Vortrag von Dr. Reimer Möller - DGB Schleswig

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Reimer Möller
Hamburg, 19. Mai 2012
KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Vortrag: Einführung in die Ausstellung des DGB in Husum am
23.5.2012: Biographische Beispiele aus dem nördlichen
Landesteil
….
Ich will Ihnen drei Biographien aus unserer Region vorstellen:
Willi Hannemann aus Flensburg, Paul Dölz aus Tönning und
Richard Vosgerau aus Borby bei Eckernförde. Es handelt sich um
einen Kommunisten und zwei Sozialdemokraten.
Willi Hannemann, geboren am 23.4.1906 in Jüterbog, war
Bauschlosser von Beruf und im Deutschen Metallarbeiterverband
organisiert. Außerdem war er Mitglied des sozialdemokratisch
geführten Wanderervereins „Naturfreunde“, dem proletarischen
Gegenstück zur bürgerlichen Wandervogelbewegung. 1924 trat er
dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands bei und 1930
der KPD. In Flensburg fungierte er als Organisationsleiter des
Unterbezirks und 1931 als besoldeter Unterbezirkssekretär.
Unter anderem beteiligte er sich an einer zentral angeleiteten
propagandistischen Kampagne seiner Partei, verdeckt
Flugblätter in Kasernen der Reichswehr zu schaffen. Einfachen
Reichswehrsoldaten der Garnison Flensburg sollte deutlich
gemacht werden, sie seien irregeleitete Proletarier. Im Lichte
dieser Selbsterkenntnis, sollten sich weigern, sich ihren
Offizieren weiter unterzuordnen. Diese Agitation war völlig
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effektlos, da einfache Reichswehrsoldaten noch entschiedener
antikommunistisch eingestellt waren als ihre Vorgesetzten.
Diese Agitation war nicht nur effektlos, sondern darüber
hinaus strafrechtlich schwer bedroht. Sie galt als
Vorbereitung zum Hochverrat, strafbar nach § 86 des
Strafgesetzbuches und § 7 des Republikschutzgesetzes.
Hannemann wurde im März 1931 in Untersuchungshaft genommen.
Zum Hauptverfahren kam es nicht und im Juni 1932 war er wieder
frei; anschließend setzte ihn seine Partei als
Unterbezirksleiter in Itzehoe ein. Im Kreis Steinburg war die
KPD drittstärkste Kraft, konnte sich aber dem Aufstieg der
NSDAP – wie auch anderswo – nicht wirksam in den Weg stellen.
Am 7.3.1933 wurde Hannemann im Konzentrationslager Glückstadt
inhaftiert, weitergeleitet im August 1933 in eines der
Emslandlager, im Dezember 1933 ins KZ Lichtenburg in Sachsen;
und am 31. März 1934 wurde er entlassen.
Zurück in Flensburg schaltete er sich in die Untergrundarbeit
der illegalen KPD-Unterbezirksorganisation ein und war an
illegalen Schleusungen über die dänische Grenze beteiligt.
Deswegen wurde er 1935 verhaftet und im Ringgaard-Prozess vom
Kammergericht Berlin zu 3 ½ Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach
Verbüßung der Strafhaft überführte ihn die Gestapo ins
Konzentrationslager Sachsenhausen. Da dort kommunistische
Häftlinge eine starke Stellung hatten, bekam er wegen seiner
politischen Verbindungen privilegierte Funktionen, die seine
Überlebenschancen erheblich verbesserten. Er wurde in der
Häftlingsschreibstube eingesetzt und wechselte 1940/41 als
Blockältester in den Block 4 des Krankenreviers. In dieser
Funktion hatte er Vorgesetztenbefugnisse über Mithäftlinge.
Mit der Verlegung ins Konzentrationslager Flossenbürg in der
Oberpfalz verschlechterte sich seine Lage entscheidend. Dort
half ihm politische Solidarität nicht mehr. Er wurde in die
Häftlingskategorie der „Blaupunkte“ eingereiht, deren
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„Rückkehr unerwünscht“ war. In anderen Worten: die SS hatte
vorgesehen, dass er die Lagerhaft nicht überleben sollte. Er
musste körperlich schwerste Arbeit im Steinbruch verrichten.
Zeitweise war er in den „Bunker“ eingewiesen, in dem
Arreststrafen unter schlimmen Bedingungen und unter
Misshandlungen vollstreckt wurden. Im Oktober 1943 kehrte er
in das allgemeine Häftlingslager zurück und erlebte die
Befreiung des Lagers durch die US-Armee.
Anschließend ließ er sich in Hamburg nieder, kehrte aber schon
im Juli 1945 nach Flensburg zurück, um die Führung der neuen
örtlichen Organisation der KPD zu übernehmen. Von 1946-1948
vertrat er seine Partei im Flensburger Stadtparlament. Mit
Verschärfung des Kalten Krieges verlor die KPD überall ihre
Mandate in kommunalen Gremien und damit ging auch Hannemanns
politische Tätigkeit zu Ende.
Paul Dölz, geboren am 19.9.1887 in Auma/Thüringen, war
gelernter Tischler, hatte die Baugewerkschule besucht und
gearbeitet in Kiel, Duisburg, Köln, Karlsruhe, Solingen, Genf,
Zürich und Bern. Schon in seiner Lehrzeit trat er in die SPD
ein. In den Jahren des Ersten Weltkriegs geriet er in
Gegensatz zu seiner Partei und gehörte zu den Mitbegründern
der USPD in Schleswig-Holstein, die sich wegen Kritik am
kriegsloyalen Kurs der SPD abgespalten hatte. Dölz reiste im
Land umher, um in politischen Versammlungen, „ganz auf
Kampfeston gestimmt“, Rednern der SPD entgegenzutreten, so zum
Beispiel am 30.7.1919 in Wilster. Nachdem sich die USPD wegen
ihrer politischen Misserfolge auflöste, fand er den Weg zur
SPD zurück und stieg schon 1920 zum hauptamtlichen
Parteisekretär auf. Seine feindselige Ablehnung seiner alten
Partei hatte sich also mit besonderer Schnelligkeit ins
Gegenteil gekehrt.
Seit der Kommunalwahl 1929 war er Mitglied des Kreistags des
Kreises Eiderstedt.
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Am 5.4.1933 wurde er von den Nationalsozialisten in Schutzhaft
genommen, im Zuchthaus Rendsburg festgehalten und im November
1933 wegen Haftunfähigkeit entlassen. Um seinen Unterhalt zu
verdienen, machte er sich in Flensburg mit einem Tabakgeschäft
selbständig, das er am 15.4.1943 auf behördliche Anordnung
schließen musste. Die Gestapo hatte Argwohn geschöpft, der
Laden sei ein illegaler sozialdemokratischer Treffpunkt.
Im August 1944 verhaftete ihn die Gestapo im Zuge der
„Gewitteraktion“ und lieferte ihn im Konzentrationslager
Neuengamme ein.
Die „Gewitteraktion“ war eine von Himmler angeordnete
Präventionsmaßnahme nach dem Attentat auf Hitler am 20.7.1944.
Die Ortspolizeibehörden und die Gestapostellen waren
angewiesen, alle früheren Mandatsträger der SPD, KPD und
Zentrumspartei zu erfassen und in Konzentrationslager zu
sperren. Wenn das Attentat auf Hitler gelungen wäre, so nahm
Himmler an, hätte sich die neue innere Verwaltung des
Deutschen Reiches auf die ehemaligen Kommunalpolitiker stützen
sollen.
Dölz übernahm nach der Befreiung wichtige Funktionen beim
demokratischen Neuaufbau des Landes Schleswig-Holstein. Die
britische Besatzungsmacht berief ihn zum Bürgermeister von
Tönning und zum stellvertretenden Landrat des Kreises
Eiderstedt. Von 1946-1950 und 1953-54 war er Abgeordneter im
Schleswig-Holsteinischen Landtag und als solcher u.a. von
November 1947 bis September 1950 parlamentarischer Vertreter
des Innenministers von Schleswig-Holstein. Am 22.5.1975, im
Alter von 88 Jahren, ist er in Tönning gestorben.
Richard Vosgerau ist 1889 in der Gemeinde Borby, die heute ein
Stadtteil von Eckernförde ist, geboren worden. Er wuchs mit
vier Geschwistern in einem sozialdemokratisch geprägten
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Elternhaus auf, lernte Bäcker in Kiel und leistete seine
Militärdienstpflicht in Posen ab, anschließend arbeitete er in
der Schmiede der Kaiserlichen Werft in Kiel. Politisiert durch
einen großen Streik in der deutschen Werftindustrie trat er
1911 Gewerkschaft und SPD bei. Noch vor Beginn des Ersten
Weltkrieges wurde er Mitglied im Gemeinderat von Borby. 1914
musste er Kriegsdienst leisten und kam 1916 nach Verwundung
mit herabgestuftem Tauglichkeitsgrad „garnisonverwendungsfähig
Heimat“ von der Front zurück. Am 1.7.1916 wurde er zum SPDOrtsvereinsvorsitzenden gewählt. Am 17.2.1917 trat er mit dem
gesamten Ortsverein zur USPD über. Im Zuge der Selbstauflösung
der USPD kehrte in die SPD zurück. 1921, also noch in der Zeit
der Zugehörigkeit zur USPD, wählte ihn der ADGB-Ortsausschuss
Eckernförde zum besoldeten Gewerkschaftssekretär.
Er betätigte sich in vielen Organisationen der
Arbeiterbewegung, gewann Mandate im Kreistag und im
Provinziallandtag und wuchs in die Rolle eines respektierten
Arbeiterführers hinein. 1929 ließ er sich zum
Gemeindevorsteher in Borby wählen. Er reduzierte die
Verschuldung der Gemeinde. Unter anderem brachte er 50
„ausgesteuerte“ Erwerbslose wieder in Arbeit. Ausgesteuert
hieß, dass sie so lange arbeitslos waren, dass sie kein
Anrecht mehr auf Haupt- und Krisenunterstützungszahlungen aus
der Arbeitslosenversicherung und auch keinen Anspruch auf
Wohlfahrtsunterstützung mehr hatten. Alle genannten Leistungen
wurden damals nur befristet gewährt. Wohlfahrtsunterstützung
war aus dem Gemeindehaushalt zu finanzieren. Vosgeraus
Vermittlungserfolge halfen also nicht nur den Arbeitslosen,
sich finanziell wieder selbst zu unterhalten, sondern auch den
Gemeindefinanzen durch verminderte Sozialleistungen. Seine
größte Leistung war der Bau einer neuen Schule in Borby.
Aus der Kommunalwahl am 12.3.1933 war die SPD in Borby als
stärkste Partei hervor gegangen. Auf sie entfielen vier Sitze,
die KPD bekam einen, die bürgerliche Liste „Gemeindewohl“ zwei
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und die NSDAP auch zwei. Der KPD-Mandatsgewinner Otto Faehse
war verhindert, an der konstituierenden Sitzung der
Gemeindevertretung am 4.4.1933 teilzunehmen, weil die
Nationalsozialisten ihn inhaftiert hatten. Sein Sitz entfiel,
weil nach § 12 des vorläufigen Gesetzes zur Gleichschaltung
der Länder mit dem Reich vom 31.3.1933 die Stimmen
unberücksichtigt zu bleiben hatten, die auf den Wahlvorschlag
der KPD entfallen waren. Somit standen den vier
Gemeindevertretern der SPD, die vier zusammengehenden
Mandatsträger von NSDAP und Liste „Gemeindewohl“ gegenüber.
Bei Stimmengleichheit bei der Wahl zum Gemeindevorsteher hatte
dann laut Gemeindeordnung das Los zu entscheiden. Das Los
entfiel auf Vosgerau. Antreten konnte er sein Amt aber nicht,
weil er am 6.4.1933 verhaftet wurde. Zusammen mit 40 anderen
Eckernförder Kommunisten und Sozialdemokraten wurde er in die
Schleswiger Moltkekaserne transportiert, am 15.5.1933 in das
Zuchthaus Rendsburg verlegt und am 11.11.1933 entlassen.
Anschließend war er auf Arbeitslosenunterstützung angewiesen.
In Eckernförde wurde er drangsaliert. Viermal fand bei ihm
eine Hausdurchsuchung statt. Um dem Druck zu entgehen, zog er
1934 nach Kiel und begann 1935 eine neue berufliche Tätigkeit
als Versicherungsagent. Im Lauf der Jahre stieg er auf zum
Bezirksdirektor des Versicherungsunternehmens. 1943 verlor
Richard Vosgerau seinen Sohn, der in Russland gefallen war,
außerdem vernichtete ein Bombenangriff auf Kiel das
Bürogebäude der Versicherung und Vosgeraus Wohnung. Er zog
nach Eckernförde zurück.
Am 22.8.1944 wurde er im Zuge der Gestapo-Aktion „Gewitter“
verhaftet und über das Kieler Polizeigefängnis Drachensee ins
Konzentrationslager Neuengamme eingeliefert.
Im April 1945 wurde er im Zuge der Räumung des KZ Neuengamme
mit ca. 10000 anderen Häftlingen per Bahn in den Hafen von
Lübeck transportiert. Dort wurden die Häftlinge auf den drei
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großen Dampfern „Cap Arcona“, „Thielbek“ und „Deutschland“
eingeschifft. Am 3.5.1945 wurden die Schiffe vor Neustadt von
Jagdflugzeugen der Royal Air Force angegriffen und in Brand
geschossen. Das führte die zweitgrößte Schiffskatastrophe der
Geschichte herbei. Ungefähr 7000 KZ-Häftlinge fanden den Tod,
darunter Richard Vosgerau.
Die NS-Herrschaft hat weltgeschichtlich verheerende Folgen
gehabt und Millionen Opfer gefordert. Dafür steht mein
Beispiel Richard Vosgerau. Hannemann und Dölz haben zwar
überlebt - aber sozial, wirtschaftlich, körperlich und
sicherlich auch seelisch fundamental geschädigt. Ihr Einsatz
als Teil des Widerstands der millionen organisierenden
Gewerkschaftsbewegung und der Arbeiterparteien war nicht
geeignet, Hitler und seine Anhängerschaft von der Führung der
Exekutive in Deutschland fernzuhalten.
Hannemanns Widerstandsaktivitäten waren – wie es für den
kommunistischen Widerstand typisch war, mit größeren
persönlichen Risiken verbunden, aber letztlich wirkungslos.
Die politische Schwerpunktsetzung entsprach nicht der
tatsächlichen Problemstellung. Die schlimmste Bedrohung ging
1931 auch in Flensburg von der aufsteigenden NS-Bewegung aus
und nicht von der kleinen Reichswehrgarnison.
Eine Zusammenarbeit mit der SPD wäre für ihn und seine Partei
insgesamt undenkbar gewesen. Die KPD ließ sich seinerzeit von
der Sozialfaschismustheorie leiten, dem Glauben, die
„Sozialfaschisten“ von der SPD seien als viel gefährlicher als
die eigentlichen Faschisten von der NSDAP.
Dass die Sozialfaschistmustheorie ein Fehler war, hat die KPD
selbst eingeräumt als es zu spät war – in der Brüsseler
Konferenz von 1935, die tatsächlich bei Moskau stattfand.
Diesen Lernfortschritt hatten nicht zuletzt die furchtbaren
Opfer der Partei erzwungen.
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Im Unterschied zu den Kommunisten kalkulierten
Sozialdemokraten das Verhältnis von Risiken zu politischem
Nutzen behutsamer. Sie beschränkten sich darauf, ihren
persönlichen politischen Zusammenhang zu wahren und achteten
darauf, die Eingreifschwelle der NS-Verfolgungsorgane nicht zu
überscheiten. Dass Dölz‘ Tabakhandel und Vosgeraus
Versicherungsagentur auch eine systemoppositionelle politische
Funktion gehabt hätten, ist denkbar aber nicht nachweisbar.
Wenn dieser Nachweis damals hätte geführt werden können, hätte
dies die Gestapo getan, und nach Lage der Dinge hätte sie zu
tödlichen Repressionsmaßnahmen gegriffen.
Die SPD hatte, seitdem die von ihr geführte Reichsregierung im
Frühjahr 1930 zurückgetreten war, ohnmächtig agiert. Gegen die
desolate Wirtschaftsentwicklung standen keine politischen
Mittel zu Gebote. Die Massenarbeitslosigkeit demoralisierte
die Mitgliedschaft und schwächte die Gewerkschaftsverbände.
Politisch stand die SPD vor dem Dilemma, dass ihre beiden
grundsätzlichen Zielsetzungen der Verteidigung der Republik
und der Verwirklichung des Sozialismus im Widerspruch standen.
Die Partei war gezwungen, das Kabinett Brüning zu tolerieren
und dessen sozialschädliche Politik zu stützen.
Gegenüber dem Kabinett Papen schwenkte die SPD wieder zu
scharfer Opposition um. Am 20.7.1932 entmachtete von Papen die
preußische Landesregierung. Die Führer von SPD und ADGB sahen
einen Generalstreik mit bewaffnetem Kampf gegen den
rechtswidrigen Staatsstreich als aussichtslos an. Im Gegenzug
zum Herbst 1918 gingen auch keine Masseninitiativen „über die
Köpfe der Führer hinweg“ von der Basis aus. Es gab keine
gemeinsamen Vorstellungen „über den Kampfboden, die
Kampfmittel und die Kampfziele“. Bürgerkriegshandlungen hätten
auch nicht zur politischen Mentalität der SPD gepasst: Sie
hätte ihre an Vernunft und Humanität orientierten Leitbilder
aufgeben und sich in eine militante Kampfpartei verwandeln
müssen.“ Bei der nächsten politischen Gelegenheit zu groß
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angelegten Kampfmaßnahmen, der Ernennung Hitlers zum
Reichskanzler, waren die Erfolgsaussichten noch schlechter.
Ich hatte eingangs davon gesprochen, dass die Kampfhaltung der
Gewerkschaftsführung gegen die NSDAP nicht konsequent war.
Dazu diese Erläuterungen: Nach der Reichstagswahl am 5.3.1933
hatte sich der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbundes, Theodor Leipart, von der SPD distanziert.
Die Gewerkschaften hätten ausschließlich soziale Aufgaben zu
erfüllen, „gleichviel welcher Art das Staatsregime“ sei. Der
frühere weitergehende grundsätzliche gesellschaftspolitische
Anspruch, die Wirtschaftsordnung und das Staatswesen
demokratisierend und humanisierend umzugestalten, war damit
über Bord geworfen. Diese quietistischen Zugeständnisse wurden
gemacht in der Hoffnung, die NSDAP würde auf die Zerschlagung
und Gleichschaltung der Gewerkschaftsorganisationen
verzichten. Der Gewerkschafts-Mitgliedschaft wurde nahegelegt,
still zu halten. Für sie sollte die Devise gelten, jetzt sei
die Stunde der internen Organisationsarbeit, nicht der
Massenaktionen in der Öffentlichkeit.
Goebbels, der Chefpropagandist der NSDAP, hatte den 1. Mai zum
Staatsfeiertag ausgerufen und ihn damit für seine Zwecke
usurpiert. Unter seiner Leitung sollten nun Arbeitgeber und
Arbeitnehmer gemeinsam marschieren und für die „nationale
Arbeit“ statt für Verbesserung von Arbeitnehmerrechten zu
demonstrieren. Trotz dieser antigewerkschaftlichen Umdeutung
bat die ADGB-Führung, mitmarschieren zu dürfen. Diese
Anbiederung hat die Zerschlagung der Gewerkschaftsorganisationen in der Tat herausgezögert - bis zum folgenden Tag. Am
2.5.1933 wurden die Gewerkschaftshäuser von SA und NSBO
besetzt.
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