Wir beginnen in 2 Minuten Wir beginnen in 1 Minute Vorlesung Entwicklungspsychologie I „Zurück zur Natur“: Biologische Entwicklungsgrundlagen J. Gowert Masche 19.07.2006 Semesterüberblick 26.04.: Grundbegriffe der Entwicklungspsychologie 10.05.: Vorgeburtliche Entwicklung, Entwicklung von Wahrnehmung und Psychomotorik 17.05.: Frühe Eltern-Kind-Interaktion, Bindungstheorie 24.05.: Soziale Kognition 31.05.: Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget 07.06.: Begriffliches Wissen, Problemlösen 14.06.: Lerntheorien, Sozialisation 21.06.: Motivation, Emotion, Handlungsregulation 05.07.: Entwicklung unter ökologischer Perspektive 12.07.: Familienentwicklung 19.07.: „Zurück zur Natur“: Biologische Entwicklungsgrundlagen 19.07.: Biologische Entwicklungsgrundlagen • Bestimmung von Anlage- und Umwelteinflüssen • Grenzen und Erweiterungen • Universelle anlagegesteuerte Entwicklungsprozesse • Differentielle anlage- und umweltgesteuerte Entwicklung Literatur zu heute: v. a. Oerter & Montada, Teile von Kap. 1; Kap. 2 und Teile der beiden Bände des Trautner-Lehrbuchs (im Handapparat). Bestimmung von Anlage- und Umwelteinflüssen Problemstellung • Bei Entwicklung wirken genetisch-biologische Ausstattung und Umwelt stets zusammen – • Beispiel: Spracherwerb: Kapazität & Sprachinput Spezies-normale Umwelt: Bandbreite „normaler“ Entwicklungskontexte für die jeweilige Spezies – • innerhalb Spezies-normaler Umwelt erwerben alle Kinder mit Spezies-normalem Genom das für die Kultur normale Verhaltensrepertoire. Frage: innerhalb der Bandbreiten von genetischer und Umweltvarianz wird ein wie großer Anteil der phänotypischen Varianz durch Anlage- bzw. Umweltunterschiede aufgeklärt? – also nicht: „wieviel Prozent von Merkmal X sind vererbt?“ sondern: „wieviel Prozent der Varianz von X gehen auf Anlageunterschiede zurück?“ Nachweis der Bedeutung von Erbanlagen • Chromosomale Besonderheiten – – • Beispiel: Geschlecht: auf 23. Chromosomenpaar XX = ♀, XY = ♂ Beispiel: Down-Syndrom: Trisomie 21 Passung in Erbgangmodell – – – • Voraussetzung: diskretes Merkmal, das durch einzelnes Gen bedingt ist Beispiel: Phenylketonurie: Eiweißstoffwechselstörung. Führt zu Anreicherung von Phenylalanin im Körper, was zur Schädigung des ZNS und geistiger Behinderung führt Schaden kann durch Diät während Entwicklung vermieden werden Reinzüchtung – – – Bei polygener Vererbung kontinuierlicher Merkmale wie Intelligenz, Dominanz, Aggressivität usw. Falls extreme Individuen gepaart werden und sich damit die Varianz verringern lässt, Erbeinfluss nachgewiesen aus ethischen Gründen am Menschen unmöglich Natürliche Reinzüchtung Das Argument war, dass Menschen mit mangelhafter Intelligenz mehr Kinder bekommen als Hochintelligente, was auf Dauer zur Verdummung der Nation und zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten führe. Von hier bis zur Eugenik ist es nur ein kleiner Schritt. Denkfehler: Häufung von Merkmalen in Familie kann auch umweltbedingt sein. Siehe auch das folgende Beispiel. “He dallied with a feebleminded tavern-girl “He married a worthy quakeress She bore a son known as ‘Old Horror’ who had ten children She bore seven upright worthy children From ‘Old Horror’s’ ten children came hundreds of the lowest types of human beings” From these seven worthy children came hundreds of the highest types of human beings” Populationsgenetische Analysen • Umgekehrter Denkfehler: Kovarianz zwischen Umwelt und Phänotyp besagt nichts, solange das Erbe nicht kontrolliert wird – • Beispiel: Erziehungsstil„effekt“ könnte an übereinstimmenden Genen der Eltern und Kinder liegen. Ziel populationsgenetischer Analysen: Aufhebung der Konfundierung von Anlage- und Umweltunterschieden Methoden: Zwillings- und Adoptionsstudien Logik: • • – – Zwillingsstudien: • EZ zu 100% genetisch identisch • ZZ 50% Kovarianz der Zwillinge über eine Population von Zwillingspaaren – oft fälschlich: „Sie haben 50% der Gene gemeinsam.“ – tatsächlich aber >98% der Gene mit Schimpansen gemeinsam. • Erblichkeit: (rEZ – rZZ) / (1 – rZZ) • Voraussetzung: Umwelten variieren in gleicher Weise Adoptionsstudien Zwillingsstudien • • • • Problem: EZ haben ähnlichere Umwelten als ZZ: mehr Zeit zusammen, selbe Freunde, gleiche Interessen, gleich behandelt, da schwerer zu unterscheiden usw. Lösung (?): Untersuchung getrennt aufwachsender Zwillinge Probleme hier: – selektive Platzierung – eingeschränkte Varianz der aufnehmenden Familien – Umweltreaktionen auf Zwillinge Ergebnisse z. B. für Intelligenz (Erwachsene) Verwandtschaftsgrad Korrelation zusammen getrennt EZ .86 .75 ZZ .39 .35 Geschwister .54 .47 nicht verwandt -.02 / Warum sind Geschwister ähnlicher als ZZ? • Altersunterschied sollte zu geringerer Umweltähnlichkeit führen • Vermutlich Abgrenzung zur Bildung eigener Identität (unlogisch bei getrennten Zwillingen) Adoptionsstudien • Logik: Ähnlichkeit von Adoptivkindern kann nur liegen an – – • selektiver Platzierung Umweltähnlichkeit Durchschnittliche Korrelationen von IQ des Kindes mit – – – • Adoptiveltern: .19 Durchschnittswert des Sozialstatus der biologischen Eltern: .70 IQ der Mutter: .34 Warum bringt Status der Eltern so viel, IQ der Mutter weniger? – – • oft nicht-eheliche Kinder weggegeben, wo IQ Vater/Mutter häufiger verschieden wenn Sozialstatus (Proxy für IQ) beider Eltern bekannt, bringt Mittelwert genaueren Schätzer für genetische „Ausstattung“ Veränderung über die Zeit: Umwelteinfluss lässt nach, Erbeinfluss nimmt zu: – – – – ZZ zusammen: Mit drei Jahren am höchsten, sinkt dann auf r = .50 Geschwister zusammen: zunächst niedrig, steigt dann auf .50 an. Adoptivkinder/Adoptiveltern: Kindheit um .30, bis Jugendalter .00 Adoptivkinder/leibliche Eltern: steigt allmählich an. Grenzen und Erweiterungen Anlage-Umwelt-Kovarianz • Passive Genom-Umwelt-Kovarianz (passive Genom-UmweltPassung): genetisch Verwandte „liefern“ außer den Genen durch ihr Verhalten auch eine entsprechende Umwelt „automatisch“ mit. – • Reaktive Genom-Umwelt-Kovarianz (evokative Genom-UmweltPassung): Die Umwelt reagiert auf Merkmale des Individuums. – • • z. B. Zuweisung zu Schulform, je nach Begabung Aktive Genom-Umwelt-Kovarianz (aktive Genom-Umwelt-Passung): Das Individuum sucht/gestaltet seine Umwelt entsprechend seiner Anlagen. – • z. B. intelligente Eltern – anregende häusliche Umgebung z. B. Auswahl ähnlicher Freunde Mit zunehmendem Alter fällt die Bedeutung der passiven und steigt die Bedeutung der aktiven Genom-Umwelt-Kovarianz. Zumindest die reaktive und aktive Genom-Umwelt-Kovarianz wird bei Zwillings- und Adoptionsstudien dem Erbeinfluss zugerechnet. Antisoziales Verhalten (z-Wert) Anlage-Umwelt-Interaktion 1,25 1,00 0,75 0,50 0,25 0,00 -0,25 niedrige MAOA-Aktivität hohe MAOA-Aktivität -0,50 keine vermutlich schwer Misshandlung in Kindheit Ausmaß der Erblichkeit • Einige Erblichkeitsschätzungen Merkmal IQ Extraversion Neurotizismus Verträglichkeit Gewissenhaftigkeit Offenheit für Erfahrungen Erbanteil 51% 49% 35% 38% 41% 45% Umweltanteil 39% 31% 45% 42% 39% 35% Fehleranteil 10% 20% 20% 20% 20% 20% Im Einzelfall bedeutet das: Wenn man das Genom vollständig kennte, könnte man z. B. mit 95%iger Sicherheit den IQ auf 80-120 schätzen, also von sonderschulbedürftig bis hochschulreif. Die sogenannte Reaktionsnorm ist so breit, dass im Einzelfall keine sinnvolle Vorhersage möglich ist. Interpretation • Geschätzte Varianzanteile beziehen sich immer auf die Varianz von Merkmal, Umwelt und Genom in der jeweiligen Population Bei anderer Varianz z. B. der Umwelt würde sich der Erblichkeitskoeffizient ändern • • • • Geringe Varianz der Adoptivfamilien führt zur Überschätzung der Erblichkeit Wenn es möglich wäre, alle Menschen optimal zu fördern, würde die Erblichkeit 100% betragen! Umgekehrt schließen hohe Erblichkeitskoeffizienten eine gezielte Förderung ( Veränderung der Umweltvarianz) nicht aus. Weiter zu bedenken: • • • mangelnde Repräsentativität von Zwillings- und Adoptivstichproben Gen-Umwelt-Interaktion nicht-additive Genwirkungen Besser als die Frage nach dem Erb-/Umweltanteil scheint die Untersuchung, wie genau Erbe und Umwelt zusammenwirken. Universelle anlagegesteuerte Entwicklungsprozesse Reifung • • • • • • • • Reifung: gengesteuerte, kaum beeinflussbare Entwicklung Umwelt wirkt nur unterstützend, aber nicht determinierend Beispiel: körperliche Veränderungen: Gehirn, Nerven, Muskeln... Nachweis indirekt durch Ausschluss von Umwelteinfluss: • Beispiel: Laufenlernen bei Hopi-Indianern auf Wickelbrett. Aber: retrospektive Befragung und evtl. Zeitwahrnehmung in Wickelbrett/nicht-Wickelbrett-Gruppen verschieden. andere Hinweise auf Reifung: • universelles Auftreten • Auftreten in eng begrenztem Altersbereich • Nachholbarkeit bei Wegfall einer äußeren Behinderung • Nichtumkehrbarkeit Diese Hinweise sind aber weder notwendig noch hinreichend. Reifungsbegriff ignoriert Zusammenwirken von Anlage und Umwelt Heute eher Frage, wie ein Entwicklungsvorgang beeinflusst werden kann. Ethologischer Ansatz • Ethologie (vergleichende Verhaltensforschung) versucht aufzuzeigen, wie ein Verhalten einen Reproduktionsvorteil für die Spezies bietet. • Spezies-spezifisches angeborenes Verhalten – Reflexe: unwillkürliche, durch Reiz ausgelöste Verhaltensmuster – räumliche Orientierungsreaktionen: Bewegungsrichtung nach bestimmtem Reiz – festgelegte Handlungsmuster: genetisch programmierte Verhaltenssequenzen • Anpassungswert / Überlebensvorteil: Was nicht nützt, stirbt aus. Was übrig bleibt, nützt offenbar. • Prädisponiertheit von Lernprozessen: nach Inhalt, Zeitpunkt, Umfang Ethologischer Ansatz (2) • ethologische Methodologie: – Erstellung eines Ethogramms: Katalogisierung des Verhaltens, auslösender Bedingungen usw. – Klassifizierung nach übergeordneten Kategorien – Vergleich verschiedener Arten hinsichtlich Aussehen und Funktion des Verhaltens – Experimentelle Analyse der verhaltenssteuernden Faktoren • Beispiel: Bindungstheorie Kritik des ethologischen Ansatzes + macht die phylogenetischen (stammesgeschichtlichen) Grundlagen des Verhaltens deutlich + methodisch erhöht es die Validität, wenn Feldbeobachtung und Beschreibung vor dem Experiment und Erklärung erfolgt. + inhaltlich besonders fruchtbar hinsichtlich Bindung, Emotionsausdruck, sozialer Interaktion in Gruppen (z. B. Dominanzverhalten) - ethologischer Ansatz beschreibt eher, als dass er erklärt, da evolutionärer Vorteil nicht nachgewiesen werden kann - Beobachtung (z. B. Sexualverhalten) und Experiment (z. B. Deprivation) nicht immer möglich/ethisch vertretbar - inhaltliche Einschränkungen, da z. B. Sprache nicht am Tier untersucht werden kann - kulturelle Überformung des Verhaltens nicht berücksichtigt Differentielle anlage- und umweltgesteuerte Entwicklung Grundlagen • Selektion bezieht sich hauptsächlich auf Merkmale, die für Reproduktion wichtig sind und nicht z. B. auf Alzheimer. – intrasexuell: Ausschalten von Nebenbuhlern – intersexuell: Attraktivität beim anderen Geschlecht • Der Reproduktionsvorteil eines Merkmals hängt von der jeweiligen Umwelt ab. • Deshalb muss die Anlage erlauben, je nach Umwelt unterschiedliche Phänotypen (einschließlich Verhalten) hervorzubringen • Ultimate Erklärungen zum Reproduktionsvorteil müssen um proximate Erklärungen ergänzt werden, wie es zu dem jeweiligen Phänotyp kommt. • Diese proximaten Erklärungen heißen evolvierte psychologische Mechanismen. Evolvierte psychologische Mechanismen (EPM) • EPM als Anpassungsleistung (Reproduktionsvorteil) zustandegekommen und vererbt • EPM bedeutet, dass je nach Umwelt unterschiedliche Phänotypen entstehen – Beispiel: Fuß-Hornhaut – Beispiel: Entwicklung von Homosexualität: • ultimat verbessert ein Inzesttabu die Reproduktion • proximat wirkt daher der EPM „was exotisch ist, wird erotisch“ kein Sex mit Familienmitgliedern • Geschlechtertrennung ermöglicht Paarbildung auch in dörflichen Gemeinschaften • spätere Homosexuelle haben in Kindheit viel gegengeschlechtliche Freundschaften gehabt Attraktivität des eigenen Geschlechts • Aber: für Frauen bisher ungesichert; widersprüchliche Befunde zu der Frage, ob biologische Faktoren die Präferenz gleichgeschlechtlicher Spielpartner in Kindheit bewirken. Abwesende Väter und frühreife Töchter • Befund: Töchter von Vätern, die sich nicht kümmern (z. B. nach Scheidung), werden früher geschlechtsreif, haben eher den ersten Geschlechtsverkehr, weniger stabile Partnerschaften und kümmern sich weniger um die eigenen Kinder. • proximater Reiz: männliche Geruchsstoffe des Vaters (hemmend) bzw. neuer Partner der Mutter (beschleunigend) • Warum? – Zwei Reproduktionsstrategien: intensiv oder extensiv – Bei Müttern wenig Varianz möglich, aber bei Vätern abhängig von Reproduktionsfähigkeit der Kinder ohne väterliche Fürsorge und von Verfügbarkeit weiterer Partnerinnen – Historisch haben sich Umwelten nur langsam geändert Tradierung der Reproduktionsstrategie sinnvoll – abwesender Vater verfolgt anscheinend extensive Strategie, die Tochter dann also ebenfalls Frühreife usw. Kritik • Einwände: – Wieso vererbt sich die Strategie nicht an Söhne? – Clemens Trudewind: „Klümpchentheorie“ als Alternativerklärung • Allgemein: – Letztlich bleibt die Erklärung spekulativ – Positiv ist, dass die Frage „Anlage oder Umwelt?“ abgelöst ist durch die Suche nach Anlage-Umwelt-Interaktionen, wechselseitigen Einflüssen zwischen Anlage und Umwelt und damit auch nach Möglichkeiten der Intervention und Prävention.