1 Die neue Welt. Die letzten Gedanken Fichtes Jacinto Rivera de Rosales. UNED (Madrid, Spanien) 1. Die neue Welt der Freiheit Im WS 1813-1814, dem letzten seines Lebens, las Fichte über die Einleitung in die WL und im Anschluss über die WL selbst. Darüber hinaus verfasste er das sogenannte Diarium III1. Seine Vorlesungen über die WL selbst dauerte nur fünf Tage (von Montag, den 10. bis Freitag, den 14. Januar) aufgrund des Ausbruches seiner tödlichen Krankheit. Die Einleitung stellt seiner Absicht nach nicht die WL als organisches Ganzes, sondern nur einen Teil, den unteren Teil, von ihr dar, der eher ein negatives und abhaltendes Verständnis vor Irrtümern und Missverständnissen geben soll, um so den Weg zur WL und ihrem Standpunkt zu bereiten2. Beim Diarium handelt es sich dem Aufbau nach um unverbundene Ideen, Gedankenexperimente, nicht um ein fertiges Werk, nicht um eine systematische Darstellung der Lehre. Die letzten Gedanken Fichtes sind also fragmentarisch geblieben. Trotzdem ist eine systematische Aussage darüber möglich. Schon am Anfang der Einleitung stellt Fichte seine Philosophie in einen ausschließlichen Zusammenhang zur Kantischen Philosophie, und so stößt man auch hier wieder auf die Leitgedanken, die von Anfang an seine Schritte lenkten. Nachdem er Kant, und vor allem im Juli 1790 die KpV, gelesen hatte, fühlte und dachte er begeistert, in einer neuen Welt zu leben3, in der Welt der Freiheit, deren Ankündigung und Verbreitung er sein ganzes Leben widmen wollte 4 . Bald aber tauchten die Schwierigkeiten auf, die dem Denken durch die Kantischen Kritiken bereitet werden, vor allem die bezüglich des ersten Prinzips und der Affektion des Dinges an sich, die von Jacobi, Reinhold, Maimon, den Aenesidemus Schulzes und Beck erhoben, unterstrichen und bearbeitet wurden. Fichte sah sich dadurch gezwungen, die kritische Philosophie von Grund auf zu durchdenken und zu überarbeiten, um alle Elemente genetisch und nicht nur architektonisch wie bei Kant aus dem ersten Prinzip als Quelle abzuleiten, um so ein wirkliches und gebundenes System und Wissen liefern zu können5. In der Einleitung von 1813 wird wiederholt darauf hingewiesen, dass Kant sich selbst nicht ganz klar über seine eigene Philosophie gewesen war6. Fichte wurde durch das hermeneutische Prinzip gelenkt, das auch Kant Platon gegenüber benutzt hatte: Den Verfasser besser zu verstehen, als er sich selbst 1 GA II/17. WL14, GA II/17, 319. EWL13, GA II/17, 268. EWL13-N, GA IV/6, 398-399. 3 «Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen unumstößlich, sind mir ungestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z.B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht, u.s.w. sind mir bewiesen» (Fichtes Brief an Fr. A. Weißhuhn, August/September 1790, GA III/1, 167). 4 Fichtes Brief an M.J. Rahm vom 5. September 1790; GA III/1, 170-173. 5 Siehe Brief vom Dezember 1793; GA III/2, 28. Grundlage, I/2, 335. Zweite Einleitung § 6; GA I/4, 231. 6 EWL13, GA II/17, 234 und 313. 2 2 verstanden hat7, und tiefer in die Elemente seiner Philosophie einzudringen8. Das Ziel besteht darin, ein System darzustellen, das Kant hätte denken sollen, um seine eigenen neuen und revolutionären Grundgedanken richtig zu begründen, zu erklären und darzustellen9, d.h. das Ungesagte und Ungedachte im Gesagten und Gedachten zu denken und explizit zu entwickeln - wie Heidegger sagen würde. Es muss also der Geist und nicht der Buchstabe von Kants Schriften betrachtet werden, wie Fichte in Jena betonte. Weil das nicht getan worden sei, hätte niemand die Philosophie Kants eigentlich verstanden, nur Fichte selbst. Deswegen war das Fichtische Denken ebenfalls nicht verstanden worden, nicht einmal von Schelling, dachte er. Und so fängt die Einleitung von 1813 an: «Die Lehre, in welche ich hiermit eine Einleitung eröffne, welche Kant in den Kritiken, ich nach ihm unter dem Namen der WL vorgetragen [haben], ist in den 3 Jahrzenten fast so gut als gar nicht verstanden worden. So gut, als gar nicht. Folgen aus den dunkel aufgefaßten Prämissen, und überhaupt ein kühner, muthiger Geist wohl; aber Verständniß, Besitz, Handhabung des GrundPrincips gar nicht»10. Das war so, weil diese Philosophie und ihr Grundprinzip den Menschen eine neue Welt eröffnen, die nur durch einen neuen Sinn oder ein unmittelbares Bewusstsein gesehen werden kann und eine Umbildung und Wiedergeburt11 des ganzen Menschen fordert. Wir sind Wissen, Sehen, und wenn unsere Sicht sich ändert, findet in uns und in unserer Welt eine Grundveränderung statt12. «Diese Lehre setzt voraus ein ganz neues inneres Sinnenwerkzeug, durch welches eine ganz neue Welt geboren wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist»13. Dieser geistige Sinn ist allen Menschen als Anlage innen, aber in Wirklichkeit meist verschlossen. Deshalb bleibt die WL für gewöhnliche und natürliche Menschen unverständlich, «denn die Gegenstände von denen sie redet, sind für dieselben gar nicht da, weil sie den Sinn nicht haben, durch und für welchen diese behandelten Gegenstände da sind»14; sie sind geistig Blindgeborene, und mit denen kann man nicht disputieren15. Den höheren Sinn zu erwecken, darin besteht die Leistung der WL. Alles Große und Treffliche in der Geschichte stammt freilich aus den Gesichtern dieses Sinnes, aber erst die WL verleiht 7 Kant, KrV, A 324, B 370. Fichte, ÜBG, GA I/3, 61. «Ferner vermittelst dieses Bildes werden wir kommen auf den Raum und werden auf diesem Wege tiefer eindringen können als Kant gethan, der es nur durch empirische Selbstbeobachtung gefunden» (EWL13-N, GA IV/6, 438), schrieb der Student. Und Fichte selbst: «Und allerdings können wir hoffen, aus diesem Principe den Raum in seinem ganzen Wesen anders als bei Kant zu begreifen» (EWL13, GA II/17, 292). 9 «Kant, wenn er consequent fortgegangen wäre, hätte so sprechen müssen; aber er wußte durchaus nicht gründlich, was er wollte und trieb» (EWL13-N, GA IV/6, 471). 10 EWL13, GA II/17, 233. «Auch die Wißenschaftslehre hat Funken in Menge von sich gestreut, so wie Kant, aber in ihrem Princip erfaßt hat sie keiner, der mir bekannt seye» (Fichte, Patriotismus, GA II/9, 423). 11 EWL13, GA II/17, 237. 12 EWL13, GA II/17, 242 und 253. «[…] der freie ist in der Wurzel seines Seyns, Sehen Wissen; ist es nun in der That freier Grund seiner selbst» (EWL13, GA II/17, 265). 13 EWL13, GA II/17, 234. «Neue Welt einem neuen Sinn!» (EWL13, GA II/17, 256). «Wie nun auf diese Weise ein durchaus neuer Sinn, ich sage Sinn, unmittelbares Bewußtseyn, sich eröfne, und mit ihm einen neue Welt der Objekte dieses Sinnes, ist, denke ich, unmittelbar klar» (EWL13, GA II/17, 258). 14 EWL13, GA II/17, 234. 15 EWL13, GA II/17, 259-260. 8 3 uns das vernünftige Wissen davon, den Sinn dieses Sinnes selbst16. Alle Menschen sind der Anlage nach gleich, aber in Wirklichkeit gehören sie zwei durchaus entgegengesetzten Klassen an, deren eine in einer Realität lebt, welche der anderen schlechthin abzusprechen wäre17. Der Sinn des gewöhnlichen Menschen richtet sich nach dem Sein18, d.i. nach den natürlichen Objekten, nach der sinnlichen Welt oder Natur; das nehmen sie als das Absolute oder an sich, wie das in der ersten der fünf Weltansichten der Fall ist19. So ist «alle uns bekannte Philosophie der Zeit […], Kants eigentlichen Sinn und die Wl. abgerechnet, […] Naturphilosophie»20. Diese wurde bereits in der Ersten Einleitung von 1797 als Dogmatismus im Gegensatz zum Idealismus erklärt21. Unter „Naturphilosophie“ ist jetzt vor allem Schelling, der neue Hauptgegner, und seine Naturphilosophie gemeint, aber auch sein Mentor, Spinoza, der nach Fichte «ein Beispiel dieser Form der Beschränktheit des natürlichen Sinnes»22 ist, aber auch den besten Dialogpartner für Fichte bietet, um seine eigene Position zu erklären23. Nur die wahre Philosophie Kants und die WL reichen über die Natur hinaus, und das, «was jenseits aller Natur, über alle Natur hinaus liegt, […] heißt Freiheit»24. Die Philosophie Fichtes ist also von Anfang bis Ende eine Philosophie der Freiheit. Schon im Jahr 1795 stellt er die Behauptung auf: «Mein System ist das erste System der Freiheit»25. Am 8. Januar 1800 äußerte er sich vor Reinhold auf folgende Weise: «Mein System ist von Anfange, bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit und es kann in ihm diesem nicht widersprochen werden, indem kein anderes Ingrediens hineinkommt»26. Und in seinem letzten Wintersemester stellt er fest: «eigene Freiheit […] kann allein die neue Welt erzeugen»27. Dieses neue Sehen besitzt nicht nur philosophische Bedeutung und eine Relevanz für das eigene Leben und die menschliche Bildung 28 , sondern auch politische und 16 EWL13, GA II/17, 236 und 251. «[…] du sollst mir erlauben dir das Auge zu eröffnen» (EWL13, GA II/17, 239). 17 EWL13, GA II/17, 242. Diese beiden Menschen- und Philosophieklassen finden wir schon in der Ersten Einleitung von 1797: «Was für eine Philosophie man wähle [zwischen Dogmatismus/Sein und Idealismus/Freiheit], hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist» (GA I/4, 195). 18 “Sein” hat bei Fichte zwei Bedeutungen. In einer ist das Sein das Objekt, das Gegenteil von Handlung und Leben, etwas, das die Dogmatiker und die sinnlichen Menschen als den letzten Grund annehmen, vom Idealisten aber aus der Tätigkeit und aus dem Leben abgeleitet wird. In der anderen Bedeutung ist das Sein die ursprüngliche Selbstsetzung des Ich in der Jenaer Periode, oder später das absolute Sein jenseits des Wissens oder der Erscheinung, Gott, das Unbegreifliche. 19 Die Lehre von den fünf Standpunkten oder Weltansichten wird in der 28. Vorlesung der WL042 (GA II/8, 416-419), und in der 5. Vorlesung der AZL (GA I/9, 106-114) behandelt. 20 EWL13, GA II/17, 239. 21 GA I/4, 188 ff. 22 EWL13, GA II/17, 240. 23 WL12, GA II/13, 51, 163. Siehe auch den Brief an Schelling vom 15. Januar 1802; GA III/5, 113. 24 EWL13, GA II/17, 239. 25 GA III/2, 298 und 300. 26 GA III/4, 182. 27 EWL13-N, GA IV/6, 397. Siehe auch EWL13, GA II/17, 265. 28 «Bilde erst dein Auge, daß dir aufgehe die wahre Welt, so wird diese Ansicht schon von selbst auch regen deine Hand u. Fuß, dergleichen Du jezt erst wahrhaft bekommst; denn unter andern war es auch ganz unwahr, daß du in jener Lage der Finsterniß handeln, u. wirken konntest: das war eitel Täuschung, wie dir freilich erst dann klar wird, wenn du eingetreten bist, in die andere Region» (EWL13, GA II/17, 265). 4 geschichtliche Folgen für die Befreiung29. In den Reden an die deutsche Nation (1808) hatte Fichte seine Lehre als die Pforte zur rettenden neuen Welt gepriesen. Die Menschheit seiner Zeit stände in der dritten der fünf Perioden der Geschichte, die von ihm in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (1806) beschrieben wurden, in einer Periode, in der jede Autorität und die Vernunft selbst abgeworfen werden30, jede vernünftige Gemeinde aufgelöst wird und die Individuen sich nur um ihr eigenes Wohl kümmern. Aber die Besetzung Deutschlands durch die napoleonischen Truppen hätte den Deutschen dieses Ziel unmöglich gemacht, und so gibt es nur einen Ausweg – der Übergang in die vierte Etappe der Geschichte. Das ist den Deutschen möglich, weil sie über die rechte Pädagogik (Pestalozzi), die tiefere Sprache und die richtige Philosophie (Fichte) verfügen. Diese wahre Philosophie, die Kant zunächst entdeckte und in der WL erst systematisch und konsequent durchführte31, hat uns die Freiheit des vernünftigen und göttlichen Lebens klar gemacht, und deswegen kann der Mensch in diese neue Welt hineingeführt werden. Das neue Land der Menschheit, die vierte Periode der Geschichte, die Nation, an die Fichte sich wendet, besteht eigentlich nicht darin, in Deutschland geboren zu sein und Deutsch als Muttersprache zu haben, sondern darin, zu verstehen, dass der Grund aller Realität nicht ein totes Sein, sondern ein Leben, ein göttliches freies Leben ist, denn «das Leben ist, und es ist das einzig an sich wahre, reale»32. Dieses Leben ist unsere Freiheit und ermöglicht eine fortwährende Perfektionierung des Menschengeschlechts. Das sind die Grundideen, durch die die neue wahre Welt gestiftet wird. Wer «an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, [… der], wo er auch geboren sey, und in welcher Sprache er rede, ist unsers Geschlechts, es gehört uns an, und es wird sich zu uns thun»33. Das ist der Grundgedanke des späten Fichte, die Idee, durch die sich das ganze Geheimnis der Wissenschaftslehre auf einmal erschließt34: «Wahrhaft an sich ist nur ein Leben, durchaus in ihm selber, und ein anderes ist nicht. […] Die ganze frühere Welt hat es freilich nicht gewußt, und ist unbefangen von einem Seyn an sich ausgegangen»35. Durch die WL aber werden diese Welt des Seins und die Substanzen der Metaphysik36 vernichtet. 2. Der neue Idealismus: Die Welt ist Sehen Von welchem Leben und von welcher Freiheit sprechen wir? Zunächst vom Leben und von der Freiheit des Wissens oder des Sehens. Die Welt ist Sehen, ein nach den 29 «Jezt näher zur Charakteristik dieses neuen Sinnes der Befreiung, (der Selbstbesinnung […]» (EWL13, GA II/17, 243). 30 GA I/8, 201, 243. 31 Fichte, Patriotismus, GA II/9, 422 32 Fichte, Patriotismus, GA II/9, 429. 33 Fichte, Reden, GA I/10, 195-196. 34 EWL13-N, GA IV/6, 439 35 EWL13, GA II/17, 293. 36 «[…] und darin möchte das ganze Geheimniß der Wissenschaftslehre bestehen, wenn sie [= die WL] alle Substanzen [der Metaphysik] vernichtet, um das Leben selbst vor die augen zu bringen» (EWL13Nachrift, GA VI/6, 443). 5 Gesetzen des Sehens gebundenes Sehen und nichts anders37. Darin besteht die Lehre des transzendentalen Idealismus des zweiten Fichte, die durch das höheres Sehen betrachtet werden kann. Das niedere, gewöhnliche Sehen aber ist in der Welt gefangen und ergriffen, erkennt die ursprünglich schöpferische Tätigkeit des Sehens nicht, weil das niedere Sehen ein Produkt dieser Tätigkeit ist, so wie die sinnliche Welt selbst; denn beide gehören zusammen. Deswegen erscheint ihm das Sein der Welt als etwas Absolutes, als eine Realität an sich, als ein festes Sein gegenüber jede Freiheit; die Welt des Seins wird infolgedessen als die erste angenommen. Wenn wir das höhere Sehen erreichen, verschwindet die Welt, die äußere Sinneswelt, für uns nicht, weil diese Welt ein notwendiges Moment der Entwicklung des Wissens ist, und in der WL als notwendig abgeleitet wird. Diese sinnliche Welt wird aber aus ihrem Grund «verstanden – als gebundenes Sehen; als eben die Ansicht, welche der Mensch nothwendig mitbringt. Gebundenes Sehen, nichts mehr, nichts anders, nichts hinter, u. ausser dem Sehen. […] Dies der tranzzcendentale Idealismus, der Apriorismus»38. Unsere ganze Welt wird also aus dem Sehen oder Wissen erklärt und abgeleitet, einem Sehen, das an seine eigenen Gesetze, die transzendentalen Gesetze, Formen und Stufen gebunden ist. Diese Gesetze werden vom natürlichen Sinn des Menschen nicht gesehen, weil sie hinter seinem Rücken handeln, ihn möglich machen und bestimmen. Die transzendentale Reflexion ist vonnöten, um sie, die neue Welt, zu erfahren, so wie der platonische Philosoph sich umdrehen muss, um die Sonne (die Ideen, das Reale und das Gute) zu genießen. Unsere sinnliche Welt ist aus der Entfaltung des Sehens entstanden. Bei Fichte in Berlin spielt das seiner Form nach unbedingte Nicht-Ich der Grundlage (1794) keine Rolle mehr, denn alles wird durch das Sehen bedingt und bewirkt. Der Idealismus des Wissens ist nun an sein Ende gelangt, wie Jacobis es wünschte39, ähnliche wie bei Hegel, nach dem alles, die ganze Realität, aus der Entwicklung und Verwirklichung der Idee zu verstehen ist. Der niedere Sinn glaubt, das sinnliche Sein unmittelbar wahrzunehmen, weil er blind für die transzendentale Ebene ist, die diese Wahrnehmung genetisch möglich und ableitbar macht, blind für das, ihn bestimmende Gesetz40. Die Aussage: „es seien Dinge“ oder „etwas ist“, also das Bewusstsein des Seins, des Objekts, ist «ein Urteil, ein ganz regelmäßig geführter Syllogismus, der seine gehörigen Vordersätze hat, welche dem natürlichen Sinne verborgen bleiben drum er glaubt es sey unmittelbar, u. Wahrnehmung: u. nur dem neuen [Sinn] aufgehen u. sichtbar werden» 41 . Der natürliche Mensch vollzieht dieses Urteil nicht, sondern es wird in ihm durch das Naturgesetz, sein geistiges Leben, vollzogen und in diesem Vollziehen wird er 37 Schopenhauer, der bei Fichte studierte, hat die Welt auf eine ähnliche Weise theoretisch verstanden, als nach den Gesetzen des Satzes vom zureichenden Grunde geformte Vorstellung. 38 EWL13, GA II/17, 266. 39 Siehe Jacobi, F. H.: Werke, Hrsg. von F. Roth und F. Köppen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1968, Band II, p. 310. 40 EWL13, GA II/17, 256-260. 41 EWL13, GA II/17, 243. «Das äussere ist für uns gar nicht durch Wahrnehmung da, sondern durch ein Urtheil; dessen Prämissen wir nicht inne werden. Durch ein Entfremden unsrer selbst, u. fortgerissen werden. (Unfreiheit: der Mensch ist eben von Natur nicht frei, sondern er muß es erst durch sich werden.) Das Sehen dieser Prämisse ist eben der neue Sinn der uns angemuthet wird, u. die neue Region der Gegenstände» (Diarium III, GA II/17, 11). 6 geboren42. Der höhere Sinn dagegen erkennt, dass dieses Sein oder Objekt aus Gebundenheit des Geistigen und Freien an seine Gesetze (Kant dachte an die apriorischen Formen) entsteht, sieht es nicht als seiend sondern als werdend, und bemerkt, dass alles Geist ist und aus dem Geist stammt, und dass es nichts außer ihm gibt, keinen Dualismus43; beim zweiten Fichte entfällt der anfängliche Halbdualismus des Ich und des Nicht-Ich von Jena vollständig, durch den der Kantische Dualismus von der Erscheinungswelt und dem Ding an sich ersetzt wurde. Das Wissen ist das Absolute gegenüber der Welt, unser neues hen-kai-pan. In den vier ersten Vorlesungen der WL1444 stellt sich die WL erneut als die vollendete Selbstdurchdringung des Wissens dar, als das höhere Sehen, das das niedere, die Objektivität, genetisch und organisch durchschaut und ableitet, da das Wesen des Wissens im Sichwissen besteht. Und als was erkennt sich das Wissen? Als ein absolutes Durch, ein Durch, das sein eigentümliches Leben bildet. Jedes Moment des Wissens, jedes Element des Sehens existiert nicht isoliert, sondern ist durch die anderen vorhanden. Das ist ein Grundgedanke des deutschen Idealismus, bei Fichte ebenso wie bei Schelling und Hegel, die ihre Systeme als organisches Ganzes konstruieren. Diese Verbindungskette dient als Erklärung und Rechtfertigung aller Momente und ihrer Anzahl, da die grundlegenden oder apriorischen Momente der Wissensbildung eine vollendete und in sich geschlossene Reihe von Gesichtern ausmachen45; sonst würde sich das Wissen ohne verwirklichte Einheit in der Unendlichkeit verlieren. Deswegen ist die WL als System «ein einziger, verständiger Blick, Ein verständiges Gesicht, Ein Begriff, Eine Einsicht, nicht ein Mehreres, Manichfaltiges»46, eine organische Einheit. Das Sehen ist ein Durch eines Zerfließens von einem Moment zum anderen nach eigenen Gesetzen und der Einheit aller dieser Momente, also kein Tod, sondern ein Leben. «Keinesweges zum Object habe [die WL] ein todtes und starres Seyn; das Wissen, welches die Wissenschaftslehre hinstellt, ist nicht ein starres Seyn, sondern ein Leben, Machen, Thun, Wandeln, Fließen»47, immer nach eigenen Gesetzen, im Chaos wird kein Wissen und keine Orientierung stattfinden können. Das Wissen hat sein eigenes Leben durch sich, von sich, aus sich, dessen Quelle und Wesen das Sichwissen des Wissens ist. Es ist also ein sich «bildendes, anschauendes Leben»48, das sich selbst bestimmt, ein Durch von Einheit und Mannigfaltigkeit, in dem das Eine nicht ohne das Andere geht. So wird das objektivierte oder faktische Wissen gewoben, das sich zu einer festen Welt oder faktischem Sein adressiert, weil es durch Gesetze des Wissens bestimmt ist, die es selbst nicht kennt oder nicht versteht. Aus diesem Nichtverstehen 42 EWL13, GA II/17, 243-244. EWL13, GA II/17, 246. So gebunden, als wir ein Triangel konstruiren möchten (GA II/17, 254 ff.). Der Begriff von „Gebundenheit“ als Selbstaffektion spielt auch eine wichtige Rolle in der WLnm, aber ohne das halb-unbedingte Nicht-Ich zu vernichten. 44 GA II/17, 319 ff. 45 WL14, GA II/14, 322. «Denn unser Vortrag ist eine zusammenhängende Kette von Konstruktion und Anschauung, wo jedes frühere Glied das zukünftige bedingt. […] oft auch erhält das frühere sein vollkommnes Licht erst durch das künftige» (EWL13, GA II/17, 263).Dieser Methode folgen auch Schelling und Hegel. 46 WL14-N, GA IV/6, 483. 47 WL14-N, GA IV/6, 487. 48 WL14, GA II/17, 324. 43 7 leitet sich für das Wissen das „Sein an sich“ ab, das von der WL angenommen wird, das nicht unabhängig vom Wissen ist, wie das faktische Wissen oder das gewöhnliche Bewusstsein glaubt. «So hat es die Wissenschaftslehre immer genommen seit ihrer ersten Entstehung; auf das absolut selbständige Seyn der Erscheinung, abgesondert vom göttlichen Leben, hat sie immer gehalten. Die Wissenschaftslehre dringt auf ein Seyn an sich des Wissens, im Gegensatz gegen den leeren, formalen Idealismus behauptet sie einen Realismus. Seyn an sich, nur ums Himmel willen keines andern denn des Wissens; denn alles andere Seyn an sich ist Produkt des Wissens, des absoluten Seyns, und wäre also doch nichts anderes denn das Wissen»49. Wir sprechen hier nicht vom Leben Gottes selbst, dieses ist nicht so zu verstehen, nicht in der Form des faktischen Seins, und liegt jenseits des Wissens und des Lebens des Wissens, denn im Wissen ist nur ein Bild Gottes zu finden50. Das Sehen oder Wissen ist der einzige und ganze Grund der Welt und des faktischen Seins. Kant hätte das nicht geäußert, denn für ihn war das Ding an sich der realistische Grund der Erscheinung. Aber auch Fichte in Jena nicht. Für ihn bedeutete das absolute Ich nur der ideale Grund der Erscheinung und des Nicht-Ich, und das Nicht-Ich der reale Grund derselben51. Bei Fichte in Berlin ergibt sich jetzt alles aus dem Geist. Der äußere Sinn besitzt keine unmittelbare Wahrnehmung, er wird auf einen höheren, unmittelbaren Sinn des Wissens zurückgeführt, denn der Geist schaut nur sich selbst unmittelbar an; der niedrige Sinn ist ohne es zu wissen an seine eigenen Gesetze gebunden und gefesselt, woraus das faktische Sein besteht52. Es gibt kein Wissen und die Welt, sondern nur das Wissen und seine unterschiedlichen Entwicklungsstufen, ein Wissen, das nicht mehr als subjektives Wissen wie bei Kant und bei Fichte von Jena zu verstehen ist, sondern als subjektiv-objektiv, als komogonisch und hen kai pan; es gibt «durchaus nur Geist, und nichts außer ihm; (kein Dualismus, keine Zweifachheit des Gegebenen;) das Seyn auch als Geist nur als gebundener»53, d.i. das Sein ist nur ein gebundener Geist. «Wer die Naturnothwendigkeit fürchtet», als könnte sie die Freiheit bestimmen und zerstören, «der fürchtet seinen eignen Schatten»54. 3. Die ersten Schritte zur idealistischen Erklärung der Welt Um diesen bis zu Ende durchgeführten Idealismus zu erklären, unternimmt es Fichte ab der elften Vorlesung der Einleitung in die WL13, einige Schritte in die WL selbst zu zeigen, und zwar um die idealistische Ansicht über die Entstehung oder Genesis des Seins, des faktischen Seins oder der Welt aus dem Wissen als Produkt anzudeuten, um 49 WL14-N, GA IV/6, 494-495. «Das jenseits des Wissens, Gott, aber überhaupt nicht Seyn, gar nicht zu verstehend in dieser Form, sondern als Leben» (WL14, GA II/17, 330). «Dieß ist Leben. Ein Seyn Gottes ist nicht; denn wir haben nur Bild Gottes; dieß Bild aber ist selbst Produkt des Wissens. Das Wissen ist die Erscheinung des Lebens, des göttlichen, und Leben in der Form des Seyns ist Produkt des Wissens» (WL14-N, GA VI/6, 495). 51 GWL § 4, GA I/2, 325. 52 EWL13, GA II/17, 245-246. «Der äußere Sinn ist der Raum in seiner Leerheit […] Receptivität» (EWL13N, GA IV/6, 462). «Der Raum drum äußerer Sinn» (EWL13, GA II/17, 308; siehe auch 311). 53 EWL13, GA II/17, 246. 54 EWL13, GA II/17, 248. 50 8 die alte Ansicht oder Welt des Seins in ihrer Grundform zu vernichten55. Dabei handelt es sich aber um die ersten Schritte der Einleitung, nicht die der WL selbst. Sie fangen bei Gott als ein durch sich, von sich und aus sich an, und dieser Charakter des „durchvon-aus-sich-Sein“ nennt er „Leben“, im Gegensatz zum Produkt oder Sein, das deswegen als tot betrachtet wird. Er geht der Frage nach, «wie kommt das absolute und unbedingte Leben, das Leben Gottes, zu einem Seyn, Ruhe, und Erstorbenheit?»56. Das Sehen, das Wissen muss als Grund des Seins der Welt gesehen werden, und zwar aus der Tat des Produzierens des Seins, und das wird von Fichte „das Sein (oder das Istsagen) Konstruiren“ genannt, d.i. seine Entstehung innerlich zu sehen57. In den später entstandenen WL geht Fichte vom Widerspruch zwischen dem Absoluten und dem Wissen aus: Außer dem Absoluten kann nichts existieren, aber durch diese Behauptung, setze ich ein Wissen neben das Absolute, so dass das, was gesagt wird, dem, dass es gesagt wird, widerspricht; die Aussage und ihr Inhalt heben sich auf. Hier, in der Einleitung 1813, beginnt Fichte mit der Behauptung: „Das und das ist“, und diese Aussage oder dieses Seinsetzen enthält einen Gegensatz bzw. zwei entgegengesetzte Elemente, ein Innen bzw. das innere Wesen der behaupteten Sache, die ist, und ein Außen, in dem sie erfasst und behauptet wird. Das eine geht nicht ohne das andere, d.i., das eine bedingt durch sich selbst das andere. Dieses Durch58 oder die innige Durchdringung der beiden Elemente ist der Grund ihrer Einheit, die ein Fließen, ein Akt, ein Leben in der Form des Durch, ein durch innere eigene Notwendigkeit gebundenes Leben, ein lebendiges Durch, ist. Das ist noch ein Durch der Negation, der Quantität: Wo das eine ist, ist das andere nicht. Immer noch besteht also eine Spaltung. Deswegen muss man bis zur unzertrennlichen Einheit als solcher noch höher aufsteigen, sie finden und als Quelle der Duplizität ansehen (sonst «leere Behauptung»59). Eine solche kann nur ein anderes höheres Durch, und zwar ein absolutes schöpferisches Durch beider Elemente sein: «d.i. kein A. durch welches B., sondern: es [das Durch] selbst nur in seinem absoluten Seyn ohne alle weitere Bestimmung bringt dieses mit, weil es eben ist ein lebendiges Durch, u. nichts andres»60 ist. Dieses absolute Durch hat ein anschauliches Wort in unserer Sprache: 55 EWL13-N, GA IV/6, 400. EWL13-N, GA IV/6, 399. «[…] wie und wodurch wird denn das absolute Leben, Gottes, zu einem Seyn, Ruhe, Erstorbenheit gebracht? (EWL13, GA II/17, 269). 57 «Wir sehen aber nur unmittelbar was wir thun, also thun müssen wir es, das Seyn in der That entstehen lassen, es wirklich construiren» (EWL13-N, GA IV/6, 404). Die WL ist keine FormularPhilosophie, sie gründet stattdessen in der inneren Erfahrung des Denkens und des Handelns. Die WL ist das Sichwissen des Wissens. Das natürliche Sehen verliert sich im Produkte und bleibt unwissend von seiner Genesis aus dem höheren Sehen. Aber dieses kann es sich selbst holen, da das Sehen von seinem Wesen aus ein Sichsehen ist, so wie das Selbstbewusstsein jedes Bewusstsein begründet. Darauf baut die Möglichkeit der WL auf. Das Wesen der Wissenschaft besteht «in dem freien Construiren für die innere Anschauung, in der Evidenz, die sich von selbst stellt [aus dem Selbstentfaltung des Wissens, …] und erfaßt den Construirenden. Dieß Gebiet ist die neue und unentdeckte Welt» (EWL13-N, GA IV/6, 398). Siehe auch EWL13, GA II/17, 260-263. 58 «[…] gerade in solchen Wörtern der Sprache [in den Präpositionen] hat sich das ursprüngliche Leben noch erhalten» (EWL13-N, GA IV/6, 406. 59 «Anschauung, GrundMaxime: ausserdem qualitas occulta, u. leere Behauptung» (EWL, GA II/17, 275). 60 EWL13, GA II/17, 276. 56 9 das Sehen, aber energisch und verbaliter als Leben gedacht, nicht als ein Vermögen, denn Vermögen ist schlechtweg der Tod»61. Der einzige Grund für diesen, uns von Fichte gelehrten kühnen Schritt ist, dass jedes Sehen notwendig Projizieren, ein Hinsehen bedeutet, so dass es kein Sehen ohne ein Gesehenes geben kann, aber auch umgekehrt gilt: «Nimm das Sehen weg, so ist auch das Gesehene weggenommen» 62 . Sehen, das reine Sehen, das Sehen in seiner absoluten Form, ist Hinsehen, absolutes, immanentes und schöpferisches Durch, unmittelbares Machen und Schaffen des anderen aus sich, so dass das Gesehene Bestimmung und integrierender Teil des Sehens ist63. Dieses Gesehene ist das Sein, Produkt des Sehens, und durch diese Handlung des Sehens wird das unendliche Leben zur Ruhe gebracht. «Das Sehen [ist] der immanente, stehende Seynsgrund u. Träger für das Gesehene: durch welches es gesetzt ist, u. durch dessen Wegnahme es wegfällt»64. Die Selbstbestimmung des Sehens ist die Quelle alles möglichen Seins (der Welt). In diesem Sinne ist «alles a priori, nichts a posteriori»65, denn wie könnte etwas a posteriori in das Sehen hineinkommen? «Und so wäre die ganze Welt aus dem Sehen erfolgt»66. Die andere Hypothese, dass das Sein Quelle des Wissens ist, war für Fichte immer Dogmatismus, transzendentaler Materialismus67, durch den nicht erklärt werden kann, wie sich etwas rein Objektives in Subjektives verwandeln kann. Das ist z. B. der Fall bei der Kantischen Affektion des Dinges an sich. Das Wissen ist im Wesentlichen ein Fürsich und es kann nur das verstehen, was es selbst verarbeitet. Deswegen ist es im Wesentlichen ein Durchsich 68 . Fichte befindet sich hier auf der Suche nach der ursprünglichen Einheit von Innen und Außen, von Sein und Denken, von Objekt und Subjekt, und diese Einheit ist nicht im Sein zu finden, weil vom Sein kein Wissen entstammen kann. Folglich bleibt nur die idealistische Hypothese: Das Sein als Gesehenes zu erklären und aus dem Sehen abzuleiten. Aber in diesem Fall handelt es sich bei diesem kosmogonischen Sehen um kein endliches und menschliches, es ist nicht unser Sehen, vielmehr sind wir seine Erscheinungen – das gleiche geschieht mit der Idee bei Hegel. Für Kant, so wie für Fichte in Jena, war das Ich eine ursprüngliche, aber in der Tat eine endliche Tätigkeit, so dass sich seine Verwirklichung als eine Pflicht zeigte, und statt der Schöpfung der Welt durch das tätige Sehen war das Gefühl, ein Gefühl der Begrenzung oder des Widerstands des Nicht-Ich aber auch ein Gefühl des 61 WL14-N, GA IV/6, 508. Siehe auch EWL13, GA II/17, 278. EWL13-N, GA IV/6, 415. WL14, II/17, 338339. 62 EWL13-N, GA IV/6,m 413. Siehe auch EWL, GA II/17, 276. 63 EWL13, GA II/17, 278-279. EWL13-N, GA IV/6, 415. 64 EWL13, GA II/17, 277. Siehe auch EWL13-N, GA IV/6, 419. 65 EWL13, GA II/17, 277. Siehe auch EWL13-N, GA IV/6, 414. 66 EWL13-N, GA IV/6, 414. Diese dreizehnte Vorlesung und die Folgerung, dass die ganze Welt nur ein Produkt des Sehens ist, war von den Zuhörern Fichtes nicht so leicht zu verstehen. Deswegen musste Fichte dieses Thema in der Vierzehnten Vorlesung wiederholen und erneut erklären. 67 «[…] daß das reine Ich, sage ich, ein Produkt des Nicht-Ich sey: - ein solcher Satz würde einen transcendentalen Materialismus ausdrücken, der völlig vernunftwidrig ist» (UBG, GA I/3, 28). Siehe auch die Erste Einleitung von 1797. 68 «Des Sehens absolute Grundform [ist] die innere Duplicität, das für sich seyn.- So gewiß dies: alles Sehen [hat] zum unmittelbaren Gegenstande nur sich; nie [ist] etwas in ihm sichtbar, als nur das Sehen selbst» (EWL13, GA II/17, 298). 10 Sehnens, die Grundlage aller Behauptung von Realität: «Realität äussert sich für das Ich nur durchs Gefühl»69. Das System beginnt dann aus einem halben Dualismus von Ich und Nicht-Ich70, und es erhält die Einheit durch diese Tätigkeit des Ich, und zwar durch das Denken und das Handeln als eine moralische Aufgabe, die dem Ganzen einen Sinn verleiht. Bei Fichte in Berlin, ist jetzt das Wissen im Gegensatz dazu nicht mehr endlich der Welt gegenüber und der Idealismus ist vollendet. Seine Grenze wird anderswo festgelegt, in seiner Beziehung zu dem absoluten Sein oder Gott, der jenseits des Wissens liegt. Dieses schöpferische Sehen ist die reinste, einfache Form des Wissens und alles Wissen, das möglich ist, ist nur die Fortbestimmung dieser Grundform. Dieses Sehen ist weder Anschauung noch Denken, sondern die Grundlage beider Dinge, aus deren gesetzlicher Fortbestimmung beide stammen; das Sehen bleibt ganz in beiden, und beide bleiben in dem einen Sehen als Momente des Gesehenen. In dieser Grundform des Sehens findet diese Trennung bzw. Spaltung noch nicht statt, dieses absolute Durch ist die absolute, dauernde und unzerstörbare Einheit des Wissens als solche, wie Fichte sie suchte und denken wollte. In der Erfahrung kommt es nie vor, es ist kein wirkliches Sehen, sondern nur seine Grundform71. Wir sind jedoch tatsächlich dieses Grundsehen, wir «leben es in einer Synthesis und Mischung aus beiden, aus Anschauung und Denken»72. Aber wie und warum erscheint uns, dem gewöhnlichen Menschen, trotzdem das Sein bzw. die faktische Welt als etwas aus sich, durch sich, von sich, als ein Ding an sich und ganz unabhängig von allem Sehen? Nur und erst am Ende der Entfaltung des Wissens, d.i. in der WL selbst, sieht sich das Wissen als Urheber der Welt – das ist die richtige Sicht für die WL. Aber um sich als solchen zu erblicken, muss es noch einen langen Entwicklungsweg bewältigen, auf dem ihm stufenweise seine ganze Welt entsteht. Das ist so (um ein Argument Fichtes anzuführen, das von Fichte selbst hier aber nicht benutzt wird), weil das Wissen des Gegensatzes bedarf, um etwas als etwas zu fassen, so wie es zuvor beim Innen und Außen der Fall war. Wenn sich also das Wissen als produzierend und frei betrachten möchte, muss es auch das Unproduzierbare und Unverfügbare begreifen und vor sich haben, mit dessen Hilfe es sich erst als aktiv und frei entwerfend sehen kann. Aus dieser Notwendigkeit oder aus diesem gesetzlichen Bedürfnis des Wissens ergibt sich der Unterschied zwischen dem Theoretischen und dem Praktischen, zwischen der objektiven Welt ohne Bewusstsein und der freien Welt der bewussten Menschen, zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit. In dieser gespaltenen Wirklichkeit aber hat sich das Wissen bereits in ein faktisches Wissen oder in empirische Iche (diese sind wir) abgesetzt, und die Welt oder das faktische Sein erscheint ihm in der Tat als durch sich, von sich und aus sich gegenüber den freien Menschen zu sein. Dieser Gegensatz ist die Bedingung für die Möglichkeit des wirklichen Bewusstseins und Selbstbewusstseins, des wirklichen Sichwissen des Wissens als tätig aus sich. Das ist die Welt des gewöhnlichen Bewusstseins. Es sieht 69 Grundlage, GA I/2, 433. Siehe auch WLnm § 5. Das Nicht-Ich ist dem Inhalt nach abhängig vom Ich, und deswegen ist dieses System Fichtes in Jena kein vollkommener Dualismus. 71 EWL13, GA II/17, 278-279. 72 EWL13-N, GA IV/6, 416. 70 11 nicht mehr den schöpferischen Akt des absoluten Durch, des Wissens, weil erst durch ihn diese gespaltete Welt und die Ansicht des Bewusstseins erzeugt wird und, metaphorisch ausgedrückt, wenn der Mensch (das Bewusstsein) die Augen öffnet, ist die Welt schon fertig - ohne sein Zutun. Man braucht eine eigentümliche philosophische Reflexion, um das Unbewusste oder das Vorbewusste ans Licht zu bringen. Darin besteht die Revolution der WL vom philosophischen Standpunkt, ihre originelle Perspektive und ihre neue Welt. Im zweiten Fichte ist eine Verschiebung zu bemerken. In Jena, in der WLnm (17961799) oder in der Sittenlehre von 1798, wurde die materielle Welt abgeleitet, damit die Freiheit des Ich, der Menschen, realisierbar wäre, so dass sich die Frage stellte: Wie soll eine Welt sein, damit ein freies Wesen möglich wäre und seine Aufgabe verwirklichen kann73? Diese Fragestellung kam aus dem Praktischen, und durch diese Freiheit wurde die Welt nicht erschaffen. Jetzt wird die materielle Welt als die Bedingung für das wirkliche Sichwissen des Wissens oder für die Erscheinung Gottes abgeleitet, die Fragestellung ist also eher theoretisch und das Wissen ist schöpferisch, nicht mehr rein subjektiv. Bei diesem ersten Akt des Sehens verliert sich das Wissen in seinem Produkt, aber nicht völlig, es wird wegen der unendlichen schöpferischen Kraft seines eigenen Lebens nicht darin festgehalten, sondern weiß gleichzeitig immer von sich, d.i. es wird von einem Bild von sich begleitet, ganz gleich wie dunkel dieses Bild sein mag, da sein Wesen immer ein Sichwissen ist und bleibt. Das Sehen verneint sich und sein Produkt, aber um es zu negieren, muss es sich und seine Wirkung gesehen haben74. Der Inhalt des Gesehenen wird also doppelt gesetzt, als Produkt und als nicht Produkt des Sehens. Diese neue Dualität im Sehen wird in den Worten „Realität“ und „Bild“ gefasst. Die Realität ist ein Sein aus sich, und das Bild ist tote Gestalt des Seins ohne inneres Leben, die Grundanschauung (sie entspricht der früher gesetzten Duplizität des Innen und Außen); durch die Negation des Sehenprodukts wird das Sein gesetzt 75. «Also das Sehen, wenn es gesehen wird als Sehen, zeigt sich als habend zum Produkt ein Bild. Das Sehen, wenn es selbst gesehen wird, erscheint als Bilden, ein Setzen [des] Lebens außer ihm»76. Das Sehen wird als Bild gesehen, aber in diesem Zustand weiß das Wissen noch nicht, wo das Sehen entstanden ist und kann keine vernünftige Erklärung darüber abgeben77. Dieses Bild ist die Anschauung, ein Sehen des Sehens im Bilde, ein Bild des Bildes Gottes78. Deshalb wird in ihr das eigene Durch und die schöpferische Kraft des Sehens vernichtet und aufgehoben, d.h. das Leben des Sehens geht hier durchaus verloren. Der erste Akt des Sehens war ein Hinschauen, ein Projizieren, ein Schöpfen und Leben des absoluten Durch, das untere Leben. Der zweite Akt ist ein Sehen des Sehens, ein Bilden, ein Anschauen, ein Zuschauen ohne seinsschöpferische 73 «Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?», fragt Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (Hegel, Werke I, 234, Suhrkamp, Frankfurt, 1971). 74 Das hat eine Analogie zur Verdrängung und zur Verneinung bei Freud. 75 EWL13, GA II/17, 280-282. 76 EWL13-N, GA IV/6, 420. 77 «Der Dogmatiker Vorgeben von physischen Einfluße[,] eine reine, u. durchaus tolle Erdichtung. ohne alle Veranlassung im natürlichen Bewußtseyn» (EWL13, GA II/17, 283; siehe auch 311). 78 «1). bekannt ist, das in der Anschauung eintretende ist nun gar nicht Bild Gottes; sondern nur Bild des Bildes» (Diarium III, GA II/17, 14). 12 Kraft79. «Daher allein nun die allgemeine Voraussetzung einer realen Welt außer dem Wissen, u. unabhängig vom Wissen; ohneachtet man allgemein gestehen muß, daß es ein Bild [eine Erkenntnis] dieser Welt giebt im Wissen; u. keiner auf eine begreiflichte Weise nachweisen kann, wie diese beiden Formen zusammenhängen mögen»80. Das ist der unvermeidliche und richtige Realismus des gewöhnlichen Bewusstseins, richtig und notwendig auf dieser Stufe. Nach der Anschauung werden in der Einleitung noch andere Elemente des Wissens abgeleitet: das Denken, der Begriff, das logische Subjekt, die reine Apperception, die Kategorien der Relation, der Raum und die Raumerfüllung und die Sinne. Mit diesen Vorlesungen wollte Fichte seinen Zuhörern seinen Idealismus erläutern, dass das Sein nur ein Gesehenes und die Welt Sehen sei: «Darum ist es uns zu thun, nachzuweisen, wie die ganze äußere Welt Produkt sey des Wissens, einzig liege im Wissen, trotz dem gewöhnlichen Bewußtsein, das da annimmt eine Welt und Realität an sich, außer dem Wissen»81. Am Ende der Vorlesungsreihe sollte klar geworden sein, dass die Welt, die materielle Welt, das Sein oder das Ding an sich des materialistischen Dogmatikers oder Naturphilosophen, nur ein Produkt des Sehens, des unmittelbaren Selbstverständnisses des Wissens ist 82. «Das Auge ist die Wurzel der Welt»83. Das Sein kann das Wissen nicht erklären, es verhält sich vielmehr umgekehrt, das absolute Wissen gibt uns das Sein. Dieses Wissen gibt allerdings notwendig ein Sein an sich vor, eine Welt aus sich. Daraus besteht der transzendentale Idealismus, der gemäß Kants Wunsch, auch ein empirischer Realismus ist. Das Ding an sich ist eine unvermeidliche und nicht aus Willkür, sondern aus den Gesetzen des Wissens, notwendige Vorstellung im gewöhnlichen Bewusstsein, es basiert auf einem auf dieser Stufe notwendigen Nichtverstehen. Beim Philosophieren sollte dieses Sichnichtverstehen des Wissens aber überwunden werden, sonst wird diese Idee der Welt an sich zu einem Irrtum84. 4. Der höhere Realismus: Das Sehen und das absolute Sein Am Ende der fünften und letzten Vorlesung der WL14, wahrscheinlich die letzten Aufzeichnungen Fichtes, findet sich ein Gedanke, der der Deutung bedarf, um die neue, von Fichte angebotene Welt in groben Zügen zu skizzieren. Wir lesen: «Denn ausser dem Verstande, als dem einzigen ausser Gott, giebt es freilich kein ausser, u. keine Welt, wie die WL fest drüber hält»85. Wir hatten zuvor die Dualität Sehen und Sein betrachtet, und wir sahen das Auflösen dieser Duplizität, indem das Sein und die faktische Welt als ein Produkt des Sehens, und zwar als ein Gesehenes ausgelegt wurden, denn außer dem Wissen gibt es keine 79 «[…] man richtet den Blik auf das seyende Sehn, als faktisches, u. gegebner Zustand, nicht Leben u. Fluß, sondern Bestimmung, u. Stillstand eines Flusses. nicht Hin- sondern Anschauung» (EWL13, GA II/17, 282). 80 EWL13, GA II/17, 283. 81 EWL13, GA IV/6, 424. 82 EWL13, GA II/17, 311. EWL13-N, GA IV/6, 467-468. 83 EWL13-N, GA IV/6, 471. 84 EWL13, GA II/17, 312-313. EWL13-N, GA IV/6, 470-471. 85 WL14, GA II/17, 340. 13 Welt. Jetzt finden wir eine höhere Duplizität - Gott und Wissen, ein Wissen, das außerhalb Gottes liegt. Die Lehre von der WL nach 1801, also nach dem Atheismusstreit, geht davon aus, Gott sei das Allerrealste, während das Wissen und seine Welt der Ort sei, an dem der vollkommene Idealismus herrscht, weil außer Gott nichts als Wissen und Bild existieren könne. In der Einleitung von 1813 haben wir noch das Echo des Nihilismusvorwurfes im Ohr, den Jacobi in seinem offenen Brief von 1799 gegen Fichte vorbrachte. Fichte antwortet: «Ihr sagt: Idealismus, Nihilismus. Wie ihr entzückt seyd, ein Wort [gefunden zu haben] von dem ihr hofft daß wir drüber erschreken werden. Wie denn, wenn wir nicht so blöde, uns dessen rühmten, u. das eben das vollendete, u. durchgreifende unsrer Ansicht beweise, daß es eben Nihilismus sey, stenge Nachweisung des absoluten Nichts, außer dem Einen unsichtbaren Leben, Gott genannt; u. eure Beschränktheit, u. Armseeligkeit ist, daß ihr außer diesem noch etwas bedürft, u. an euch bringen zu können wähnt»86. Fichte verteidigt sich gegen den Vorwurf des Nihilismus mit der Realität an sich des absoluten Seins87, und so kann er in der Erscheinungslehre einen vollendeten Idealismus des Wissens als έ καὶ πα̃ ausarbeiten. In der Grundlage war das reine Ich als die ursprüngliche Realität gedacht worden, jetzt aber ist das Ich und seine ganze Welt ein Bild der ursprünglichen Realität, des absoluten Seins. Wir leben nicht das innere seiende Leben Gottes, sondern das bildende Leben seiner Erscheinung, das Leben des Wissens, denn wir sind «nur Wissen, Bild, und Vorstellung», sagt Fichte in der Anweisung88. Beide Leben sind Leben aus sich, Freiheit, aber mit verschiedener ontologischer Bedeutung. Gewöhnlich stellt man sich das Verhältnis bzw. der Zusammenhang zwischen Gott und der Welt durch den Schöpfungsakt vor. Gemäß dieser Vorstellung war Gott nur während des Schaffens lebendig, davor war er nur ein Vermögen und näher in der Ruhe, also tot. Gott wäre ein Sein, welches in sich das Vermögen trüge, sich in Leben zu verwandeln, und aus dem Nichtleben Leben zu schaffen. Das ist reiner Unsinn. Aber das Absolute ist nichts als absolutes inneres Leben, «durch u. durch u. lauter Leben von sich aus sich in sich. Drum kann es nie aus sich herausgehen, weil dazu ein Akt [der Selbstbestimmung], d.i. eine Unterbrechung des Lebens zum Hervorbringen desselben gehörte […], so ist er immanent in ihm selber, u. kann nicht heraustreten in Einer Welt»89. Das Absolute ist, wird nicht, erfährt keine Veränderung. Darüber hinaus verleiht die Schöpfungsidee dem faktischen Sein einen Grundcharakter des Seins90; 86 EWL13, GA II/17, 266-267. «Sie haben uns auch vorgeworfen Idealismus sey Nihilismus […]. Freilich Nihilismus, das heißt strenge Nachweisung des absoluten Nichts außer dem Einen, wahren ewigen Seyn und Leben in Gott» (EWL13-N, GA IV/6, 396). 87 Diarium III, GA II/17, 15. «Giebt Seyn. […] Die WL weiß das schlechthin, u. nimmt es vor allem voraus an: u. ist so recht eigentlich in ihrer Wurzel Realismus – Kein einziges philosophisches System […] nimmt dies so im ganzen Ernste an […] Sie [die anderen Systeme] wollen das Seyn durch das Denken, vermittelst eines Schlußes, zufolge irgend einer Prämisse, herausbringen […]. Sie sind alle idealistisch [… Aber unsere WL behauptet] es ist von sich aus sich durch sich, was es ist, u. seyn kann: u. dieses von sich seyn ist sein Seyn: also inneres lebendiges Seyn, alles Seyn, u. außer ihm kann es kein Seyn geben. Gott: u. außer ihm nichts. Jene wollen eben das Daseyn Gottes beweisen» (WL07, GA II/10, 165-166). 88 ASL, GA I/9, 103, 4-9. Siehe auch WL10, GA II/11, 345, 350, 351, 364. 89 WL14, GA II/17, 339. Siehe auch WL14-N, GA IV/6, 509-510. WL12, GA II/13, 67. 90 WL12, GA II/13, 54. 14 aber außer Gott kann nur das Wissen als Bild Gottes ohne eigenes Sein existieren. Es kann also nur das Wissen der Schöpfer der Welt sein91. Die letzten WLn beginnen in der Tat mit dieser Dualität: Es gibt das absolute Sein und außer ihm kann es kein Sein geben, nur Wissen, Idealität, Bild von ihm als seine Erscheinung. Am Anfang der WL13 steht: «Als absolute Grundlage des Wissens das Erscheinen des absoluten = absolutes Erscheinen, Accidens des absolute, ohne alles eigene Seyn»92. In der WL12 wird gesagt: «Also – ausser dem absoluten ist da, weil es nun einmal da ist, sein Bild. Ist der absolut bejahende Satz der WL von dem sie ausgeht: ihre eigentl. Seele»93. Die gleiche Behauptung findet sich in der WL11: «Das Wissen ist eßentialiter in Grund u. Boden, Erscheinung, Bild, Schema: das Seyn komt in demselben nicht vor, sondern dies bleibt rein, u. lauter in Gott»94, das reale lebendige Sein durch sich, von sich, aus sich. Und im § 1 des von Fichte 1810 veröffentlichten Umrisses seiner WL schreibt er: «Nur Eines ist schlechthin durch sich selbst: Gott, […] lauter Leben […], und es kann weder in ihm, noch außer ihm ein neues Seyns entstehen. Soll nun das Wissen dennoch seyn, und nicht Gott selbst seyn, so kann es, da nichts ist denn Gott, doch nur Gott selbst seyn, aber außer ihm selber; […] eine solche Aeußerung ist ein Bild oder Schema»95. Steht im Diarium III von 1813 etwas anderes? Am 25. Oktober 1813 nahm Fichte die Arbeit an einem neuen Diarium, dem sogenannten Diarium III, auf. An diesem Tag notiert er dieselbe Idee: «Der Unterscheidungssatz wäre nun der: Das absolute ist ausser seinem Begriffe -. Die Erscheinung ist, lebt selbstständig nur in ihrem Begriffe»96, in einem Bilde und als Akzidens des Seins. Aber auf der folgenden Seite merkt er an: «Nun aber ist die Hauptsache […] daß ich ja das absolute ansich auch nicht tod darstellen will, sondern lebend. NB. Da liegt ein GrundIrrtum in meinen bisherigen Darstellungen der WL. daß ich eigentlich die Erscheinung zu einem besondern göttlichen Leben machen will. Dies ist falsch. Sie ist das absolute göttl. Leben selbst; nur, in der Form des Begriffs; in einem Bilde. auf dieses Bild fließt das Grundleben nur ein als Vermögen, u. Gesez. in diesen Formen»97. Es gebe also nur ein Leben in zwei Formen. Aber die Formen sind wesentlich für die Art des Lebens. Deshalb fährt Fichte fort: «Ich muß also allerdings noch zu einem besondern bildenden Leben kommen für die Form des Begriffs, das da absolut selbstständig ist, u. in dieses fällt das Wesen der Erscheinung»98. Das wäre das zweite Leben, das bildende Leben des Wissens selbst. Aber dieses Leben ist Bild und besitzt kein eigenes Sein, das Sein bleibt beim göttlichen Leben selbst; deshalb fügt 91 «Es fragt sich nun, wenn nichts ist denn das Leben, woher denn doch alles andere? Antwort: Dieses Eine, absolute Leben, das göttliche Leben stellt sich in einem Wissen, wird zum Wissen, stellt sich in einem Bilde seiner selbst» (EWL13-N, GA IV/6, 439). Siehe auch EWL13, GA II/17, 293, aber hier erscheint das Wort „göttlich“ nicht. «Faktum der Sittenlehre. Der Begriff sey Grund der Welt: mit dem absoluten Bewußtseyn [dank der WL], daß er es sey» (SL12, GA II/13, 307). 92 II/15, 136. 93 II/13, 58. 94 II/12, 157. 95 GA I/10, 336. 96 GA II/17, 12. 97 GA II/17, 13. 98 Ibidem. 15 Fichte zu dem Gesagten hinzu: «Diese ist nun eigentlich doch nicht, sondern in ihr das göttl. Leben»99. Die Untersuchung der WL, heißt es bei Fichte in unserem Text weiter, soll zeigen, wie und warum das absolute göttliche Leben selbst in die Form des Begriffs, des Wissens eintritt. So wird das bildende Leben selbst abgeleitet, das aber als Bild sein eigener Grund ist 100 . Das göttliche Leben stellt sich durch ein rein erscheinendes Leben, durch ein Leben in der Form des Begriffs dar oder existiert und das, was noch zu erforschen bleibt, ist der Unterschied zum realen Leben an sich und zur Form des idealen Begriffs101. An diesem Zitat zeigt sich die unvermeidliche Spannung, die in der Fichtischen Lehre waltet und seine eigentümliche Stellung in der Geschichte der Philosophie. Es gibt nur ein reales Leben, aber doch zwei Leben, oder: Es gibt nur ein einziges absolutes Sein, aber doch etwas außerhalb von ihm. Diese Spannung bzw. dieser Widerspruch, den Fichte durch seine dialektische Methode produktiv zu machen und zu durchdenken versucht, stammt aus der Vorstellung des absoluten Seins, die in seiner Berliner Philosophie herrscht. In diesem Sein, da es absolut ist, kann keine Mannigfaltigkeit und Veränderung, kein Wissen oder Bewusstsein 102 stattfinden, denn all das bringt Unterscheidung, Gegensatz, also Endlichkeit mit sich. Wenn das alles existiert, und wir sehen, dass es so ist, kann folglich kein zweites Sein vorhanden sein, weil es sonst das erste endlich machen würde. Es muss sich also um ein Bild oder um eine ideelle Erscheinung des absoluten Seins handeln. Da dieses Bild aber als ein geeignetes Bild Gottes erscheinen muss, kann es kein totes Bild sein, da Gott kein totes Sein, sondern aktiv und lebendig, ist, d.i. mit eigenem Leben aus sich, von sich, durch sich ausgestattet, jedoch nicht als ein zweites seiendes Leben in Gott, als wäre es ein zweiter Gott in Gott selbst, sondern als bildendes ideelles Leben an Gott oder außerhalb Gottes, als ein Leben des absoluten Durch 103 , das uns unsere ganze Wirklichkeit hervorbringt, wie wir gesehen haben104. Genau darauf beruht das Hin- und Her Fichtes, einerseits denkt er, es gibt nur ein reales Leben, andererseits muss er berücksichtigen, dass das Wissen ein eigenes bildendes Leben in sich ist und antreibt. Diese Trennung oder Differenz zwischen absolutem Sein und Wissen macht jetzt für Fichte das Wesen des transzendentalen Denkens aus, weil in diesem «Reflektiren auf 99 GA II/17, 13-14. Diarium III, GA II/17, 14. 101 Diarium III, GA II/17, 15. 102 «[…] Unterscheidung zwischen der Form des göttlichen Seyns, u. des seiner Erscheinung. (nemlich daß man Gott durchaus Bewußtseyn beilegen will, ist der GrundIrrtum, durch welchen man stillschweigend den Vorzug, u. die Prominez des Bewusstseins vor dem todten materiellen Seyn zugesteht» (Diarium III, GA II/17, 12). 103 «Das Sehen ist Durch, eines absol. Durch, eines Lebens aus [sich] von sich durch sich. Bild» (EWL13, GA II/17, 282). «Das Sehen wirft durch sich aus sich hin ein absolutes Leben […] so zeigt sich hier ein inneres Leben u. Kraft innerlich, im Sehen selbst, zufolge welcher dasselbe wandelt[,] fließt, u. innerhalb seiner Gestalt sich fortgestaltet» (EWL13, GA II/17, 284). 104 «In diesem Sinne sich nun auch in der WL wahr u. passen Sätze des Sp. [Spinoza] Systema: Die wahre Parallele. Eins u. Alles daßelbe. έ καὶ πα̃. Alles in dem Einem, alles Eins.- Allerdings, nemlich in der Einen Erscheinung.- In ihm leben, weben, sind wir: ja, in seiner Erscheinung: nimmer in seinem absoluten Seyn» (WL12, GA II/13, 60). «[…] nur ihn [Spinoza] noch besser verstehend, als er sich selbst», denn in ihm hat «dunkel das Bild der W.L. vorgeschwebt» (WL12, GA II/13, 60). 100 16 das Princip des eignen Reflektirens eben die transscendentale Kunst bestehet»105. Hier liegt der grundsätzliche Unterschied im Denken Fichtes und Hegels. Für diesen ist das Absolute immanent und liegt in der ganzen dialektischen Bewegung durch alle Momente des Systems. Aus diesem Grund ist die Philosophie Fichtes keine Seinslehre, sondern eine Wissenslehre106, da wir vom absoluten Sein nur sagen können, dass es unbegreiflich ist. Um das zu erkennen, bedarf es nur der Selbstbesinnung, d.i. auf das Sehen zu reflektieren, um sich dessen bewusst zu werden, dass wir nicht das absolute Sein selbst besitzen, wie Spinoza und Schelling annahmen, sondern nur den Begriff davon107. In diesem Akt der Freiheit, in diesem Selbstwissen des Wissens als lebendiges Bild, liegt die WL, die Befreiung und der höhere Sinn für die neue Welt108. 105 WL07, GA II/10, 185. Siehe auch WL042, GA II/8, 344-6. WL12, GA II/13, 52 und 68. WL13, GA II/15, 133. In Jena begann er seine Vorlesungen über die WL und forderte seine Zuhörer auf, an die Wand zu denken, und im Anschluss über diesen Akt des Denkens zu reflektieren (Henrik Steffens, Was ich erlebte, Breslau, 1844 in Fichte im Gespräch 2, 7-8): «Denke dich, und bemerke, wie du das machst; war meine erste Forderung», schrieb er im 1798 (Versuch, GA I/4, 274). 106 «WL. nicht Seynslehre» (WL13, GA II/15, 133). 107 ZE, GA I/4, 264. WL042, GA II/8, 115 und 117. WL07, GA II/10, 113. WL12, GA II/13, 53. «Ich sage[:] Spinoza soll wissen, daß er denke, so wird er sehen, daß er nicht Gott selbst ‹hat›» (Diarium I, GA II/15, 318). So, dass «er eine unmittelbare Fassung des Seyns, eigentlich das Seyn selbst unmittelbar zu haben glaubt» (WL12, GA II/13, 52) Das Sehen sieht nur sich, sogar im Begriff Gottes (EWL13, GA II/17, 298. EWL13-N, GA IV/6, 447). 108 EWL13, GA II/17, 245 und 247.