Psychiatrie Sem 1 Untersuchung psychiatrischer Patienten Zur psychiatrischen Diagnostik gehört die Erfassung der folgenden Aspekte: -psychopathologischer Befund -Verlauf der Symptomatik -frühere psychiatrische und sonstige Erkrankungen -Analyse möglicher Ursachen -Biografie -prämorbide Persönlichkeit -Familienanamnese Die Psychiatrie ist ein Fachgebiet der Medizin und folgt damit den prinzipiellen Denkstrukturen und Vorgehensweisen der Medizin, u. a. dem Prinzip: vor der Therapie steht die Diagnose. In der Regel werden heute in der Psychiatrie Erkrankungen als multifaktoriell bedingt aufgefasst. Körperliche Untersuchung Die psychiatrische Untersuchung umfasst grundsätzlich eine sorgfältige körperliche, insbesondere neurologische, Diagnostik und Krankheitsanamnese. Bereits aus der Anamnese und Beschwerdeschilderung lassen sich diffenzialdiagnostische Hinweise finden, ob es sich um eine primär psychisch oder körperlich verursachte Erkrankung handelt. Neben der üblichen Labordiagnostik werden zunehmend auch biochemische, molekularbiologische oder immunologische Untersuchungsstrategien angewandt. Im Rahmen der Speziell auf neuropsychiatrische Fragestellungen sind die Elektroenzephalographie (EEG), die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP), die kraniale Computertomographie (CT) und die Magnetresonanztomographie (MRT) indiziert. Das EEG wird gerade in der psychiatrischen Untersuchung als Routinescreeningverfahren sehr häufig angewandt. Psychiatrische Gesprächsführung I Hilfe zu suchen wegen psychischer Probleme ist für einen Patienten meist problematisch. Das psychiatrisch orientierte diagnostische Gespräch muss mit besonderer Feinfühligkeit und Behutsamkeit geführt werden. Andererseits darf die diagnostische Zielsetzung der Erstuntersuchung nicht vernachlässigt werden. Die psychiatrische Erstuntersuchung hat immer eine allgemein psychotherapeutische (empathisch-kathartische, supportive) Funktion sowie einen stärker strukturiert vorgehenden, vorwiegend diagnostischen Teil. Wenn der Patient sich nicht spontan äußert, leitet der Arzt das Gespräch mit einer möglichst offenen Frage ein. Der Arzt sollte zunächst dem spontanen Bericht des Patienten zuhören und diesen Bericht durch motivierende Bemerkungen vorantreiben. Im stärker strukturierten, systematischen Teil des Gesprächs versucht der Arzt, sich ein genaueres Bild von den Krankheitssymptomen, deren zeitlichen Abläufen und möglichen Hintergründen zu machen. Orientierend wird das gesamte Spektrum psychopathologischer Symptomatik exploriert (Tab. 2.3). Auch in diesem Teil des Gesprächs soll für den Patienten ein angenehmes Klima bestehen. Hauptpunkte der Symptomexploration - Bewusstseinsstörungen - Orientierungsstörungen - Störungen der Aufmerksamkeit, Konzentration, Auffassung - Störungen der Merkfähigkeit und Altgedächtnis - Störung der Intelligenz - formale Denkstörungen - Wahn, Halluzinationen - Zwänge, Phobien, Ängste - Störungen des Antriebs und der Psychomotorik - vegetative Störungen - Suizidalität Psychiatrische Gesprächsführung II Die Hilfsbereitschaft des Arztes vermittelt dem Patienten das Gefühl, dass sein individuelles Leiden aus der Sicht des Fachmannes in einen größeren Zusammenhang von Erfahrungswissen gestellt und dadurch prinzipiell therapierbar wird. An eine Antworttendenz des Patienten im Sinne der sozialen Erwünschtheit sollte kritisch gedacht werden. Die für Diagnostik und Therapie notwendige Aufdeckung der realen Gegebenheiten darf allerdings bei aller Rücksichtnahme nicht verhindert werden. Hier sind oft fremdanamnestische Informationen sehr hilfreich. Am Ende des Erstgesprächs ist der Arzt meist in der Lage, möglicherweise eine Verdachtsdiagnose zu stellen und eine Behandlung einzuleiten. Wichtig ist aber nicht nur die Erfassung der Symptomatik, sondern auch deren zeitliche Entwicklung und Verlauf. Krankheitsanamnese Frühere Erkrankungen Die Anamnese früherer Erkrankungen bezieht sich sowohl auf körperliche als auch auf psychische Erkrankungen. Dabei sind zeitliche und verlaufsbezogene Aspekte zu berücksichtigen. Jetzige Erkrankung Die Anamnese zur jetzigen Erkrankung bezieht sich auf zeitliche und inhaltliche Aspekte sowie auf mögliche Zusammenhänge mit äußeren Faktoren. Inhaltlich wird unter anderem gefragt nach: -Veränderungen der Stimmungs- und Antriebslage -Veränderungen der Intelligenz und des Denkens -Veränderungen im körperlichen/vegetativen Befinden -Veränderungen der sozialen Beziehungen -Veränderungen der Selbsteinschätzung des Patienten -bisherige Behandlung Biografie und Lebenssituation Äußere Lebensgeschichte Mit „äußerer Lebensgeschichte" meint man die den Lebenslauf charakterisierenden „harten Daten" von der Geburt bis zur Gegenwart Innere Lebensgeschichte Unter „innerer Lebensgeschichte" versteht man die Darstellung der historischen Entwicklung und Motivations-Zusammenhänge, die die Entwicklung eines Menschen kennzeichnen. - familiäre Milieu - Entwicklung in Kindheit und Jugend: (Sauberkeitsentwicklung, kindlich-neurotische Symptomatik. Körperliche und geistige Entwicklung, belastende Erlebnisse, Verhältnis zu Freunden, Interessen, Hobbys und Ablösung von den Eltern aus Sicht des Patienten). - Berufsleben: - Partnerschaft, Ehe, Familie und sozialen Beziehungen: - sexuelle Entwicklung: - Freizeitgestaltung, Lebensgewohnheiten, weltanschaulichen Bindungen und finanziellen Problemen. Persönlichkeit I Als Persönlichkeit bezeichnet man die Gesamtheit aller zum Wesen eines Menschen gehörenden Erlebens- und Verhaltensdispositionen. Den besten Zugang zur Persönlichkeit gibt die Lebensgeschichte des Patienten. Orientierend sollten auch auffällige Wesenszüge exploriert werden, die im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen eine Rolle spielen. Paranoide Züge: Vorherrschend ist eine misstrauische Einstellung und ein Gefühl der ungerechtfertigten Zurücksetzung. Zyklothyme Züge: Die Grundstimmung ist ständig in die depressivpessimistische oder euphorisch-optimistische Richtung verschoben bzw. schwankt längerfristig zwischen beiden Polen. Schizoide Züge: Kühles und verhaltenes Auftreten nach außen, dabei aber meist reiches Phantasieleben. Gefühle werden abgewehrt und kaum geäußert, hinter einer Haltung der kühlen Distanz versteckt oder in schroffer Weise zum Ausdruck gebracht. Persönlichkeit II Erregbarkeit: Tendenz zu ungewöhnlichen Temperamentsausbrüchen und unbeherrschten Äußerungen von Ärger, Wut und Hass, die von gewalttätigen Handlungen begleitet sein können. Anankastische Züge: Neigung zu übertriebener Gewissenhaftigkeit und Perfektionismus, zu Ordnungsliebe, Kontrolltätigkeit und allgemein rigiden Einstellungen. Hysterische Züge: Oberflächlich wirkende Gefühlsbetontheit des Erlebens, meist verbunden mit starker emotionaler Labilität und Frustrationsintoleranz, Neigung zu demonstrativem Verhalten. Asthenische Züge: Geringe körperlich und seelische Spannkraft und Ausdauer, starke Erschöpfbarkeit und Hang zur Passivität. Anklammerungstendenzen: Neigung zu sehr fester Bindung an meist eine (oder wenige) Personen, oft unter weitgehender Aufgabe eigener Interessen und Bedürfnisse. Selbstunsicherheit: Neigung zu mangelndem Selbstvertrauen und leicht verletzbarem Selbstwertgefühl. Persönlichkeit III Fanatische Züge: Tendenz, von bestimmten Meinungen in extremer Weise überzeugt zu sein und sie anderen Menschen aufzuzwingen. Antisoziale Tendenzen: Missachtung sozialer Verpflichtungen, fehlendes Gefühl für andere, Tendenz zu Gewalttätigkeit oder herzloses Unbeteiligtsein. Zusätzlich zur Exploration können die Ergebnisse von Persönlichkeitstests das Bild von der Persönlichkeit abrunden. Zu den bekanntesten Persönlichkeitstests zählen das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) und das Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI). In der Persönlichkeitsdiagnostik, insbesondere im forensischen Bereich, werden auch so genannte projektive Testverfahren eingesetzt (z. B. Rorschach-Test). Aufgrund der mangelnden theoretischen Fundierung und fraglichen Validität einzelner Variablen sind diesen Verfahren jedoch deutliche Grenzen gesetzt. Aktuelle Lebenssituation I Bei der Exploration der aktuellen Lebenssituation geht es neben der orientierenden Erfassung der konkreten äußeren Lebensbedingungen insbesondere um die Analyse krankheitsrelevanter konflikthafter bzw. situativer Faktoren, aber auch um hilfreiche Fakten, wie soziale Unterstützung durch andere oder eigene Bewältigungskapazitäten. Die Exploration krankheitsrelevanter Faktoren ist schwierig und verlangt viel Erfahrung. Hier können nur die wesentlichen Gesichtspunkte angeführt werden: -aktuelle psychosoziale Situation -Zufriedenheit mit der psychosozialen Situation -besondere Probleme/Konflikte -Auslöser/Verstärker von Symptomen. Aktuelle Lebenssituation II Bei der Bewertung ursächlicher Faktoren sollte man bedenken, dass fast jeder Mensch in gewissem Maß schwierigen Umwelteinflüssen ausgesetzt ist. „Normale" Konflikte gehören zum Alltag. Die besondere Hartnäckigkeit und schwere Lösbarkeit „neurotischer" Konflikte wird dadurch erklärt, dass die Bereitschaft dazu meist früh in der Kindheit angelegt wurde und sie dem Betroffenen nicht oder nur teilweise bewusst sind Es gibt eine Reihe von Konfliktkonstellationen, die hier nur summarisch erwähnt werden: -Konflikte um Partnerwahl und Bindungsverhalten -Konflikte aus der Beziehung zu den eigenen Kindern -Konflikte im Arbeitsbereich -Konflikte in sonstigen zwischenmenschlichen Beziehungen Es ist auch wichtig nach den Lebensumständen zu fragen, unter denen die Beschwerden erstmals aufgetreten sind. Standardisierte Untersuchungsmethoden I Standardisierte Fremdbeurteilungsverfahren werden durch geschulte Beurteiler (z. B. Ärzte, Psychologen, Pflegepersonal) oder Bezugspersonen durchgeführt und können verschiedene Aspekte erfassen (z.B. aktuelle psychopathologische Symptome oder Persönlichkeitszüge). Die Fremdbeurteilung durch den Untersucher kann z.B. durch die Erwartungshaltung des Untersuchers, eine Tendenz zur Über- oder Unterbewertung von Störungsgraden oder die Akzentuierung besonders interessanter Phänomene verfälscht werden. Häufig verwendete Fremdbeurteilungsverfahren sind in der deutschsprachigen Psychiatrie das AMDP-System, die Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS), Mini Mental State Examination (MMSE) und die Hamilton-Depressions-Skala (HAMD). Standardisierte Untersuchungsmethoden II Selbstbeurteilungsverfahren Die Selbstbeurteilung kann durch verschiedene Verzerrungen verfälscht werden, z. B. durch Aggravierungs- oder Dissimulationstendenzen, Antworttendenzen im Sinne der sozialen Erwünschtheit. Insgesamt scheint die Fremdbeurteilung eine größere psychopathologische Differenzierungsfähigkeit zu ermöglichen als die Selbstbeurteilung. Die kombinierte Anwendung von Selbstund Fremdbeurteilungsskalen im Sinne einer MehrebenenDiagnostik bietet die beste Gewähr, dass subjektiver und objektiver psychopathologischer Befund ausreichend abgebildet werden. Neben den Verfahren zur standardisierten Beurteilung des psychopathologischen Befundes gibt es standardisierte Verfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik, die meistens als Selbstbeurteilungsverfahren konstruiert sind (z.B. FPI-R). Testpsychologische Untersuchungen (Leistungsdiagnostik) Objektive Tests basieren auf Reaktionen gegenüber vorgegebenem „Reizmaterial". Aufgabe der Leistungsdiagnostik ist es, eine quantitative Aussage über Leistungsminderungen aber auch Leistungspotenziale z.B. in den Bereichen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Intelligenz zu treffen. Der bekannteste Intelligenztest ist der Hamburg-WechslerIntelligenztest für Erwachsene (HAWIE). Darüber hinaus gibt es so genannte Kurzverfahren, wie z. B. den Mehrfachwahl-WortschatzIntelligenztest (MWT-B) oder mehr sprachfreie Tests wie den Standard Progressive Matrices Test (SPM). Sehr häufig werden in der Psychiatrie spezifische Leistungstests zur Überprüfung etwa unterschiedlicher Komponenten der Aufmerksamkeit z. B. der Aufmerksamkeits-Belastungstest d2. Zur Überprüfung verschiedener Gedächtnisfunktionen,z. B. die Wechsler Memory Scale (WMS-R) oder der Berliner Amnesietest (BAT) Zur Untersuchung exekutiver Dysfunktionen ist der Wisconsin Card Sorting Test (WCST).