Vorlesung 02

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VLII
Was sind psychische Störungen?
psychische Gesundheit
abweichendes Verhalten
psychische Störung
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie und
Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Kapitel 2: Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Was ist Klinische Psychologie?
Die derzeitige Situation
Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der
Psychologie, die sich mit psychischen Störungen und den
psychischen Aspekten somatischer Störungen/Krankheiten
befasst.
Dazu gehören u.a. die Themen Ätiologie/Bedingungsanalyse,
Klassifikation, Diagnostik, Epidemiologie, Intervention
(Prävention, Psychotherapie, Rehabilitation,
Gesundheitsversorgung, Evaluation).
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Störungsbezogene Aspekte
Intrapersonell
........
Betrieb
Schule
Paar
Gestörtes System
........
Neurodermitis
Schmerz
........
Angststörung
Gestörtes Funktionsmuster
Depressive Störung
........
Lernen
Denken
Wahrnehmung
Gestörte Funktion
Interpersonell
Familie
Störungsübergreifende Aspekte
Grundbegriffe (Definitionen, Geschichte etc.)
Gesundheit/Krankheit
Wissenschaftstheorie
Ethik
Klassifikation
Diagnostik
Epidemiologie
Ätiologie/Bedingungsanalyse
• Methodische Gesichtspunkte
• Allgemeine Determinanten (Genetik, Biologische
Aspekte, Umwelteinflüsse: Sozialisation, Stress etc.)
Intervention
• Methodische Gesichtspunkte
• Gesundheitsversorgung
• Interventionen (Prävention, Psychotherapie,
Rehabilitation)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Gesundheit und Seelische Gesundheit sind schlecht
definierbar
 There is no one "official" definition of mental health (e.g cultural
differences, assessment, competing professional theories)
 „An individual's ability to enjoy life and procure a balance between life
activities and efforts to achieve psychological resilience“ (Positive
Psychology).
 Mental health is an expression of our emotions and signifies a
successful adaptation to a range of demands (Health psychology).
 WHO = "the individual realizes his or her own abilities, can cope with
the normal stresses of life, can work productively and fruitfully, and is
able to make a contribution to his or her community".
 Field of Global Mental Health: = 'the area of study, research and practice
that places a priority on improving mental health and achieving equity
in mental health for all people worldwide'.
 Lösung? Seelische Gesundheit = Abwesenheit einer
psychischen Störung?
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Wohlbefinden ist noch problematischer …
 Commonly used in philosophy to describe what is non-instrumentally or
ultimately good for a person.
 The question of what well-being consists in is of independent interest, but it is
of great importance in moral philosophy, especially in the case of
utilitarianism, according to which well-being is to be maximized.
 Used in a wide range of contexts, including the fields of international
development, healthcare, and politics.

and is a core element of quality of life constructs used to evaluate the general
well-being of individuals and societies.
 Well-being concepts make highly questionable assumptions about the
dimensional nature of concepts (Henderson 2007
Mental well
being
Minimal
mental
illness
Conceptual problems: Well-being on the the same dimension as mental illness? Empirical evidence?
What is mental well-being (is there a non-mental wellbeing? What is minimal mental illness? Etc..
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Perspektiven der Gesundheit aus der Sicht von Psychologen und
Soziologen
Gesundheit
Gesundheit ist ...
Gesundsein
Rolle des Gesunden
(Jahoda, 1958 in der Präambel der Charta der WHO)
... der „Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“
Gesundheit ist ...
(Parsons, 1967)
... der „Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die wirksame Erfüllung
der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist.“
Gesund ist ...
(Becker, 1995)
... die leistungsfähige Person, ...



die ihren normalen Rollenerwartungen optimal nachkommt,
die die Alltagsanforderungen zu bewältigen vermag;
der nicht die besondere Rolle des Kranken zugeschrieben werden muss.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Gesundheit ist offensichtlich ein idealtypischer Begriff, der sich einer
befriedigenden Gesamtdefinition entzieht
Sinnvoll ist wissenschaftlich allenfalls, bestimmte wohl
definierte funktionale Aspekte zu unterscheiden:
z.B. subjektives Wohlbefinden
Funktionieren in Rollenbereichen, etc
Ausmaß erfolgreichen Coping
Lebensqualität
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Störung (disorder)
Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der Psychologie, die sich mit
psychischen Störungen und den psychischen Aspekten
somatischer Störungen/Krankheiten befasst
Krankheit
vs.
Einheiten mit spezifischen Symptom- und
Verlaufsmustern und den dazugehörigen
biologischen Prozessen (inkl. biolog.
Ursache), wie sie zum Teil bei gestörten
psychischen Phänomenen vorkommen.
Merke!
Störung
Bei gestörten psychischen Phänomenen
sind derartige Zusammenhänge strittig.
Zum Teil sind andere Konzepte sinnvoll,
so dass der offenere Begriff der
psychischen Störung verwendet wird.
Wir sprechen von psychischen Störungen und nicht von
psychischen Krankheiten, da wir diesen Störungen kein
medizinisches Krankheitsmodell zugrundelegen!
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
•
05.09.2011 DER SPIEGEL
Psychische Störungen in Europa
Die Zahl ist alarmierend: Mehr als 160 Millionen Europäer leiden an einer psychischen Krankheit, nur eine
Minderheit wird laut einer aktuellen Studie rechtzeitig behandelt. Den Schaden für die
Volkswirtschaften schätzen die Forscher auf eine dreistellige Milliardenhöhe - pro Jahr.
Hamburg - Angststörungen, Depressionen, Sucht: Psychische Krankheiten sind ein weit verbreitetes Problem
in Europa. Sie treffen laut einer aktuellen rund 38 Prozent der Bevölkerung. Trotzdem finden die Betroffenen
nur schwer Hilfe, beklagt ein Wissenschaftlerteam um Hans Ulrich Wittchen von der Technischen
Universität Dresden. Wittchen und seine Kollegen analysierten verschiedene Studien und andere Daten zu
psychischen und neurologischen Krankheiten in 30 Ländern Wie die Forscher in European
Neuropsychopharmacology berichten, leben in einem Zwölf-Monats-Zeitraum knapp 164 Millionen Menschen in
diesen Nationen mit einer psychischen Krankheit. Deutliche Unterschiede zwischen den Ländern gab es nur beim
Anteil der Suchtkranken sowie bei der Altersdemenz.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Psychische Störungen im Alltag
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Definition psychischer Störungen durch den Arzt
Diagnose als ärztliche Kunst – Diagnose als
ärztliches Fachwissen?
Ein fragwürdiges Unternehmen (keine Kompetenz,
keine Zeit, wenig therapeutisches Wissen)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Psychometrische Ansätze: Störung als Extremvariante?
am Beispiel: Verteilung depressiver Beschwerden in der Bevölkerung in %
Wenden wir eine dimensionale
Depressivitätsskala (DSQ) in der
Allgemeinbevölkerung an, finden wir gewöhnlich:
Nur wenige haben überhaupt keine depressiven
Beschwerden, viele einige und einige wieder sehr
hohe Werte.
Nach klinischen Konventionen werden in dem
verwendeten Instrument Werte über 10 als klinisch
auffällig und als Hinweis auf das Vorliegen einer
klinisch-bedeutsamen Depression angesehen.
Im Vergleich zu standardisierten klinischen
Diagnosen, beträgt die Sensitivität des DSQ
(=Ausmaß, in dem „wahre“ Fälle erkannt werden)
92%, die Spezifität (=Ausmaß der korrekten
spezifischen Diagnose) aber nur 72%.
Das heißt die Depressivitätsskala ist lediglich ein
sensitives Screening-Instrument.
Merke: Psychometrische Skalen allein, sind kein valider Ansatz
der Definition „Psychischer Störungen“
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Der Begriff Krankheit ist auch problematisch!
Krankheitsbegriffe werden unterschiedlich benutzt:
Krankheit = etwas unnormales was einer Erklärung bedarf (z.B. normal:
Muskelkater; traurig sein: Trauer nach Tod versus unnormal: Schmerzen ohne Verletzung,
Angst/Panik ohne Bedrohung)
Krankheit ist das, was der Betroffene fühlt (Kranksein = was man fühlt; versus
Krankheit = was man hat)
Krankenrolle (Status als „Behinderter)
Krankheit ist – was ein Arzt diagnostiziert – für Krankheit hält
Das heißt je nach Perspektive kann Krankheit etwas anderes bedeuten:
1) Ein biologisch veränderter Zustand des Körpers (z.B. Krebs)
2) Das Erleben von Unwohlsein oder Beeinträchtigung („ich kann einfach nicht
mehr..!“)
3) Eine zugeschriebene Krankenrolle mit Ansprüchen und Privilegien (z.B.
Frühberentung)
4) Das was Ärzte diagnostizieren (Diagnose)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Störungsart
psychisch
vs.
somatisch
Unter Klinischer Psychologie und Psychotherapie wird primär der
Bereich der psychischen Störungen subsumiert.
Hinzu gehören auch die psychischen Phänomene somatischer
Erkrankungen, da viele Problemstellungen bei psychischen und
somatischen Störungen vergleichbar sind (s.a. Beziehungen zu dem
Fach Psychosomatik, Klinische Neuropsychologie, Neurologie)
Psychische Phänomene können bei somatischen Erkrankungen im
Rahmen der Ätiologie/Bedingungsanalyse, der Deskription oder der
Intervention bedeutsam sein (s.a. Verhaltensmedizin).
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Herausforderungen
Gibt es wirklich eindeutige natürliche Grenzen und
cut-offs, die gesund und krank trennen?
Was ist eigentlich die Norm? Krank sein oder gesund
sein?
Welches Modell passt auf psychischen Störungen?
Lassen sich psychische Störungen auf Defekte und
Substrate zurückführen?
Gibt es andere Modelle?
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Being „healthy“ is not the norm!
Mental and somatic disorder status in the general population (Wittchen et al 1998)
DSM-IV Mental disorders (past
12 months)
* N = 7.221 (age range: 18-65)
Yes (40.3%)
No (59.7%)
Somatic
disorders (past
Yes
(64,7%)
28,3%
36,4%
12 months)
No
(35,4%
12,0%
23,4%
Distress and wellbeing measures do
not differentiate
sufficiently between
groups
Somatic disease assessment is based on a standardized clinical interview
and laboratory testing and excludes minor medical conditions (flu, minor
injuries). Mental disorder cover 51 mental disorders according to CIDI/DSMIV, including sleep disorder and nicotine dependence
Epidemiological data suggest that throughout life we „struggle“ more or less continously - with havong somatic and mental disorders
Wittchen, H.-U., Pfister, H., et al. (2000). Zusatzsurvey "Psychische Störungen" (Bundesgesundheitssurvey 98): Häufigkeit, psychosoziale
Wittchen,Beeinträchtigungen
H.-U. & Hoyer, J. (2006).
Klinische Psychologie
& Psychotherapie.
Heidelberg:
Springer.
und Zusammenhänge
mit körperlichen
Erkrankungen.
München:
MPI
Der Begriff Krankheit in der Medizin
- Das traditionelle medizinische Modell „Krankheit“ = ein theoretisches Konstrukt und ein praktisches allgemeines
Denkmodell (Annahme = psychische Störungen sind Geisteskrankheiten):
Korrelarien:
Beschwerden, Abweichungen körperliche Funktionen und
Verhaltensauffälligkeiten (das Kranksein) sind auf eine primäre Störung im
Sinne eines spezifizierbaren „Defekts/Störung“ zurückzuführen (der
möglicherweise noch nicht bekannt ist).
Dieser Defekt ist in der Person gelegen und bildet die eigentliche Krankheit.
Der Defekt ist zurückzuführen auf eine eindeutige Ursache (kausal) bzw. ein
immer wiederkehrendes Muster von Ursachen.
Nach dem klassischen biomedizinischen Krankheitsmodell ist dieser Defekt
(nicht unbedingt die Ursache) also grundsätzlich körperlicher Art (Substrat).
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Die Ebenen des allgemeinen medizinischen
Krankheitsmodells
Kennt man die
Krankheit, kann
man die Ursachen
schließen und die
Therapie ableiten!
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Traditionelles medizinisches Modell
Anwendung auf psychische Störungen: (Ein Beispiel)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Dies geht „naiv“ auch für psychologische
Störungsmodelle: (Ein alternatives Beispiel)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Kann man das für psychische Störungen anwenden?
Nicht nur für die meisten körperlichen Erkrankungen (Hypertonus,
Diabetes, Stoffwechsel), …
…, sondern auch für die meisten psychischen Erkrankungen gibt es oft
keine eindeutigen „natürlichen“ Grenzen und cut-offs, die 100%ig
gesund und krank trennen!
Allerdings lassen sich dimensionale Konstrukte durchaus sinnvoll und
statistisch begründet in kategoriale Modelle überführen!
Die generelle Gültigkeit der weiteren Annahmen des traditionellen
Krankheitsmodells sind allerdings dadurch in Frage gestellt.
Für die Definition von Krankheiten sind zumeist Konventionen und
Zusatzannahmen notwendig!
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Exkurs: Psychologische Störungskonzepte
„Der entscheidende grundlegende Unterschied zur traditionell eher
kategorialen Psychopathologie ist die Annahme der Kontinuität von normal
zu abnormal (siehe Abnormal Psychology)
Das heißt Psychische Störungen sind lediglich Hemmungen oder
Steigerungen (=Abweichungen) normaler (abnormal) psychischer Prozesse:
Diese Position hat sich inzwischen in der wissenschaftlichen Psychologie und
in der wissenschaftl. Erforschung psychischer Störungen allgemein
durchgesetzt (Bsp: Lernpsychologie – Verhaltenstherapie)
... und haben zu einer Synthese mit kategorialen Modellen geführt.
DSM-V wird dieser Perspektive besser Rechnung tragen
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Anwendung des modernen Krankheitsmodells und Wege
der Überprüfung
(1) Beobachtung einer Abweichung
Zustand/Verhalten muss als „anders als“ auffallen
Feststellung einer intraindividuellen Veränderung in der Zeit
In Ausnahmefällen wird auch ein von vornherein gegebener abweichender Zustand als
Krankheit (z.B. Suizidversuch bei Psychose) bezeichnet, oder
Eine sich durch unmerklichen Veränderungsprozess langsam einstellende Abweichung (in
Bezug auf andere), z.B. schleichende psychotische Merkmale
(2) Bewertung
Die festgestellte Abweichung muss als abnorm (Konsensus) beurteilt werden.
Sie kann nicht mehr als Variante innerhalb des noch als natürlich oder normal geltenden
Spielraums angesehen werden.
(3) Überprüfung
Festigung der Hypothese mittels objektiver Befunde, unabhängig von der Aussage des
Patienten = Nachweis des Krankheitsdefekts.
Oft fehlen bei psychischen Störungen solche Kriterien, womit Beobachtung und Bewertung für
die „Interpretation als pathologisch“ ein großes Gewicht gewinnen.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Die „Validierung“ von diagnostischen Kategorien
(nach Kraepelin 1890, Robins und Guze 1970)
• Charakteristische Symptom/Beschwerdencluster (=
Syndrom)
• Labortechnische Befunde
• Abgrenzung von anderen Krankheiten
• Einheitlichkeit des Verlaufs
• Ansprechen auf Therapie
• Familiengenetische Assoziationen
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Beurteilung des Zustandes einer Person als Störung mit
Krankheitswert
Die verschiedenen Normen wirken in der Regel zusammen.
Die spontane Beurteilung ist oft - aber nicht immer - übereinstimmend
mit dem subjektivem Eindruck des Nicht-mehr-normal-Seins.
Zur fachlichen Beurteilung werden zusätzlich noch soziale, statistische
und funktionale Normen und Zusatzannahmen herangezogen.
Abnorm beurteilte Zustände können durchaus toleriert werden. Zum
Krankheitsmodell gehört auch noch die Bewertung, ob dieser Zustand
änderungsbedürftig und änderungsfähig ist.
Solange man die genaue Ätiologie und Pathogenese nicht kennt, ist es
besser beschreibend von Störungen zu reden
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Diese Perspektiven können aber müssen nicht
überlappen
Personen mit
Arztdiagnose
Personen mit
Behinderung
Personen, die sich
krank fühlen
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Was sind psychische
Störungen eigentlich?
Die Definition des
Klassifikationssystems
DSM-IV TR als Grundlage
unseres heutigen
Verständnisses!
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Exkurs: Einwände gegen Krankheitsdiagnosen aus
verhaltenstherapeutischer Perspektive
„Psychiatrische Diagnosen haben keine Reliabilität und Validität; sie tragen wenig
zur Erklärung und zur Ableitung von Therapien bei!“
(Wittchen 1984)
Psychische Störungen sind „komplexe Störungen grundlegender psychologischer
Prozesse in Interaktion mit Umwelt und Soma. Funktionale Bedingungsanalysen
sind eine Grundvoraussetzung für individuelle und störungsgerechte Diagnostik
von Störungs-Typen! (Wittchen 1984)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Exkurs: Einwände gegen Krankheitsdiagnosen aus
Soziologischer Perspektive
„Die Krankenrolle existiert auch ohne Krankheit – das Kranksein ist primär Folge
der zugeschriebenen Krankenrolle“
(siehe Scheff, 1973; Keupp, 1976)
Das Etikett „psychisch krank“ ist nicht die Beschreibung eines realen Zustands,
sondern die Zuschreibung einer Diagnose und damit der Krankenrolle
(Thomas Szasz, 1960)
Diese Position der sog. Antipsychiatrie (Bopp, 1980) sieht die Ursachen nicht nur im
klinischen System und der Familie, sondern vor allem in der Gesellschaft. Der zentrale
„Defekt“ wird nicht in der Person, sondern in gesellschaftlichen Prozessen gesehen damit verliert das Krankheitsmodell seine Bedeutung!
Der Ansatz wird heute nur noch für wenige Störungen und dann zumeist von
Vertretern der Familientherapie (Hoffman, 1982) und einigen interpersonellen
Modellen (Kiesler, 1982) verfolgt.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Exkurs: Einwände gegen Krankheitsdiagnosen aus
Humanistischer Perspektive
„Wir haben keine Alternative – sondern ignorieren das Krankheitskonzept“
(Pearls, 1969)
Psychische Störungen sind „Wachstums- bzw. Reifungsstörungen“; Umwelt hindert
Menschen daran bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen und Affekte auszuleben. Die
resultierenden „unabgeschlossenen Gestalten führen zu fortschreitender
Entfremdung!
Diese Position wird in der Gestalt – und bioenergetischen Therapie wie auch teilweise in
der Gesprächstherapie nach wie vor präferiert.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Versuch einer Definition psychischer Störungen
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Klassifikation und Diagnostik psychischer Störungen
Warum ist Diagnostik notwendig?
Kriterien und Ziele der modernen Diagnostik
Klassifikatorische Diagnostik als erster Schritt der
Differentialindikation
Diagnose = Therapie-Überlegungen zur Indikation?
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Formen der Diagnostik bei psychischen Störungen
Klassifikatorische Diagnostik = Zuweisung von Diagnosen zum
Symptomkomplex der Person
Die Regeln hierfür sind in der sogenannten Psychopathologie (der Lehre von
psychischen Störungsphänomenen) festgelegt!
Funktionale Diagnostik = Bedingungsanalyse zur Mikroplanung der Indikation
und Therapie
Prozessdiagnostik = Verlaufsmessung und Adaptation
Strukturdiagnostik = Zuweisung zu Typen von Behandlungskonstrukten
Diagnostisches Verhalten (z.B. Gesprächsführung)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Allgemeine Aufgaben der klassifikatorischen Diagnostik
Merke:
Nicht für jede
Diagnose sind alle
Aufgaben und Ziele
der
klassifikatorischen
Diagnostik
erreichbar!
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Zielsetzungen der neuen Diagnostik
DSM-III bis IV und ICD-10 DCR
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Die alte klassifikatorische Diagnostik bei psychischen
Störungen I
Früher (vor DSM-III und ICD-10) waren diese Systeme „psychiatrische“
Klassifikationssysteme
d.h., das Regelwerk war eine Kunst - und nur Psychiater konnten diese
adäquat anwenden...
da sie relativ breiten Interpretationsspielraum in der Terminologie,
wenige explizite Definitionen und eine Unzahl ungeprüfter theoretischer
Annahmen enthielten (Neurose vs. Psychose, endogen vs. reaktiv)
Deshalb gab es unzählige „Schulen“!
Aber keine zuverlässsigen und weltweit einheitlichen diagnostischen
Regeln und Begriffe
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Die neue Klassifikation psychischer Störungen
Die
DSM-IV und ICD-10 Klassifikation
•
Es gibt aktuell 2 international gebräuchliche Klassifikations-Systeme:
– Das DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und
• Die ICD-10 (International Classification of Diseases)
•
Sie unterscheiden sich geringfügig
•
DSM-IV ist homogener, konsistenter,
und expliziter
•
•
deshalb benutzen wir DSM!
Die Systeme enthalten auch
gesonderte Kodierungsachsen für
andere Dimensionen
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Wie werden psychische Störungen klassifiziert? - Die ICD
Die Grundlage der Klassifikation ist die Psychopathologie (=Lehre der „psychischen“
Symptome und Beschwerden).
– Seit den 40er Jahren koordiniert die Weltgesundheitsorganisation die Nomenklatur
und diagnostische Klassifikation aller Erkrankungen (International Classification of
Diseases – Revisionen ICD-1 bis 10)
– Ein Kapitel – das F-Kapitel - ist den psychischen Störungen (früher psychiatrische
Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten) vorbehalten
– Jede als klinisch bedeutsame Krankheit und Störung wird mit einer Nummer
versehen. Früher numerisch z.B. 300.0 = Angstneurose
– Seit 1990 alphanumerisch (z.B. F für psychische Störung + Nummer, z.B. F41. für Andere
Angststörungen. An den nachfolgenden Stellen können Unterformen kodiert werden, z.B.
F41.1)
1. Die Aktualisierung erfolgt alle 10-15 Jahre in einem langjährigen ExpertenkonsensusProzess in dem alle Länder mitwirken und alle Länder sich einverstanden erklären müssen
2. Das heißt – die ICD ändert sich in Abhängigkeit vom Erkenntnisprozess und dem
internationalen Expertenkonsensus
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Gliederung der ICD-10 (1/2)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
ICD-10-Klassifikation: F-Kodierungsbeispiele der psychischen Störungen
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Die neue Klassifikatorische Diagnostik
nach DSM-IV
Alle Diagnosen werden eindeutig beschrieben (explizit und
operationalisiert),
mit ihren zwingend erforderlichen
und optionalen Merkmalen
nach Ähnlichkeit oder Kernmerkmalen gruppiert
und ausführlicher kommentiert.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Diagnostische Kriterien
für die Panikstörung
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Merke die Regel 1:
Diagnosen sind Konstrukte!
Menschen HABEN nicht eine psychische
Störung,
sondern...
sie erfüllen die Kriterien einer psychischen
Störung!
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Wie gehe ich bei psychischen Störungen vor?
Ein praktikabler integrativer Ansatz
Von der Beobachtung über
Befunderhebung zur diagnostischen
Klassifikation psychischer Störungen
So geht es nicht!
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Klassifikatorische Diagnostik bei psychischen Störungen
auf der Grundlage der Psychopathologie: Definition
Bestimmte Verhaltensaspekte (z.B. Klagen und Beschwerden
des Patienten („sein Leiden“) physiologisch, verhaltensbezogen,
kognitiv-affektiv) werden
über diagnostische Konventionen (= Nomenklatur/ Glossar) als
diagnostisch relevante Symptome definiert
und dann aufgrund der Störungslehre (Nosologie) zunächst in
Syndromen
und dann über Zusatzannahmen (diagnostische
Hierarchien/Differentialdiagnostik) zu Diagnosen verarbeitet.
Je besser und differenzierter die Merkmale und Kriterien explizit
beschrieben sind, umso zuverlässiger sind sie beurteilbar!
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Der klassifikatorisch-diagnostische Prozess
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Die wichtigsten Symptomkomplexe und Dimensionen bei
allen psychischen Störungen
Emotionen (z.B. ängstlich, verzweifelt,
bedrückt etc.)
Denken (z.B. unlogische Gedankenketten –
formal; wahnhaft, unrealistisch negativ)
Verhalten (aggressiv, verlangsamt,
wiederholtes Händewaschen)
Körperliche Funktionen und
Empfindungen (müde, kurzatmig,
Herzrasen)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Angststörungen in DSM-IV
Panikattacke
Agoraphobie
Panikstörung mit/ohne Agoraphobie
Agoraphobie ohne Panikstörung in der Vorgeschichte
Spezifische Phobie
Soziale Phobie
Zwangsstörungen
Posttraumatische Belastungsstörungen
Akute Belastungsstörungen
Generalisierte Angststörung aufgrund eines Medizinischen
Krankheitsfaktor
Substanzinduzierte Angststörung
Nicht Näher Bezeichnete Angststörung
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Video-Beispiel
Induzierte Panikattacke
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Diagnostische Kriterien für die Panikattacke
Beachte: Eine Panikattacke ist keine codierbare Störung. Codiert wird eine spezifische
innerhalb der die Panikattacken auftreten.
Diagnose,
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Systematische Beschreibung
Hauptmerkmale
Nebenmerkmale
Alter bei Beginn
Verlauf
Behinderungen
Prädisponierende Faktoren
Prävalenz
Geschlechtsverteilung
Familiäre Häufung
Differentialdiagnose
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Fallbeispiel: Eine Managerin im Kampf mit der Panik I
Frau B. ist eine 27-jährige Managerin, die seit 3 Jahren an Panikattacken leidet. Ihre erste Panikattacke trat
plötzlich zu Hause beim Fernsehen auf. Etwa 3 Monate vorher war ihr Großvater väterlicherseits gestorben,
und einen Monat vorher hatte sie ihre Hochzeit angekündigt. Bei Beginn der Panikattacke fühlte sie eine Art
elektrischer Strom den Rücken hinaufschießen und erlebte intensive Angst. Ihr Herz raste, ihre Hände
kribbelten und sie war völlig außer Atem. Es war ihr heiß, zittrig, sie war durcheinander und fest davon
überzeugt, einen Schlaganfall zu bekommen und bald zu sterben.
Obwohl sie kaum sprechen konnte, rief Frau B. sofort ihren Hausarzt an. Als der Hausarzt sie 10 Minuten
später zurückrief, war ihre intensive Angst vorüber und die anderen Beschwerden hatten abgenommen, jedoch
fühlte sie sich noch immer schwach und voller Angst. Eine anschließende gründliche körperliche Untersuchung
ergab, dass sie eine gesunde junge Frau war mit niedrigem Blutdruck (100/60) und einem normalen Ruhepuls
von 78 Schlägen/Minute. Festgestellt wurde ein leichtes Herzgeräusch. Echokardiographisch wurde ein
Mitralklappenprolaps diagnostiziert. Die Laborwerte waren bis auf einen leicht erniedrigten Bicarbonatspiegel
im Plasma unauffällig.
Im Verlauf der nächsten Wochen hatte die Patientin fünf weitere Panikanfälle, die unerwartet in verschiedenen
Situationen auftraten. Charakteristisch für diese Anfälle war das plötzlich einsetzende Gefühl, entlang der
Wirbelsäule „elektrisiert" worden zu sein, Herzrasen, Benommenheit, Kribbeln in den Fingern, Angst verrückt
zu werden, und ein Gefühl der Unwirklichkeit.
Frau B. lies sich mit Benzodiazepinen behandeln, weigerte sich aber, den vom Hausarzt empfohlenen
Psychiater aufzusuchen. Sie war davon überzeugt, dass Psychiater ihrer Mutter, die an einer Agoraphobie litt,
nie geholfen hatten und ihr auch nicht helfen könnten und der Gang zum Psychiater der Beweis dafür wäre,
dass sie tatsächlich „durchgedreht" ist. Um nicht zuzulassen, dass ihre Beschwerden ihr Leben
beeinträchtigen, zwang sie sich weiter zur Arbeit zu gehen. ...
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Fallbeispiel: Eine Managerin im Kampf mit der Panik II
Einige Wochen später traten die Attacken zunehmend seltener und schwächer auf, aber Frau B. hatte im
Verlauf der nächsten zwei Jahre mehrmals im Monat Panikattacken, die meistens auftraten, wenn sie in einem
überfüllten Bus oder der U-Bahn fuhr, auf einem Trimmrad saß, vor einer schwierigen zwischenmenschlichen
Situation stand, oder nachts entspannt im Bett lag. Nachts wachte sie manchmal mitten in einer Panikattacke
auf.
Nachdem sie in der Arbeit befördert worden war, traten die Panikattacken wieder häufiger, bis zu mehrmals
wöchentlich auf. Oft verbrachte sie 14 Stunden in der Arbeit, merkte aber zunehmend wie die Angst sie
unsicher machte und ihre Leistung beeinträchtigte. Sie machte sich ständig Sorgen, dass ihre
Leistungseinbußen bemerkt würden und sie gekündigt werde. Sie konnte ihren Chef nicht ausstehen und
glaubte, dass er sie auch nicht leiden könne, wenngleich er ihre Beförderung vorgeschlagen hatte. Trotzdem
sie sich in vollen Läden, Kinos und Restaurants oft unwohl fühlte, zwang sich Frau B. dorthin zu gehen;
allerdings vermied sie es, mit der U-Bahn und allein mit dem Auto durch ein Tunnel zu fahren.
Frau B. arbeitet äußerst gewissenhaft und nimmt ihren Beruf sehr ernst. Im Umgang mit Kollegen ist sie
freundlich aber distanziert und verachtet andere, die weniger sorgfältig sind und ihre Zeit mit Klatsch und
Tratsch verschwenden oder ihre Privatangelegenheiten in der Arbeit erledigen. Obwohl sie verlobt ist und
einige Freundinnen hat, ist sie eigentlich isoliert und trifft sich lieber mit niemand, aus Angst kritisiert und
abgelehnt oder mit den Problemen anderer überlastet zu werden.
Frau B. kommt zur Beratung, weil sich die Beschwerden verschlimmert haben, und ihr Verlobter etwas über
neue Behandlungsmethoden für Panikstörungen gelesen hat. Am diagnostischen Gespräch scheint sie
dennoch nur ungern teilzunehmen. Vorsichtig und misstrauisch beantwortet sie Fragen häufig mit „Wieso
wollen Sie das wissen?". Auf Kritik scheint sie empfindlich zu reagieren und befürchtet, dass das Reden über
ihre Probleme mit einem Therapeuten ihre Angst nur noch schlimmer macht.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Fallbeispiel: Eine Managerin im Kampf mit der Panik
DSM-IV Diagnose (ICD-10 s. S. 240)
Achse I:
300.01
Achse II:
Achse III:
Panikstörung ohne Agoraphobie
Vermeidend- selbstunsichere und zwanghafte
Persönlichkeitszüge
424.0
möglicher Mitralklappenprolaps
Achse IV:
berufliche Beförderung, bevorstehende Heirat
Achse V:
GAF=60 (derzeit); 85 (höchster Wert im
vergangenen Jahr)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Differentialdiagnostik
Beispiele aus DSM-IV
Es gibt über 500 Diagnosen!
Gibt es logische und vereinfachte
Handlungsanweisungen?
Ja - die DSM-IV Entscheidungsbäume
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Warum ist eine formalisierte und standardisierte Diagnostik
notwendig?
Um reliable Diagnosen zu erstellen
Um besser kommunizieren zu können
Um sicherer den Patienten aufzuklären
Weil eine unstrukturierte klassifikatorische Diagnostik
zu unsicher ist
Weil keiner die Diagnostik im Kopf hat
Qualitätssicherung
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Kritische Aspekte I
Die klassifikatorische Diagnostik und ihre in den
Klassifikationssystemen kodifizierten Regeln sind abhängig von
wissenschaftlichen (Grundlagenforschung und klinische Forschung) und
politischen Entscheidungen (Versicherung, Berufe)
Deshalb ändern sie sich auch mehr oder weniger in den
Revisionen, die ca. alle 10 Jahre erfolgen
Sie sind also keine absolut feststehenden Konstrukte, sondern
vorübergehende Konstruktionen
Es gibt Grenzen: Alle akuten schweren Störungen, die eine
geordnete Kommunikation unmöglich machen (akute Psychosen,
Demenz etc.)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Kritische Aspekte II
Klassifikatorische Diagnostik ersetzt nicht Strukturdiagnostik
(Persönlichkeit), Prozessdiagnostik (Verlauf) und verfahrensspezifische
funktionale Diagnostik
Allerdings gibt es für viele Diagnosen eine direkte Beziehung
zwischen Diagnose und differentieller Therapie-Indikation
(Panikstörung, Agoraphobie, Soziale Phobie)
Die DSM-Diagnosen sind das Bindeglied zur wissenschaftlichen
Literatur (Kommunikation)
Formalisierte (Instrumenten-)Diagnostik ist wegen des Umfangs
moderner Klassifikationssysteme angeraten
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Diagnose = Therapie?
Nein - die Indikation einer Therapie ist von vielen
Rahmenbedingungen abhängig:
Zeit, Wissen und Können der TherapeutInnen
Kosten und Möglichkeiten
Flankierende Maßnahmen
Komorbidität und Schweregrad
Kooperation
Aber: für viele Diagnosen stimmt diese Relation (z.B.
Panikstörung)
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Zum Umgang mit der neuen Diagnostik
Wie kann man das lernen?
Kaufen: Buch oder PC-Version (Hogrefe)
Lesen: Einführung und Text zu häufigen Diagnosen
Durcharbeiten: Flussdiagramme zur
Differentialdiagnostik
Überprüfen: mittels Fällen und Fallgeschichten (DSM-IV
Fallbuch)
Einsatz von Instrumenten: DIA-X, CIDI, DIPS u.a.
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
Prüfungsschwerpunkte I
(Kapitel 1 und 2 des Lehrbuchs)
1.
Was ist der Unterschied zwischen Klinischer Psychologie und Psychotherapie?
2.
Was sind die wesentlichen Merkmale der neurobiologischen Perspektive bei psychischen
Störungen?
3.
Warum wird die Verhaltenstherapie als „genuin psychologisches Verfahren“ eingeordnet?
4.
Was verstehen wir unter einer operationalisierten Diagnostik? Erläutern Sie dis an einem
Beispiel!
5.
Auf welchen Grunddimensionen und nach welchen Merkmalen lassen sich psychische
Störungen definieren?
6.
Welche Arten von Diagnostik unterscheiden wir in der Klinischen Psychologie?
7.
Was verstehen wir unter Differenzialdiagnostik?
8.
Was sind die spezifischen Kriterien einer DSM-IV Panikstörung oder Depression?
Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
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