Psychoanalyse und Religionswissenschaft in der Universität – Eine wissenschaftstheoretische Debatte? 1. Psychoanalyse Zur Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse und der Psychologie an der Universität: Es gibt die Auffassung, Psychoanalyse sei keine Wissenschaft, weil sie keines der von den meisten Wissenschaften anerkannten Kriterien für wissenschaftliches Forschen aufweist1. An anderer Stelle gibt es die Nutzbarmachung der Arbeiten von Husserl und Jaspers für die Belange der Psychologie und der Psychoanalyse2. Wiederum an anderer Stelle wird thematisiert, woran es liegen könnte, dass die Psychoanalyse in der Soziologie weitestgehend unbekannt ist3. Aber auch die Geschichte der Psychologie als eine solche der Spaltungen und Sezessionen wird ausführlich thematisiert4. An anderer Stelle wird die Situation des Faches Psychoanalyse in den Kontext gestellt, „das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters“5 sei erreicht. Auch findet die Einbettung der Psychoanalyse und der Psychologie in den Kontext „Krise der Philosophie“ statt6. Es gibt sogar die Parallelisierungen der Geschichte der Psychoanalyse mit der Geschichte der Physik und deren dramatischen Wandel im 20. Jahrhundert7. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es innerhalb der psychoanalytischen Bewegung keine gemeinsame Grundlage mehr8. Eine besondere Gefahr erwächst der Psychoanalyse heute durch die modernen Neurowissenschaften, mit dem Ziel, die Psychoanalyse gänzlich ad acta zu legen9. Trotz des massiven Medienrummels zu Freuds 150. Geburtstag ist der Kurs der Psychoanalyse heute denkbar niedrig10. Wahrscheinlich ist Psychoanalyse weder eine Natur- noch eine Geisteswissenschaft, sondern wohl eine Zwischenwissenschaft, die allen Vereinnahmungsstrategien Widerstand leisten muss11. Für die erst seit 1941 als eigenständige akademische Disziplin im Wissenschaftskanon etablierte Psychologie12 wäre die Abschaffung der Psychologie 1 Leuzinger-Bohleber, Marianne (2004): Psychoanalyse als Profession und Wissenschaft. Die psychoanalytische Methode in Zeiten wissenschaftlicher Pluralität. 1. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. S.33 2 Rattner, Josef; Danzer, Gerhard; Freud, Sigmund (2006): Psychoanalyse heute. Zum 150. Geburtstag von Sigmund Freud (6. Mai 1856). Studienausg. Würzburg: Königshausen & Neumann. S.191 3 Busch, Hans-Joachim (2007): Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S.57 4 Neubaur, Caroline (2008): Der Psychoanalyse auf der Spur. Berlin: Vorwerk 8. S.327 5 Kleine-Horst, Lothar (2004): Der Anfang des nach-naturwissenschaftlichen Zeitalters. Gedanken und Experimente jenseits der Lehrmeinungen. Köln: Enane-Verl. S.5 6 Sewz, Gabriela (2004): Zum Selbstverständnis der Psychologie als Wissenschaft. Eine wissenschaftstheoretische Analyse anhand des Objektivitätsbegriffs. Frankfurt am Main: Lang. 7 Michels, André (1997): Psychoanalyse nach 100 Jahren. Zehn Versuche, eine kritische Bilanz zu ziehen. München: Reinhardt. S.227 8 Springer, Anne; Münch, Karsten; Munz, Dietrich; Brüggen, Wilhelm (2007): Psychoanalyse heute?! Tagungsband der 57. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie 2006. Orig.-Ausg. Gießen, Lahn: Psychosozial-Verl. S.274 9 Neubaur aaO S.19 10 Neubaur aaO S.26 11 Neubaur aaO S.170 und der Psychoanalyse als universitäres Fach damit wohl ein Rekord, was die Verbleibdauer an der Universität angeht. Freud selbst hatte ja schon gesagt, dass er es „nicht für möglich“ halte, „unsere Abstraktionen in irgendwie respektabler Weise plastisch darzustellen“13. Die daraus resultierenden „Vorbehalte gegenüber der Möglichkeit einer induktiven Logik, eines allgemeinen Regelsystems der wissenschaftlichen Forschung und die Einsicht, dass Erkenntniswerte wie Genauigkeit, Kontrastschärfe und Relevanzdisziplinen relativ zu explizieren und zu erlernen sind, könnte man […] als Kennzeichen des Relativismus, als Einzug der Postmoderne in die Wissenschaftsphilosophie deuten.“14 Bis heute ist es nicht gelungen, Siegmund Freud wissenschaftstheoretisch dem ihm gebührenden Rang zu zuweisen15. Auch der psychoanalytischen Sozialpsychologie ist es bis heute nicht gelungen, selbst nicht Horst-Eberhard Richter, für die psychoanalytische Sozialpsychologie eine wissenschaftstheoretische Verortung eindeutig vorzunehmen16. Auch der Versuch, die Psychologie gegenüber den reinen Geisteswissenschaften einerseits und den reinen Naturwissenschaften andererseits als Humanwissenschaft zu profilieren, ist bis heute nicht überzeugend gelungen17. Ob die Wendung der Psychologie in den 1970er und 1980er Jahre hin zur Erforschung kognitiver Prozesse das wissenschaftstheoretische Problem lösen kann, ist eher fraglich18. Nimmt man all diese Diskurse zusammen, ist die Aussage zulässig, dass es eine sehr heftige Debatte darum gibt, ob Psychoanalyse/Psychologie überhaupt an die Universität gehört. Es werden also diesen Disziplinen Kritikpunkte entgegen gesetzt, sie seien nicht wissenschaftlich. Andererseits ist diese Debatte keineswegs eine solche des Jahres 2015, sondern ist jetzt schon Jahrzehnte alt. Wir haben also den Tatbestand vor uns, dass es eine heftige Diskussion über die sogenannte Wissenschaftlichkeit einer universitären Disziplin gibt, dass daraus aber bis heute keinerlei Konsequenzen zu ihrer Existenz an der Universität gezogen wurden. Dies für die Arbeit von Gerichten von Belang. 12 Sewz aaO S.15 Michels aaO S.118 14 Leuzinger-Bohleber aaO S.24 15 Rattner aaO S.198 16 Busch aaO S.27 17 Jüttemann, Gerd (2004): Psychologie als Humanwissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S.61 18 Hau, Stephan (2009): Unsichtbares sichtbar machen. Forschungsprobleme in der Psychoanalyse; mit 10 Tabellen. 2., korr. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S.32 13 2. Religionswissenschaft Von den drei Fachdisziplinen Psychoanalyse/Psychologie, Sozialwissenschaften/Soziologie und Religionswissenschaft ist der wissenschaftstheoretische Diskurs wahrscheinlich in der Religionswissenschaft der heute am weitestgehende19. In der Debatte zum Status des wissenschaftstheoretischen Fundaments der Religionswissenschaft ist international heute wohl Konsens erreichbar, dass streng wissenschaftstheoretisch gesehen die Religionswissenschaft Probleme mit der Idee der Rationalität bekommen hat20. Die Forscher mussten sich damit abfinden, dass das Ideal der Naturwissenschaften und das Ethos der aperspektivischen Objektivität in der Religionswissenschaft nicht nutzbar gemacht werden kann21. Vielmehr musste ein neuer Theorieansatz gesucht werden, auf der Basis des Selbstverständnisses als anthropologisch-empirische Wissenschaft. Als Methode sollte die unvollständige Induktion angewendet werden, die eigentlich zu keinem Beweis führen kann22. Die Religionswissenschaft hat die Möglichkeit verloren, verbindlich zu sprechen, da sie keine verlässlichen, also allgemein begründete Aussagen mehr tätigen kann, deren Regelbegründung der unteilbar wissenschaftlichen Rationalität unterliegt23. Damit steht diese Fachdisziplin vor der Frage, wie sich die heutige religionswissenschaftliche Auffassung von Wissen kategorisieren lässt. Was ist für den Religionswissenschaftler eine objektive Tatsache, was ein Beweis und wie sind diese voneinander zu differenzieren? Für den Gegenstand arbeitsrechtlicher Streitigkeiten besonders interessant ist die Tatsache, dass in der Religionswissenschaft ein zentraler Fokus die Evidenz innerhalb der erkenntnistheoretischen Bemühungen ist24. In der Vergangenheit haben insbesondere die Religionsphänomenologen für ihre Begründung des „Heiligen“ auf den Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Evidenz zurückgegriffen25. Mangels einer Alternative ist die Religionswissenschaft heutiger Provenienz immer noch dem methodologischen Historismus als „Wissenschaft des Geistes“ verpflichtet26. In der Religionswissenschaft kann man besonders schön das wissenschaftstheoretische Grundlagenproblem erkennen, das seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts um die Frage der Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften kreiste27. 19 s. Antes, Peter (2008): Religionsforschung heute - Plädoyer für die systematische Religionswissenschaft. In: Schendel, Volker H. (Hg.): Apokryphen der Astrologie. Tübingen: Astronova, S. 575–577 ; Antes, Peter (2008): Religiöse Sozialisation aus religionswissenschaftlich-systematischer Sicht. In: Schendel, Volker H. (Hg.): Apokryphen der Astrologie. Tübingen: Astronova, S. 563–574 ; Antes, Peter (2008): The Multidimensional Truth about Reality. In: Schendel, Volker H. (Hg.): Apokryphen der Astrologie. Tübingen: Astronova, S. 106–112. 20 Horyna, Bretislav (2007): Söldner der Argumentation; in: Yousefi Hamid Reza (2007): Wege zur Religionswissenschaft. Eine interkulturelle Orientierung; Aspekte, Grundprobleme, ergänzende Perspektiven S.145 - 167. Nordhausen: Bautz. S.146 21 Horyna a.a.O. S.149 22 Horyna a.a.O. S.149 23 Horyna a.a.O. S.150 24 Horyna a.a.O. S.151 25 Horyna a.a.O. S.151 26 Horyna a.a.O. S.153 27 Horyna a.a.O. S.153 Die damals verwendete Abgrenzung mit den Parametern „Geist“ und „Natur“, wobei „Natur“ als „Außenwelt“ und „Geist“ als „Bewusstsein“ etikettiert wurden, wurde verhängnisvoll28. Dies führte zu atheoretischen, das heißt lebensweltlichen Einstellungen, die bei jeden Erkenntnisbemühungen zu vermeiden sind, da sonst Erzählungen entstehen und nicht Erkenntnis29. Die seit Dilthey bekannte Unterscheidung von Erklären der Natur und Verstehen des Seelenlebens30, war für die Religionswissenschaft nicht weiterführend31. Religionswissenschaft zählt nämlich, was die Sache nicht einfacher macht, zu den Fachdisziplinen, die in die Diltheysche Aufteilung der Wissenschaften nicht passt, weil sie als besondere Fachdisziplin sowohl erklären wie verstehen muss32. Der Religionswissenschaftler muss also in aller Schärfe und Genauigkeit aufklären darüber, was „Erklärung“ und was „Verstehen“ ist33. Dabei hilft der Rückgriff auf die Hermeneutik, wie dies gern von anderen Kulturwissenschaften vorgenommen wurde, in der Religionswissenschaft nicht wirklich weiter34. Das Resümee, das Horyna zieht, sei hier im Wortlaut zitiert35: „Der Religionswissenschaft mangelt es an methodischer Skepsis, wenn sie ihre Grundlagen reflektiert. Sie hält vieles für selbstverständlich, was keineswegs selbstverständlich ist, und statt sich der Grundlagenproblematik zu widmen, sucht sie Ersatzthemen, je exklusiver desto besser. So entstehen Willensprodukte wie angewandte oder praktische Religionswissenschaft, die keinen Halt in der Religionswissenschaft selbst haben. Sie spiegeln nur die erfinderische Potenz wieder, mit der die wesentlicheren Probleme umgangen werden. […] Die Grundlagenkrise betrifft die Sachverhalte, die das Wesen der Religionswissenschaft als Wissenschaft festlegen: Argumentationsführung Beweis Aussagenbegründung Begriffsbildung Deutung von Empirie methodologische Basis Definition des Erkenntnisgegenstandes Automatisierung Eliminierbarkeit von Antinomien Rationalitätstypus und die durch ihn bestimmten Ableitungsformeln, Regeln des wissenschaftlichen Betriebs und dies alles unter zwei Bedingungen: 1., dass es keine universelle Methode für die Einheit von Wissenschaften gibt, und 2., dass es keinen privilegierten theoretischen Standort gegenüber der konkreten empirischen Forschung geben darf. Das religionswissenschaftliche Wissen wird wahrscheinlich nie eindeutig, weil die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Religionsgeschichte als einer 28 29 30 31 32 33 34 35 Horyna a.a.O. S.153 Horyna a.a.O. S.154 Horyna a.a.O. S.155 Horyna a.a.O. S.155 Horyna a.a.O. S.155 Horyna a.a.O. S.156 Horyna a.a.O. S.157 Horyna a.a.O. S.165 theoretischen Disziplin in das Schisma von Entdeckung und Rechtfertigung des Wissens führt. Eindeutig aber muss die Rekonstruktion einer zum Wissen erklärten Tatsache sein, möchte die Religionswissenschaft nicht als bloße Erzählung mit einem immer und für alles offene Ende wahrgenommen werden. Diese Forderung macht aus der Religionswissenschaft sicher keine Magd der normativen Wissenschaftstheorie, sie hilft ihr eher zum integralen Teil der Wissenschaften zu werden, die nicht dichten, sondern nachprüfbar argumentieren. Dann wird es auch nicht so wichtig sein, ob wir sie als Geistes-, Kultur-, Human- oder Sozialwissenschaft bezeichnen. Wissenschaft braucht keine Präfixe oder Suffixe, sie braucht nur wissenschaftlich zu verfahren – nicht mehr, nicht weniger.“ Vermutlich ist die Religionswissenschaft mit ihren Abgrenzungsstrategien zwischen religiöser und spiritueller Erfahrung wissenschaftstheoretisch die größte Herausforderung bei den Problemkomplexen der rechtlichen Bewertung hochschulpädagogischer Kategorienbildung und ihrer Einordnung in die Arbeitswelt an Universtäten und Hochschulen.