Grammatiktheorie und Grammatikographie - UK

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Sitzung am 26.10.2009
1
Nachbereitung der vergangenen
Sitzung
2
WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
 Die Geschichte des Grammatik-Begriffs und der
Wandel von Grammatik-Modellen
3
Wissenschaftsgeschichte
4
Der moderne linguistische Grammatik-Begriff
 Unter Grammatik versteht man in der Linguistik jede
Form einer systematischen Sprachbeschreibung.
 Im engeren Sinne besteht die Grammatik aus
 als Formenlehre von Wörtern (Morphologie) und
 Sätzen (Syntax).
5
Grammatik – ein historischer Überblick
 Die Etymologie des Grammatikbegriffs:
 Gr. τέχνη γραμματική, technē grammatikē „Kunst des
Lesens und Schreibens“, von γράμμα, gramma,
„Geschriebenes, Buchstabe“;
 Grammatik = Schriftsprache

Die Schrift konserviert sprachliche Äußerungen aus früheren
Zeiten, die ab einem gewissen Zeitpunkt einer philologischen
Interpretation bedürfen
 Sprache kann beobachtet werden
 Entstehung einer Norm
6
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Grammatik
 = Interpretation von Texten
 = Kenntnisse, die hierzu notwendig sind
7
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 DIONYSIOS THRAX (2. Jh. v. Chr.)
Das Lehrbuch Techne
grammatike, ist das
älteste seiner Art und
im Prinzip die
Grundlage aller
europäischen
Grammatiken
[it. Dionisio Trace]
 Die Grammatik im Sinne von
Philologie

Die Aufgaben des Grammatikers






Lesen eines Textes in der richtigen
Aussprache
Erklärung von rhetorischen Figuren
Bedeutungsanalyse schwieriger
Wörter und Redewendungen
Etymologische Worterklärungen
Formenlehre
Echtheitskritik und literarische
Wertung
8
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Die kulturelle Einordnung der
Grammatik von Dionysios Thrax
 Thrax war Schüler von Aristarchos
von Samothrake (dessen Schriften
nicht erhalten sind)
 Aristarchos war Direktor der
Bibliothek von Alexandria
 Aristarchs Hauptbeschäftigung galt
der Grammatik und insbesondere
der Literatur- und Textkritik.
 Er leitete die Richtlinien seiner
Textkritik aus den Texten Homers
ab, den ältesten überlieferten Texten
der griechischen Literatur.
9
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Alexandrinische Textkritik (=
Grammatik oder Philologie)
 Niedergang der
alexandrinischen Poesie
 Aufstieg der alexandrinischen
Grammatik
 Aristarchos von Samothrake
bemühte sich um die
Rekonstruktion des
Sprachgebrauchs Homers
10
EXKURS
Griechische Grammatikographie
im 2. Jh. V.Chr.
 Aristarchos
Italienische
Grammatikographie um 1500
 Pietro Bembo
 Orientierung an der
 Orientierung an der
alten Dichtersprache
 Vorbild HOMER
Dichtersprache des 14.
Jhs.
 Vorbilder BOCCACIO,
PETRARCA
11
ENDE DES EXKURSES
12
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Im Umfeld der Bibliothex von Alexandria
verfasste Dionysios Thrax seine
Elementargrammatik, in der auch eine
Definition des Grammatikbegriffs enthalten ist
 „Grammatik ist das praktische Studium der
Sprache, wie sie gewöhnlich von Poeten und
Schriftstellern verwendet wird“
13
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Dionysios Thrax unterscheidet insgesamt acht
Wortarten
 Nomen (einschl. Adjektiv) [ónoma]
 Verb [rhema]
 Partizip [metoché]
 Artikel [árthron]
 Pronomen [antonymia]
 Präposition [próthesis]
 Adverb [epírhema]
 Konjunktion [syndesmos]
Flektierbare
Wortarten
Nicht
flektierbare
Wortarten
14
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Schwachstelle der Grammatike Techne
 Keine Behandlung der Syntaxg
 Diese Lücke wurde von Apollonios
Dyskolos (it. Apollonio Discolo) gefüllt
 Er lebte im 2. Jahrhundert n. Chr. in
Alexandria und verfasste als erster ein
Werk über Syntax, das die Techne
grammatike des Dionysios Thrax ergänzte.
15
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Vier erhaltene Bücher
 Περὶ συντάξεως τοῦ λόγου μερῶν (La
costruzione del discorso),
 Περὶ ἀντωνομίας (I pronomi);
 Περὶ συνδέσμων (Le congiunzioni);
 Περὶ ἐπιρρημάτων (Gli avverbi).
16
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Kontroverse zwischen Analogisten und
Anomalisten (bis zum 1. Jh. v.Chr.)
 Krates von Mallos vs. Aristarchos von Samothrake
 Die Analogisten (insbes. in Alexandria)
 In der Sprache gibt es Harmonie, Symmetrie und Logik
wie in der Natur
 Der Reichtum sprachlicher Formen lässt sich auf Normen
und Systeme zurückführen
 Analogieprinzip als Rechtfertigung sprachnormierender
Eingriffe in die Sprache
 Beseitigung abweichender Formen im Flexionssystem
17
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Kontroverse zwischen Analogisten und
Anomalisten (bis zum 1. Jh. v.Chr.)
 Die Anomalisten



In der Sprache gibt es keine durchgehende
Ratio
In der Sprache gibt es keine geschlossenen
Systemordnungen
Besonderheiten und und Zufälligkeiten
gehören zur Sprache
18
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Die Kontroverse zwischen Anomalisten und
Analogisten hat sich als fruchtbar für die
Erforschung der Grammatik erwiesen
 Anhäufung eines umfassenden grammatischen
Wissens


Die Analogisten mussten lernen, dass die
grammatische Ordnung der Sprache ein
historisch gewachsenes Gebilde ist, in dem
Systemordnungen unterschiedlichen Typs und
unterschiedlicher Zeiten ineinander verwachsen
sind.
Alle Versuche, diese Ordnung als ein logisch
kohärentes System darzustellen, mussten daher
scheitern.
19
Der Grammatik-Begriff bei den Griechen
 Ergebnis der Kontroverse
 Die Anomalisten mussten erkennen, dass die
grammatische Ordnung einer Sprache dennoch
kein Konglomerat zufälliger Konventionen ist,
sondern ein Strukturgebilde, das einenm
immanenten Zwang zur Systematisierung
ausgesetzt ist, weil es sonst nicht mehr
durchschaubar ist.
 Viele grammatische Widersprüchlichkeiten lösen
sich auf, wenn man die Entwicklung der
grammatischen Systemordnungen in seine
Betrachtungen einbezieht.
20
Wissenschaftsgeschichte
21
Von der griechischen zur lateinischen
Grammatikographie
Übertragung der
griechischen
Diskussion auf die
lateinische
Sprache
Analogisten
 Caesar
 Scipio
 Varro
Anomalisten
 Cicero
Horaz
Quintilian
 Die kulturhistorische
Einordnung des AnalogieAnomalie-Streits
 Streit über die korrekte Sprache


Welches Kriterium entscheidet
über die Richtigkeit der Sprache?
Norm- (Analogisten) vs. UsusOrientierung (Anomalisten)
22
Die lateinische Grammatikographie
 Die von Dionysios Thrax für das
Griechische festgelegten Kategorien
wurden von den römischen
Sprachgelehrten auf das Lateinische
übertragen.
23
Die lateinische Grammatikographie
 Terentius Varro, De lingua Latina (ein
Höhepunkt antiker lateinischer
Sprachtheorie) bestand aus drei
Hauptteilen



Etymologie
Morphologie
Syntax


Der Syntaxteil ist verloren gegangen, aber aus
einem erhalten gebliebenen Fragment ist
erkennbar, dass Syntax für Varro offenbar das
gleiche bedeutete wie für die Stoiker, nämlich
Aussagenlogik.
Es sind jedoch nur die Bücher über
etymologische Praxis und morphologische
Theorie erhalten
Vgl. http://www.thelatinlibrary.com/varro.html
24
Die lateinische Grammatikographie
 Erhaltene Teile von De lingua latina
(6 „Bücher“ von insgesamt 25)
 Liber V [Etymologie]
 Liber VI [Etym.]
 Liber VII [Etym./Dichtersprache:
„Difficilia sunt explicatu poetarum vocabula.“]
 Liber VIII [Declinatio = Morphologie:
„Quae Dicantur Cur Non Sit Analogia”]
 Liber IX [Decl.]
Auseinandersetzung
 Liber X [Decl.]
mit der Analogieund Anomalie Fragmenta
Problematik
http://www.thelatinlibrary.com/varro.html
25
Die lateinische Grammatikographie
 Die rekonstruierte Struktur von De lingua latina
Buch I: *Einleitung
1. Hexade
 Buch II-IV : [*theoretische Erörterung der Etymologie]
 Buch V-VII: historisch-exemplarische Erörterung der
Etymologie
2. Hexade
 Buch VIII-X: theoretische Erörterung der „Declinatio“
 Buch XI-XIII : [*historisch-exemplarische Erörterung der
„Declinatio“]



26
Die lateinische Grammatikographie
 Die rekonstruierte Struktur von De lingua latina


3. Hexade
 Buch XIV-XVI : [*theoretische Erörterung der Syntax]
 Buch XVII-XIX: *[historisch-exemplarische Erörterung der
Syntax]
4. Hexade
 Buch XX-XXII: *[historisch-exemplarische Erörterung der
Syntax]
 Buch XI-XIII : [*historisch-exemplarische Erörterung der
Syntax]
27
Die lateinische Grammatikographie
 Terentius Varro (116-27 v.Chr.)

De lingua latina (ein Höhepunkt
antiker lateinischer
Sprachtheorie)
 Orientierung an der
Mathematik
 Der zentrale Begriff (10. Buch)
lautet DECLINATIO (jedoch
nicht im heute üblichen Sinne von
Deklination, sondern in Bezug auf jede
morphologische Variation von Wörtern)
28
Die lateinische Grammatikographie
Terentius Varro, De lingua latina
Systematisierung von
Wortbildungsprozessen
Unterscheidung zwischen
declinatio voluntaria (=
Derivation) und declinatio
naturalis (= Flexion)
Die Declinatio voluntaria:
verläuft meist anormal
Die Declinatio naturalis:
folgt der Analogie
29
Die lateinische Grammatikographie
 Es gibt – wie gesagt – zwei Arten von
morphologischer Variation
(declinatio)
 Wörter ändern ihre Form durch die
arbiträre voluntas des Sprechers, oder
die systematische natura der Sprache
 Die Declinatio voluntaria entspricht
der heutigen
Derivationsmorphologie
 Die Declinatio naturalis entspricht der
heutigen Flexionsmorphologie

Varro ist der erste Grammatiker, der
eine solche Unterscheidung vornimmt
30
Die lateinische Grammatikographie
 Für Varro gibt es auf der Ebene der
declinatio naturalis nur zwei Kriterien
zur Bestimmung der linguistischen
Ähnlichkeit oder similitudo:
 figura oder vox, d.h. die phonologische
Form (Laut oder Schrift)
 materia oder res, d.h. die grammatische
Substanz, z.B. Kasus, Tempus etc.
 Damit Wörter legitimerweise verglichen
und klassifiziert werden können, müssen
sie eine Analogie (analogia) aufweisen, die
"zweifach und vollendet" ist, (duplex et
perfecta)
31
Die lateinische Grammatikographie
 Varro als Vermittler von
analogistischer und anomalistischer
Lehre
 Gemäßigte Position des Analogismus
 Die Flexion wird als naturgegebene,
analogische Beugung von
morphologisch veränderbaren Wörtern
dargestellt
 Unregelmäßige Flexion wird von Varro
bekämpft
 Einsatz einer radikal morphologischen
Systematik bei den Wortarten (partes
orationis) unter Umgehung
semantischer oder funktionaler
Bestimmungen
32
Die lateinische Grammatikographie
 DE LINGUA LATINA LIBER X
 „ In verborum declinationibus
disciplina loquendi
dissimilitudinem an similitudinem
sequi deberet, multi quaesierunt.
Cum ab his ratio quae ab
similitudine oriretur vocaretur
analogia, reliqua pars appellaretur
anomalia…“
http://www.thelatinlibrary.com/varro.ll10.html
33
Die lateinische Grammatikographie
 Varro
 Verbum (Wort)



genus sterile (unveränderlich)
genus fecundum (veränderlich)
Verteilung von flektierten Wörtern auf
vier Klassen, wobei nur 2 Kriterien
ausschlaggebend sind:
 Tempus und Kasus
 Wörter mit Kasus- und Zeitmarkierung
(Partizipien)
 Wörter ohne Kasus- und Zeitmarkierung
(Adverbien)
 Nur zeitmarkierte Wörter (Verben)
 Nur kasusmarkierte Wörter (Substantive
und Adjektive)
34
Die lateinische Grammatikographie
 Zur Erklärung seiner Konzeption von
grammatischer Analogie verwendet
Varro eine Reihe arithmetischer
Proportionen.
 Gleich deklinierte Nomina gleichen
einer disjunkten Proportion – rex:regis ::
lex:legis (wie 1:2 :: 10:20)
 Gleich konjugierte Verben entsprechen
einer konjunkten Proportion –
legebam:lego::lego:legam (1:2::2:4), denn
Präteritum verhält sich zu Präsens wie
Präsens zu Futur
 Varro ist der einzige antike
Sprachforscher, der abstrakte Modelle
formuliert hat.
35
Die lateinische Grammatikographie (II)
36
Die lateinische Grammatikographie
 In der Spätantike verengte sich der
Grammatikbegriff dann zunehmend
auf die Beschreibung und normative
Festschreibung des klassischen
lateinischen Sprachsystems,
insbesondere durch
 Aelius Donatus und
 Priscianus Caesariensis
37
Die lateinische Grammatikographie
Inhalt der Ars
minor
De Nomine
De Pronomine
De Verbo
De Adverbio
De Participio
De Coniunctione
De Praepositione
De Interiectione
 Aelius Donatus (4. Jh. n.Chr.) war
der einflussreichste römische
Grammatiker des 4. Jahrhunderts.
 Er schrieb zwei Grammatiken
 Die Ars minor, die nur die Wortarten
behandelt und als Dialog abgefasst ist
zwischen dem Lehrer, der Fragen
stellt und dem Schüler, der sie
beantwortet
 Die Ars maior, die auch eine kurze
Phonologie enthält und Aspekte des
korrekten und unkorrekten Lateins
behandelt.
38
Die lateinische Grammatikographie
 Beispiel
 De Nomine

Nomen quid est? Pars orationis
cum casu corpus aut rem proprie
communiterve significans Nomini
quot accidunt? Sex. Quae?
Qualitas conparatio genus
numerus figura casus[…].
39
Die lateinische Grammatikographie
 Priscian (6. Jh. n.Chr.) stellt
gleichzeitig den Höhepunkt und das
Ende der Römischen
Grammatikographie dar
 Er sammelte und systematisierte die
Ergebnisse jahrhundertelanger
grammatischer Forschung in der
römischen Welt
 Priscian wurde einer der
einflussreichsten Grammatiker
überhaupt und ein Großteil der
Grammatikographie des Mittelalters
basierte auf seinen Arbeiten.
40
Die lateinische Grammatikographie
 Priscians Hauptwerk, die
Institutiones grammaticae (in 18
Büchern), geht weit über das hinaus,
was andere römische Grammatiker je
erstrebt oder erreicht hatten.
 Der syntaktische Teil dieses Werkes
ist von den Arbeiten des führenden
Alexandrinischen Grammatikers
Apollonius Dyscolus beeinflusst, dem
einzigen griechischen Grammatiker,
der über Syntax geschrieben hatte.
41
Die lateinische Grammatikographie
 Priscians Behandlung der lateinischen
Morphologie gehört zu den gründlichsten
und bestdokumentierten morphologischen
Beschreibungen überhaupt
 Seine Regeln zur Ableitung von Wortformen
innerhalb eines Flexions-Paradigmas sind
auch heute noch von theoretischem Interesse
 Priscian arbeitet mit einem System von
Regelketten, wobei er mit einer Grundform
beginnt (z.B. Nominativ), daraus eine andere
ableitet (z.B. Genitiv), die ihrerseits die Basis
für eine weitere bildet (z.B. Dativ), usw.
42
Die lateinische Grammatikographie
 Priscians letzte beiden Bücher
(Priscianus Minor) behandeln die Syntax.
 Sie bilden die Grundlage für spätere
syntaktische Untersuchungen im
Mittelalter.
 Kein anderes erhalten gebliebenes Werk
eines römischen Sprachforschers ist der
Syntax gewidmet.
 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass
die Kapitel einiger Grammatiken über
syntaktische Fehler (soloecismus) viele
interessante Beobachtungen über die
Syntax enthalten.
43
Die lateinische Grammatikographie
 Die Institutiones grammaticae bestimmten
die Grammatikographie über Jahrhunderte
hinweg.
 Es wurden acht grammatische Kategorien
unterschieden, und zwar








Nomen,
Pronomen,
Verb,
Adverb,
Partizip,
Koniunktion,
Präposition und
Interjektion:
 Ziel war die Anleitung zur korrekten
Anwendung der Sprache.
44
Die Rolle der lateinischen Grammatikographie nach
der Ausgliederung der romanischen Sprachen
45
Von der Antike zum Mittelalter:
vom Lateinischen zum Romanischen
46
Von der Antike zum Mittelalter:
vom Lateinischen zum Romanischen
47
Von der Antike zum Mittelalter:
vom Lateinischen zum Romanischen
48
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
 Drei große Grammatik-
Epochen
 Vorscholastische
Grammatikkonzeption


Donatus (4. Jh.)
Priscianus (6. Jh.)
 Scholastische
Grammatikkonzeption

Einfluss der AristotelesRezeption
 Nominalistische
Grammatikkonzeption

Einfluss psychologischer
Kategorien
49
Antike Tradition im Mittelalter
 Die karolingische Renaissance
 Als karolingische Renaissance
bezeichnet man den kulturellen
Aufschwung zur Zeit der frühen
Karolinger, ausgehend vom
kaiserlichen Hof Karls des Großen.
 Anmerkung:


Der Begriff der Renaissance ist dabei
umstritten, weil er das Gewicht zu stark
auf das Wiederaufleben der Antike und die
Säkularisierung des Denkens legt.
Man spricht daher auch treffender von der
Bildungsreform Karls des Großen oder der
karolingischen Erneuerung (lat. renovatio).
50
Antike Tradition im Mittelalter
 Lateinische Tradition im Mittelalter
 Alcuin von York
 De grammatica
 Rückbesinnng auf die sieben freien Künste,
deren Struktur auf Martianus Capella (aus
Carthago) im 5. Jh.n.Chr. zurückgehen.
Sein Hauptwerk wurde wie folgt gegliedert:





Bücher III-V : das (sprachliche) Trivium
Grammatik, Rhetorik, Logik
Bücher VI-IX : das (mathematische)
Quadrivium
Arithmetik, Geometrie, Musiktheorie,
Astronomie
In der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts wurde
diese Schrift durch Abschriften und
Kommentare in Europa weit verbreitet.
51
Der Grammatik-Begriff in der Mittelalter
 Die lateinische Grammatik
als elementarer Bestandteil
der 7 freien Künste
 Trivium



Grammatik
Rhetorik
Dialektik
 Quadrivium




Arithmetik
Geometrie
Astronomie
Musik
Der Grammatik-Begriff in der Mittelalter
 Weitere karolingische
Grammatiker
 Petrus von Pisa (Ars grammatica)
 Paulus Diaconus (Ars minor)
 Clemens Scotus (Ars grammatica)
 Smaragdus von St.-Mihiel (Liber in
partibus Donati)
53
54
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
 Die Rolle der Grammatik im
mittelalterlichen Bildungssystem
 Grammatik war der zentrale
Studieninhalt der „Artistenfakultät“,
die alle Studenten durchlaufen
mussten, bevor sie zum Studium der
Spezialwissenschaften (Theologie,
Philosophie, Jurisprudenz, Medizin)
zugelassen wurden.
 Grammatik als Schlüssel zum
Textverständnis
55
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
 Das Grammatikkonzept der
vorscholastischen Epoche
(empirisch und deskriptiv)
 Studium der deskriptiven
Grammatiken von Donatus
und Priscianus
 Lesen und Verstehen
überlieferter Texte
 Herstellen adäquater Texte
56
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
Scholastik (lat. Adjektiv
scholasticus) ist die
wissenschaftliche
Denkweise und Methode
der Beweisführung,
die in der Gelehrtenwelt
des Mittelalters entwickelt
wurde.
 Scholastische
Grammatikkonzeption
 Die Kategorienlehre des
Aristoteles sollte auf die
Sprachbetrachtung
angewandt werden
 Philosophische Grammatik
(Grammatik als Logik bzw.
Sprachphilosophie)
 Grammatica speculativa
57
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
 Die Grammatica speculativa
 Suppositionslehre
 Untersuchung und Klassifizierung
des Sachbezugs (Suppositio)
sprachlicher Zeichen
 Unterscheidung zwischen




wörtlicher
ironischer
metaphorischer
sprachbezogener
Bedeutung
58
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
Modistae (<
modus): Anhänger
der spekultatven
Grammatik
 Die modistische Tradition ist in gewissem Sinn
eine Synthese der philologisch orientierten
griechisch-römischen, auf Dionysios Thrax
zurückgehenden Tradition mit zunächst
unabhängigen philosophischen Strömungen des
Mittelalters.
 Ein Wegbereiter des Modismus ist Petrus Helias,
der im Jahr 1150 einen Prisciankommentar (Summa
super Priscianum) verfasst hat, in dem er versucht,
Priscians Analyse zu den lateinischen Wortarten auf
die Basis der aristotelischen Organon-Schriften (
Όργανον „Werkzeug“, „Methode) Kategorien und De
Interpretatione (Περὶ ἑρμηνείας) zu stellen.
59
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
 MODISTEN
 Ziel: Entwicklung einer Universalgrammatik
 Thomas von Erfurt
 Tractatus de modis significandi (= Grammatica
speculativa)
 Lehre von den modi significandi (= Lehre von den
Bedeutungsweisen und Bedeutungsformen
sprachlicher Formen)
 Wahrnehmungsformen (modi intellegendi)
 Seinsformen (modi essendi)
60
http://www.uni-erfurt.de/sprachwissenschaft/personal/lehmann/CL_Publ/Thomas_von_Erfurt.pdf
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
61
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
Grammatik als Wissenschaft
62
Der Grammatik-Begriff im Mittelalter
63
Der Grammatik-Begriff bei Dante
 Né per tanto di men parlando vommi




con ser Brunetto, e dimando chi sono
li suoi compagni più noti e più sommi. 102
Ed elli a me: "Saper d'alcuno è buono;
de li altri fia laudabile tacerci,
ché 'l tempo saria corto a tanto suono. 105
In somma sappi che tutti fur cherci
e litterati grandi e di gran fama,
d'un peccato medesmo al mondo lerci. 108
Priscian sen va con quella turba grama,
e Francesco d'Accorso anche; e vedervi,
s'avessi avuto di tal tigna brama,
111
colui potei che dal servo de' servi
fu trasmutato d'Arno in Bacchiglione,
dove lasciò li mal protesi nervi.
Commedia, Cantica I, Canto xv
64
Der Grammatik-Begriff bei Dante
 Contra questi cotali grida Tulio nel principio d'un suo
libro che si chiama Libro di Fine de' Beni, però che al
suo tempo biasimavano lo latino romano e
commendavano la gramatica greca, per simiglianti
cagioni che questi fanno vile lo parlare italico e
prezioso quello di Proenza.
Convivio Trattato I Capitolo xi
65
Der Grammatik-Begriff bei Dante
 E avegna che duro mi fosse nella prima entrare nella
loro sentenza, finalmente v'entrai tanto entro, quanto
l'arte di gramatica ch'io avea e un poco di mio ingegno
potea fare; per lo quale ingegno molte cose, quasi come
sognando, già vedea, sì come nella Vita Nova si può
vedere.
Convivio Trattato II Capitolo xii
66
Der Grammatik-Begriff bei Dante
 Alli sette primi rispondono le sette scienze del Trivio e
del Quadruvio, cioè gramatica, Dialetica, Rettorica,
Arismetrica, Musica, Geometria e Astrologia.
All'ottava spera, cioè alla stellata, risponde la scienza
naturale, che Fisica si chiama, e la prima scienza, che
si chiama Metafisica; alla nona spera risponde la
Scienza morale; ed al cielo quieto risponde la scienza
divina, che è Teologia appellata. E [la] ragione per che
ciò sia, brievemente è da vedere.
Convivio Trattato II Capitolo xiii
67
Der Grammatik-Begriff bei Dante
 Dico che 'l cielo della Luna colla gramatica si
somiglia, perché ad esso si può comparare [per due
propietadi]. Ché se la Luna si guarda bene, due cose si
veggiono in essa propie, che non si veggiono nell'altre
stelle. L'una si è l'ombra che è in essa, la quale non è
altro che raritade del suo corpo, alla quale non possono
terminare li raggi del sole e ripercuotersi così come
nell'altre parti; l'altra si è la variazione della sua
luminositade, ché ora luce da uno lato e ora luce da un
altro, secondo che lo sole la vede.
Convivio Trattato III Capitolo ii
68
Der Grammatik-Begriff bei Dante
 È dunque da sapere che "autoritade" non è altro che
"atto d'autore". Questo vocabulo, cioè "autore", sanza
quella terza lettera C, può discendere da due principii:
l'uno si è uno verbo molto lasciato dall'uso in
gramatica, che significa tanto quanto "legare parole",
cioè "auieo". E chi ben guarda lui, nella sua prima voce
apertamente vedrà che elli stesso lo dimostra, ché solo
di legame di parole è fatto, cioè di sole cinque vocali,
che sono anima e legame d'ogni parole, e composto
d'esse per modo volubile, a figurare imagine di legame.
Convivio Trattato IV Capitolo vi
69
Der Grammatik-Begriff bei Dante
 Hinc moti sunt inventores gramatice facultatis; que
quidem gramatica nichil aliud est quam quedam
inalterabilis locutionis idemptitas diversis temporibus
atque locis.
De vulgari eloquentia Liber I Capitulum ix
70
Der Grammatik-Begriff bei Dante
 Posset adhuc inveniri plurium sillabarum vocabulum,
sive verbum; sed quia capacitatem nostrorum omnium
carminum superexcedit, rationi presenti non videtur
obnoxium, sicut est illud honorificabilitudinitate, quod
duodena perficitur sillaba in vulgari et in gramatica
tredena perficitur in duobus obliquis.
De vulgari eloquentia Liber II Capitulum vii
71
Der Grammatik-Begriff in der italienischen Renaissance
(15. Jahrhundert)
72
Der kulturhistorische Kontext
 umanesimo volgare vs. umanesimo
latino
73
Der kulturhistorische Kontext
Humanismus
Die antike Bildung
wurde als
unübertreffliches
Vorbild empfunden
und das
lebensbejahende
und schöpferische
Individuum
rehabilitiert.
 Das Zeitalter des Humanismus
 Hinwendung zur Antike




Intensives Studium antiker Quellen
Rekonstruktion der klassischen
lateinischen Sprache
Frage nach der Beschaffenheit des
Lateinischen in der Antike
Frage nach der Dekanenz des
Lateinischen während der
Völkerwanderung
74
Die italienischen Humanisten und die Frage nach der
Beschaffenheit des Lateinischen im Altertum

„Sprachhistorische Reflexion“
im
Humanismus
 Das Hauptziel des frühen Humanismus
war – wie bereits erwähnt – eine
Wiederbelebung der geistigen
Errungenschaften der klassischen Antike.
 Das philologische Interesse der
Humanisten des späten 14. sowie des
frühen 15. Jahrhunderts beschränkte sich
auf die Suche nach verschollenen
lateinischen Schriften in den
europäischen Bibliotheken.
75
Die italienischen Humanisten und die Frage nach der
Beschaffenheit des Lateinischen im Altertum
 Poggio Bracciolini (1380-1459)
entdeckte z.B. Institutio oratoria von
Quintilian, De rerum natura von
Lukrez, Silvae von Statius, De re
architectura von Vitruv, Punica von
Silius Italicus, Argonautica von Valerius
Flaccus sowie zehn Reden Ciceros.
 Das philologische Interesse der
Humanisten des späten 14. sowie des
frühen 15. Jahrhunderts beschränkte
sich auf die Suche nach verschollenen
lateinischen Schriften in den
europäischen Bibliotheken.
76
Die italienischen Humanisten und die Frage nach der
Beschaffenheit des Lateinischen im Altertum
 Im Mittelpunkt sprachplanerischer
Bemühungen stand die Wiederherstellung
des klassischen Lateins.
 In diesem geistigen Klima sind Werke wie
Lorenzo Vallas Elegantiarum Latinae Lingue
libri sex (1435-1444) entstanden.
 In sprachgeschichtstheoretischer Hinsicht
interessierten sich die Gelehrten vor allem für
die Beschaffenheit und Entwicklung des
Lateinischen, während die Geschichte der
italoromanischen Volkssprachen allenfalls
indirekt im Zusammenhang mit der
lateinischen Sprachgeschichte behandelt
wurde.
Die italienischen Humanisten und die Frage nach der
Beschaffenheit des Lateinischen im Altertum
 Im März 1435 diskutierten Leonardo Bruni
und Flavio Biondo im Vorzimmer des
Papstes Eugen IV. über die Beschaffenheit
der lateinischen Sprache in der Antike
und Spätantike.
 Flavio Biondo richtete seine Streitschrift De
verbis romanae locutionis an Leonardo Bruni.
 Ausgangspunkt war die in Brunis Schrift An
vulgus et literati eodem modo per Terentii
Tullique tempora Romae locuti sint vertretene
Auffassung, dass bereits in der Antike von den
Ungebildeten ein volgare gesprochen wurde,
das dem des Quattrocento nicht unähnlich war.
Die sprachhistorische
Auffassung von
Leonardo Bruni
 Apud veteres: bei den Alten, d.h. in der
Quaestio nostra in eo
Antike
consistit, quod tu
apud veteres unum
 unum (…) sermonem omnium: nur eine
eumdemque fuisse
einzige Sprache, d.h. das Lateinische
sermonem omnium
 nec alium vulgarem, alium litterarium:
putas, nec alium
keine Vulgärsprache, nur die
vulgarem, alium
Gelehrtensprache (= klass. Latein)
litteratum. Ego autem,
 Ego autem (…) distinctam fuisse
ut nunc est, sic etiam
tunc distinctam fuisse
vulgarem linguam a litterata existimo:
vulgarem linguam a
Ich bin der Auffassung, dass die
litterata existimo.
Vulgärsprache von der Gelehrtensprache
verschieden war
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Die sprachhistorische Auffassung von Leonardo Bruni
Atque latina lingua a
vulgari in multis differt,
plurimum tamen
terminatione, inflexione,
significatione,
constructione et accentu
(…)
 Hinweis auf die Unterschiede
morphosyntaktischen,
semantischen und
phonetischen Unterschiede
zwischen der „latina lingua“
und der „[lingua] vulgaris“
An dem Disput war auch Leon
Battista Alberti beteiligt und
fertigte nach dem Vorbild von
Donatus und Priscianus eine
Grammatik des volgare an…
80
Die Entdeckung der Muttersprache als Objekt der
Grammatikographie
 Vorwort Albertis Grammatichetta (um 1435)
 Que' che affermano la lingua latina non essere stata
comune a tutti e' populi latini, ma solo propria di certi
dotti scolastici, come oggi la vediamo in pochi, credo
deporranno quello errore vedendo questo nostro
opuscolo, in quale io raccolsi l'uso della lingua nostra in
brevissime annotazioni. Qual cosa simile fecero
gl'ingegni grandi e studiosi presso a' Greci prima e po'
presso de e' Latini, e chiamorno queste simili
ammonizioni, atte a scrivere e favellare senza corruttela,
suo nome, grammatica. Questa arte, quale ella sia in la
lingua nostra, leggetemi e intenderetela.
81
Fortsetzung folgt…
82
Bibliographische Hinweise zur Vertiefung
 Zur Geschichte der Grammatikographie
 Jungen, Oliver / Lohnstein, Horst: Geschichte der
Grammatiktheorie, München 2007.
 Zur „Grammatica speculativa“
 http://www.unierfurt.de/sprachwissenschaft/personal/lehmann/CL_Pu
bl/Thomas_von_Erfurt.pdf
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