Frühlingswerkstatt 2013 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Linz, 30. März 2013 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Inhaltsverzeichnis Ganz Allgemein _______________________________________________________ 3 Historisches __________________________________________________________ 4 125 Jahre sozialdemokratische Parteiprogramme ____________________________ 5 Stimmen zu Grundwerten _______________________________________________ 8 Aus sozialdemokratischer Sicht ___________________________________________ 9 Diese Freiheit meinen wir! ____________________________________________ 9 Gerechte Gleichheit ist das Ziel ________________________________________ 11 Was heißt eigentlich Solidarität? ______________________________________ 12 Grundwerte österreichischer Parteien ____________________________________ 14 Krawall in der Stadt ___________________________________________________ 15 Streik der Straße _____________________________________________________ 20 Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht ___________________________ 22 Schule und Kulturkampf _______________________________________________ 28 Sozialreform und Sozialstaat ____________________________________________ 33 Weiße Sklavinnen ____________________________________________________ 37 „Grenzenloses Vergnügen“ oder „Kampf dem Schund“ ______________________ 40 Frühlingswerkstatt 2013 2 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Ganz Allgemein Definitionen aus Wikipedia Grundwert bzw. Grundwerte kann bedeuten: Die grundlegenden Wertvorstellungen einer religiösen oder politischen Gruppierung Die Grundrechte (siehe auch Menschenrechte) Das Naturrecht In Naturwissenschaft oder Technik der Ausgangswert (Startwert) einer Modellierung den Grundwert (Basiswert) bei der Prozentrechnung Siehe auch: Grundsatz Werte, Wertewandel Ethik http://de.wikipedia.org/wiki/Grundwert (04.01.2013) Werte oder Wertvorstellungen: Wertvorstellungen oder kurz Werte bezeichnen im allgemeinen Sprachgebrauch unter anderem als erstrebenswert, in sich wertvoll oder moralisch gut betrachtete Eigenschaften bzw. Qualitäten, die Objekten, Ideen, praktischen bzw. sittlichen Idealen, Sachverhalten, Handlungsmustern, Charaktereigenschaften und dergleichen beigelegt werden. http://de.wikipedia.org/wiki/Werte (04.01.2013) Frühlingswerkstatt 2013 3 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Historisches Unter Napoleon III. wurde Liberté, Égalité, Fraternité über 50 Jahre nach der Französischen Revolution zu deren Parole erklärt. Nachdem sie mehrmals in Frage gestellt worden war, setzte sie sich nach 1871 unter der Dritten Republik durch. Man verankerte sie in der Verfassung der Fünften Republik von 1958. Heute ist sie Teil des nationalen Erbes Frankreichs und praktisch an jedem Rathaus sowie anderen öffentlichen Gebäuden zu finden. (…) Während der Französischen Revolution war „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eine der zahlreichen Losungen, auf die man sich berief. In einer Rede über die Organisation der Nationalgarde sprach sich Maximilien de Robespierre im Dezember 1790 dafür aus, die Worte „Das französische Volk“ und „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf Flaggen und Uniformen zu schreiben; sein Vorhaben wurde jedoch nicht angenommen. (…) Aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Freiheit,_Gleichheit,_Br%C3%BCderlichkeit (30.04.2013) Frühlingswerkstatt 2013 4 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger 125 Jahre sozialdemokratische Parteiprogramme Prinzipienerklärung der SDAP, beschlossen am Einigungsparteitag in Hainfeld 1888/89 „Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten, ist daher das eigentliche Programm der Sozialdemokratischen Partei in Österreich, zu dessen Durchführung sie sich aller zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mittel bedienen wird.“ Programm der SDAP in Österreich, beschlossen am Parteitag in Wien 1901 „Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich wird in allen politischen und ökonomischen Fragen jederzeit das Klasseninteresse des Proletariats vertreten und Frühlingswerkstatt 2013 5 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger aller Verdunkelung und Verhüllung der Klassengegensätze sowie der Ausnützung der Arbeiter zugunsten von bürgerlichen Parteien energisch entgegenwirken. Die Sozialdemokratische Partei in Österreich ist eine internationale Partei: sie verurteilt die Vorrechte der Nationen ebenso wie die der Geburt und des Geschlechts, des Besitzes und der Abstammung und erklärt, dass der Kampf gegen die Ausbeutung international sein muss wie die Ausbeutung selbst. Sie verurteilt und bekämpft alle Einschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung sowie jede Bevormundung durch Staat und Kirche. Sie erstrebt gesetzlichen Schutz der Lebenshaltung der arbeitenden Klassen, und sie kämpft dafür, dem Proletariat auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens möglichst großen Einfluss zu verschaffen.“ Programm der SDAP Österreichs, beschlossen am Parteitag in Linz 1925 „Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs, gestützt auf die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus und auf die Erfahrungen jahrzehntelanger siegreicher Kämpfe, eng verbunden den sozialistischen Arbeiterparteien aller Nationen, führt den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und setzt ihm als Ziel die Überwindung der kapitalistischen, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung.“ Aktionsprogramm der Sozialistischen Partei Österreichs, beschlossen am Parteitag in Wien 1947 „Die Sozialistische Partei Österreichs ist die Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land. Sie will Hüter der Menschenrechte sein, Anwalt der Enterbten und Unterdrückten, Kämpfer für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Die Sozialistische Partei ist die Sammlung aller Kräfte des Aufbaus und des Freiheitskampfes. Die Welt ist auch nach dem Ende des Krieges nicht zur Ruhe gekommen. In Österreich leidet das arbeitende Volk unter dem Elend, das eine Folge der Kriegs- und Nachkriegsereignisse ist. Es wird bedrückt durch die Unsicherheit seiner Existenz. Die Sozialistische Partei Österreichs weist den Weg aus der Zerstörung.“ Programm der SPÖ, beschlossen am Parteitag in Wien 1958 „Die Grundsätze der Sozialisten Die Sozialisten wollen eine Gesellschaftsordnung, also eine Ordnung der Lebensverhältnisse und der Beziehung der Menschen zueinander, deren Ziel die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ist. Sie wollen die Klassen beseitigen und den Ertrag der gesellschaftlichen Arbeit gerecht verteilen. Daher kämpfen die Sozialisten für die Freiheit der Menschen, für ihre volle Gleichberechtigung und für soziale Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft. (…) Frühlingswerkstatt 2013 6 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Der auf Freiheit und Gerechtigkeit gegründeten Lebensordnung, die die Sozialisten erstreben, entspricht ihre sittliche Lebensauffassung.“ Programm der SPÖ, beschlossen am Parteitag in Wien 1978 Wir Sozialsten streben eine klassenlose Gesellschaft an, in der Herrschaftsverhältnisse und Privilegien überwunden sind, und die auf den Grundwerten Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität aufbaut.“ (…) Die soziale Demokratie wird eine Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit, der Gerechtigkeit und Solidarität sein, in der umfassende soziale Sicherheit durch das Recht auf Arbeit und durch Sorge um die Wohlfahrt der Menschen in allen Lebenslagen, das Recht auf humane Umwelt, auf umfassende Bildung und Ausbildung nach freier Wahl, auf Mitbestimmung und Mitverwaltung lebendige Wirklichkeit sind. Sie soziale Demokratie wird verwirklicht, indem immer neue Bereiche der Gesellschaft mit den Ideen der Demokratie durchdrungen werden.“ Programm der SPÖ, beschlossen am Parteitag in Wien 1998 „Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten streben eine Gesellschaft an, in der sich die menschliche Persönlichkeit frei entfalten kann. Unsere politische Arbeit zielt darauf ab, eine Gesellschaft ohne Privilegien und Herrschaftsverhältnisse zu schaffen, die demokratisch organisiert ist und auf den Werten der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität beruht. Entscheidungsgrundlagen für die Lebensgestaltung jeder und jedes Einzelnen müssen vor allem die Verantwortung gegenüber sich selbst, gegenüber den Mitmenschen und der Gesellschaft, gegenüber der Umwelt sowie gegenüber den künftigen Generationen sein. Dieses Ideal einer humanen Gesellschaft ist jenes Ziel, um dessen schrittweise Verwirklichung wir uns im demokratischen Wettbewerb mit anderen politischen Konzeptionen bemühen. Das Streben nach Verwirklichung des uralten Menschheitstraums von einer gerechten Gesellschaftsordnung, in der alle Menschen in Frieden und Freiheit leben ist weiter lebendig und bietet auch für das 21. Jahrhundert die Grundlage für solidarische Arbeit an der Realisierung des sozialdemokratischen Ideals. Die Sozialdemokratie stützt sich auf Frauen und Männer, die bereit sind, an der Verwirklichung sozialdemokratischer Ziele mitzuarbeiten, die sich zu solidarischem Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen bekennen und im Sinne dieses Bekenntnisses handeln. Dem Programm der Sozialdemokratie liegt ein Menschenbild zugrunde, wonach alle Menschen als vernunftbegabte und zu Verantwortung fähige Wesen mit gleichen Rechten und Pflichten geboren und mit gleicher Würde ausgestattet sind; es liegt ihnen eine Geschichtsauffassung zugrunde, wonach die Geschichte ein offener und nicht determinierter Prozess ist, der Chancen und Risken enthält und der von uns Menschen in Wechselwirkung mit unserer Umwelt gestaltet wird.“ Frühlingswerkstatt 2013 7 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Stimmen zu Grundwerten Gleichheit „…das am häufigsten zur Unterscheidung von rechts und links angewandte Kriterium das der unterschiedlichen Haltung ist, die die in einer Gesellschaft lebenden Menschen in Hinblick auf das Ideal der Gleichheit einnehmen….“ Aus: Bobbio, Norberto; „Rechts und Links“; Berlin 1994; S. 76 „Gleiche Volkserziehung“ "Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats: 1. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlichen Unterricht." Gleiche Volkserziehung? Was bildet man sich unter diesen Worten ein? Glaubt man, dass in der heutigen Gesellschaft (und man hat nur mit der zu tun) die Erziehung für alle Klassen gleich sein kann? Oder verlangt man, dass auch die höheren Klassen zwangsweise auf das Modikum Erziehung - der Volksschule - reduziert werden sollen, das allein mit den ökonomischen Verhältnissen nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch der Bauern verträglich ist? ‚Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht.‘ Die erste existiert in Deutschland, das zweite in der Schweiz [und] den Vereinigten Staaten für Volksschulen. Wenn in einigen Staaten der letzteren auch "höhere" Unterrichtsanstalten "unentgeltlich" sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel bestreiten.“ Aus: Marx, Karl; „Kritik des Gothaer Programms“; geschrieben 1875; MEW 19; S. 13 – 32 http://mlwerke.de/me/me19/me19_013.htm#Kap_I (20. 2. 2013) Frühlingswerkstatt 2013 8 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Aus sozialdemokratischer Sicht Der „Bildungskurier“ - die Zeitschrift der sozialdemokratischen Bildungsorganisation in Oberösterreich – beschäftigte sich in seinen vier Ausgaben des Jahres 2012 mit den vier Grundwerten der SPÖ. Dabei erschienen insgesamt drei einführende Artikel von Bernd Dobesberger. Bildungskurier 1/2012 Diese Freiheit meinen wir! Freiheit ist ein vielschichtiger Begriff, oftmals missbraucht und ebenso oft missverstanden. Aber es ist ein sehr aktueller politischer Wert. Freiheit wird nicht einmal errungen, sondern muss ständig gelebt und weiterentwickelt werden. Im Parteiprogramm der Sozialdemokratie ist „Freiheit“ einer der vier Grundwerte – neben Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Allerdings hat auch die Sozialdemokratie so ihre liebe Not klar sagen zu können, was denn aus ihrer Sicht mit Freiheit gemeint ist. Historisch geht das ziemlich einfach. Die heftigen Konflikte um Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, der Kampf gegen die Zensur im 19. Jahrhundert usw. – das waren wichtige Auseinandersetzungen um die Verwirklichung von Freiheitsrechten. Aber heute? Alle sind frei bei uns, warum also über Freiheit philosophieren? Einfache Antwort: Weil Freiheit ständig gelebt werden muss und dazu ist es notwendig zu wissen, was denn das überhaupt ist! Freiheit ist kein egomanischer Trip Bereits vor den politischen Kämpfen des liberalen Bürgertums und der Arbeiterbewegung um die bereits aufgezählten und um weitere Freiheitsrechte, gab es besonders im 18. Jahrhundert einschlägige philosophische Debatten. Das individuelle Denken und Handeln sollte vom Individuum bestimmt und nicht von Kirche und König festgelegt werden. Nicht zufällig heißt ein altes Lied aus dieser Zeit „Die Gedanken sind frei!“. Das impliziert natürlich, dass es beim Denken und Handeln immer mehrere unterschiedliche Möglichkeiten gibt und es in der Verantwortung des Einzelnen bzw. der Gesellschaft liegt, die jeweils passende Antwort zu geben. Heute werden immer wieder politische Handlungen als alternativlos hingestellt. Damit wird gesagt, dass es dabei keine Handlungsfreiheit gibt. Die Begründung von Margaret Thatcher „There is no alternative!“ für ihre neoliberale Politik ist legendär und signalisierte, dass es keine Freiheit für andere politische Optionen gäbe. Übrigens hat auch Werner Faymann das aktuelle Sparpaket als alternativlos bezeichnet. Derartige Begründungen meinen stets: Ende der politischen Debatte! Freiheit meint das eben nicht. Ist der/die Einzelne für sein und ihr Denken und Handeln selbst verantwortlich, dann stellt sich natürlich stets die Frage: Wie geht das mit dem Denken und Handeln der anderen Subjekte zusammen? Die Freiheit des einen Einzelmenschen betrifft immer auch die Freiheiten anderer Einzelmenschen. Daher wurde philosophisch schnell klargelegt, dass Denken und Handeln des einen einzelnen Menschen nicht das Denken und Leben der Anderen Frühlingswerkstatt 2013 9 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger beeinträchtigen darf. Damit ist Freiheit eben kein egomanischer Trip von Einzelnen mehr, sondern hat immer auch eine gesellschaftliche Dimension. Freiheit muss man sich auch leisten können Um frei handeln zu können, muss man (und natürlich auch frau) in zweifacher Hinsicht das Zeug dazu haben. Einerseits muss der/die Einzelne durch Erziehung, Bildung und Persönlichkeit dazu befähigt sein, unterschiedliche Alternativen zu sehen und auch entsprechend handeln zu können. Andererseits braucht es, um frei handeln zu können oftmals auch materielle Voraussetzungen. Ich bin freier, wenn ich mir mehr Möglichkeiten leisten kann und nicht nur eine! So ist aber auch deutlich, dass Freiheit nicht nur die individuelle und die soziale Dimensionen hat, sondern auch die Aspekte des Wissens und Könnens bzw. der materiellen Ermöglichung. Das einfache und selbstverständliche Recht der Freiheit wird damit zunehmend anspruchsvoller! In den eben beschriebenen Aspekten von Freiheit ist aber endgültig deutlich geworden, dass wirklich gelebte Freiheitsrechte auch heute noch oftmals nicht selbstverständlich sind. Wenn jemand eben nicht das Zeug hat, selbstbewusst und selbstbestimmt zu handeln und zu leben, dann ist er/sie nicht wirklich frei! Eine Alleinerzieherin in einem typischen Frauenjob ist wegen ihrer Einkommenssituation, der fehlenden Kinderbetreuungseinrichtungen, der nach wie vor existierenden Vorurteile etc. in ihren Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt – sie ist nicht wirklich frei, das gibt es auch noch im 21. Jahrhundert in Europa. Und Jugendliche (mit ihren Eltern), die mit 15 Jahren als Mädchen nach wie vor weit überdurchschnittlich oft die Berufe der Friseurin, der Sekretärin und der Verkäuferin erlernen bzw. als Burschen besonders häufig Automechaniker werden, haben offensichtlich nicht das Zeug dazu, bessere Alternativen für ihre berufliche Zukunft zu wählen. Also ist ihre Freiheit eingeschränkt. Freiheit darf nicht nur als abstrakt gegebene Denk- und Handlungsalternative gesehen werden, gerade die Sozialdemokratie hat sich immer auch damit beschäftigt, möglichst allen Menschen möglichst alle existierenden Optionen tatsächlich als Möglichkeiten zu eröffnen. Es ist eine gesellschaftliche und damit politische Verantwortung den Menschen das doppelt nötige Zeug zur Verfügung zu stellen. Neoliberale Verheißung produziert Ungleichheit Bewusst muss uns sein, dass es derzeit auch im Denken eine neoliberale Hegemonie gibt. Handlungs- und Lebensmaximen wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder in Werbedeutsch „Mach dein Ding“ dominieren das gesellschaftliche Bewusstsein. Und Freiheit ist bei den Neoliberalen immer ein ganz wichtiges Argument gewesen. Jeder muss eben die Freiheit haben seines Glückes Schmied zu sein. Real sehen wir aber, dass der neoliberale Furor der vergangenen Jahrzehnte zu mehr Ungleichheit geführt hat, materiell und auch in der Möglichkeit, das Leben tatsächlich frei in die eigenen Hände nehmen zu können. Es wird zwar gesagt, dass Arbeitslose vorher „freigesetzt“ wurden, aber ohne Job sind sie nicht frei, sondern ganz im Gegenteil. Geringverdiener haben zwar einen Arbeitsplatz, aber das geringe Einkommen schränkt sie extrem in ihrer Handlungsfreiheit ein. Die neoliberalen Verheißungen von der Freiheit haben nur für eine kleine Minderheit funktioniert. Die Erklärung, dass ja jeder seines Glückes Schmied und damit selbst Schuld am Scheitern sei, ist vor dem Hintergrund des oben Frühlingswerkstatt 2013 10 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Beschriebenen zynisch und falsch. Man und frau muss eben doppelt das Zeug zur Freiheit haben! Kleine Eliten bestimmen was wirklich passiert Victor Adler, der Einiger der Sozialdemokratie in der Habsburger-Monarchie, wurde am Ende des 19. Jahrhunderts mehrmals eingesperrt, weil er mit Aussagen und politischen Handlungen gegen die Gesetze des Kaisers, des Adels und der Kirche verstoßen hatte. Adler hatte Freiheitsrechte in Anspruch nehmen wollen und die Mächtigen haben ihn deswegen verfolgt. Eigene politische Ansichten zu äußern wurde mit Repression beantwortet. Heute ist es bei uns – im Regelfall – selbstverständlich möglich, sagen zu können, was man denkt: Und nichts passiert! Wegen freier Meinungsäußerung wird normalerweise niemand eingesperrt. Aber es passiert auch sonst nichts! Das gesellschaftliche und politische Klima ist derartig auf Beliebigkeit getrimmt, dass es egal ist, ob etwas gesagt wird und was gesagt wird, alles ist möglich und nichts zeigt Wirkung. Alle können sagen, was sie wollen, aber kleine Eliten bestimmen, was wirklich passiert und gesellschaftliche Relevanz erlangt. Freiheit wird nicht nur von Kerkermauern eingeschränkt, sondern auch von endlosen, beliebigen Freiräumen. Freiheit, wirkliche Freiheit hat auch die Dimension der Verbindlichkeit! Bildungskuriere 3/2012 Gerechte Gleichheit ist das Ziel Gerechtigkeit ist nur dann mehr als eine bloße Formel, wenn die Gleichheit von Chancen, Fähigkeiten usw. gegeben ist. In der politischen Praxis muss also stets untersucht werden, ob Gleichheit und Gerechtigkeit gewährleistet sind. Vor mehr als 200 Jahren entstand in der Französischen Revolution der politische Kampfruf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Damit war in einer von Adel, Kirche und feudalem Dünkel geprägten Gesellschaft auch die „Gleichheit“ als Forderung und Ziel formuliert worden. Im berühmten „Godesberger Programm“ von 1959 hat die deutsche SPD statt „Gleichheit“ den Grundwert „Gerechtigkeit“ verwendet. Die Befürchtung, dass der Ausdruck „Gleichheit“ vom politischen Gegner als „Gleichmacherei“ gedeutet würde, ließ die deutsche Sozialdemokratie auf die Nennung des Wertes „Gleichheit“ verzichten. Anders agiert die SPÖ. Seit dem Parteiprogramm 1978 finden sich sowohl Gleichheit, als auch Gerechtigkeit unter den Grundwerten der Sozialdemokratie (neben Freiheit und Solidarität). Diese Orientierung macht insgesamt durchaus Sinn, denn nur durch die ständige Kombination und Verknüpfung von Gleichheit und Gerechtigkeit kann das richtige politische Koordinatensystem entstehen. Natürlich ist es möglich mit dem Schlagwort „Gleichheit“ eine ganz plumpe und Menschenrechte einschränkende Gleichmacherei zu rechtfertigen. Das würde aber der persönlichen „Freiheit“, also einem weiteren sozialdemokratischen Grundwert, widersprechen. Bereits Karl Marx, quasi einer der Überväter programmatischer Diskussionen innerhalb der Arbeiterbewegung, hat 1875 in seiner Schrift „Kritik des Frühlingswerkstatt 2013 11 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Gothaer Programms“ folgende Formel gegen derartige Gleichmacherei verwendet: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“. Damit ist eindeutig klargestellt, dass die „Gleichheit“, die der sozialdemokratische Grundwert meint, eben nicht eine uniformierende Einheitsbehandlung bedeuten kann. Gerechtigkeit muss mit Gleichheit kombiniert sein Warum dann nicht einfach nur den Wert „Gerechtigkeit“ verwenden, so wie es eben die SPD tut? Als erstes Indiz dagegen, kann angeführt werden, dass Konservative und Neoliberale Ungleichheiten bei Besitz oder Lebenschancen konsequent durch unterschiedlich großen Einsatz oder Fleiß gerechtfertigt sehen. Jener, der mehr verdient, arbeitet mehr, geht mehr Risiken ein, trägt mehr Verantwortung – so die wiederkehrenden Argumente. Denkt man das konsequent weiter, dann kann zum Beispiel auch ein Zensuswahlrecht als „gerecht“ eingestuft werden. Bei einem derartigen System ist das Gewicht einer Wählerstimme von der Steuerleistung des Wählers bzw. der Wählerin abhängig. In Österreich – wahlberechtigt waren nur Männer – wurde dies bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts so praktiziert. Nach einer entsprechenden Logik ist dies eigentlich gerecht, die die mehr beitragen, können auch mehr bestimmen! Demokratisches Wahlrecht ist aber eben keine Frage der Gerechtigkeit, sondern muss die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger und Bürgerinnen gewährleisten. Der Grundwert „Gerechtigkeit“ kann also nur dann verwendet werden, wenn er mit dem Grundwert „Gleichheit“ kombiniert wird. Bildungskurier 4/2012 Was heißt eigentlich Solidarität? Neben Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ist Solidarität der vierte sozialdemokratische Grundwert. Und der, der die anderen erst unverwechselbar macht! Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit kann man auch liberal lesen: Die Freiheiten des Handels und der Konsumenten oder auch die persönliche Freiheit sind zum Beispiel durchaus auch Anliegen von Neoliberalen. Die Gleichheit lässt sich bloß formal beschreiben, also Gleichheit vor dem Gesetz oder das gleiche Stimmrecht bei Wahlen. Mit Gerechtigkeit ist es aus der liberalen Perspektive ganz einfach, jede Ungleichheit, ja sogar viele augenfällige Ungerechtigkeiten lassen sich mit dem Argument der Gerechtigkeit vom Tisch wischen. Zum Beispiel unvorstellbar ungleiche Einkommen – Gerecht wegen entsprechend unterschiedlicher Leistung, Verantwortung oder Risikobereitschaft. Die Sozialdemokratie meint mit diesen drei Grundwerten immer (auch) etwas anderes, bestimmt wird dies durch den vierten Wert: Die Solidarität. Solidarität steht dafür, dass einzelne Menschen nicht einfach nur isolierte Einzelpersonen sind, die nur nach dem jeweils individuellen Nutzen und Vorteil handeln. Der einzelne Mensch ist ein gesellschaftlicher Mensch, der andere Menschen braucht um sich individuell bestmöglich entwickeln zu können. Damit ist bereits die erste Frühlingswerkstatt 2013 12 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Dimension des Grundwerts „Solidarität“ angeführt. Gefordert ist eine Organisation der Gesellschaft, die auf dem solidarischen Prinzip basiert, das reicht von guter sozialer Absicherung bis zu umfassender demokratischer Partizipation. Um die Unterschiede deutlich zu machen, nochmals die klare Grenzziehung zu Neoliberalen: Margareth Thatcher sprach davon, dass es keine Gesellschaft gebe, sondern nur einzelne Individuen und deren Familien. Denken in dieser Eindeutigkeit ist selten und auch leicht widerlegbar. Die Vorstellung aber, dass eine Gesellschaft aus Einzelmenschen besteht, die nebeneinander leben, miteinander konkurrieren und regelmäßig auch mittels Zweckbündnissen kooperieren, wenn es den Beteiligten Vorteile bringt, ist weit verbreitet. Neoliberale Propaganda hat das in den vergangenen Jahrzehnten tief im Denken der Gesellschaft verankert. Eine wirklich solidarische Gesellschaft wird aber von einem anderen Verständnis bestimmt. Nämlich dass die bestmögliche Entfaltung der einzelnen Menschen die bestmögliche Entwicklungen der anderen Individuen braucht. Entfaltung geht dabei nicht auf Kosten von anderen, sondern nur mittels der Entfaltung aller. Solidarität ist aber nicht nur dieses beschriebene Organisationsprinzip von Gesellschaften, es ist auch eine politische Verhaltensweise – damit ist die zweite Dimension des Grundwerts angesprochen. In Epochen, in denen die vier Grundwerte nicht alltägliche, selbstverständliche und gelebte Organisationsmodelle einer Gesellschaft sind, muss Solidarität das zentrale politische Handlungsprinzip der Sozialdemokratie sein. Nur solidarisch kann es gelingen, die Grundwerte der Sozialdemokratie zu verwirklichen. Und wieder muss dafür dieser Grundwert für die politische Bewegung definiert werden. Solidarität steht dabei in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Demokratie und Beteiligung. Frühlingswerkstatt 2013 13 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Grundwerte österreichischer Parteien SPÖ Grundwerte: Freiheit Gleichheit Gerechtigkeit Solidarität Parteiprogramm der SPÖ, beschlossen am Parteitag im Oktober 1998 ÖVP Unsere Grundsätze: Unser Menschenbild Freiheit Verantwortung Nachhaltigkeit Gerechtigkeit Leistung Sicherheit Partnerschaft Subsidiarität Mitwirkung Toleranz Österreich zuerst Freiheit und Verantwortung Heimat, Identität und Umwelt Recht und Gerechtigkeit Familie und Generationen Wohlstand und soziales Gleichgewicht Gesundheit Sicherheit Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur Weltoffenheit und Eigenständigkeit Europa der Vielfalt Grundwerte: ökologisch solidarisch selbstbestimmt basisdemokratisch gewaltfrei feministisch Die Würde des Menschen ist unantastbar Freiheit braucht Eigenverantwortung und Ordnung Gerechtigkeit statt Gleichmacherei Zukunft braucht Heimat Keine Freiheit ohne Eigentum Wohlstand und Fortschritt beruhen auf Leistung Sicherheit ist ein Bürgerrecht Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft Nur Bildung eröffnet Zukunftschancen Nachhaltigkeit heute für die Generationen von morgen Grundsatzprogramm, beschlossen am 30. ordentlichen Parteitag am 22. April 1995 in Wien Unsere zentralen Werte Wahrheit Transparenz Fairness Grundsatzprogramm, Unterlage in Arbeit – Stand 2. November 2012 FPÖ Grüne BZÖ Team Stronach Frühlingswerkstatt 2013 Parteiprogramm, beschlossen vom Bundesparteitag am 18. Juni 2011 in Graz Grundsatzprogramm, beschlossen beim 20. Bundeskongress am 7. und 8. Juli 2001 in Linz Programm des Bündnis Zukunft Österreich, beschlossen auf dem außerordentlichen Bundeskonvent am 2. Mai 2010 in Wien 14 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Krawall in der Stadt Bierkrawall in Linz „Am 7. November 1871 versammelten sich um vier Uhr nachmittags etwa 400 Arbeiter vor dem Rathaus in Steyr, um gegen den von den Brauereien eingebrachten Antrag auf eine Bierpreiserhöhung zu protestieren. Um die Menge zu beruhigen, ließ der Bürgermeister die drei Brauereibesitzer Haratzmüller, Seidl und Jäger ins Rathaus kommen, und nach kurzer Beratung mit ihnen verkündete man vom Balkon des Rathauses, dass es zu keiner Preiserhöhung kommen werde. Die Arbeiter gaben sich aber noch nicht zufrieden und forderten auch die Garantie, dass es nicht durch ein schwächeres Bier zu einer indirekten Erhöhung kommen könne. Erst als die Brauereibesitzer auch dieses Zugeständnis machten, zerstreute sich die Menge. Wesentlich gewalttätiger reagierte man knapp drei Jahre später in Linz auf eine Bierpreiserhöhung. Diese trat am 1. Mai 1874 in Kraft, und gegen 19 Uhr sammelte sich eine erregte Menschenmenge an der unteren Donaulände. Diese Demonstration, überwiegend Arbeiter, Gesellen und auch Arbeitslose, zogen zum Brauhaus und zur Gastwirtschaft Franz Affenzellers und warfen Steine durch die Fenster, worauf die Gäste das Lokal fluchtartig verließen. Die Demonstranten drangen sogar in die Gasträume ein, zertrümmerten Tische, Stühle, Spiegel, Uhren, Öfen und vor allem Gläser. Mit einem Bierwagen wurde das Hoftor aufgebrochen, Bierwagen und Fässer landeten in der Donau. Als Militär mit aufgepflanzten Bajonetten aufzog, verbreitete sich unter den tausend Demonstranten der Ruf: ‚In den Hatschekkeller!‘, und schon machte man sich quer durch die Stadt auf den Weg zu dieser Gaststätte, die auch unter dem Namen ‚Märzenkeller‘ bekannt ist. Dort drängte allerdings Gendarmerie die Menge bis zum Eintreffen des Militärs zurück. Einige Unentwegte wollten als nächstes Poschachers Bräuhaus in Lustenau stürmen, aber der weite Weg dorthin und die späte Stunde ließ die meisten Demonstranten resignieren. Die ganze Nacht waren die Straßen jedoch voller Soldaten und Gendarmeriebeamten. Ihr Ziel, die Erhöhung des Bierpreises rückgängig zu machen, erreichten die Demonstranten nicht.“ Aus: Konrad, Helmut; „Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich“; Wien 1981; Seite 110f. Preiserhöhung durch nichts gerechtfertigt „Bierkrawall. Gestern Abends hatte Linz auch einen Bierkrawall. Nach einer gemeinschaftlichen Verabredung der Brauereibesitzer trat mit 1. d. M. eine Erhöhung der Bierpreise ein, so daß Krügel Bier mit 10 kr. geschänkt wurde. Ohne daß man früher von einer beabsichtigten Demonstration etwas gewußt hätte, erschienen gestern um beiläufig 8 Uhr Abends vor dem Hatschek’schen Brauhause ein Volkshaufe, der sogleich einen Tumult begann und in kurzer Zeit in völliger Raserei ausartete (…) Obwohl wir zugestehe, dass die Erhöhung der Bierpreise gegenwärtig durch nichts gerechtfertigt ist, so muß doch Jedermann ein solch vandalisches Vorgehen entschieden verdammen, da eine solche Zerstörungswuth eines zivilisierten Volkes geradezu unwürdig ist, und wenn Frühlingswerkstatt 2013 15 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger stets solche Krawalle entstehen müßten, so oft die Arbeiter ihre Löhne nach Belieben in die Höhe schrauben, wenn die Handwerker und Geschäftsleute den Preis ihrer Arbeit und Erzeugnisse höher stellen, das ganze staatlichsoziale Leben aufhören und indianische Urzustände herbeigeführt werden müßten. Schließlich bemerken wir noch, daß laut Bekanntmachung der Brauereibesitzer Herren Gebrüder Hatschek und Poschacher, denen sich auch vorläufig, bis auf weitere Entscheidung der Brauerei, Herr Abtstadler angeschlossen hat, die Preiserhöhung rückgängig gemacht wird, und das Bier bei dem alten Preise bleibt.“ Aus: „Nachrichten aus Linz und Oberösterreich. Linz am 2. Mai 1874 Teuerungskrawall in Wien „Es war der 11. September 1911, als seit den frühen Morgenstunden an die 100.000 Menschen von den verschiedensten Bezirken auf den Rathausplatz und vor das Parlament in Wien gezogen waren. Rote Fahnen und Transparente mit Aufschriften wie „Nieder mit den Fleischwucherern“ oder „Die Grenzen auf“ säumten die Wege. Die sozialdemokratische Partei hatte an diesem Tag zu einer Massendemonstration gegen die herrschende Teuerung aufgerufen. Im Gegensatz zu ihrer sonstigen Praxis aber hatte die Arbeiterpartei keinen Ordnerdienst aufgeboten sowie keinerlei Auf- und Abmarschrouten vorgegeben. Als gegen 11 Uhr die Kundgebung endete und der Abmarsch der Demonstranten begann, befanden sich noch einige tausend Menschen auf dem Rathausplatz, „eine ungeheure ziel- und planlos zwischen den vielen Polizei- und Militärkordons hin und her wirbelnde Masse“, zum überwiegenden Teil zusammengesetzt aus „jenen verantwortungslosen jungen Leute(n), die keiner Parole gehorchen“ weiß die ArbeiterZeitung sieben Tage später zu berichten. Laut Polizeibericht sind diese jugendlichen Demonstranten vorwiegend Halbwüchsige aus dem Arbeiterbezirk Ottakring. Die aufgestaute Wut entlädt sich plötzlich Ein plötzlicher lauter Knall – ein Jugendlicher hatte einen Revolverschuss in die Luft abgefeuert – lässt die Masse zu toben beginnen; die Wut war entfacht, der erste Stein flog gegen das Rathaus, der Auftakt zu einem wahren Steinbombardement. Bis in den ersten Stock blieb kein Fenster ganz; ebenso wurde der Justizpalast beschossen. Erst nach höchst mühevollen Auseinandersetzungen, so der Polizeibericht, gelang es den Sicherheitskräften, die Demonstranten auseinander zu treiben und sie gegen die Bezirke Neubau und Josefstadt abzudrängen. Nun zog die Menge durch die Lerchenfelder Straße und Burggasse stadtauswärts. Mehrere Gruppen schlugen in Häusern und Geschäften Fenster ein, zertrümmerten Gaslaternen, verwüsteten das Café Brillantengrund, griffen das Amtshaus des 8. Bezirks in der Schmidgasse an, und eröffneten gegen die vorrückenden Wachmannschaften wahre Steinhagel. Auf der ganzen Lerchenfelderstraße bis hinauf zum Gürtel blieb keine Straßenlaterne, keine größere Auslagenscheibe von der scheinbar sinnlosen Wut der durch die permanenten Polizeiattacken höchst erregten Menge verschont. Es kam zu ersten Plünderungen und spätestens zu diesem Zeitpunkt Frühlingswerkstatt 2013 16 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger beteiligte sich auch das sog. „Lumpenproletariat“, die „Ottakringer Elendsjugend“, jene – wie es die Arbeiter-Zeitung formuliert – „ganz junge(n) und unverantwortliche(n) Leute, die niemand kannte und niemand gerufen hatte“; mit den Worten der Neuen Freien Presse: der „bekannte Troß einer Großstadt“. So waren vom Gürtel her (also aus entgegengesetzter Richtung) in der Wimbergergasse plötzlich rund zehn 14- bis 15jährige Burschen aufgetaucht, die bis in die Höhe des zweiten Stockwerks Fenster einwarfen. Sobald der eigentliche Zug der Demonstranten näher kam, waren sie so schnell, wie sie aufgetaucht waren, wieder verschwunden. Die "Kinder der steinbesäten Schmelz" machen Revolte in Ottakring Der eigentliche Schauplatz dieser Revolte der Straße aber sollte dann das damals als „Neu-Ottakring“ bezeichnete Viertel sein, wobei die aufständische Menge ihren Zuzug von der angrenzende Schmelz, eine riesige „G’stetten“, erhielt. Auf dem Gürtel und in der Panikengasse brannten umgeworfene Straßenbahnwaggons, an der Kreuzung Thaliastraße und Lerchenfelder Gürtel war eine erste Barrikade errichtet worden und die ganze Thaliastraße entlang wurden Stacheldrahtzäune gespannt. Polizei und Militärassistenz scheiterten letztendlich an ihrer Ortsunkenntnis und die Straßenräumungen zeitigten nur vorübergehenden Erfolg. Es waren die „Kinder der steinbesäten Schmelz“, überwiegend 12- bis 14-Jährige, die sich in einen „Rausch der Zerstörung“ steigerten. Zur Seite traten der Straßenjugend die Frauen und Mütter, zu denen, wie die Arbeiter-Zeitung beklagte, „die Aufklärung so schwer kommen kann“, die sich vom Schauspiel mitreißen ließen und in ihren Schürzen den Jungen die Steine zutrugen. In der Tagespresse ist von „Knabenrevolution“, einer „Bubenschlacht“ oder einer „Revolte der Ottakringer Jugend“ zu lesen. Sturm auf Schulen, alles „Papierene“ brennt, zwei Menschen sterben Der Sturm richtete sich gegen die Realschule am Habsburgplatz, gegen die Impfstoffgewinnungsanstalt in der Possingergasse, gegen die Volksschulen am Hofferplatz und in der Koppstraße. Kataloge, Bücher, Hefte, alles „Papierene“ wurde zerstört, auf die Straße geworfen und angezündet, die anrückende Feuerwehr am Eingreifen gehindert. Die Realschule Thalhaimergasse ebenso wie die Impfstoffgewinnungsanstalt waren in Brand gesteckt worden. Der 20-jährige Franz Joachimsthaler stirbt an einem Bauchschuss, der 19-jährige Otto Brötzenberger, der sich in das Ottakringer Arbeiterheim zu retten versuchte, erliegt einem Bruststich. Erst gegen zehn Uhr abends, als Ottakring in völliger Dunkelheit lag, brachten Polizei und Militär die Lage unter Kontrolle. Verelendung der Zuwanderung ähnlich den Pariser Vorstädten Die „Hungerrevolte“ geht über ein „bloßes“ Aufbegehren gegen Nahrungsmittelknappheit, Mietzinserhöhung und soziales Elend allerdings weit hinaus. Die Angriffe auf Schriftgut und die Zerstörungsgewalt gegen nicht weniger als zehn Volks- und Bürgerschulen verweisen vor allem auf kulturelle Differenzen: Die vernachlässigten vorstädtischen Massen setzten sich nicht nur aus den „immer schon hier gewesenen“ urbanen Unterschichten zusammen, sondern aus erst jüngst zugewanderten Migrantinnen und Migranten, deren Sehnsüchte nach einem besseren Leben in der Stadt an den Realitäten von Arbeit und Konsum zu zerbrechen drohten. Frühlingswerkstatt 2013 17 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Sie hatten ihre meist ländlich-vormodern geprägten Herkunftskulturen hinter sich gelassen, um in der Metropole neue Lebensperspektiven zu finden und zu entfalten. Aber an den äußersten Rand gedrängt, sollten sie sich zunächst keine neue Heimat schaffen, sondern sich vielmehr in Verelendung und Entfremdung wieder finden. In der Zerstörung von Schrift- und Kulturgut artikuliert sich auch ein – wenn auch aussichtsloser – Angriff auf die symbolische Ordnung der Moderne, auf die modernen Stadt mit ihrem bürgerlichen Rationalismus, deren Teil sie nicht werden konnten. Aus: Maderthaner, Wolfgang und Musner, Lutz; „Anarchie in der Vorstadt“; Frankfurt/New York, 20002; Seite 24 ff Wut! „Zum ersten Male seit dem Oktobertag 1848, an dem die Truppen Windischgrätz‘ die Hauptstadt dem Kaiser wiedererobert haben, ist in Wien auf das Volk geschossen worden. Was selbst in den gewaltigen Stürmen des Wahlkampfes nicht geschehen ist, hat sich am 17. September in Wien ereignet. In ganzen Stadtvierteln blieb kein Haus, kein Fenster, keine Laterne unversehrt. In dem Proletarierviertel Ottakring wurden Schulgebäude und Straßenbahnwagen in Brand gesetzt. Barrikaden wurden gebaut, die Truppen schossen auf das Volk, und im Rücken der wild erregten Menge plünderte das Lumpenproletariat Geschäftsläden. Die blutigen Ereignisse sind die Wirkung der furchtbaren Teuerung, die die Wiener Arbeiter zur Verzweiflung getrieben hat. Das schnelle Steigen der Warenpreise gibt der Phase der kapitalistischen Entwicklung, die wir gerade durchleben, in aller Welt ihr Gepräge. Aber in Österreich ist die Weltkalamität der Teuerung durch eine Reihe besonderer Umstände verschärft. (…) Indessen hatte die Lebensmittelteuerung die Volksmassen erbittert. (…) In Meidling kam es zu spontanen Demonstrationen gegen Hausbesitzer, die die Wohnungspreise erhöht hatten. Die Nachrichten über die Teuerungsunruhen in Frankreich und in Belgien, vor allem aber die Streikbewegung in England fanden lauten Widerhall. (…) In den Organisationen drängten die Genossen nach der Veranstaltung einer großen Straßendemonstration. In einigen Bezirken wurde unter den organisierten Arbeitern eine Strömung bemerkbar, die erklärte, da die friedlichen Demonstrationen nichts genutzt hätten, müsse man einmal energischer, radikaler vorgehen. Man müsse englisch oder französisch reden. Die Parteivertretung sah die drohende Gefahr. Sie zögerte, die Massen auf die Straße zu rufen. Aber die Massen setzten in den Organisationen selbst ihren Willen durch. Für den 17. September wurde eine Massenversammlung auf der Ringstraße angekündigt. Tage vorher fürchteten alle Besonnen, dass die Demonstration nicht so ruhig verlaufen werde wie sonst. Aber die Ereignisse übertrafen alle Erwartungen. Ein Zufall löste die Wut der sonst so disziplinierten Masse aus, und nun war sie nicht mehr zu halten.“ Aus: Bauer, Otto; „Die Teuerungs-revolte in Wien“; in Die Neue Zeit, September 1911 (abgedruckt: Otto Bauer Werkausgabe; Bd. 7; Wien 1979, Seite 978ff) Frühlingswerkstatt 2013 18 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Nutznießer der kapitalistischen Gesellschaftsordnung „In ihren Versammlungen wie in ihrer Presse haben die sozialdemokratischen Führer kein Mittel unversucht gelassen, um ihre Anhänger bis zur Raserei aufzuhetzen durch die stets wiederholte Behauptung, dass die besitzenden Klassen, die ‚Nutznießer der kapitalistischen Gesellschaftsordnung‘ die einzige Schuld an der Teuerung tragen und dass die bürgerlichen Abgeordneten aus Rücksicht auf die Kapitalisten nicht bereit sind, die Forderungen des Volkes zu bewilligen. Und dann kam, was kommen musste. Am letzten Sonntag, der eine Massenversammlung der Wiener Sozialdemokraten unter freiem Himmel brachte, hat der Ordnerdienst der Umsturzpartei – willkürlich oder unwillkürlich? – versagt, die entfesselten Horden stürzten sich auf das Eigentum ruhiger Bürger und ließen auf dem Wege vom Rathaus bis nach Ottakring eine einzige große Spur der Verwüstung zurück. Allzu spät griffen die Organe der Staatsgewalt ein. Die entfesselte Wut der fanatisierten Genossen, zu denen sich, wie stets in solchen Fällen, die Hefe der Großstadtbevölkerung gesellt hatte, machte den Widerstand der Sicherheitswache vollständig zunichte und setzte selbst dem Militär einen so erbitterten Widerstand entgegen, dass von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden musste. Ein Toter und zahlreiche Verletzte blieben auf dem Platze als Opfer der sozialdemokratischen Agitation. Und nun kommen die sozialdemokratischen Führer und wollen alle Schuld von sich abwälzen und sie der Regierung, dem System, der Gesellschaftsordnung aufhalsen. ‚Menschenleben für Fensterscheiben!‘ entrüstet sich scheinheilig die ‚Arbeiter-Zeitung‘. Ja konnte sie denn ernstlich glauben, dass man ihrem revoltierenden Pöbel das Eigentum der Bürger schutzlos preisgeben werde? Und ‚Wer mitfühlen kann, was das Wohnungselend für die Arbeiter bedeutet, der wird sich nicht über die paar tausend Menschen entrüsten, die gestern ihre Wut nicht mehr bezähmen konnten, sondern die Hunderttausend bewundern, die trotz alledem in musterhafter Disziplinruhig nach Hause gezogen sind, nachdem sie ihren Willen in würdiger Ordnung bekundet hatten.‘ Mag sein! Aber wodurch wurde denn diese unbezähmbare Wut erregt? Nicht durch die Tatsache des Wohnungselends – sonst wäre sie wohl längst herangebrochen – sondern durch die skrupellosen Agitationen und Verhetzungen der Sozialdemokraten, die, weit entfernt davon, eine ernstliche Abhilfe zu wünschen oder gar zu schaffen, vergnügten Sinnes ihren parteipolitischen Vorteil aus der Not des Volkes zu schlagen suchen. (…) ‚Menschenleben für Fensterscheiben!‘ heißt es nun, und unter diesem Gesichtswinkel wird abermals gegen den verbrecherischen Klassenstaat gehetzt, wird abermals für den Zukunftsstaat agitiert, in dem wahrscheinlich jeder Genosse beliebig viele Fensterscheiben einschlagen, beliebig viel 'gemeinsames Eigentum' vernichten, beliebig viele Gebrauchsartikel wird stehlen dürfen." Aus: Die Arbeit - Politische Zeitschrift. Zentralorgan der österreichischen Arbeitgeber; Wien, 24. September 1911 Frühlingswerkstatt 2013 19 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Streik der Straße „Zu Oster 1888 trat ein Großteil der Bediensteten der Wiener Tramway-Gesellschaft in den Ausstand. Am 4. November 1865 hatte der erste Pferdetramway-Wagen die Strecke Dornbach-Schottenring durchfahren; drei Jahre später waren für die für den Personenverkehr wichtigsten Hauptstraßen Wiens beschient, die rentable Verkehrsanstalt wurde von einer privaten Aktiengesellschaft erworben. Mitte der achtziger Jahre umfasste das gesamte städtische Schienennetz rund 60 Kilometer (…) Die hochprofitable Tramway-Gesellschaft hatte die Dienst-, Lohn- und Arbeitsverhältnisse ihres zumeist aus Tschechen, Slowaken oder Polen bestehenden Personals in einem komplexen System von Überwachung, Disziplinierung und Bestrafung festgelegt, niedergeschrieben in einem 45 Druckseiten umfassenden Dienstregulativ. (…) Die effektive Arbeitszeit für Kutscher und Kondukteure betrug 16 bis 18, in Ausnahmefällen bis zu 21 Stunden. Die Pferdewärter und Fouragearbeiter hatten an Wochentagen mindestens 16, an Sonn- und Feiertagen mindestens 17 Stunden zu arbeiten. Die rund 300 Stallarbeiter rekrutierten sich fast zur Gänze aus ehemaligen Angehörigen der k.k. Kavallerie und hatten in neun geräumigen und peinlichst sauber gehaltenen Stallungen etwa 2500 Pferde zu betreuen. Somit kamen auf einen Mann zehn zweispännige (kleinere) oder neun einspännige (größere) Pferde, während bei der Kavallerie einem Soldaten nur in Ausnahmefällen zwei, in äußerst seltenen Notfällen auch drei Pferde zugewiesen waren. Umgangston und –formen der ‚Stallschaffer‘ waren dementsprechend sprichwörtlich derb und rauh, ihre Anfälligkeit für übermäßigen Branntwein- und Tabakgenuss notorisch und ihre äußere Erscheinung geprägt von Unterernährung, Auszehrung und Überarbeitung. (…) Die Tramway-Gesellschaft, resümierte Victor Adler, habe eben zwei Gattungen von Bediensteten. Die einen hätten eine Arbeitszeit von 16 bis 21 Stunden und ganz ungenügende Ernährung, die anderen arbeiteten vier Stunden und seien reichlich genährt. Das eine seien Menschen, das andere die Pferde. (…) Als im April 1888 die Direktion der Gesellschaft eine weitere Zerstückelung und Zergliederung der Fahrstrecken und damit der Arbeitszeit vornahm, war allerdings das Ausmaß von Zumutungen für die immer wieder als ‚arme Teufel von Tramwaysklaven‘ apostrophierten Bediensteten – befehligt von ‚Obersklavenaufsehern‘ und ‚Tramwaypaschas‘ und ‚Sklaven nicht nur ihrer Lage, sondern auch ihrer Gesinnung nach‘ – nachhaltig überschritten. Die minutengenaue Dauer von Teilstrecken war so festgelegt worden, dass deren Über- oder Unterschreitung eine Vielzahl von Straftouren, die am arbeitsfreien siebten Tag zu absolvieren waren, nach sich zog; der Organisator des Streiks, Victor Adler, rechnete demnach detailliert vor, dass auf diese Weise auf nur einer Strecke in nur einer einzigen Woche 22 Kutschern 43 zusätzliche Straftouren aufgebürdet worden waren. Die Kutscher, Kondukteure und Stallschaffer traten in ihrer überwältigenden Mehrheit in den Ausstand.“ Aus: Maderthaner, Wolfgang und Musner, Lutz; „Anarchie in der Vorstadt“; Frankfurt/New York, 20002;Seite 167 ff. Frühlingswerkstatt 2013 20 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Victor Adler in der „Gleichheit“ „Die unmenschliche Arbeitszeit, die elenden Löhne von 5 fl. 50 kr. bis 9 fl. 50 kr. Wöchentlich, die durch Abzüge aller Art noch vermindert werden, diese ärgsten Dinge können durch einmüthiges Zusammenstehen beseitigt werden. Freilich wird die Gesellschaft, d.h. Reitzes, Polizei und Zeitungen, zusammenstehen, angeblich ‚im Interesse des Publikums‘, welches fahren muß und sei es über die gemarterten Leiber gequälter und hungernder Menschen hinweg. Aber die Energie der Arbeiter muß eben unbeugsam sein und sie können der werkthätigen Theilnahme und Unterstützung der Arbeiter aller anderen Zweige sicher sein. Sie werden erfahren, daß Solidarität kein leeres Wort ist. (…) Das wichtigste ist, daß auch die anderen Bediensteten der Tramway sich der Bewegung anschließen. Die ‚Stallschaffer‘ haben 15 Stunden, zweioder dreimal die Woche, wenn sie Inspektion haben, aber 21 Stunden Dienst, von 4 Uhr früh bis 1 Uhr nachts. Die Pferdewärter müssen 1 fl. 20 Kreuzer, abzüglich der Strafen, 15 Stunden arbeiten; den Professionisten geht es nicht besser. Alle diese Mitsklaven müssen mit den muthigen Kutschern, die vorangingen, gemeinsame Sache machen; dann ist der Sieg bald errungen. Aus: Adler, Victor; „Zum Streik der Tramwaykutscher.“ In „Gleichheit. Sozialdemokratisches Wochenblatt“; Wien, 12. April 1989; zit. nach: Adler, Victor; Engels, Friedrich; „Briefwechsel“; Berlin 2011; S. 125f. Frühlingswerkstatt 2013 21 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht „Der Weg aus der absoluten Monarchie Kaiser Franz Josephs I zum heutigen allgemeinen Wahlrecht hatte einige Etappen: Begonnen hat alles mit der Revolution von 1848 Revolution 1848: Der erste Versuch Erstes Wetterleuchten Die Entwicklung begann im Revolutionsjahr 1848. Die Protestbewegung erzwang ein für damalige Verhältnisse sehr weitreichendes Wahlrecht. Auf dieser Grundlage konstituierte sich der erste frei gewählte Reichstag. Die von ihm ausgearbeitete Verfassung konnte jedoch nicht mehr beschlossen werden: Die Revolution wurde militärisch niedergeschlagen. Kurienwahlrecht 1861: Der erste Schritt Der Kaiser regiert wieder absolut Es folgte die Zeit des Neoabsolutismus: Kaiser Franz Joseph I. regierte wieder ohne Verfassung und ohne Parlament. Nach verlorenen Kriegen geriet er jedoch unter Druck: Der Kaiser brauchte Geld, wofür das Bürgertum Zugeständnisse wollte. Geburtsurkunde des ersten österreichischen Parlaments 1861 erließ Franz Joseph das Februarpatent. Es war quasi die Geburtsurkunde des ersten österreichischen Parlaments. Der Reichsrat bestand aus zwei Kammern, Herrenhaus und Abgeordnetenhaus. Letzteres wurde von den Landtagen beschickt, die sich wiederum auf Grund des umständlichen Kurienwahlrechts zusammensetzten. Kurienwahlrecht: Indirektes Wahlrecht für ganz, ganz wenige Die Abgeordneten wurden nicht direkt gewählt, sondern über vier Kurien entsandt: die Kurie des Großgrundbesitzes, die Kurie der Städte, Märkte und Industrieorte, die Kurie der Handels- und Gewerbekammern sowie die Kurie der Landgemeinden schickten über die Landtage Vertreter in das Abgeordnetenhaus. Wahlberechtigt zu den Kurien waren Männer ab dem 24. Lebensjahr. Der Kaiser gibt Macht ab: Erste Verfassung Dieses Wahlsystem wurde von der Dezemberverfassung 1867 übernommen: Das war die erste Verfassung, die nicht vom Kaiser, sondern vom Reichsrat erlassen wurde. So wurde Österreich zu einer konstitutionellen Monarchie. Zensuswahlrecht 1873: Wer Geld hat, schafft an Direktes Wahlrecht für ganz, ganz wenige Die erste Bresche in das Kurienwahlrecht wurde im Jahr 1873 geschlagen, als die Obrigkeit der immer stärker gewordenen Forderung nach direkten Wahlen nachgab. Die Abgeordneten wurden nun aufgrund des Zensuswahlrechts direkt in drei Kurien gewählt. Frühlingswerkstatt 2013 22 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger System des Zensuswahlrechts Ein Zensuswahlrecht ist ein Wahlsystem, das die Gewichtung der Stimmen eines Wählers von dessen Steueraufkommen oder Besitz abhängig macht. Hier war das Wahlrecht an eine bestimmte Mindeststeuerleistung gebunden. Nur in der Kurie der Landgemeinden wurden weiterhin indirekte Wahlen durch Wahlmänner abgehalten. Nur sechs Prozent der Männer ab 24 Jahren Trotz dieses Fortschritts waren nur sechs Prozent der Männer ab dem 24. Lebensjahr wahlberechtigt. 1882: Wählen wird billiger Unmut zeigt Wirkung Die große Unzufriedenheit über den Ausschluss so vieler bewirkte den nächsten Schritt: 1882 wurde der Zensus zum Teil von zehn auf fünf Gulden gesenkt Badenische Wahlrechtsreform 1896: Mehr Wähler, keine Gleichheit Auch Ärmere dürfen wählen 1896 schuf man eine fünfte Wählerklasse: alle Männer, die in keiner anderen Kurie wahlberechtigt waren. Diese Gruppe musste keinerlei Mindeststeuerleistung bringen, aber seit mindestens sechs Monaten in einer österreichischen Gemeinde leben. Aber die Stimmen sind nicht gleich viel wert Stimmen waren damals nicht gleich viel wert. Ein Beispiel: Großgrundbesitzer bekamen für ca. 5000 Stimmen 85 Abgeordnete im Reichsrat. In der allgemeinen Wählerklasse konnten 5,3 Millionen Menschen nur 72 Abgeordnete in den Reichsrat entsenden. Geburtsstunde der modernen Parteien Übrigens: Die Reform des Ministerpräsidenten Kasimir Felix Badeni führte zu einer grundlegenden Umgestaltung der österreichischen Parteienlandschaft. Erstmals war es notwendig, Wähler zu mobilisieren. Drei Massenparteien entstanden: Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Deutschnationale. Sie prägen Österreichs Innenpolitik bis heute. 1907: Männerwahlrecht Allgemeines Wahlrecht für Männer Im Jahr 1907 wurde dieses Privilegienwahlrecht schließlich abgeschafft (Beck'sche Wahlrechtsreform). Das Gesetz schrieb ausnahmslos die direkte Wahl ohne Wählerklassen durch Abgabe eines Stimmzettels vor und machte das Wahlrecht zu einem direkten, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht für Männer. Kein Wahlrecht (mehr) für Frauen Die wenigen Frauen, die zuvor ein Wahlrecht hatten, verloren es (meist Großgrundbesitzerinnen). Frühlingswerkstatt 2013 23 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger 1918: Allgemeines Wahlrecht Wahlrecht für alle Nach der Gründung der Republik kam es 1918 zu einer Wahlordnung für die Konstituierende Nationalversammlung: Hier wurde auch den Frauen das Wahlrecht gewährt. 1920 wurde diese Wahlordnung durch das Bundesverfassungsgesetz mit einer eigenen Wahlordnung für den Nationalrat abgelöst. Das Wahlalter betrug 21 Jahre. Die Wahl erfolgte nach dem Grundsatz des Verhältniswahlrechts und des Listenwahlrechts“ Aus: http://www.parlament.gv.at/PERK/PARL/DEM/ENTW/index.shtml (15.1.13) Aus der Debatte im Abgeordnetenhaus zur Wahlrechtsreform 1907 Am 5. November 1906 befasste sich das Abgeordnetenhaus mittels eines Dringlichkeitsantrages erstmals mit der Thematik einer Wahlrechtsreform, die ein halbes Jahr später zu den ersten gleichen, geheimen, direkten und freien Wahlen (allerdings nur für Männer!) führen sollte. (…) Als erster meldete sich ein Contra-Redner zu Wort. Ernst Graf SilvaTarouca (1860-1936) vertrat seit 1891 den böhmischen Großgrundbesitz und die konservative Partei. (…) "Vom ersten Tag an hat man diesen Reformentwurf auf Demonstrationen gestützt, welche, weit die Grenzen legitimer Agitation hinter sich lassend, unter Kenntnis und wohlwollender Duldung der jeweiligen Regierung die Beschlüsse des Hauses unter den Einfluss des Terrorismus stellen sollten." Der von außen in die Kammer getragene Druck habe eine emotionslose Erörterung der Thematik verunmöglicht, und es stehe zu befürchten, "dass der Terrorismus sich auch in Zukunft einstellen und maßgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebung unseres Parlaments ausüben wird. Die Folgen dieses von Schritt zu Schritt erfolgenden Zurückweichens der Staatsautorität und der Gesetzmäßigkeit musste die traurigsten Konsequenzen zeitigen und wir halten es für unsere Pflicht, heute wiederum darauf hinzuweisen und zu warnen." (…) Adalbert Graf Sternberg (1868-1930) vermochte sich der allgemeinen Euphorie bezüglich einer Wahlreform sichtlich nicht anzuschließen. Vielmehr ortete er ein rein taktisches Kalkül des Hofes hinter dieser Initiative: die tschechischen und die sozialen Parteien sollten ihres Hauptargumentes gegen den Status Quo beraubt werden. Real werde dieser Schritt jedoch nur dazu führen, die Arbeitsfähigkeit des Hauses ernsthaft in Frage zu stellen, meinte der Graf. Noch häufiger als bisher werde es zu Obstruktion kommen, und diese sei ja kein Attentat auf die Regierung, sondern vielmehr eines auf den Parlamentarismus selbst. Schon bisher fehle jedwede Inkompatibilitätsregelung, und diese werde wohl erst recht nicht kommen, wenn es einmal ein allgemeines Wahlrecht gebe. Zudem würde ein Wahlrecht, wie es in der Reform angedacht sei, den "Terrorismus der Gasse" nur noch weiter befördern. Dieser aber würde verhindern, dass "ein Frühlingswerkstatt 2013 24 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Konservativer, ein Patriot und ein anständig denkender Nationaler überhaupt noch gewählt werden" könne, da deren Wahlversammlungen einfach vom politischen Gegner gesprengt werden würden. (…) Am 6. November 1906, wenige Minuten vor Mittag, fuhr das Abgeordnetenhaus mit seiner Debatte zum Dringlichkeitsantrag über die Wahlreform fort. (…) (Es) trat der Sozialdemokrat Engelbert Pernerstorfer (1850-1918) ans Rednerpult. Pernerstorfer kam ursprünglich aus der deutschnationalen Bewegung, ehe er sich der Sozialdemokratie anschloss. Er hatte dem Haus schon 1885 bis 1897 angehört und war 1901 für den Wahlkreis Wiener Neustadt wieder ins Parlament eingezogen. 1907 sollte er zum ersten sozialdemokratischen Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses avancieren. Pernerstorfer verwies darauf, dass die Sozialdemokratie seit Anbeginn ihres Bestehens stets die Forderung nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht zu einer absoluten Fahnenfrage gemacht habe. Eine Forderung im übrigen, die "in den Arbeiterbewegungen aller modernen Kulturstaaten und Kulturnationen immer wieder als die erste" erhoben werde. Und "länger als ein Menschenalter kämpfte auch in Österreich die Arbeiterschaft für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, und sie kämpfte nicht bloß platonisch, nicht bloß mit mehr oder weniger eleganten Äußerungen, Resolutionen, sie kämpfte durch mehr als ein Menschenalter mit der größten Anstrengung all ihrer Kräfte für dieses Recht." Pernerstorfer erinnerte an dieser Stelle an die zahllosen Opfer, die man habe bringen müssen, um endlich so weit zu kommen, dass diese zentrale Forderung der Arbeiterschaft endlich auf der allgemeinen politischen Agenda stehe. Die österreichische Arbeiterschaft habe für die Erringung dieses Rechtes "auch ihr Blut fließen lassen, und zwar nicht einmal, sondern wiederholt". Sie habe die blutige Ära der Verfolgungen überwunden und ihre Bewegung habe dahin geführt, dass es im Jahre 1896 wirklich zu einer ersten Wahlreform gekommen sei. Doch diese sei, wie die Arbeiterbewegung nicht müde geworden sei, zu betonen, eine "Karikatur des Wahlrechtes" gewesen, "und es war ganz natürlich, dass der Verlauf der politischen Dinge in Österreich von 1897 bis heute nicht dazu geeignet war, das ohnehin niemals sehr in hohem Ansehen stehende österreichische Parlament etwa in einen besseren Geruch zu bringen." Schließlich ergriff Georg Ritter von Schönerer (1842-1921), der Führer der Alldeutschen, das Wort. "Judenpack und Pfaffenpack schlägt sich und verträgt sich. Und das entnervte, verpfaffte, korrumpierte, entrechtete, schwachsinnig gemachte deutsche Volk in Österreich folgt willenlos diesen bewussten Schädigern und den bei den wichtigen Dingen frivol lächelnden Durchlauchten, wie eine in der Nähe hier vor mir steht." Durch dieses Gesetz werde, meinte Schönerer behaupten zu müssen, "dem Slawentum und dem Juden- und Pfaffentum Wasser auf seine Mühlen" getrieben, würde doch damit den "Slawen zur Herrschaft verholfen" und "unsere Volksgenossen unterdrückt und von ihrer geschichtlich begründeten Stellung immer mehr beseitigt werden." (…) Frühlingswerkstatt 2013 25 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Dieses Gesetz, fuhr Schönerer fort, werde nur "im Interesse und zu Gunsten des Judentums und des ihm in diesem Falle alliierten Pfaffentums." Und so appellierte Schönerer an die deutschsprachigen Abgeordneten, sich des "alten nationalen Spruches" zu erinnern, "der da lautet: wer nicht vertrieben werden will, muss vertreiben!" Denn: "Wenn wir die Juden nicht vertreiben, so werden wir Deutschen vertrieben." Keinesfalls also dürften die "deutschen Stimmen" diese "Selbstentrechtung, ja diese Selbstentmannung" durchführen. Vielmehr sollten sie dem "natürlichen Trieb des deutschen Mannes folgen, mit deutschen Männerstolz zu sagen: Rühre nicht an die geschichtlich begründete und kulturell berechtigte Vorherrschaft der Deutschen." Schönerer weiter: "Damit es zu keiner deutschen Mannestat komme, entmannen sich die Vertreter deutscher Wahlbezirke selbst, um herabzusinken auf den Standpunkt internationaler Kastraten und Eunuchen." (…) (Es) ergriff nun am 8. November 1906 der unumstrittene Frontmann der Sozialdemokraten Victor Adler (1852-1918) das Wort. (…) Die Sozialdemokraten hätten sich von allem Anfang an für dieses Wahlrecht eingesetzt, hätten "entsprechend dem Charakter der aufstrebenden Arbeiterklasse, entsprechend dem Grundzuge des proletarischen Kampfes in der Politik" die Idee des gleichen Wahlrechts "mutig, entschlossen und opferfähig verfochten", doch man müsse sehen, dass diese Vorlage nicht eine der Sozialdemokratie sei, sondern eine der Regierung: "Wir haben ein allgemeines Wahlrecht, aber wir können kein Wahlrecht ein allgemeines nennen, solange die Hälfte der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Wir verfechten mit allem Ernste und mit allem Nachdruck das Recht der Frau auf politische Vertretung." Er denke dabei insbesondere an die "breiten Schichten des arbeitenden weiblichen Proletariats, die in demselben Mühsal stünden wie die Männer, die mehr als die Männer ausgebeutet und denen mehr Lasten als den Männern obliegen würden: "Ich wiederhole, wir können das Wahlrecht kein allgemeines nennen, solange nicht die Frauen das Wahlrecht haben, und wir werden niemals aufhören, für das Frauenwahlrecht einzutreten." Gleichzeitig legte Adler neuerlich Protest gegen die Einschränkung des Wahlrechts durch die einjährige Sesshaftigkeit ein, die praktisch ausnahmslos die werktätigen Schichten benachteilige. Aus: http://www.parlament.gv.at/ZUSD/PDF/Die_Wahlrechtsreform_1907.pdf (28. 03. 2013) Nochmals Victor Adler Diskussionsbeitrag des Parteivorsitzenden Victor Adler zur Frauenstimmrecht-Resolution der 2. Konferenz der sozialdemokratischen Frauen Österreichs (1903): "Es hat niemals eine Sozialdemokratie gegeben, die nicht das Frauenwahlrecht als eine ebenso notwendige Sache angesehen hätte wie das der Männer. (...) Aber es fragt sich, ob die politische Lage reif ist, um einen Feldzug für das Frauenwahlrecht zu unternehmen. Und da sage ich ihnen rundweg, in Ländern wie Österreich, Belgien usw., wo das Frühlingswerkstatt 2013 26 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Männerwahlrecht noch nicht einmal erkämpft ist, wo wir alle Kräfte auf diesen Punkt konzentrieren müssen, wäre es eine politische Torheit, diesen Kampf abzulenken auf einen Punkt, der voraussichtlich erst später zu erreichen sein wird. Von diesem Standpunkt der politischen Taktik muss ich sagen: Wir müssen bei jeder Gelegenheit erklären, dass wir für das Frauenwahlrecht sind, dass wir auch den ersten Schritt auf diesem Gebiet machen wollen, aber dass der letzte Schritt erst dann gemacht werden kann, wenn der erste Schritt gemacht ist, und der ist: die Erkämpfung des Wahlrechtes für die Männer." Aus:http://www.renner-institut.at/materialien/frauen-machengeschichte/frauenstimmrechtsbewegung/ (29.03.2013) Frühlingswerkstatt 2013 27 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Schule und Kulturkampf Österreichische Schulpolitik im 19. Jahrhundert „1805 Politische Verfassung der deutschen Schulen, der sogenannte „Schulkodex“. Er antwortete auf die Säkularisierung durch die Französische Revolution, indem Religion als Unterrichtsprinzip festgeschrieben wurde (Wissen und Fertigkeiten orientierten sich am Katechismus) und die Schulaufsicht der katholischen Kirche übertrug. Vor allem aber schrieb der „Schulkodex“ fest, dass nicht mehr Bildung vermittelt werden sollte, als der Stand es zu seiner Berufsqualifikation erforderte. (…) 1868 Reichsvolksschulgesetz: Vor dem gesellschaftlichen Hintergrund des Wirtschaftsbooms der „Gründerzeit“ und der entsprechenden Nachfrage nach qualifizierten Facharbeitern, Technikern und Angestellten sowie außenpolitischen Misserfolgen der Regierung kam es zu einer kurzen liberalen Ära. Ebenso wie das Staatsgrundgesetz von 1967 ist das Reichsvolksschulgesetz ein Produkt dieser Ära. Die Ergebnisse legten den Grundstein zum heutigen Bildungssystem in Österreich: Eine achtjährige interkonfessionelle, staatliche Pflichtschule: 5.-8. Schulstufe in der Volks- oder der Bürgerschule Die staatliche Schulaufsicht wird den staatlichen Behörden übertragen Der Lehrberuf wird zum „öffentlichen Amt“ Religionsunterricht ist zwar obligatorisch, verliert aber den Status als Unterrichtsprinzip Lehrerstand und Schule werden entkonfessionalisiert, d.h. es können z.B. auch Protestanten als Schuldirektoren arbeiten Der Fächerkanon wird umgestaltet: Naturwissenschaften und Geschichte (Mädchen erhalten jedoch Unterricht in Handarbeiten und dafür weniger Unterricht in Mathematik und Zeichnen) Gründung von Lehrerbildungsanstalten und einer ersten staatlichen Lehrerinnenbildungsanstalt Fabrikschulen bleiben erhalten Dieses Gesetz löste heftige Debatten aus: Die „Konfessionalisten“ kämpften mit dem Begriff der „Herzensbildung“ und der Sorge vor dem Sozialismus gegen das weltliche staatliche Bildungssystem von Minister Leopold Hasner, während den Verfechtern eines horizontalen Bildungssystems im Sinne des Neuhumanismus die Reformen nicht weit genug gingen. (…) 1883 Novelle des Reichsvolksschulgesetzes: Mit der Diskreditierung des Liberalismus durch den Börsenkrach von 1873 war es in Österreich auch mit der kurzen liberalen Ära vorbei, die konservative klerikal-föderalistische Regierung unter Ministerpräsident Taaffe ab 1979 erließ eine entsprechende Novelle: Frühlingswerkstatt 2013 28 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Rekonfessionalisierung des Schulwesens: Religion als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip und Katholizismus als Bedingung für die Besetzung von Direktionen. Politische Kontrolle der Lehrerschaft Schulbesuchserleichterungen der 7. und 8. Schulstufe“ Aus: http://www.kife.hu/lernpotentiale/conferences/krakau-bildungsferne-de.pdf Wappelshammer (Zugriff: 19.1.2013) - Elisabeth O. Der Staat gegen die Mütter In der Debatte des Reichstages über das „Reichsvolksschulgesetz“ im Jahr 1869 sprach als Hauptredner für die „Konfessionalisten“ der Abgeordnete Pater Greuter aus Tirol: „Nun, wie steht es denn nach dem Gesetzentwurf mit diesem Rechte der Eltern, wie steht es mit der Freiheit? Mein Gott, man redet in Österreich so oft wie in keinem anderen Staate von der Freiheit, und wahrhaftig, wenn wir die Verhältnisse so recht genau und unparteiisch untersuchen, sind wir nie weniger frei gewesen als jetzt, den Beweis hiefür liefert mir das vorliegende Gesetz. Ich sage gar nicht, dass die Jünglinge konskribiert werden, dass dadurch unsere Staatsgesetze, auch wenn der Jüngling zum Manne geworden ist, der Staat ihn mit dem Fiskus wieder lehrt, was ein freier Mann sein heißt. Ich schaue in dieses Gesetz, und da kommt der Staat und nimmt im Namen der Freiheit der Mutter das Kind aus dem Arme und verpflichtet es durch den obligatorischen Zwang, in seine Schule zu kommen. Ja, meine Herren, ich finde sogar, dass selbst das Hausrecht nach diesem Gesetz nicht gewährt wird. Es ist erlaubt, dass die Inspektoren selbst in die Familie kommen, um nachzuschauen, nicht etwa, ob das Kind physisch gedeiht, ob es Schuhe hat, ob es bekleidet ist, ob es zu essen hat, sondern um nachzuschauen, ob es das Abc nach der Methode des Unterrichtsministerium lernt. Es ist also, meine Herren, sehr inkonsequent, wenn Sie den Arbeitern immer nur von Selbsthilfe vorreden, während Sie mit dem Unterrichtszwang und mit dem Unterrichtsbudget dieser Verpflichtung der sozialen Notwendigkeit auf dem Gebiete des Unterrichts gerade im gegenteiligen Sinne zu entsprechen suchen. Die Konsequente Durchführung dieses sogenannten Staatsmonopols im Unterrichte führt notwendig zum Sozialismus. Wenn Sie also konsequent sein wollen, so müssen Sie die Freiheit des Unterrichts proklamieren, und auf der Basis der Freiheit des Unterrichtes müssen Sie einen Gesetzesentwurf erlassen.“ Zitiert nach: Schnell, Hermann; Die österreichische Schule im Umbruch; Wien 1974; Seite 20 Frühlingswerkstatt 2013 29 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Kulturkampf in Oberösterreich Durch das Reichsvolksschulgesetz aus dem Jahr 1869 war die Kompetenz für die Elementarschule von der Kirche auf den Staat übergegangen. Erst mit diesem Gesetz und den darauf basierenden Regelungen kam es zur wirklichen Einführung der Schulpflicht in Österreich. Basierend auf diesem Gesetz wurde danach auch das Schulgeld für die Volksschulen abgeschafft und die Lehrerausbildung verbindlich geregelt1. Im Reichsrat gab es gegen dieses wichtige Gesetz, sowohl bei der Beschlussfassung, als auch in den Jahrzehnten danach, ständig Widerstand. (…) Die Gegner der Schulpflicht und einer staatlichen Schule fanden aber im Reichstag keine Mehrheit, daher verlegten sie ihre Politik auf indirekte Einflussnahme: so wurden die Schüler und Schülerinnen verpflichtet, an von kirchlichen Behörden veranlassten und organisierten Übungen teilzunehmen. 1883 wurde gesetzlich festgelegt, dass nur mehr jene Lehrer Schulleiter werden konnten, die den Befähigungsnachweis für den Religionsunterricht hatten.2 In einem Erlass des österreichischen Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 10. November 1884, der „an alle Landeschefs“ gerichtet ist, heißt es unter anderem: „... dass es die Aufgabe des Unterrichts ist, alle geistigen Fähigkeiten der Kinder anzuregen und die lebensfreudige Entwicklung des Gemütes zu fördern, aber auch deshalb in den realistischen insbesondere geschichtlichen Gegenständen auf das sorgfältigste alles zu vermeiden, was, wenngleich wissenschaftlich feststehend und wertvoll für Forschung und Lehre, doch in den Volksschulen geeignet ist, die kindlichen Begriffe zu verwirren und die Grundlagen der in den Schulen heranzubildenden religiösen Überzeugung und ihrer Anhänglichkeit und Liebe zum gemeinsamen Vaterlande unsicher und schwanken werden zu lassen.“3 Wie oben bereits gezeigt war die Arbeiterbewegung ein entschiedener Gegner dieser Schule, die bloß widerspruchslose Gläubige der katholischen Kirche und treue Untertanen des Kaisers erziehen sollte. Es waren aber auch die liberalen und aufgeklärten Bürgerlichen Gegner einer derartigen Schulpolitik. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam es daher immer wieder zu gemeinsamen Aktivitäten der Sozialdemokratie mit den Liberalen, wenn es um die Schule ging. Beispielswiese wurde am 19. November 1996 in Linz eine große Veranstaltung durchgeführt, in der regionalen Zeitung „Tagespost“ - dem Vorläufer der „Oberösterreichischen Nachrichten“ - hieß es über diesen Abend: „Das war gestern eine großartige Kundgebung, die Protestversammlung gegen die clericalen Schul- und Lehrerfeinde im Volksgarten! Auf 1200 bis 1500 Personen schätzt man die Zahl der Besucher, die dichtgedrängt alle Räume des Saales bis auf das letzte Plätzchen besetzt hatten, so dass schon um ¾ 8 Uhr kaum mehr ein Eckchen zum Stehen, geschweige denn ein Sessel zu finden, ja überhaupt nicht mehr in den Saal hineinzukommen war. Die Versammlung war eine öffentliche und allgemein zugängliche, denn sie sollte zeigen, dass die Freiheit der Schule und die gerechten Bestrebungen der Lehrerschaft in allen Schichten der Bevölkerung ihre begeisterten Schützer findet, sie sollte beweisen, wie die gerechte Entrüstung über das terroristische, eigensüchtige und brutale Vorgehen der clericalen Partei eine allgemeine sei und die weitesten und breitesten Schichten des Volkes ergriffen habe.“. Neben anderen sprachen bei dieser Veranstaltung der liberale Landeshauptmann-Stellvertreter Emil Ritter von Dierzer und der „Arbeiterführer“ Anton Weiguny. Die „Tagespost“ zitiert Weiguny unter anderem Frühlingswerkstatt 2013 30 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger so: „Wir wissen ganz gut, dass man bei Machtfactoren, wie ein solcher die clericale Partei ist, nicht mit Phrasen, mit Petitionen und Resolutionen hinwegkommt, sondern, dass zum Kampfe gerüstet werden muss um die Herrschaft des Clericalismus zu brechen, der das Volk geistig verkümmern lassen will und die Jugendbildner hungern lässt. (...) Wir sind ausgeschrien als religionsfeindlich. Glaube jeder was er will, lasse aber auch jeden anderen seine Überzeugung. Die Herren sollen mit den tiefen religiösen Gefühlen des Volkes nicht ihr Spiel treiben. Wenn sie ruhig sind, diese fanatischen Hetzer, dann wird auch das Volk zur Ruhe kommen. Mögen auch noch so viele Kasernen für Mönche und Nonnen gebaut werden, wir sind überzeugt, dass all diese Kutten uns den Sonnenaufgang nicht verhüllen werden. (Stürmischer, langanhaltender Beifall.)“. „Nach Schluss der Veranstaltung“ - so die „Tagespost“ „stimmten die Arbeiter das ‚Lied der Arbeit‘ an, die Deutschnationalen sangen die ‚Wacht am Rhein‘.“5 Die gemeinsamen Anliegen und die gemeinsamen Aktionen führten dazu, dass im Jahr 1905 in Wien der Verein „Freie Schule“ offiziell gegründet wurde. Präsident wurde der Liberale Freiherr Paul von Hock, für die Sozialdemokraten waren unter anderem Engelbert Pernersdorfer, Karl Seitz und Otto Glöckel aktiv.6 In Oberösterreich führt der Verein „Freie Schule“ zum Beispiel ab dem Jahr 1906 eine eigene 4. Bürgerschulklasse7. Diese diente dazu, dass Schüler, die die 3. Klasse absolviert hatten, bis zum möglichen Einstieg in andere Schulen, zum Beispiel Fachschulen, Handelsakademie, Lehrerbildungsanstalt, nicht einfach die dritte Bürgerschulklasse wiederholen mussten, sondern eine eigene Klasse für dieses Jahr hatten. Diese vierte Bürgerschulklasse wurde, nachdem sie sehr viele Schüler besuchten, ab September 1908 von der Stadt Linz übernommen.7 Gegeben hat es die Vereinigung „Freie Schule“ aber schon länger, die Freimaurerloge „Pionier“ in Wien versuchte damit bereits ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Volksbildung zu verbessern8. Bis zum Ende der Monarchie blieben Schulfragen heftig umstrittene Themen. Bis zur Ausrufung der ersten österreichischen Republik ging es darum, ob die Schule aufklärerischen Ideen oder Kaiserhaus und Kirche verpflichtet war Aus: Dobesberger, Bernd; Geschichte der Kinderfreunde Oberösterreich; in Braun, Karl-Heinz, Dobesberger, Bernd u.a. (Hg.) Lernort Kinderfreunde; Obladen 1998; Seite 86 ff 1 vgl. Schnell, Hermann; Die österreichische Schule im Umbruch; Wien 1974; Seite 20 2 vgl. Uitz, Helmut; Die österreichischen Kinderfreunde und rote Falken 1908 – 38; Wien-Salzburg 1975; Seite 256ff. 3 zit. nach Adler, Max; Neue Menschen; Wien 1972; Seite 14f. 5 ..Linzer Tagespost; Linz, 20. und 21.11. 1896; Seiten xx bzw. xx 6 vgl. Uitz; 259 7 „Rechenschaftsbericht des Gemeinderathes der Landeshauptstadt Linz über seine Thätigkeit“; Linz 1906 und 1907 bzw. 1908 und 1909; Seite 25 bzw. 28 8 Freimaurermuseum, Österreichisches in Schloss Rosenau bei Zwettl, NÖ;„250 Jahre Freimaurerei in Österreich“; Rosenau, 1992; Seite 44 Frühlingswerkstatt 2013 31 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Erwägung des Arbeiterbildungsvereins Steyr „In Erwägung, dass die jetzigen sozialen Missstände der arbeitenden Klassen nur in der Unwissenheit und mangelhaften Ausbildung der Arbeiter ihre Wurzel haben; in Erwägung, dass seitdem die Schule unter dem ausschließlichen Einfluss des Klerus stand, die Volksbildung durchaus keine Fortschritte gemacht hat, vielmehr von ihrer hohen und heiligen Aufgabe mehr und mehr entfernt worden ist; in Erwägung, dass besonders seit dem Beginn des Maschinenwesens den Arbeitern erhöhtes Wissen und erhöhte Ausbildung unbedingt nottut, dieser Zweck aber in erster Linie nur durch die Befreiung der Schule von der unbeschränkten Macht des Klerus erreicht werden kann, erklärt die heute tagende Allgemeine Arbeiterversammlung von Steyr, entgegen der Ansicht des Katholischen Volksvereins, dass sie nur in der Aufrechterhaltung der neuen Schulgesetze die Grundlage erblickt, durch welche erhöhte und zeitgemäße Ausbildung und dadurch auch ein mächtiger Hebel zur Besserung der materiellen Lage des Arbeiters geschaffen werden kann.“ Aus: Resolution der Arbeiterversammlung zu Steyr an das Unterrichtsministerium im Jahr 1869 (zitiert nach: Göhring, Walter; „Neudorfl 1874“; Wien 1974; S. 56) Von den „Conservativen und Clericalen“: „Am allerwenigsten wird aber jener Erfolg eintreten, den die ‚Tages-Post‘ und die ‚Arbeiter-Zeitung‘ in Aussicht stellen. Nämlich daß die ‚Clericalen‘ durch die Versammlung und die sonstige Agitation der vereinten Jungliberalen, Schönerianer und Socialisten eingeschüchtert würden. Die conservative Partei hat schon bei der Generalversammlung des katholischen Volksvereines erklären lassen, daß sie dem Terrorismus der radicalen Lehrerschaft nicht weichen werde und jetzt wird, mag der liberalnational-socialistische Hexenkessel noch so heftig brodeln, erst recht nicht nachgegeben. Darauf können sich die Herren ‚Anticlericalen“ verlassen. Zum Schlusse richten wir noch ein Wort an unsere Gesinnungsgenossen. Es wäre denkbar, daß sich einer oder mehrere, durch die unerhörten Provocationen gereizt, zu Äußerungen des Zornes hinreissen lassen könnten. Wir machen darauf aufmerksam, daß unsere Gegner, nachdem sie sich so stark ins Pechgesetzt haben, die kleinste Unbesonnenheit von unserer Seite benützen würden, um durch Aufbauschung derselben ihren eigenen dummen Streich vergessen zu machen. Darum heißt es auf unserer Seite Ruhe und kaltes Blut bewahren!“ Aus: „Linzer Volksblatt“; 22. November 1896; S. 2 Frühlingswerkstatt 2013 32 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Sozialreform und Sozialstaat Reform von Oben „Verschiedene Gründe waren maßgeblich, dass es in den achtziger Jahren (des 19. Jhh. – B.D.) zu einer Reihe sozialpolitischer Initiativen kam, die zu einer Verbürokratisierung und staatlichen Regelung der sozialen Sicherheit führten. Die Militärs schlugen Alarm, entsprach doch aus Arbeitergemeinden kaum einer der Stellungspflichtigen den Tauglichkeitskriterien der Armee. Auf betriebswirtschaftlicher Seite wurde erkannt, dass aus einer Verbesserung der sozialen Sicherheit und Verkürzung überlanger Arbeitszeiten durchaus Produktivitätsgewinne zu erreichen waren, und von volkswirtschaftlicher, dass auf dem Weg ins Zeitalter zunehmender Massenkaufkraft den Konsumenten auch Zeit zum Konsum gegeben werden musste. Den Politikern wiederum war es ein Anliegen, durch ein Nachgeben gegenüber gewerkschaftlichen Druck in sozialen Fragen zu einer ökonomischen und sozialen Systemstabilisierung zu kommen. Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass das Kabinett Taaffe und die konservative Parlamentsmehrheit, die ab 1879 im Reichsrat das Sagen hatte, in die zahlreichen sozialpolitischen Initiativen ihre antikapitalistischen Interessen verpackte. (…) Die Sozialreformen, die von der Regierung Taaffe durchgesetzt wurden, waren in dem Sinne antikapitalistisch, als durch eine Ausklammerung aus der Versicherungspflicht den nichtindustriellen Bereich ein Konkurrenzvorteil zu verschaffen versucht wurde und die Kosten der sozialen Reformen nicht von den eigenen Sympathisanten zu tragen waren, sondern überwiegend von der Wählerbasis der Opponenten, den Liberalen, deren Kernschichten aus dem Großbürgertum kamen. Durch das Unfallversicherungsgesetz von 1887, das Krankenversicherungsgesetz von 1888 und das Bruderladengesetz von 1889 waren alle Arbeiter und Betriebsbeamten (Angestellten) maschineller Betriebe unfallversichert, der erheblich größere Kreis aller gewerblichen Arbeiter überdies krankenversichert. Die Bergleute erhielten als einzige Gruppe auch eine Invaliditätsversicherung. Einzelne Ausdehnungsgesetze, etwa 1894 für Eisenbahner, folgten. Am wichtigsten wurde die gesonderte Sicherung spezifischer Angestelltenrechte wie Alterssicherung (1906) oder Urlaubsanspruch, Kündigungsschutz und Abfertigungsanspruch, die im Sinne der Stärkung eines fiktiven Mittelstandes wirken und einen Keil in die Lohnabhängigen treiben sollten. Das Hauptübel sah man im großindustriellen Maschinenbetrieb, während man ähnlichen sozialen Verhältnissen in nicht maschinellen landwirtschaftlichen oder kleingewerblichen Betrieben viel weniger kritisch gegenüberstand.“ Aus: Sandgruber, Roman; „Ökonomie und Politik – Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart“; Wien 1995; Seite302f. Frühlingswerkstatt 2013 33 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Erklärungen und Hintergründe Aus einer Resolution des Hainfelder-Parteitages „Was heute vorzugsweise ‚Sozialreform‘ genannt wird, die Einführung der vom Staat organisierten Arbeiter-versicherung gegen Krankheit und Unfall, entspringt vor allem der Furcht vor dem Anwachsen der proletarischen Bewegung, die Hoffnung, die Arbeiter von dem Wohlwollen der besitzenden Klassen zu überzeugen, und zuletzt der Einsicht, dass die Zunehmende Verelendung des Volkes endlich die Wehrfähigkeit beeinträchtigen müsse. Mit der Ausführung der Arbeiter-Versicherung werden zwei Nebenzwecke verknüpft: Die teilweise Überwälzung der Kosten der Armenpflege von den Gemeinden auf die Arbeiterklasse und die möglichste Einengung, womöglich Beseitigung selbständigen Hilfsorganisationen der Arbeiter, welche als Vorschulen und Übungsstätten der Organisation und Verwaltung den herrschenden ein Dorn im Auge sind. Angesichts dieser Sachlage erklärt der Parteitag: Die Arbeiter-Versicherung berührt den Kern des sozialen Problems überhaupt nicht. Eine Einrichtung, welche im besten Falle dem arbeitsfähigen Proletarier ein kärgliches, von ihm selbst teuer bezahltes Almosen gewährt, verdient nicht den Namen ‚Sozialreform‘. Die Arbeiterschaft wird sich darüber nicht täuschen lassen, sondern klare Einsicht darüber verbreiten, dass eine wirkliche soziale Reform den arbeitsfähigen Arbeiter zum Gegenstand und die Beseitigung seiner Ausbeutung zum letzten Ziel haben muss, dass aber freilich diese soziale Reform niemals von den Ausbeutern, sondern nur von den Ausgebeuteten durchgeführt werden wird.“ Aus: Resolution über Arbeiterschutz-Gesetzgebung und ‚Sozialreform‘“ beschlossen am Einigungsparteitag der SDAP in Hainfeld 1888/89 (zitiert nach: „Die österreichische Sozialdemokratie im Spiegel ihrer Programme“; Wien 1971; Seite 29) Wehrtauglichkeit „Von je tausend untersuchten Militärpflichtigen waren in der österreichischen Reichshälfte untauglich: 1870: 736 1875: 811 1880: 855 Im nordöstlichen Böhmen waren von 1000 Stellungspflichtigen im Allgemeinen nur 129 tauglich. Von je 1000 Fabrikarbeitern dieses Gebietes wurden aber nur 46 für tauglich befunden, im Bezirk Gablonz 44, in der Umgebung von Reichenberg 35 und in der Stadt Reichenberg gar nur 23.“ Aus: Klenner, Fritz; „Die österreichischen Gewerkschaften“; Bd. 1: Wien 1951; S. 134 Frühlingswerkstatt 2013 34 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Von der „Neuen Sache“ „Vor allem ist also von der einmal gegebenen unveränderlichen Ordnung der Dinge auszugehen, wonach in der bürgerlichen Gesellschaft eine Gleichmachung von hoch und niedrig, von arm und reich schlechthin nicht möglich ist. Es mögen die Sozialisten solche Träume zu verwirklichen suchen, aber man kämpft umsonst gegen die Naturordnung an. Es werden immerdar in der Menschheit die größten und tiefgreifendsten Ungleichheiten bestehen. Ungleich sind Anlagen, Fleiß, Gesundheit und Kräfte, und hiervon ist als Folge unzertrennlich die Ungleichheit in der Lebensstellung, im Besitze. Dieser Zustand ist aber ein sehr zweckmäßiger sowohl für den einzelnen wie für die Gesellschaft. Das gesellschaftliche Dasein erfordert nämlich eine Verschiedenheit von Kräften und eine gewisse Mannigfaltigkeit von Leistungen; und zu diesen verschiedenen Leistungen werden die Menschen hauptsächlich durch jene Ungleichheit in der Lebensstellung angetrieben. (…) Ein Grundfehler in der Behandlung der sozialen Frage ist sodann auch der, dass man das gegenseitige Verhältnis zwischen der besitzenden und der unvermögenden, arbeitenden Klasse so darstellt, als ob zwischen ihnen von Natur ein unversöhnlicher Gegensatz Platz griffe, der sie zum Kampf aufrufe. Ganz das Gegenteil ist wahr. Die Natur hat vielmehr alles zur Eintracht, zu gegenseitiger Harmonie hingeordnet; und so wie im menschlichen Leibe bei aller Verschiedenheit der Glieder im wechselseitigen Verhältnis Einklang und Gleichmaß vorhanden ist, so hat auch die Natur gewollt, dass im Körper der Gesellschaft jene beiden Klassen in einträchtiger Beziehung zueinander stehen und ein gewisses Gleichgewicht darstellen. Die eine hat die andere durchaus notwendig. So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne das Kapital bestehen. Eintracht ist überall die unerlässliche Vorbedingung von Schönheit und Ordnung; ein fortgesetzter Kampf dagegen erzeugt Verwilderung und Verwirrung. Zur Beseitigung des Kampfes aber und selbst zur Ausrottung seiner Ursachen besitzt das Christentum wunderbare und vielgestaltige Kräfte. (…) Indessen ist nicht zu bezweifeln, dass zur Lösung der sozialen Frage zugleich die menschlichen Mittel in Bewegung gesetzt werden müssen. Alle, die es irgend berührt, müssen je nach ihrer Stellung mitarbeiten. Es gibt hier das Wirken der göttlichen Vorsehung, welche die Welt regiert, gewissermaßen ein Vorbild; denn hängt der Ausgang von vielen Ursachen zugleich ab, so sehen wir, wie eben diese Ursachen sich zur Erzielung der Wirkung zueinander gesellen. Es handelt sich zunächst darum, welcher Anteil bei der Lösung der Frage der Staatsgewalt zufalle. Unter Staatsgewalt verstehen Wir hier nicht die zufällige Regierungsform der einzelnen Länder, sondern die Staatsgewalt der Idee nach, wie sie durch die Natur und Vernunft gefordert wird, und wie sie sich nach den Grundsätzen der Offenbarung, die Wir in der Enzyklika über die christliche Staatsverfassung entwickelt haben, darstellt. Die Beihilfe also, welche von den Staatslenkern erwartet werden muss, besteht zunächst in einer derartigen allgemeinen Einrichtung der Gesetzgebung und Verwaltung, dass daraus von selbst das Wohlergehen der Frühlingswerkstatt 2013 35 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Gemeinschaft wie der einzelnen empor blüht. Hier liegt die Aufgabe einer einsichtigen Regierung, die wahre Pflicht jeder weisen Staatsleitung. Was aber im Staate vor allem Glück und Friede verbürgt, das ist Ordnung, Zucht und Sitte, ein wohlgeordnetes Familienleben, Heilighaltung von Religion und Recht, mäßige Auflage und gleiche Verteilung der Lasten, Betriebsamkeit in Gewerbe und Handel, günstiger Stand des Ackerbaues und anderes ähnliche. Je umsichtiger alle diese Hebel benützt und gehandhabt werden, desto gesicherter ist die Wohlfahrt der Glieder des Staates. Hier eröffnet sich also eine weite Bahn, auf welcher der Staat für den Nutzen aller Klassen der Bevölkerung und insbesondere für die Lage der Arbeiter tätig sein kann; gebraucht er hier sein Recht, so ist durchaus kein Vorwurf möglich, als ob er einen Übergriff beginge; denn nichts geht den Staat seinem Wesen nach näher an als die Pflicht, das Gemeinwohl zu fördern und je wirksamer und durchgreifender er es durch allgemeine Maßnahmen tut, desto weniger brauchen anderweitige Mittel zur Besserung der Arbeiterverhältnisse aufgesucht zu werden.“ Von Papst Leo XIII. stammt die am 15. Mai 1891 veröffentlichte Enzyklika „Rerum Novarum“ zitiert nach: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/320.html (30.04.2013) Frühlingswerkstatt 2013 36 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Weiße Sklavinnen „Weiße Schürzen mit feinen Spitzen, reiche Herrschaften voll gütiger Noblesse, mit vielerlei Gerät bestens ausgestattete Haushalte, heimliches Naschen von zartem Teegebäck und ein praller Sparstrumpf am Ende einer mehrjährigen Dienstzeit, Voraussetzung für eine eigene bescheidene Familiengründung – dies waren die Verlockungen, die junge Mädchen aus allen Provinzen der Monarchie scharenweise in die Hauptstadt trieben. Dafür waren sie bereit, harte Arbeit, Ehrerbietung und Unterordnung in Kauf zu nehmen. Um 1890 waren es allein in Wien über 100.000 überwiegend junge Mädchen, die in den Häusern der Herrschaft all jene Arbeiten verrichteten, deren lästige Existenz nur dann ins Auge fällt, wenn sie ungetan bleiben. Rund 15% der Wiener Dienstmädchen waren nicht einmal 15 Jahre alt, 30% waren unter 20, über 75% unter 30 Jahre alt. Sie kamen aus den Dörfern Nieder- und Oberösterreichs, aus Böhmen, Mähren und den östlichen Gebietsteilen des alten Österreich. Sie waren mittellose Töchter kleiner Bauern und Gewerbetreibender, Landarbeiter oder kleinstädtischer Beamter und brachten als Qualifikation lange, entbehrungsreiche Kindheitsjahre häuslicher Sozialisation mit. Wenn viele auch anfänglich der deutschen Sprache nicht mächtig waren – im Gebrauch von Putzfetzen, Kochlöffel und Waschrumpel stellten sie ihre Frau. Halbe Kinder waren sie oft noch, wenn sie, zaghaft und unerfahren, ihr gesamtes Hab und Gut feinsäuberlich in einem Koffer oder einer Truhe verpackt, in Wien ankamen. Dass der Traum vom städtischen Lebensglück bald der ernüchternden Realität eines trostlosen Dienstbotenalltags weichen sollte, ahnten sie vielleicht bei der ersten Suche nach Unterkunft und Dienststelle. Hatten sie nicht schon eine sichere Stelle in Aussicht, blieb ihnen die Wahl, eine unbefugte Stellenvermittlerin aufzusuchen oder in einem der Wiener Tagblätter eines der unzähligen Stellengesuche zu platzieren. (Erst seit der Jahrhundertwende, als sich ein Mangel an Dienstboten bemerkbar zu machen begann, gab es städtische Dienstvermittlungsstellen.) In der Zwischenzeit zahlten sie in barer Münze für ein Bett bei einer Zimmerfrau oder im Dienstbotenasyl. Auch die Stellenvermittlung hatte ihren Preis. Für ein besseres Angebot mussten die Mädchen gut und gerne ein bis zwei Monatslöhne investieren. (…) Vazierende Dienstboten – Dienstboten ohne Stelle – hatten nichts zu lachen. Wollten sie der Arretierung entgehen, mussten sie sich schleunigst bei der Polizei melden oder Arbeit nehmen. Hunderte von Dienstboten wurden jedes Jahr in Wien wegen zu langer Dienstlosigkeit im Sinne des Vagabundengesetzes bestraft. Nach der Qualität der Arbeit zu fragen, hatten sie da nicht viel Zeit. Der Arbeitsalltag der Dienstboten – und die Arbeit war ihr Leben – war genauester Reglementierung unterworfen. Zusätzlich zum bürgerlichen Gesetzbuch war der häusliche Dienst in eigenen Gesinde- und Dienstbotenordnungen geregelt. In den Ländern der Monarchie gab es deren 24, einige Städte hatten eigene Ordnungen. In Wien galt um die Jahrhundertwende immer noch die Dienstbotenordnung aus dem Jahr 1810. Während jahrhundertelang Familienangehörige und Gesinde eine große, hausrechtlich vom Hausherrn abhängige Familie bildeten, lösten sich mit der Entwicklung der Produktivkräfte und dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft die hausrechtlichen Bindungen. Die Arbeit der männlichen Dienstboten entwickelte sich zu Frühlingswerkstatt 2013 37 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger eigenen Berufsgattungen – Gärtner, Kontoristen, Kutscher. Der häusliche Dienst wurde damit zu einer nahezu ausschließlichen Frauenangelegenheit, entsprach er doch den bürgerlichen Vorstellungen von „Weiblichkeit“ wie kein anderer Tätigkeitsbereich. Dienstjahre in Erwartung der Ehe – zu der es in vielen Fällen allerdings mangels Geld und Kontaktmöglichkeiten niemals kommen sollte. Bar jeglichen Schutzes erlebten die Mädchen die traurigsten Seiten der freien Lohnarbeit: freie Stellensuche, Fehlen arbeits- und sozialrechtlicher Bestimmungen, kein Kündigungsschutz, unbegrenzte Arbeitszeit bei niedrigsten Löhnen. Gleichzeitig unterstanden sie jedoch der Herrschaft als einer mit eigenen Rechten ausgestatteten Obrigkeit. Die Wiener Dienstbotenordnung von 1810 verstand die Herrschaft als „häusliche Polizey“ und es war „Pflicht eines jeden Familienoberhauptes, im Inneren seiner Familie über Sittlichkeit und Ordnung zu wachen“. Dienstboten waren der Herrschaft zu Gehorsam, Fleiß, Ehrerbietung, Treue und Aufmerksamkeit verpflichtet. (…) Außerdem hatte der Dienstbote die Pflicht zum sittlichen und bescheidenen Leben in- und außerhalb des Hauses. So konnte der Dienstgeber Rechenschaft über die Erfüllung der Religionspflichten fordern und hatte über die Kleidung der Dienstmädchen zu wachen. „Unnötiger Aufwand“ – in herrschaftlichen Klagen zur Putzsucht und Eitelkeit der Dienstmädchen hochstilisiert – wurde nicht geduldet.“ Aus: Hofbauer, Hannes, Komlosy, Andrea; Das andere Österreich; Wien 1987; Seite 127ff. Haussklavinnen „Ihre Arbeitszeit ist unbeschränkt und kein Gesetz bestimmt, wie viele Stunden im Tag ihre Arbeit dauern darf. Von 6 Uhr früh bis 12 Uhr nachts gehen die verschiedensten Arbeiten durch ihre Hände. Die Mädchen für alles in den Familien, wo Kinder sind, kommen oft den ganzen Tag nicht dazu, ordentlich aufzuatmen, Frühstückkochen, Kleiderputzen, Einkaufen, Zimmerbürsten, Geschirrwaschen, dann mit den Kindern spazieren gehen, das Abendessen richten, wieder Geschirrwaschen, nebenbei oft noch Wäsche waschen, zum mindesten aber bügeln, das ist das Tageswerk eines Dienstmädchens, wo es nur eines im Hause gibt. Wie oft aber bleibt für das Mädchen nicht genug übrig, um sich satt zu essen! Denn viele Dienstgeberinnen sind so einsichtslos, dass sie alles, was gekocht wird, auf den Tisch bringen lassen und das Dienstmädchen bekommt dann das, was auf den Schüsseln bleibt und gar oft von den Tellern zurückgegeben wurde Da ist nun so eine ‚gnädige‘ Frau, die reich genug ist, sich einige Dienstmädchen halten zu können. Nie ist der Ernst des Lebens an sie herangekommen. Immer ist sie bedient worden, so dass sie in dem Glauben groß geworden ist, Dienstboten seien eigens dazu erschaffen, den Reichen das Leben angenehm zu machen. Die ‚Gnädige‘ liegt am Sofa, sie sitzt am Klavier oder plaudert im Salon. Bis in die späte Nacht sind oft Gäste im Haus, die Mädchen haben die Plage und kommen lange nach Mitternacht zu Bette. Die Dame schläft sich am Morgen aus, oft bis zur Mittagszeit, die Mädchen müssen wie sonst ihrer täglichen Arbeit obliegen. Wie oft aber sind viele Damen noch obendrein roh und brutal! Dieselben Lippen, die eben noch den Gästen das holdselige Lächeln gezeigt haben, gebrauchen dem Mädchen gegenüber Beschimpfungen, wie sie niedriger nicht erdacht Frühlingswerkstatt 2013 38 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger werden könnten. Es gibt aber auch Damen, die sich nicht scheuen, das ihren Unwillen erregende Mädchen zu schlagen oder ihm irgendeinen Gegenstand an den Kopf zu werfen. (…) Eine kleine Hoffnung ist vorhanden, dass es besser werden wird. Nicht durch die Güte und das Wohlwollen der Dienstgeber, sondern durch das Zusammenhalten, durch die Erhebung der dienenden Mädchen. Es regt sich, die Dienstmädchen rühren sich. Viele Versammlungen haben schon stattgefunden und der Verein ‚Einigkeit‘ wurde gegründet. Auch eine Zeitung, ebenfalls ‚Einigkeit‘ genannt, erscheint einmal im Monat. Viele, viele Damen sind unruhig und nervös geworden. Mit den gemeinsten, ordinärsten Beschimpfungen sind sie über die Bestrebungen der Dienstmädchen hergefallen. Alles Schlechte, das nur ersonnen werden kann, sagen sie in Briefen, die sie an die Dienstmädchenversammlungen und an den Verein schicken. Nach ihren Briefen gibt es keine schlechteren, verruchteren Geschöpfe als die Dienstboten und doch können die guten, feinen Damen nicht ohne die Mädchen sein. Und weil sie nicht ohne Mädchen sein können, die die Arbeit machen, die ihnen die Zimmer schön herrichten, die ihnen kochen und die Kinder pflegen und sie selber auch bedienen, deshalb können die Mädchen fordern, dass es für sie besser werde. Nicht die gnädige Frau sollen sie in der Dienstgeberin sehen, sondern die Arbeitgeberin, die Arbeitskräfte braucht. Die Dienstmädchen aber sollen Achtung vor ihrer eigenen Arbeit, vor ihrem Können und ihren Leistungen empfinden. Sie sollen nicht nur den gebührenden Lohn und anständige, ausreichende Nahrung verlangen, sondern auch achtungsvolle Behandlung. Keine Beschimpfung, kein brutaler Ton werde geduldet. Wenn die Mädchen ihre Pflicht tun, dann haben sie auch das Recht zu fordern, was ihnen gebührt. Der ‚Dienstbote‘ muss nach und nach verschwinden und die Hausangestellte oder die hauswirtschaftliche Arbeiterin muss an ihre Stelle treten. Denn schon in dem Wort ‚Dienstbote‘ liegt die Bedeutung, dass es sich um botmäßige Geschöpfe handelt. Die Zeiten sind aber vorbei, wo man das nicht gefühlt hat. Mit dem Dienstboten wird aber manches andere noch verschwinden, das heute den Mädchen das Leben zur Qual macht. Keine Haussklavinnen, sondern freie Arbeiterinnen sollen in Zukunft die Dienstmädchen sein. Auch ihnen müssen an jedem Arbeitstag einige Stunden der Ruhe eingeräumt werden, auch sie sollen wenigstens einen Abend in der Woche frei sein. Auch sie sollen sich rechtszeitig schlafen legen können in einem anständigen, gesunden Raum, in einem ordentlichen Bett.“ Aus: Popp, Adelheid; „Haussklavinnen“; Wien 1912; S. 5f. und S. 30 Frühlingswerkstatt 2013 39 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger „Grenzenloses Vergnügen“ oder „Kampf dem Schund“ Film und Kino eröffneten eindeutig und endgültig das Zeitalter der Massenkultur. „Das Leben in Bewegung getreu abgebildet zu sehen – diese technische Leistung zog in ganz Europa Oberschicht wie Analphabeten gleichermaßen in ihren Bann. Seit 1900 war der Film eine herausragende Attraktion auf Jahrmärkten und Rummelplätzen, in Varietés, Zirkussen und Gastwirtschaften. Wanderkinos besuchten auch die Provinz, und bald hatten große Teile der Bevölkerung schon einmal die Faszination ‚lebender Photografien‘ verspürt. Nach 1905 wurde der Film dann sesshaft; in den Städten öffneten feste, ganzjährig betriebene Kinos. Zunächst handelte es sich um ziemlich primitive Etablissements, oft mit Leinwand, Projektor und Stühlen bestückte Ladenräume. Aber nach nur 10 Jahren zählte man in Europa über 10000 Kinos, darunter nicht wenige, die zu Recht selbstbewusst als ‚Palast‘ firmierten, mit mehreren tausend Sitzplätzen in luxuriöser Architektur auf der Höhe des zeitgemäßen Geschmacks. Man schätzte, dass 1914 in Frankreich auf 30000 Einwohner ein Kino kam, in Deutschland auf 18000, in Italien auf 10000, in England auf 8000 und in Belgien auf 7000. Die Preise waren niedrig; 10 bis 20 Pfenning oder 1 bis 2 Penny Eintritt, und Kinder zahlten die Hälfte. Der Kinobesuch wurde der deutschen und englischen Arbeiterschaft zur regelmäßigen Freizeittätigkeit; im französischen Publikum dominierten noch die Kleibürger. Weshalb ist hier erstmals uneingeschränkt von moderner Massenkunst zu sprechen? Längst nicht alles, was der Film bot, war neu; aber die Gesamtheit seiner Züge machte ihn einzigartig. Das gilt in erster Linie für die Reichweite. Populäre Lesestoffe oder Melodien konnten zwar schon nach 1850 Hundertausende erreichen; aber die Verbreitung zog sich über längere Zeit hin und erreichte nur kleiner Gruppen der Unterschichten. Der Film machte bis zum Weltkrieg mit Dutzenden oder Hunderten Kopien das Massenpublikum zur Norm – und zwar praktisch auf einen Schlag. Erfolgsproduktionen wie die ab 1910 aufkommenden ‚sozialen Dramen‘ mit Stars wie Asta Nielsen und Henny Porten erreichten innerhalb weniger Wochen ein Millionenpublikum; sie dienten damit als Mittel kultureller Kommunikation im nationalen, weithin schon internationalen Maßstab. In den Städten wurde es schnell zur alltäglichen, nicht selten regelmäßig ausgeübten Gewohnheit, in Kino zu gehen. In Mannheim zählte man 1912 pro Woche mehr als 50000 Besucher bei einer Einwohnerzahl von gut 200000 und in England sollten 1916 wöchentlich 20 Millionen gewesen sein. Film und Kino lieferten einen Fundus an Themen, Bildern und Phantasien – Gemeinsamkeiten, die die Menschen der Massengesellschaft verbanden. Und das von Anfang an international; der Stummfilm schuf sofort einen Weltmarkt. In England und Deutschland deckte die einheimische Produktion nicht einmal ein Fünftel des Bedarfs, während französische Unternehmen über einige Jahre in den Kinos aller Kontinente dominierten. Natur- und Dokumentarfilme hatten ihr Publikum; die aktuelle Berichterstattung über Katastrophen, Kriege, Sensationen zog Massen an. Aber seine eigentliche Faszination und gesellschaftliche Prägekraft entfaltete das Medium mit dem Erzählen erfundener Frühlingswerkstatt 2013 40 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Geschichten – als Kunst sui generis, als Massenkunst. Sicher lässt sich Filmgeschichte nach den Maßstäben der traditionellen Ästhetik schreiben: Komplexität der Bezüge, philosophischer Gehalt, ständige Innovation der eingesetzten Mittel, Selbstreflexion des Mediums usw. Aber Faktor der Gesellschaftsgeschichte, Gestalter der geistigen und sinnlichen Wahrnehmungs-instrumente der Menschen wurde der Film, soweit er sich einstellte auf ein abgespanntes, buntgemischtes Publikum, das aus der Hektik, Reizflut und Enge des modernen Lebens heraus das ganz andere suchte: sinnliche Erregung und starke Gefühle, unbekanntes Milieu und exotische Umgebung, Abenteuer und Spannung, bewegte Handlung und einprägsame Bilder, Witz, Komik und Drastik, nicht zuletzt die Bekräftigung elementarer Prinzipien von menschlichem Anstand und Gerechtigkeit.“ Aus: Maase, Kaspar; Grenzenloses Vergnügen; Frankfurt/Main 1997; Seite 108f. Illusion und Maskerade Der französische Publizist Louis Haugmard schreibt 1913 über das Kino: „Durch (das Kino) werden die bezauberten Massen lernen, nicht mehr zu denken, jedem Impuls zum Argumentieren und Konstruieren zu unterdrücken, werden langsam verkümmern; sie werden nur noch wissen, wie sie ihre großen, leeren Augen öffnen können, nur zum Schauen, Schauen, Schauen … (Und das wird ein unzweifelhaftes Zeichen von Dekadenz sein, ein bemerkenswertes Symbol vom Ende der Rasse. Das Kino wird das „Amphitheater“ der geschwächten Zivilisation, „Zirkusse“ für friedfertige Menschen, das Mittel für Aktivität von Neurasthenikern.) Wird Cinematographie vielleicht eine elegante Antwort auf das soziale Problem finden, wenn man den modernen Slogan wie folgt formuliert: ‚Brot und Kinos‘? … Und wir kommen dem Tag immer näher, an dem Illusion und Maskerade regieren werden.“ Zitiert nach: Blom, Philipp; Der taumelnde Kontinent; München 2009; Seite 366 Der Vorsitzende des Essener „Ausschusses für Jugendschutz in den Lichtspielhäusern“ berichtet 1916 über den großen Andrang bei „Familienvorstellungen“ in Kinos: Es „waren etwa 1.000 Kinder anwesend, es wurden mehr Karten verkauft als Plätze vorhanden waren, viele Kinder standen und lagen während der Vorstellung in den Gängen. (…) Die weitaus größere Zahl der Besucher gehört dem schulpflichtigen Alter an, eine große Zahl sogar dem vorschulpflichtigen. (…) Die Kinder der ärmeren Schichten der Bevölkerung sind am stärksten vertreten. (…) Die Darstellungen sind meist völlig wertlos. Liebesromane, Kussszenen, Trinkgelage und Diebstähle werden vorgeführt. (…) Der Geschmack der Kinder wird dadurch völlig verdorben. Für ernste Darstellungen aus dem Leben und aus der Natur und für Bilder von den Kriegsschauplätzen ist kaum Interesse vorhanden. (…) Knaben und Mädchen sitzen auf den Emporen in der Dunkelheit dicht gedrängt nebeneinander, beim Hinausgehen benutzen die Knaben alle Wände und Ecken als Frühlingswerkstatt 2013 41 Geschichten zu den sozialdemokratischen Grundwerten Bernd Dobesberger Bedürfnisanstalten, die Trinkhallen und Eiswagen werden förmlich belagert.“ Zitiert nach: Maase, Kaspar; Die Kinder der Massenkultur; Frankfurt/New York 2012; Seite 128f. Renegaten im Tanzlokal „Hier (bei den Roten Falken – B.,D.) lernten sie das Menuett als Tanzform der Aristokratie zu bezeichnen, den Walzer als typisch für die Zeit des aufsteigenden Bürgertums und die modernen Tänze beim Jazz als Verfallserscheinung zu erkennen. Sie suchten neue Tänze, dem proletarischen Klassenbewusstsein entsprechend, denn sie wollten ja tanzen, aber anders, neu tanzen, und so fanden sie den Weg zu den Volkstänzen. (…) Dabei blieb es: die modernen Tänze waren verpönt, die Volkstänze wurden gepflegt. Es ist selten dazu gekommen, dass einer der älteren Falkenführer lieber einem werbenden Partner folgte, das Leben in der Falkengruppe mit dem im Tanzlokale vertauschte. Solcher Verrat wurde von den anderen mit Abscheu und Verachtung quittiert. Diese Abtrünnigen wurden wie Renegaten behandelt, eigentlich ausgestoßen aus der Gemeinschaft dieser eifrigen und eifernden jungen Puritaner.“ Aus: Tesarek, Anton; „ Das Jahr der Roten Falken“ in „Sozialistische Erziehungsarbeit“; Wien 1952; S. 10 Frühlingswerkstatt 2013 42