Material Frankreich - Lise-Meitner

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Material: Formen und Theorien der Demokratie
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MA 20 Politisches System Frankreichs
MA 21 Charakteristika des politischen Systems
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Aufgaben des Staatspräsidenten
Der Präsident der Republik ist die zentrale Figur der Verfassung. Er verkörpert die Einheit der Nation und die
Kontinuität des Staates. Er führt den Vorsitz im Ministerrat und verkündet die Gesetze. 1958 wurde er noch
nicht direkt, sondern durch ein Wahlmännergremium gewählt. Mit der Einführung der Direktwahl 1962
verfolgte de Gaulle das Ziel, jedem seiner Nachfolger die gleiche Legitimität zukommen zu lassen, die er aus
historischen Gründen - Aufruf zum Widerstand 1940, Verkörperung des „freien Frankreichs" (la France
libre), Lösung des Algerienproblems nach 1958 - schon besaß. Seitdem hat die Direktwahl als solche dem
Staatspräsidenten nicht mehr Macht verliehen, aber sie sichert ihm die direkte Legitimation durch das Volk,
dem er allein Rechenschaft schuldet. Er ist nicht dem Parlament verantwortlich; auch sind seine Handlungen
verfassungsgerichtlich nicht kontrollierbar. Von Staatspräsidenten anderer parlamentarischer Demokratien
unterscheidet ihn des Weiteren, dass er eigenständige Kompetenzen besitzt, die keiner Gegenzeichnung
seitens des Regierungschefs oder eines Ministers bedürfen. Es sind dies insbesondere
- die Ernennung (und faktisch Entlassung) des Premierministers,
- der Erlass eines Referendums (Vorschlag der Regierung oder des Parlamentes ist reine Formalie),
- das Recht, die Nationalversammlung aufzulösen,
- die Ernennung dreier Mitglieder des Verfassungsrates sowie dessen Anrufung,
- das Recht, Mitteilungen an das Parlament zu richten oder einen Gesetzentwurf an das Parlament
zurückzuverweisen,
- Sondervollmachten im Notstandsfall,
- als Oberbefehlshaber der Streitkräfte Entscheidungsvollmacht über den Einsatz der Atomwaffen zu haben
sowie
- das Recht, Verhandlungen über internationale Verträge zu führen und diese zu ratifizieren.
Diese Kompetenzen bringen zunächst zum Ausdruck, dass der Staatspräsident eine Schiedsrichterrolle
einnimmt, indem er in einem Konflikt zwischen Regierung und Parlament entweder vermittelt oder
entscheidet, wer verbindlich entscheiden soll: Parlament, Volk oder Verfassungsrat.
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Parlamentsauflösungen erfolgten bislang fünf Mal, und zwar in den Jahren 1962, 1968, 1981, 1988 und 1997.
Insbesondere nach den Präsidentschaftswahlen 1981 und 1988 bestand ihr Zweck darin, dem neuen
Staatspräsidenten eine Mehrheit im Parlament zu sichern. 1997 löste Chirac die Nationalversammlung auf,
obwohl er eine absolute Mehrheit besaß, die jedoch in sich zerstritten war. Die Wählerinnen und Wähler, die
diese Auflösung als ungerechtfertigt betrachteten, verweigerten ihm daraufhin eine Mehrheit.
Die Notstandsbefugnisse waren zu Beginn der V. Republik heftig umstritten, da sie keine parlamentarische
Kontrolle vorsehen, spielen heute aber nur eine untergeordnete Rolle.
Auf internationalem Parkett hat der Staatspräsident die dominierende Rolle, die sich nicht aus dem
Verfassungstext herauslesen lässt. De Gaulle begründete die Praxis, alle wichtigen außen- und
sicherheitspolitischen Fragen alleine zu entscheiden. Die Tradition, diese domaine réservé dem
Staatspräsidenten zu überlassen, ist heute eine Selbstverständlichkeit.
Die Einführung der Direktwahl hatte einen paradoxen Effekt. Einerseits sollte sie bezwecken, dass der
Staatspräsident auch in Zukunft eine überparteiliche, weil vom gesamten Volk gewählte Person bleibt.
Andererseits waren die Parteien fortan gezwungen, sich bei der Nominierung auf einen Kandidaten zu
einigen. Dies beförderte - erstmalig und unerwartet - eine klare Mehrheitsbildung im Parlament. Das
Präsidentenamt verlor jedoch damit seine Überparteilichkeit. Eine solide Parlamentsmehrheit wiederum stellt
seitdem die eigentliche Grundlage der Macht des Präsidenten im politischen System der V. Republik dar.
„Doppelköpfige" Exekutive
Laut Verfassungstext bestimmt und leitet die Regierung die Politik der Nation. Der Premierminister steht
dabei an der Spitze der Regierung. Die Verfassungspraxis ist jedoch eine andere. Obwohl der Staatspräsident
in der Verfassung im Kapitel „Regierung" nirgends auftaucht, ist er faktisch Bestandteil der
„doppelköpfigen" Exekutive. Es ist der Staatspräsident, der die Richtlinien der Politik bestimmt, wenngleich
er formal kein Recht zur Gesetzesinitiative hat, während der Premierminister als Bindeglied zwischen ihm
und der parlamentarischen Mehrheit fungiert. Der Premierminister wird nicht - wie in Deutschland oder
Großbritannien - vom Parlament gewählt, sondern vom Staatspräsidenten eingesetzt. Dennoch ist die parlamentarische Logik des Regierungssystems der V. Republik erkennbar: Der Premierminister ist dem
Parlament gegenüber verantwortlich, und dieses hat die Möglichkeit, ihm das Vertrauen zu entziehen (was
bislang nur einmal, 1962, geschah). Der Premierminister ist aber auch vom Vertrauen des Staatspräsidenten
abhängig, von dem er ernannt und abberufen wird. Es ist dies das dominante Vertrauensverhältnis, da nicht
wenige Präsidenten „ihrem" Premierminister das Vertrauen - trotz parlamentarischer Mehrheit - entzogen
und ihn auswechselten.
All dies setzt voraus, dass Staatspräsident und Regierungschef sowie die parlamentarische Mehrheit dem
gleichen politischen Lager entstammen, wie es dem Normalfall der V. Republik entspricht -obwohl es sich
bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen um zwei getrennte Wahlgänge handelt. 1986 wurde zum ersten
Mal ein Parlament gewählt, dessen Mehrheit in Opposition zum Präsidenten stand.
Francois Mitterrand musste zwei Jahre lang sein Amt mit einer gaullistischen Regierung (unter dem
damaligen Premierminister Chirac) ausüben, was sich 1993 bis 1995 wiederholte. Die als Kohabitation
(wörtlich „Zusammenleben") bezeichnete Situation bedeutet, dass die „doppelköpfige" Exekutive in zwei
unterschiedliche politische Lager gespalten ist. Die eigenständigen Kompetenzen des Präsidenten verlieren
politisch -nicht jedoch rechtlich- ihre Bedeutung; übrig bleiben überwiegend repräsentative Funktionen des
Präsidentenamtes.
Die längste Kohabitation zwischen Chirac und dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin von 1997
bis 2002 hat dazu geführt, den parlamentarischen Charakter der V. Republik zu akzentuieren. Hervorzuheben
ist, dass die Bevölkerung der Teilung der Exekutive eher aufgeschlossen gegenüber steht, wohingegen sie
von nahezu allen politischen Akteuren als Lähmung des politischen Prozesses betrachtet wird. Die
wesentlichen Gründe: Der Staatspräsident führt auch weiterhin den Vorsitz im Ministerrat; er ist faktisch
Oppositionschef; er äußert sich nicht nur weiterhin - wenngleich vermindert - zur aktuellen Tagespolitik,
sondern nimmt auch Einfluss auf ihm wichtig erscheinende Reformvorhaben wie zum Beispiel die
Justizreform im Jahre 2000; die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt seine domaine réservé; Staatspräsident
und Premierminister konkurrieren im zunehmend wichtiger werdenden Feld der Europapolitik.
Vor diesem Hintergrund wurden die Mandate von Präsident und Nationalversammlung im Jahr 2002
angeglichen. Der Staatspräsident wird seitdem nicht mehr für sieben, sondern wie die Nationalversammlung
für fünf Jahre gewählt (quinquennat). Die Kohabitation soll hierdurch in Zukunft ausgeschlossen werden,
auch wenn sie prinzipiell möglich bleibt.
Rolle des Parlaments
Das Parlament besteht aus Nationalversammlung und Senat. Seine Zuständigkeit wurde durch einen festen
Katalog von Gesetzgebungskompetenzen geregelt. Selbst die Zahl der ständigen Ausschüsse - lediglich
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sechs, im Vergleich zu 23 des Deutschen Bundestages - ist in die Verfassung geschrieben. Die Regierung legt
die Tagesordnung der Nationalversammlung fest, über die nicht im Plenum abgestimmt wird. Der
„rationalisierte Parlamentarismus" kommt des Weiteren darin zum Ausdruck, dass die Regierung
verschiedene Teile eines Gesetzestextes einer einzigen Abstimmung unterwerfen und damit
Änderungsanträge des Parlamentes unberücksichtigt lassen kann; dieser Abstimmung darf sich das Parlament
nicht verweigern. Die stärkste Waffe in den Händen der Regierung ist die Verknüpfung der Abstimmung
über ein Gesetz mit der Vertrauensfrage. Hiermit diszipliniert der Premierminister seine eigene Mehrheit, um
effizient regieren zu können. Zu guter Letzt werden die Geschäftsordnungen der beiden Kammern der
obligatorischen Kontrolle durch den Verfassungsrat unterworfen.
Auch wenn diese Bestimmungen den Eindruck erwecken, es handele sich um ein „schwaches" Parlament, so
haben sie vielmehr dazu geführt, den Parlamentarismus in Frankreich effektiv zu gestalten und ihn so zu
modernisieren.
Der Senat vertritt als zweite Kammer der Legislative die Gebietskörperschaften (Gemeinden und
Departements). Er ist in seiner Besetzung nicht mit dem deutschen Bundesrat zu vergleichen, da dieser die
Länderexekutiven „vertritt". Wie die Nationalversammlung kann der Senat Gesetzesvorschläge einbringen,
Gesetzentwürfe der Regierung beraten und Abänderungsanträge stellen. Werden sich beide Kammern nicht
einig, kann der Premierminister von der Nationalversammlung das „letzte Wort" verlangen. Bei
Verfassungsänderungen hat der Senat jedoch ein Vetorecht: Die erste Kammer ist auf seine Zustimmung
angewiesen.
„Charakteristika eines politischen Systems“, Wolfram Vogel
© www.bpb.de/publikationen/K1RH0G,1,0,Charakteristika_des_politischen_Systems.html
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