Sozialwissenschaftliche Grundlagen der Humangeographie 290085 VO StEOP © Peter Weichhart 2 Std., 2,5 ECTS-Punkte Dienstag, 10:45 -13:10; Hs. II, NIG Kapitel 29.01; 29.02 (B11-STEOP) (B11-1.2) (B07-1.2) Modul 0402 Soziale Gruppen II WS 2013/14 SWG/04/02/01 Hauptmerkmale von Sekundärgruppen • Komplexität und Größe, arbeitsteilige Differenzierung von Funktionsabläufen; • rationale Orientierung der internen Strukturen an der Zweckerreichung, Rollen- und Positionssysteme sind funktional an den Zielen ausgerichtet; • Interaktionen zwischen Gruppenmitglieder sind nicht mehr auf face to face-Kontakte konzentriert, hohe Anteile medialer Interaktionen; • die Mitgliederbeziehungen sind zu einem hohen Anteil formalisiert, bürokratisiert und durch ein kodifiziertes Organisationsschema geregelt. SWG/04/02/02 Vergleich der Beziehungsmuster I Primärgruppen: persönliche Beziehungen mit einer stark emotionalen Komponente stehen im Vordergrund, die Beziehung selbst ist oft wichtiger, als ihre funktionale Bedeutung für konkrete Schritte zur Zielerreichung; Sekundärgruppen: die funktionalen Beziehungen, die sich aus den Erfordernissen der Zielerreichung ergeben, stehen im Vordergrund; die Beziehungen sind sachlich begründet, Persönliches und Emotionen werden bewusst unterdrückt. SWG/04/02/03 Vergleich der Beziehungsmuster II Primärgruppe Sekundärgruppe Interaktions- affektiv orientiert, unmittelbar; prozesse neutral orientiert, medial vermittelt; Rollenbeziehungen partikularistisch orientiert; universalistisch orientiert; Mitgliederbewertung stärker durch persönliche Qualitäten bestimmt; stärker durch Leistungen für das Gruppenziel bestimmt; Gruppenziele eher diffus, menschliche Be- eher spezifisch formuliert, ziehungen im Vordergrund; Rollenbeziehungen im Vordergrund; Mitgliedschaft stärker am Kollektivbewusst- stärker durch Selbstbezogensein orientiert; heit gekennzeichnet; Beziehungs- langfristig angestrebt. kontakt Nach L. BÖTTCHER, 1979, Abb. 19, S. 64, verändert. kurzfristig und an Rollenstruktur angepasst. SWG/04/02/04 Gruppendynamik Gruppenprozesse und die Interaktionen zwischen den Mitgliedern sind einem zeitlichen Wandel unterworfen. Wechselbeziehungen sind oft labil und können sich kurzfristig ändern. Der Wandlungsprozess der Beziehungsmuster zwischen den Gruppenmitgliedern und die Veränderung von Interaktionsinhalten durch den Interaktionsprozess wird als Gruppendynamik bezeichnet. SWG/04/02/05 „Gruppenfiguren“ • Star: „Beliebtester“, Meinungsführer; • Oppositionsführer: Opponent des Stars; • „Schwarzes Schaf“, Außenseiter: Person, die von mehreren Gruppenmitgliedern abgelehnt wird; • Freundschaft: wechselseitig positive Beziehung; • Feindschaft: wechselseitig negative Beziehung; • „unglückliche Liebe“: asymmetrische Beziehung; • „graue Maus“: wenig beachtete Randfigur. SWG/04/02/06 Führungsstile • demokratisch: Entscheidungen werden mit mehrheitlicher Zustimmung getroffen, Dialog zwischen Führer und Mitgliedern, Initiativen der Mitglieder werden akzeptiert, Solidarität; • autoritär: Dominanz des Führers, der alle Entscheidungen selbst trifft; mangelnde Solidarität, latenter Aggressionsdruck; • laissez faire: „gewähren lassen“; Meinungs- und Entscheidungsbildung wird den Gruppenmitgliedern überlassen, entspannte Gruppenatmosphäre, geringere Solidarität. SWG/04/02/07 Institutionen und Organisationen Umgangssprachliche Verwendung der Begriffe: • unter „Institutionen“ versteht man meist öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser oder Behörden; • der Begriff „Organisation“ wird dagegen eher für Produktions- oder Dienstleistungsbetriebe oder andere nichtstaatliche Einrichtungen verwendet. Gemeinsamer Kern: geregelte Kooperation von Menschen. SWG/04/02/08 Institutionen Unter einer Institution versteht man „...eine Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion, deren Sinn und Rechtfertigung der jeweiligen Kultur entstammen und deren dauerhafte Beachtung die umgebende Gesellschaft sichern.“ H. L. GUKENBIEHL, 2002 b, S. 144. Habitualisiertes Handeln: zur Gewohnheit gewordene Handlungsroutinen. SWG/04/02/09 Strukturen von Institutionen • Leitidee („Verfassung“); wird von den Mitgliedern des jeweiligen Gesellschaftssystems anerkannt; Beispiel: Gedanke des Ehesakraments; • Personalbestand: jenes Ensemble von Positionen und Rollen, das für die Realisierung der Leitidee erforderlich ist (Braut, Bräutigam, Priester, ...). • Regeln und Normen: steuern den Umgang der beteiligten Personen miteinander und sollen die Realisierung der Leitidee sicherstellen (Ritual, „Ja“, etc.). • Materieller Apparat: Gegenstände, Werkzeuge, Settings, die für die Realisierung der Leitidee eingesetzt werden (Kirche, Ringe, ...). SWG/04/02/10 Gesellschaftsaspekt und Personenaspekt von Institutionen • Gesellschaftsaspekt: Institutionen sind in der geistigen und materiellen Welt einer Gruppe verankert und Bestandteil der Kultur dieser Gruppe. • Personenaspekt: Institutionen sind in den Bewusstseinsprozessen von Personen verankert und sind Bestandteile ihrer Lebenswirklichkeit. SWG/04/02/11 Strukturmodell der Institutionen Geistige Welt Biographie Bewusstsein Geistige Kultur Leitidee Person Personal Institution Normen Gesellschaft Materieller Apparat Körper Materielle Kultur Materielle Welt Quelle: H. L. GUKENBIEHL, 2002 b, S. 147, verändert. SWG/04/02/12 Funktionen von Institutionen Institutionen verknüpfen Personen, Gegenstände und Handlungen derart, dass durch das gemeinsame und koordinierte Handeln bestimmte gesellschaftlich bedeutsame Aufgaben, die immer wieder vorkommen, in gleichartiger und damit vorhersehbarer Weise vollzogen werden können. (Vergl. H. L. GUKENBIEHL, 2002 b, S. 147. Institutionen vermitteln dem Individuum das Gefühl von Stabilität, Sicherheit und Ordnung. SWG/04/02/13 Die Kehrseite der Medaille Institutionen bewirken eine Einengung von Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungsoptionen, schränken Freiräume ein und schreiben bestimmte Handlungsweisen verbindlich vor. Mit dem Wandel gesellschaftlicher Gegebenheiten können Institutionen ihre stabilisierende Funktion verlieren und erscheinen dem Individuum nur mehr als Zwang, der Spontaneität und Kreativität des Handelns und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit behindern. SWG/04/02/14 Wie entstehen Institutionen? • P. L. BERGER und T. LUCKMANN (1998): Menschen neigen dazu, für den immer wieder notwendigen Umgang mit Menschen, Dingen und Situationen Gewohnheiten oder Routinen auszubilden. Durch ständigen Gebrauch werden sie schließlich zu festen Strukturen der sozialen Welt. • M. HAURIOU (1965): Institutionen werden durch eine „Stiftung“ zum Gegenstand der sozialen Welt. Die Kraft einer „idée diréctrice“ (Leitidee) führt zur Konkretisierung und Institutionalisierung. SWG/04/02/15 Organisationen • werden bewusst und planvoll zur dauerhaften Erreichung eines bestimmten Ziels oder Zwecks gebildet; • besitzen eine gedanklich geschaffene und allgemeinverbindlich festgelegte Ordnung und Struktur; • mit ihrer Hilfe sollen die Aktivitäten der Mitglieder und die verfügbaren Mittel so koordiniert werden, dass die Erreichung eines vorgegebenen Ziels verlässlich gewährleistet ist. Organisationen haben den Charakter rational konstruierter Instrumente, die zur Effizienzsteigerung menschlicher Kooperation geschaffen werden. Vergl. H. L. GUKENBIEHL, 2002 b, S. 152/3 SWG/04/02/16 Das Regelwerk von Organisationen ... legt fest, mit welchen Stellen welche Aufgaben, Befugnisse und Tätigkeiten verbunden sind, welche Prozessabläufe in welcher Form vorgesehen sind und welche Verfahren der Kooperation zum Einsatz kommen. Das Gefüge der Positionen, Abhängigkeitsbeziehungen und arbeitsteiligen Zuständigkeitsbereiche kann in Organigrammen dargestellt werden. Gesellschaftssysteme legen für Klassen von Organisationen „Musterregelwerke“ fest (Vereinsrecht, Gesellschaftsrecht, Gemeindeverfassungsgesetz, ...) Zusätzlich: informelle Regeln SWG/04/02/17 Organigramm http://www.uno.de/hauptorgane/organe.htm SWG/04/02/17b Organisationsverbund und Organisationssysteme Organisationen sind in eine soziale Umwelt eingelagert. Sie interagieren mit zahlreichen anderen Organisationen und bilden mit diesen einen Organisationsverbund (organizational set). Organisationen lassen sich auch zu Organisationssystemen zusammenfassen (Wirtschaftssystem, Verwaltungssystem, Politisches System, ...). SWG/04/02/18 Die Gemeinde „Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass die Gemeinde neben der Familie eine der wichtigsten Grundformen der Gesellschaft darstellt...“. R. KÖNIG, 1958, S. 7 Gemeinde als Staatliche Verwaltungseinheit (Gebietskörperschaft) = Element der sozialen Wirklichkeit SWG/04/02/19 Die Gemeinde als Grundform der Gesellschaft • Dem Menschen begegnen alle sozialen Zusammenhänge, die über den engsten Kreis der Familie hinausgehen, zuerst in der Gemeinde. • Die Gemeinde ist jener Ort, an dem die Gesellschaft im Ganzen als höchst komplexes Phänomen unmittelbar anschaulich wird. Prinzip der lokalen Gebundenheit: Gemeinden stellen eine räumlich vereint lebende und räumlich begrenzte Assoziation von Menschen dar. R. KÖNIG, 1958, S. 9, S. 14 SWG/04/02/20 Eine Definition R. KÖNIG versteht unter einer Gemeinde „...eine lokale Gruppe..., in der Menschen interagieren und gemeinsam wirtschaften, wobei sie von gemeinsamen Bindungen getragen werden...“ (1958, S. 111). Prinzip der Nachbarschaft: Faktum der räumlichen Nähe des Zusammen-Lebens. „Konkrete“ („integrierte“) Nachbarschaft liegt vor, wenn Menschen, die in räumlicher Nähe wohnen, durch persönliche und freundschaftliche Beziehungen miteinander verbunden sind. SWG/04/02/21 Nachbarschaften ... sind ein spezieller Typus menschlicher Gruppierung. Sie zeichnen sich durch „schwache“ Formen sozialer Interaktionen aus: • wechselseitiges Grüßen; • Small-Talk; • wechselseitige Rücksichtnahme; • Bittleihe • Bittarbeit • Nachbarschaftshilfe SWG/04/02/22 Die Lubavitch in Crown Heights als Beispiel für eine nachbarschaftlich organisierte Primärgruppe Die Lubavitch sind eine Gruppe orthodoxer Juden (Hassidic Judaismus; mystische Grundorientierung). Ursprung WeißRussland. Ihr Rabbiner flüchtete 1940 aus Warschau und ließ sich im New Yorker Stadtteil Crown Hights nieder. Dieser Stadtteil ist heute noch das „Hauptquartier“ dieser religiösen Bewegung. „1950, the neighborhood was 89 percent white, with a small but growing black population. Some 50- 60 percent of the white population, about 75,000 people, were Jewish. By 1957, there were about 25,000 blacks in Crown Heights, about one fourth of the population. There were thirtyfour large synagogues in the neighborhood, including 770 Eastern Parkway, home of the worldwide Lubavitch movement.“ http://en.wikipedia.org/wiki/Crown_Heights,_Brooklyn SWG/04/02/23 Crown Heights Bis 1990: starke Zuwanderung Afrikanischer Amerikaner, soziale Degradierung. Viele Juden verließen das Viertel, Lubavitcher blieben. SWG/04/02/24 Die Lebensweise der Lubavitcher Hassidim Die Mitglieder dieser religiösen Gruppe leben nach einem scharf definierten Handlungscode, der ihre Bekleidung, ihre Nahrung, ihre familiären Beziehungen, ihr Schulsystem, und ihre Sozialkontakte definiert. Dieser Lebensstil erfordert eine „kritische Masse“ von Mitgliedern, um die Produktion der Nahrungsmittel, Bekleidung, die Unterhaltung des Schulsystems und die Durchführung der religiösen Praktiken zu ermöglichen. Deshalb ist es erforderlich, dass sie in enger Nachbarschaft zueinander leben. SWG/04/02/25 Die Lebensweise der Lubavitcher Hassidim Ein strenges Sabbath-Gebot verbietet die Nutzung jeglicher Transportmittel vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag. Die Mitglieder der Gruppe müssen also in fußläufiger Distanz zu einer Synagoge leben. Der Rabbiner, ihr spiritueller Führer, spielt eine sehr einflussreiche Rolle für die Lebenspraxis der Mitglieder. Keine wichtige Entscheidung wird ohne seinen Rat getroffen. Alle wichtigen Events der Lebenspraxis (Einkaufen, Erholung, Sozialbeziehungen, Feste, Hochzeiten, religiöse Rituale) finden innerhalb der Grenzen des Quartiers statt. SWG/04/02/26 Die Lebensweise der Lubavitcher Hassidim Für Tätigkeiten außerhalb des Qartiers (Arbeitsplätze) wird ein privates Busunternehmen genutzt. Yiddisch als gemeinsame Umgangssprache. „Geographic place dependence“: „…degree, to which occupants perceive themselves to be strongly associated with and dependent on a category of functionally similar places“. L. G. RIVLIN, 1987, S. 19 SWG/04/02/27