war die Arbeiterbewegung ein entschiedener Gegner dieser
Schule, die bloß widerspruchslose Gläubige der katholischen Kirche und treue
Untertanen des Kaisers erziehen sollte. Es waren aber auch die liberalen und
aufgeklärten Bürgerlichen Gegner einer derartigen Schulpolitik. In den neunziger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es daher immer wieder zu gemeinsamen
Aktivitäten der Sozialdemokratie mit den Liberalen, wenn es um die Schule ging.
Beispielswiese wurde am 19. November 1996 in Linz eine große Veranstaltung
durchgeführt, in der regionalen Zeitung „Tagespost“ - dem Vorläufer der
„Oberösterreichischen Nachrichten“ - hieß es über diesen Abend: „Das war gestern
eine großartige Kundgebung, die Protestversammlung gegen die clericalen Schul- und
Lehrerfeinde im Volksgarten! Auf 1200 bis 1500 Personen schätzt man die Zahl der
Besucher, die dichtgedrängt alle Räume des Saales bis auf das letzte Plätzchen besetzt
hatten, so dass schon um ¾ 8 Uhr kaum mehr ein Eckchen zum Stehen, geschweige
denn ein Sessel zu finden, ja überhaupt nicht mehr in den Saal hineinzukommen war.
Die Versammlung war eine öffentliche und allgemein zugängliche, denn sie sollte
zeigen, dass die Freiheit der Schule und die gerechten Bestrebungen der Lehrerschaft
in allen Schichten der Bevölkerung ihre begeisterten Schützer findet, sie sollte
beweisen, wie die gerechte Entrüstung über das terroristische, eigensüchtige und
brutale Vorgehen der clericalen Partei eine allgemeine sei und die weitesten und
breitesten Schichten des Volkes ergriffen habe.“. Neben anderen sprachen bei dieser
Veranstaltung der liberale Landeshauptmann-Stellvertreter Emil Ritter von Dierzer und
der „Arbeiterführer“ Anton Weiguny. Die „Tagespost“ zitiert Weiguny unter anderem
Frühlingswerkstatt 2013
30
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
so: „Wir wissen ganz gut, dass man bei Machtfactoren, wie ein solcher die clericale
Partei ist, nicht mit Phrasen, mit Petitionen und Resolutionen hinwegkommt, sondern,
dass zum Kampfe gerüstet werden muss um die Herrschaft des Clericalismus zu
brechen, der das Volk geistig verkümmern lassen will und die Jugendbildner hungern
lässt. (...) Wir sind ausgeschrien als religionsfeindlich. Glaube jeder was er will, lasse
aber auch jeden anderen seine Überzeugung. Die Herren sollen mit den tiefen
religiösen Gefühlen des Volkes nicht ihr Spiel treiben. Wenn sie ruhig sind, diese
fanatischen Hetzer, dann wird auch das Volk zur Ruhe kommen. Mögen auch noch so
viele Kasernen für Mönche und Nonnen gebaut werden, wir sind überzeugt, dass all
diese Kutten uns den Sonnenaufgang nicht verhüllen werden. (Stürmischer,
langanhaltender Beifall.)“. „Nach Schluss der Veranstaltung“ - so die „Tagespost“ „stimmten die Arbeiter das ‚Lied der Arbeit‘ an, die Deutschnationalen sangen die
‚Wacht am Rhein‘.“5
Die gemeinsamen Anliegen und die gemeinsamen Aktionen führten dazu, dass im Jahr
1905 in Wien der Verein „Freie Schule“ offiziell gegründet wurde. Präsident wurde der
Liberale Freiherr Paul von Hock, für die Sozialdemokraten waren unter anderem
Engelbert Pernersdorfer, Karl Seitz und Otto Glöckel aktiv.6 In Oberösterreich führt der
Verein „Freie Schule“ zum Beispiel ab dem Jahr 1906 eine eigene 4. Bürgerschulklasse7.
Diese diente dazu, dass Schüler, die die 3. Klasse absolviert hatten, bis zum möglichen
Einstieg in andere Schulen, zum Beispiel Fachschulen, Handelsakademie,
Lehrerbildungsanstalt, nicht einfach die dritte Bürgerschulklasse wiederholen mussten,
sondern eine eigene Klasse für dieses Jahr hatten. Diese vierte Bürgerschulklasse
wurde, nachdem sie sehr viele Schüler besuchten, ab September 1908 von der Stadt
Linz übernommen.7 Gegeben hat es die Vereinigung „Freie Schule“ aber schon länger,
die Freimaurerloge „Pionier“ in Wien versuchte damit bereits ab den achtziger Jahren
des 19. Jahrhunderts die Volksbildung zu verbessern8.
Bis zum Ende der Monarchie blieben Schulfragen heftig umstrittene Themen. Bis zur
Ausrufung der ersten österreichischen Republik ging es darum, ob die Schule
aufklärerischen Ideen oder Kaiserhaus und Kirche verpflichtet war
Aus: Dobesberger, Bernd; Geschichte der Kinderfreunde Oberösterreich; in Braun, Karl-Heinz,
Dobesberger, Bernd u.a. (Hg.) Lernort Kinderfreunde; Obladen 1998; Seite 86 ff
1
vgl. Schnell, Hermann; Die österreichische Schule im Umbruch; Wien 1974; Seite 20
2
vgl. Uitz, Helmut; Die österreichischen Kinderfreunde und rote Falken 1908 – 38; Wien-Salzburg 1975; Seite 256ff.
3
zit. nach Adler, Max; Neue Menschen; Wien 1972; Seite 14f.
5
..Linzer Tagespost; Linz, 20. und 21.11. 1896; Seiten xx bzw. xx
6
vgl. Uitz; 259
7
„Rechenschaftsbericht des Gemeinderathes der Landeshauptstadt Linz über seine Thätigkeit“; Linz 1906 und 1907 bzw. 1908 und
1909; Seite 25 bzw. 28
8
Freimaurermuseum, Österreichisches in Schloss Rosenau bei Zwettl, NÖ;„250 Jahre Freimaurerei in Österreich“; Rosenau, 1992;
Seite 44
Frühlingswerkstatt 2013
31
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Erwägung des Arbeiterbildungsvereins Steyr
„In Erwägung, dass die jetzigen sozialen Missstände der arbeitenden
Klassen nur in der Unwissenheit und mangelhaften Ausbildung der Arbeiter
ihre Wurzel haben; in Erwägung, dass seitdem die Schule unter dem
ausschließlichen Einfluss des Klerus stand, die Volksbildung durchaus keine
Fortschritte gemacht hat, vielmehr von ihrer hohen und heiligen Aufgabe
mehr und mehr entfernt worden ist; in Erwägung, dass besonders seit dem
Beginn des Maschinenwesens den Arbeitern erhöhtes Wissen und erhöhte
Ausbildung unbedingt nottut, dieser Zweck aber in erster Linie nur durch
die Befreiung der Schule von der unbeschränkten Macht des Klerus erreicht
werden kann, erklärt die heute tagende Allgemeine Arbeiterversammlung
von Steyr, entgegen der Ansicht des Katholischen Volksvereins, dass sie nur
in der Aufrechterhaltung der neuen Schulgesetze die Grundlage erblickt,
durch welche erhöhte und zeitgemäße Ausbildung und dadurch auch ein
mächtiger Hebel zur Besserung der materiellen Lage des Arbeiters
geschaffen werden kann.“
Aus: Resolution der Arbeiterversammlung zu Steyr an das Unterrichtsministerium im Jahr 1869
(zitiert nach: Göhring, Walter; „Neudorfl 1874“; Wien 1974; S. 56)
Von den „Conservativen und Clericalen“:
„Am allerwenigsten wird aber jener Erfolg eintreten, den die ‚Tages-Post‘
und die ‚Arbeiter-Zeitung‘ in Aussicht stellen. Nämlich daß die ‚Clericalen‘
durch die Versammlung und die sonstige Agitation der vereinten
Jungliberalen, Schönerianer und Socialisten eingeschüchtert würden. Die
conservative Partei hat schon bei der Generalversammlung des
katholischen Volksvereines erklären lassen, daß sie dem Terrorismus der
radicalen Lehrerschaft nicht weichen werde und jetzt wird, mag der liberalnational-socialistische Hexenkessel noch so heftig brodeln, erst recht nicht
nachgegeben. Darauf können sich die Herren ‚Anticlericalen“ verlassen.
Zum Schlusse richten wir noch ein Wort an unsere Gesinnungsgenossen. Es
wäre denkbar, daß sich einer oder mehrere, durch die unerhörten
Provocationen gereizt, zu Äußerungen des Zornes hinreissen lassen
könnten. Wir machen darauf aufmerksam, daß unsere Gegner, nachdem sie
sich so stark ins Pechgesetzt haben, die kleinste Unbesonnenheit von
unserer Seite benützen würden, um durch Aufbauschung derselben ihren
eigenen dummen Streich vergessen zu machen. Darum heißt es auf unserer
Seite Ruhe und kaltes Blut bewahren!“
Aus: „Linzer Volksblatt“; 22. November 1896; S. 2
Frühlingswerkstatt 2013
32
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Sozialreform und Sozialstaat
Reform von Oben
„Verschiedene Gründe waren maßgeblich, dass es in den achtziger Jahren (des 19. Jhh.
– B.D.) zu einer Reihe sozialpolitischer Initiativen kam, die zu einer Verbürokratisierung
und staatlichen Regelung der sozialen Sicherheit führten. Die Militärs schlugen Alarm,
entsprach doch aus Arbeitergemeinden kaum einer der Stellungspflichtigen den
Tauglichkeitskriterien der Armee. Auf betriebswirtschaftlicher Seite wurde erkannt,
dass aus einer Verbesserung der sozialen Sicherheit und Verkürzung überlanger
Arbeitszeiten durchaus Produktivitätsgewinne zu erreichen waren, und von
volkswirtschaftlicher, dass auf dem Weg ins Zeitalter zunehmender Massenkaufkraft
den Konsumenten auch Zeit zum Konsum gegeben werden musste. Den Politikern
wiederum war es ein Anliegen, durch ein Nachgeben gegenüber gewerkschaftlichen
Druck in sozialen Fragen zu einer ökonomischen und sozialen Systemstabilisierung zu
kommen. Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass das Kabinett Taaffe und
die konservative Parlamentsmehrheit, die ab 1879 im Reichsrat das Sagen hatte, in die
zahlreichen sozialpolitischen Initiativen ihre antikapitalistischen Interessen verpackte.
(…)
Die Sozialreformen, die von der Regierung Taaffe durchgesetzt wurden, waren in dem
Sinne antikapitalistisch, als durch eine Ausklammerung aus der Versicherungspflicht
den nichtindustriellen Bereich ein Konkurrenzvorteil zu verschaffen versucht wurde
und die Kosten der sozialen Reformen nicht von den eigenen Sympathisanten zu
tragen waren, sondern überwiegend von der Wählerbasis der Opponenten, den
Liberalen, deren Kernschichten aus dem Großbürgertum kamen.
Durch das Unfallversicherungsgesetz von 1887, das Krankenversicherungsgesetz von
1888 und das Bruderladengesetz von 1889 waren alle Arbeiter und Betriebsbeamten
(Angestellten) maschineller Betriebe unfallversichert, der erheblich größere Kreis aller
gewerblichen Arbeiter überdies krankenversichert. Die Bergleute erhielten als einzige
Gruppe auch eine Invaliditätsversicherung. Einzelne Ausdehnungsgesetze, etwa 1894
für Eisenbahner, folgten. Am wichtigsten wurde die gesonderte Sicherung spezifischer
Angestelltenrechte
wie
Alterssicherung
(1906)
oder
Urlaubsanspruch,
Kündigungsschutz und Abfertigungsanspruch, die im Sinne der Stärkung eines fiktiven
Mittelstandes wirken und einen Keil in die Lohnabhängigen treiben sollten. Das
Hauptübel sah man im großindustriellen Maschinenbetrieb, während man ähnlichen
sozialen Verhältnissen in nicht maschinellen landwirtschaftlichen oder
kleingewerblichen Betrieben viel weniger kritisch gegenüberstand.“
Aus: Sandgruber, Roman; „Ökonomie und Politik – Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter
bis zur Gegenwart“; Wien 1995; Seite302f.
Frühlingswerkstatt 2013
33
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Erklärungen und Hintergründe
Aus einer Resolution des Hainfelder-Parteitages
„Was heute vorzugsweise ‚Sozialreform‘ genannt wird, die Einführung der
vom Staat organisierten Arbeiter-versicherung gegen Krankheit und Unfall,
entspringt vor allem der Furcht vor dem Anwachsen der proletarischen
Bewegung, die Hoffnung, die Arbeiter von dem Wohlwollen der besitzenden
Klassen zu überzeugen, und zuletzt der Einsicht, dass die Zunehmende
Verelendung des Volkes endlich die Wehrfähigkeit beeinträchtigen müsse.
Mit der Ausführung der Arbeiter-Versicherung werden zwei Nebenzwecke
verknüpft: Die teilweise Überwälzung der Kosten der Armenpflege von den
Gemeinden auf die Arbeiterklasse und die möglichste Einengung,
womöglich Beseitigung selbständigen Hilfsorganisationen der Arbeiter,
welche als Vorschulen und Übungsstätten der Organisation und Verwaltung
den herrschenden ein Dorn im Auge sind. Angesichts dieser Sachlage
erklärt der Parteitag:
Die Arbeiter-Versicherung berührt den Kern des sozialen Problems
überhaupt nicht. Eine Einrichtung, welche im besten Falle dem
arbeitsfähigen Proletarier ein kärgliches, von ihm selbst teuer bezahltes
Almosen gewährt, verdient nicht den Namen ‚Sozialreform‘.
Die Arbeiterschaft wird sich darüber nicht täuschen lassen, sondern klare
Einsicht darüber verbreiten, dass eine wirkliche soziale Reform den
arbeitsfähigen Arbeiter zum Gegenstand und die Beseitigung seiner
Ausbeutung zum letzten Ziel haben muss, dass aber freilich diese soziale
Reform niemals von den Ausbeutern, sondern nur von den Ausgebeuteten
durchgeführt werden wird.“
Aus: Resolution über Arbeiterschutz-Gesetzgebung und ‚Sozialreform‘“ beschlossen am
Einigungsparteitag der SDAP in Hainfeld 1888/89 (zitiert nach: „Die österreichische
Sozialdemokratie im Spiegel ihrer Programme“; Wien 1971; Seite 29)
Wehrtauglichkeit
„Von je tausend untersuchten Militärpflichtigen waren in der
österreichischen Reichshälfte untauglich:
1870:
736
1875:
811
1880:
855
Im nordöstlichen Böhmen waren von 1000 Stellungspflichtigen im
Allgemeinen nur 129 tauglich. Von je 1000 Fabrikarbeitern dieses Gebietes
wurden aber nur 46 für tauglich befunden, im Bezirk Gablonz 44, in der
Umgebung von Reichenberg 35 und in der Stadt Reichenberg gar nur 23.“
Aus: Klenner, Fritz; „Die österreichischen Gewerkschaften“; Bd. 1: Wien 1951; S. 134
Frühlingswerkstatt 2013
34
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Von der „Neuen Sache“
„Vor allem ist also von der einmal gegebenen unveränderlichen Ordnung
der Dinge auszugehen, wonach in der bürgerlichen Gesellschaft eine
Gleichmachung von hoch und niedrig, von arm und reich schlechthin nicht
möglich ist. Es mögen die Sozialisten solche Träume zu verwirklichen
suchen, aber man kämpft umsonst gegen die Naturordnung an. Es werden
immerdar in der Menschheit die größten und tiefgreifendsten
Ungleichheiten bestehen. Ungleich sind Anlagen, Fleiß, Gesundheit und
Kräfte, und hiervon ist als Folge unzertrennlich die Ungleichheit in der
Lebensstellung, im Besitze. Dieser Zustand ist aber ein sehr zweckmäßiger
sowohl für den einzelnen wie für die Gesellschaft. Das gesellschaftliche
Dasein erfordert nämlich eine Verschiedenheit von Kräften und eine
gewisse Mannigfaltigkeit von Leistungen; und zu diesen verschiedenen
Leistungen werden die Menschen hauptsächlich durch jene Ungleichheit in
der Lebensstellung angetrieben. (…)
Ein Grundfehler in der Behandlung der sozialen Frage ist sodann auch der,
dass man das gegenseitige Verhältnis zwischen der besitzenden und der
unvermögenden, arbeitenden Klasse so darstellt, als ob zwischen ihnen von
Natur ein unversöhnlicher Gegensatz Platz griffe, der sie zum Kampf
aufrufe. Ganz das Gegenteil ist wahr. Die Natur hat vielmehr alles zur
Eintracht, zu gegenseitiger Harmonie hingeordnet; und so wie im
menschlichen Leibe bei aller Verschiedenheit der Glieder im
wechselseitigen Verhältnis Einklang und Gleichmaß vorhanden ist, so hat
auch die Natur gewollt, dass im Körper der Gesellschaft jene beiden
Klassen in einträchtiger Beziehung zueinander stehen und ein gewisses
Gleichgewicht darstellen. Die eine hat die andere durchaus notwendig. So
wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne das
Kapital bestehen. Eintracht ist überall die unerlässliche Vorbedingung von
Schönheit und Ordnung; ein fortgesetzter Kampf dagegen erzeugt
Verwilderung und Verwirrung. Zur Beseitigung des Kampfes aber und
selbst zur Ausrottung seiner Ursachen besitzt das Christentum wunderbare
und vielgestaltige Kräfte. (…)
Indessen ist nicht zu bezweifeln, dass zur Lösung der sozialen Frage
zugleich die menschlichen Mittel in Bewegung gesetzt werden müssen. Alle,
die es irgend berührt, müssen je nach ihrer Stellung mitarbeiten. Es gibt
hier das Wirken der göttlichen Vorsehung, welche die Welt regiert,
gewissermaßen ein Vorbild; denn hängt der Ausgang von vielen Ursachen
zugleich ab, so sehen wir, wie eben diese Ursachen sich zur Erzielung der
Wirkung zueinander gesellen.
Es handelt sich zunächst darum, welcher Anteil bei der Lösung der Frage
der Staatsgewalt zufalle. Unter Staatsgewalt verstehen Wir hier nicht die
zufällige Regierungsform der einzelnen Länder, sondern die Staatsgewalt
der Idee nach, wie sie durch die Natur und Vernunft gefordert wird, und wie
sie sich nach den Grundsätzen der Offenbarung, die Wir in der Enzyklika
über die christliche Staatsverfassung entwickelt haben, darstellt.
Die Beihilfe also, welche von den Staatslenkern erwartet werden muss,
besteht zunächst in einer derartigen allgemeinen Einrichtung der
Gesetzgebung und Verwaltung, dass daraus von selbst das Wohlergehen der
Frühlingswerkstatt 2013
35
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Gemeinschaft wie der einzelnen empor blüht. Hier liegt die Aufgabe einer
einsichtigen Regierung, die wahre Pflicht jeder weisen Staatsleitung. Was
aber im Staate vor allem Glück und Friede verbürgt, das ist Ordnung, Zucht
und Sitte, ein wohlgeordnetes Familienleben, Heilighaltung von Religion
und Recht, mäßige Auflage und gleiche Verteilung der Lasten,
Betriebsamkeit in Gewerbe und Handel, günstiger Stand des Ackerbaues
und anderes ähnliche. Je umsichtiger alle diese Hebel benützt und
gehandhabt werden, desto gesicherter ist die Wohlfahrt der Glieder des
Staates. Hier eröffnet sich also eine weite Bahn, auf welcher der Staat für
den Nutzen aller Klassen der Bevölkerung und insbesondere für die Lage
der Arbeiter tätig sein kann; gebraucht er hier sein Recht, so ist durchaus
kein Vorwurf möglich, als ob er einen Übergriff beginge; denn nichts geht
den Staat seinem Wesen nach näher an als die Pflicht, das Gemeinwohl zu
fördern und je wirksamer und durchgreifender er es durch allgemeine
Maßnahmen tut, desto weniger brauchen anderweitige Mittel zur Besserung
der Arbeiterverhältnisse aufgesucht zu werden.“
Von Papst Leo XIII. stammt die am 15. Mai 1891 veröffentlichte Enzyklika „Rerum Novarum“
zitiert nach: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/320.html (30.04.2013)
Frühlingswerkstatt 2013
36
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Weiße Sklavinnen
„Weiße Schürzen mit feinen Spitzen, reiche Herrschaften voll gütiger Noblesse, mit
vielerlei Gerät bestens ausgestattete Haushalte, heimliches Naschen von zartem
Teegebäck und ein praller Sparstrumpf am Ende einer mehrjährigen Dienstzeit,
Voraussetzung für eine eigene bescheidene Familiengründung – dies waren die
Verlockungen, die junge Mädchen aus allen Provinzen der Monarchie scharenweise in
die Hauptstadt trieben. Dafür waren sie bereit, harte Arbeit, Ehrerbietung und
Unterordnung in Kauf zu nehmen. Um 1890 waren es allein in Wien über 100.000
überwiegend junge Mädchen, die in den Häusern der Herrschaft all jene Arbeiten
verrichteten, deren lästige Existenz nur dann ins Auge fällt, wenn sie ungetan bleiben.
Rund 15% der Wiener Dienstmädchen waren nicht einmal 15 Jahre alt, 30% waren
unter 20, über 75% unter 30 Jahre alt. Sie kamen aus den Dörfern Nieder- und
Oberösterreichs, aus Böhmen, Mähren und den östlichen Gebietsteilen des alten
Österreich. Sie waren mittellose Töchter kleiner Bauern und Gewerbetreibender,
Landarbeiter oder kleinstädtischer Beamter und brachten als Qualifikation lange,
entbehrungsreiche Kindheitsjahre häuslicher Sozialisation mit. Wenn viele auch
anfänglich der deutschen Sprache nicht mächtig waren – im Gebrauch von Putzfetzen,
Kochlöffel und Waschrumpel stellten sie ihre Frau.
Halbe Kinder waren sie oft noch, wenn sie, zaghaft und unerfahren, ihr gesamtes Hab
und Gut feinsäuberlich in einem Koffer oder einer Truhe verpackt, in Wien ankamen.
Dass der Traum vom städtischen Lebensglück bald der ernüchternden Realität eines
trostlosen Dienstbotenalltags weichen sollte, ahnten sie vielleicht bei der ersten Suche
nach Unterkunft und Dienststelle. Hatten sie nicht schon eine sichere Stelle in Aussicht,
blieb ihnen die Wahl, eine unbefugte Stellenvermittlerin aufzusuchen oder in einem
der Wiener Tagblätter eines der unzähligen Stellengesuche zu platzieren. (Erst seit der
Jahrhundertwende, als sich ein Mangel an Dienstboten bemerkbar zu machen begann,
gab es städtische Dienstvermittlungsstellen.) In der Zwischenzeit zahlten sie in barer
Münze für ein Bett bei einer Zimmerfrau oder im Dienstbotenasyl. Auch die
Stellenvermittlung hatte ihren Preis. Für ein besseres Angebot mussten die Mädchen
gut und gerne ein bis zwei Monatslöhne investieren. (…)
Vazierende Dienstboten – Dienstboten ohne Stelle – hatten nichts zu lachen. Wollten
sie der Arretierung entgehen, mussten sie sich schleunigst bei der Polizei melden oder
Arbeit nehmen. Hunderte von Dienstboten wurden jedes Jahr in Wien wegen zu langer
Dienstlosigkeit im Sinne des Vagabundengesetzes bestraft. Nach der Qualität der
Arbeit zu fragen, hatten sie da nicht viel Zeit.
Der Arbeitsalltag der Dienstboten – und die Arbeit war ihr Leben – war genauester
Reglementierung unterworfen. Zusätzlich zum bürgerlichen Gesetzbuch war der
häusliche Dienst in eigenen Gesinde- und Dienstbotenordnungen geregelt. In den
Ländern der Monarchie gab es deren 24, einige Städte hatten eigene Ordnungen. In
Wien galt um die Jahrhundertwende immer noch die Dienstbotenordnung aus dem
Jahr 1810. Während jahrhundertelang Familienangehörige und Gesinde eine große,
hausrechtlich vom Hausherrn abhängige Familie bildeten, lösten sich mit der
Entwicklung der Produktivkräfte und dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft die
hausrechtlichen Bindungen. Die Arbeit der männlichen Dienstboten entwickelte sich zu
Frühlingswerkstatt 2013
37
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
eigenen Berufsgattungen – Gärtner, Kontoristen, Kutscher. Der häusliche Dienst wurde
damit zu einer nahezu ausschließlichen Frauenangelegenheit, entsprach er doch den
bürgerlichen Vorstellungen von „Weiblichkeit“ wie kein anderer Tätigkeitsbereich.
Dienstjahre in Erwartung der Ehe – zu der es in vielen Fällen allerdings mangels Geld
und Kontaktmöglichkeiten niemals kommen sollte.
Bar jeglichen Schutzes erlebten die Mädchen die traurigsten Seiten der freien
Lohnarbeit: freie Stellensuche, Fehlen arbeits- und sozialrechtlicher Bestimmungen,
kein Kündigungsschutz, unbegrenzte Arbeitszeit bei niedrigsten Löhnen. Gleichzeitig
unterstanden sie jedoch der Herrschaft als einer mit eigenen Rechten ausgestatteten
Obrigkeit. Die Wiener Dienstbotenordnung von 1810 verstand die Herrschaft als
„häusliche Polizey“ und es war „Pflicht eines jeden Familienoberhauptes, im Inneren
seiner Familie über Sittlichkeit und Ordnung zu wachen“. Dienstboten waren der
Herrschaft zu Gehorsam, Fleiß, Ehrerbietung, Treue und Aufmerksamkeit verpflichtet.
(…) Außerdem hatte der Dienstbote die Pflicht zum sittlichen und bescheidenen Leben
in- und außerhalb des Hauses. So konnte der Dienstgeber Rechenschaft über die
Erfüllung der Religionspflichten fordern und hatte über die Kleidung der
Dienstmädchen zu wachen. „Unnötiger Aufwand“ – in herrschaftlichen Klagen zur
Putzsucht und Eitelkeit der Dienstmädchen hochstilisiert – wurde nicht geduldet.“
Aus: Hofbauer, Hannes, Komlosy, Andrea; Das andere Österreich; Wien 1987; Seite 127ff.
Haussklavinnen
„Ihre Arbeitszeit ist unbeschränkt und kein Gesetz bestimmt, wie viele
Stunden im Tag ihre Arbeit dauern darf. Von 6 Uhr früh bis 12 Uhr nachts
gehen die verschiedensten Arbeiten durch ihre Hände. Die Mädchen für
alles in den Familien, wo Kinder sind, kommen oft den ganzen Tag nicht
dazu, ordentlich aufzuatmen, Frühstückkochen, Kleiderputzen, Einkaufen,
Zimmerbürsten, Geschirrwaschen, dann mit den Kindern spazieren gehen,
das Abendessen richten, wieder Geschirrwaschen, nebenbei oft noch
Wäsche waschen, zum mindesten aber bügeln, das ist das Tageswerk eines
Dienstmädchens, wo es nur eines im Hause gibt. Wie oft aber bleibt für das
Mädchen nicht genug übrig, um sich satt zu essen! Denn viele
Dienstgeberinnen sind so einsichtslos, dass sie alles, was gekocht wird, auf
den Tisch bringen lassen und das Dienstmädchen bekommt dann das, was
auf den Schüsseln bleibt und gar oft von den Tellern zurückgegeben wurde
Da ist nun so eine ‚gnädige‘ Frau, die reich genug ist, sich einige
Dienstmädchen halten zu können. Nie ist der Ernst des Lebens an sie
herangekommen. Immer ist sie bedient worden, so dass sie in dem Glauben
groß geworden ist, Dienstboten seien eigens dazu erschaffen, den Reichen
das Leben angenehm zu machen. Die ‚Gnädige‘ liegt am Sofa, sie sitzt am
Klavier oder plaudert im Salon. Bis in die späte Nacht sind oft Gäste im
Haus, die Mädchen haben die Plage und kommen lange nach Mitternacht zu
Bette. Die Dame schläft sich am Morgen aus, oft bis zur Mittagszeit, die
Mädchen müssen wie sonst ihrer täglichen Arbeit obliegen. Wie oft aber
sind viele Damen noch obendrein roh und brutal! Dieselben Lippen, die
eben noch den Gästen das holdselige Lächeln gezeigt haben, gebrauchen
dem Mädchen gegenüber Beschimpfungen, wie sie niedriger nicht erdacht
Frühlingswerkstatt 2013
38
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
werden könnten. Es gibt aber auch Damen, die sich nicht scheuen, das ihren
Unwillen erregende Mädchen zu schlagen oder ihm irgendeinen
Gegenstand an den Kopf zu werfen. (…)
Eine kleine Hoffnung ist vorhanden, dass es besser werden wird. Nicht
durch die Güte und das Wohlwollen der Dienstgeber, sondern durch das
Zusammenhalten, durch die Erhebung der dienenden Mädchen. Es regt
sich, die Dienstmädchen rühren sich. Viele Versammlungen haben schon
stattgefunden und der Verein ‚Einigkeit‘ wurde gegründet. Auch eine
Zeitung, ebenfalls ‚Einigkeit‘ genannt, erscheint einmal im Monat. Viele,
viele Damen sind unruhig und nervös geworden. Mit den gemeinsten,
ordinärsten Beschimpfungen sind sie über die Bestrebungen der
Dienstmädchen hergefallen. Alles Schlechte, das nur ersonnen werden kann,
sagen sie in Briefen, die sie an die Dienstmädchenversammlungen und an
den Verein schicken. Nach ihren Briefen gibt es keine schlechteren,
verruchteren Geschöpfe als die Dienstboten und doch können die guten,
feinen Damen nicht ohne die Mädchen sein. Und weil sie nicht ohne
Mädchen sein können, die die Arbeit machen, die ihnen die Zimmer schön
herrichten, die ihnen kochen und die Kinder pflegen und sie selber auch
bedienen, deshalb können die Mädchen fordern, dass es für sie besser
werde. Nicht die gnädige Frau sollen sie in der Dienstgeberin sehen,
sondern die Arbeitgeberin, die Arbeitskräfte braucht. Die Dienstmädchen
aber sollen Achtung vor ihrer eigenen Arbeit, vor ihrem Können und ihren
Leistungen empfinden. Sie sollen nicht nur den gebührenden Lohn und
anständige, ausreichende Nahrung verlangen, sondern auch achtungsvolle
Behandlung. Keine Beschimpfung, kein brutaler Ton werde geduldet. Wenn
die Mädchen ihre Pflicht tun, dann haben sie auch das Recht zu fordern,
was ihnen gebührt.
Der ‚Dienstbote‘ muss nach und nach verschwinden und die
Hausangestellte oder die hauswirtschaftliche Arbeiterin muss an ihre Stelle
treten. Denn schon in dem Wort ‚Dienstbote‘ liegt die Bedeutung, dass es
sich um botmäßige Geschöpfe handelt. Die Zeiten sind aber vorbei, wo man
das nicht gefühlt hat. Mit dem Dienstboten wird aber manches andere noch
verschwinden, das heute den Mädchen das Leben zur Qual macht. Keine
Haussklavinnen, sondern freie Arbeiterinnen sollen in Zukunft die
Dienstmädchen sein. Auch ihnen müssen an jedem Arbeitstag einige
Stunden der Ruhe eingeräumt werden, auch sie sollen wenigstens einen
Abend in der Woche frei sein. Auch sie sollen sich rechtszeitig schlafen
legen können in einem anständigen, gesunden Raum, in einem ordentlichen
Bett.“
Aus: Popp, Adelheid; „Haussklavinnen“; Wien 1912; S. 5f. und S. 30
Frühlingswerkstatt 2013
39
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
„Grenzenloses Vergnügen“ oder „Kampf dem
Schund“
Film und Kino eröffneten eindeutig und endgültig das Zeitalter der Massenkultur. „Das
Leben in Bewegung getreu abgebildet zu sehen – diese technische Leistung zog in ganz
Europa Oberschicht wie Analphabeten gleichermaßen in ihren Bann. Seit 1900 war der
Film eine herausragende Attraktion auf Jahrmärkten und Rummelplätzen, in Varietés,
Zirkussen und Gastwirtschaften. Wanderkinos besuchten auch die Provinz, und bald
hatten große Teile der Bevölkerung schon einmal die Faszination ‚lebender
Photografien‘ verspürt.
Nach 1905 wurde der Film dann sesshaft; in den Städten öffneten feste, ganzjährig
betriebene Kinos. Zunächst handelte es sich um ziemlich primitive Etablissements, oft
mit Leinwand, Projektor und Stühlen bestückte Ladenräume. Aber nach nur 10 Jahren
zählte man in Europa über 10000 Kinos, darunter nicht wenige, die zu Recht
selbstbewusst als ‚Palast‘ firmierten, mit mehreren tausend Sitzplätzen in luxuriöser
Architektur auf der Höhe des zeitgemäßen Geschmacks. Man schätzte, dass 1914 in
Frankreich auf 30000 Einwohner ein Kino kam, in Deutschland auf 18000, in Italien auf
10000, in England auf 8000 und in Belgien auf 7000. Die Preise waren niedrig; 10 bis 20
Pfenning oder 1 bis 2 Penny Eintritt, und Kinder zahlten die Hälfte. Der Kinobesuch
wurde der deutschen und englischen Arbeiterschaft zur regelmäßigen Freizeittätigkeit;
im französischen Publikum dominierten noch die Kleibürger.
Weshalb ist hier erstmals uneingeschränkt von moderner Massenkunst zu sprechen?
Längst nicht alles, was der Film bot, war neu; aber die Gesamtheit seiner Züge machte
ihn einzigartig. Das gilt in erster Linie für die Reichweite. Populäre Lesestoffe oder
Melodien konnten zwar schon nach 1850 Hundertausende erreichen; aber die
Verbreitung zog sich über längere Zeit hin und erreichte nur kleiner Gruppen der
Unterschichten. Der Film machte bis zum Weltkrieg mit Dutzenden oder Hunderten
Kopien das Massenpublikum zur Norm – und zwar praktisch auf einen Schlag.
Erfolgsproduktionen wie die ab 1910 aufkommenden ‚sozialen Dramen‘ mit Stars wie
Asta Nielsen und Henny Porten erreichten innerhalb weniger Wochen ein
Millionenpublikum; sie dienten damit als Mittel kultureller Kommunikation im
nationalen, weithin schon internationalen Maßstab. In den Städten wurde es schnell
zur alltäglichen, nicht selten regelmäßig ausgeübten Gewohnheit, in Kino zu gehen. In
Mannheim zählte man 1912 pro Woche mehr als 50000 Besucher bei einer
Einwohnerzahl von gut 200000 und in England sollten 1916 wöchentlich 20 Millionen
gewesen sein.
Film und Kino lieferten einen Fundus an Themen, Bildern und Phantasien –
Gemeinsamkeiten, die die Menschen der Massengesellschaft verbanden. Und das von
Anfang an international; der Stummfilm schuf sofort einen Weltmarkt. In England und
Deutschland deckte die einheimische Produktion nicht einmal ein Fünftel des Bedarfs,
während französische Unternehmen über einige Jahre in den Kinos aller Kontinente
dominierten.
Natur- und Dokumentarfilme hatten ihr Publikum; die aktuelle Berichterstattung über
Katastrophen, Kriege, Sensationen zog Massen an. Aber seine eigentliche Faszination
und gesellschaftliche Prägekraft entfaltete das Medium mit dem Erzählen erfundener
Frühlingswerkstatt 2013
40
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Geschichten – als Kunst sui generis, als Massenkunst. Sicher lässt sich Filmgeschichte
nach den Maßstäben der traditionellen Ästhetik schreiben: Komplexität der Bezüge,
philosophischer Gehalt, ständige Innovation der eingesetzten Mittel, Selbstreflexion
des Mediums usw. Aber Faktor der Gesellschaftsgeschichte, Gestalter der geistigen
und sinnlichen Wahrnehmungs-instrumente der Menschen wurde der Film, soweit er
sich einstellte auf ein abgespanntes, buntgemischtes Publikum, das aus der Hektik,
Reizflut und Enge des modernen Lebens heraus das ganz andere suchte: sinnliche
Erregung und starke Gefühle, unbekanntes Milieu und exotische Umgebung,
Abenteuer und Spannung, bewegte Handlung und einprägsame Bilder, Witz, Komik
und Drastik, nicht zuletzt die Bekräftigung elementarer Prinzipien von menschlichem
Anstand und Gerechtigkeit.“
Aus: Maase, Kaspar; Grenzenloses Vergnügen; Frankfurt/Main 1997; Seite 108f.
Illusion und Maskerade
Der französische Publizist Louis Haugmard schreibt 1913 über das Kino:
„Durch (das Kino) werden die bezauberten Massen lernen, nicht mehr zu
denken, jedem Impuls zum Argumentieren und Konstruieren zu
unterdrücken, werden langsam verkümmern; sie werden nur noch wissen,
wie sie ihre großen, leeren Augen öffnen können, nur zum Schauen,
Schauen, Schauen … (Und das wird ein unzweifelhaftes Zeichen von
Dekadenz sein, ein bemerkenswertes Symbol vom Ende der Rasse. Das Kino
wird das „Amphitheater“ der geschwächten Zivilisation, „Zirkusse“ für
friedfertige Menschen, das Mittel für Aktivität von Neurasthenikern.) Wird
Cinematographie vielleicht eine elegante Antwort auf das soziale Problem
finden, wenn man den modernen Slogan wie folgt formuliert: ‚Brot und
Kinos‘? … Und wir kommen dem Tag immer näher, an dem Illusion und
Maskerade regieren werden.“
Zitiert nach: Blom, Philipp; Der taumelnde Kontinent; München 2009; Seite 366
Der Vorsitzende des Essener „Ausschusses für Jugendschutz in den
Lichtspielhäusern“ berichtet 1916 über den großen Andrang bei
„Familienvorstellungen“ in Kinos:
Es „waren etwa 1.000 Kinder anwesend, es wurden mehr Karten verkauft
als Plätze vorhanden waren, viele Kinder standen und lagen während der
Vorstellung in den Gängen. (…) Die weitaus größere Zahl der Besucher
gehört dem schulpflichtigen Alter an, eine große Zahl sogar dem
vorschulpflichtigen. (…) Die Kinder der ärmeren Schichten der
Bevölkerung sind am stärksten vertreten. (…)
Die Darstellungen sind meist völlig wertlos. Liebesromane, Kussszenen,
Trinkgelage und Diebstähle werden vorgeführt. (…) Der Geschmack der
Kinder wird dadurch völlig verdorben. Für ernste Darstellungen aus dem
Leben und aus der Natur und für Bilder von den Kriegsschauplätzen ist
kaum Interesse vorhanden. (…) Knaben und Mädchen sitzen auf den
Emporen in der Dunkelheit dicht gedrängt nebeneinander, beim
Hinausgehen benutzen die Knaben alle Wände und Ecken als
Frühlingswerkstatt 2013
41
Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten
Bernd Dobesberger
Bedürfnisanstalten, die Trinkhallen und Eiswagen werden förmlich
belagert.“
Zitiert nach: Maase, Kaspar; Die Kinder der Massenkultur; Frankfurt/New York 2012; Seite 128f.
Renegaten im Tanzlokal
„Hier (bei den Roten Falken – B.,D.) lernten sie das Menuett als Tanzform
der Aristokratie zu bezeichnen, den Walzer als typisch für die Zeit des
aufsteigenden Bürgertums und die modernen Tänze beim Jazz als
Verfallserscheinung zu erkennen. Sie suchten neue Tänze, dem
proletarischen Klassenbewusstsein entsprechend, denn sie wollten ja
tanzen, aber anders, neu tanzen, und so fanden sie den Weg zu den
Volkstänzen. (…)
Dabei blieb es: die modernen Tänze waren verpönt, die Volkstänze wurden
gepflegt. Es ist selten dazu gekommen, dass einer der älteren Falkenführer
lieber einem werbenden Partner folgte, das Leben in der Falkengruppe mit
dem im Tanzlokale vertauschte. Solcher Verrat wurde von den anderen mit
Abscheu und Verachtung quittiert. Diese Abtrünnigen wurden wie
Renegaten behandelt, eigentlich ausgestoßen aus der Gemeinschaft dieser
eifrigen und eifernden jungen Puritaner.“
Aus: Tesarek, Anton; „ Das Jahr der Roten Falken“ in „Sozialistische Erziehungsarbeit“; Wien
1952; S. 10
Frühlingswerkstatt 2013
42
Herunterladen