ABHANDLUNGEN Besondere Punkte im Dreieck Von HERMANN BAUER in Ulm 1. Eigenschaften und Anzahl der besonderen Punkte. Unter den vier besonderen oder "merkwürdigen" Punkten des Dreiecks versteht man bekanntlich den SchwerpunktS, den Umkreismittelpunkt M, den HöhenschnittpunktHund den Inkreismittelpunkt 0. Jeder dieser Punkte ist der gemeinsame Schnittpunkt von drei Transversalen. In S schneiden sich die Seitenhalbierenden, in M die Mittelsenkrechten, in H die Höhen und in 0 die Winkelhalbierenden. Hier soll untersucht werden, ob die Menge dieser vier Punkte eine sinnvolle Ganzheit darstellt, oder ob sich eine aus der Natur der Sache folgende Erweiterung finden läßt. Zu diesem Ende wollen wir zunächst die zugehörigen Transversalen ins Auge fassen und sämtliche bei ihnen vorkommenden Besonderheiten zusammenstellen 1 ). Es gibt deren genau vier. Betrachten wir eine Ecke des Dreiecks und die gegenüberliegende Seite, so können wir diese besonderen Eigenschaften B folgendermaßen formulieren 2) : B1 Die Transversale geht durch die Ecke B~ Sie halbiert den dort befindlichen Winkela) Ba Sie steht auf der Seite senkrecht B4 Sie geht durch die Mitte der Seite Von diesen Besonderheiten besitzt jede der zu untersuchenden Transversalen im allgemeinen Dreieck genau zwei, was durch folgendes Schema dargestellt wirq: Winkelhalbierende Höhe Seitenhalbierende B1. B~ (B~ enthält Bl) B1, Ba Mittelsenkrechte Sind dies alle möglichen Verbindungen 1 Rein kombinatorisch gibt es ja(~) = 6 Paare. Wie steht es mit den beiden restlichen B~, B4 und B~, Ba 1 Da B~ zugleich B1 beinhaltet, sind die Kombinationen B~, B4 bzw. B~, Ba die Zusammenfügung von je drei Besonderheiten, die geometrisch im allgemeinen nicht zu verifizieren sind: B~,B4 (Winkelhalbierende durch die Mitte der Gegenseite) und B~, Ba (Winkelhalbierende senkrecht zur Gegenseite) trifft nur bei speziellen Dreiecken zu. Diese Kopplung von B~ und B1 ist nicht recht befriedigend, und man kann fragen, ob die beiden Bedingungen nicht voneinander zu trennen sind. Dies gelingt sehr leicht, man braucht unsere Besonderheit B~ nur folgendermaßen abzuändern: B 2 • Die Transversale schneidet die beiden die Ecke bildenden Seiten unter gleichem Winkel. B2 alleine fordert also nur, daß die Transversale zur Winkelhalbierenden parallel ist, und erst B1, Bz charakterisiert diese selber. 1) Die Transversalen werden als Geraden aufgefaßt: Va, 'llb, 'llc bezeichnen also Geraden. Auch unter den Dreiecksseiten sind, wenn nichts anderes gesagt wird, Geraden zu verstehen. "Mitte" und "Länge" einer Seite sind aber im üblichen Sinne gemeint. Ebenso bezeichnen a, b, c, wie üblich, die Seitenlä.ngen. 2) Es wird also jeweils nur eine der drei Transversalen betrachtet. 3) Der Sinn des Striches bei B2 ergibt sich aus dem folgenden. 265 Damit ist aber nicht nur der angeführte Mangel beseitigt, sondern, und daraufkommt es uns hier an, die Kombination Bz, B4 ist nun nicht mehr unerfüllbar. Sie bestimmt eine fünfte Transversale. Diese ist parallel zur üblichen Winkelhalbierenden und A c B geht durch die Mitte der gegenüberliegenden Fig. 1. Dreieck mit Seiten-Winkel-HalbieSeite. Wir wollen sie Seiten- Winkel-Halbierenden Va, Vb, Vc rende nennen (kurz: Halbierende) und mit v bezeichnen. Der gemeinsame Schnittpunkt , (siehe Satz 1) der drei Halbierenden heiße V. Unser Schema nimmt nun folgende Gestalt an: Dualität: Winkelhalbierende B1, Bz -+ B4, Ba Mittelsenkrechte Höhe B1, Ba -+ B4, Bz Seiten-Winkel-Halbierende Seitenhalbierende B1, B4 -+ B4, B1 Seitenhalbierende Seiten-Winkel-Halbierende Bz, B4-+ Ba, B1 Höhe Mittelsenkrechte Ba, B4 -+ Bz, B1 Winkelhalbierende Bz, Ba führt zu keiner Transversalen; hier verbleibt eine Lücke im Schema. Aber es ist doch eine gewisse Ordnung entstanden, die dem ersten Schema noch abging. B1 und B4 treten je dreimal, Bz und Ba je zweimal auf, d. h. drei der Transversalen gehen durch eine Ecke, drei durch die Mitte einer Seite, zwei stehen auf einer Seite senkrecht und zwei sind "gleichwinklig" zu zwei Seiten. Hierin zeigt sich eine gewisse Entsprechung oder Dualität zwischen B1 und B4 und zwischen Bz und Ba. Ersetzt man in allen Kombinationen unseres Schemas B1 durch B4, Bz durch Ba und umgekehrt, so geht jede Transversale in ihre duale in diesem Sinne über (siehe rechte Seite des Schemas). Für die Mittelsenkrechte ist es die Winkelhalbierende, für die Höhe die Halbierende und umgekehrt, während die Seitenhalbierende in sich selber übergeht. Diese Entsprechungen lassen sich im weiteren noch ausbauen. (Allerdings handelt es sich dabei keineswegs um eine vollständige Dualität im Sinne der projektiven Geometrie, wo sich zu jedem Satz ein entsprechender finden läßt; doch kann sie recht fruchtbare Anregungen geben.) 2. Eigenschaften der Seiten-Winkel-Halbierenden und ihres Schnittpunkts. Satz 1. Die drei Halbierenden eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt. Die Halbierenden des Dreiecks .A B 0 sind c nämlich zugleich die Winkelhalbierenden des Dreiecks .A' B' 0' (Fig. 2), dem Mittendreieck. Satz 2. Jede Halbierende schneidet alle drei 8 Seiten des Dreiecks. Die entstehenden Ab- A C' Fig. 2. Dreieck mit den drei Halbierenden, ihrem Schnittpunkt V und Mittendreieck 266 schnitte verhalten sich wie die Längen der Seiten, durch deren Mitte die Halbierende nicht geht. Eft>- J\ \ \ \ J Beweis: Der erste Teil des Satzes ist sofort klar, da eine Halbierende zu keiner Dreiecksseite parallel sein kann. Der zweite folgt aus Fig. 3. Dort sind A * B und AB* parallel zu t'c gezogen. Dadurch entstehen zwei ähnliche gleichschenklige Dreiecke LIA*BOund.JAB*O, alsoist (1) A*B:AB*=a:b. Ferner gilt A * B = 2 0' G und AB* = 2 0' I, woraus mit der vorigen Gleichung zusammen 0' G : 0' I = a : b folgt. Fig. 3. Schnitt einer Halbierenden mit den Dreiecksseiten Zusätze. a) Es ist in Fig. 3 (bei b > a; für b < a geht der Be- - - - a+b ,also 2 weis analog) GO= AO- AG= b- - - GO= lb-;al (2) b) Analog zur Außenwinkelhalbierenden gibt es zu jeder Halbierenden eine äußere Halbierende, die zu jener senkrecht steht und ebenfalls durch die Seitenmitte geht. In Fig. 3 ist die zu Vc gehörige äußere Halbierende v; eingezeichnet. Für ihre Schnittpunkte mit den Dreiecksseiten gilt entsprechend zu Satz 1 0' K: 0' L = a: b, was man ganz analog wie (1) beweist. Entsprechend Zusatz a) gilt (3) AK= lb-al 2 c) Aus (2) und (3) folgt KG=a, LI=b. Somit gilt: Die beiden Schnittpunkte der zu einer Dreiecksseite gehörigen Halbierenden (z.B. v~ und vc) mit einer zweiten Seite (z.B. AO) bestimmen auf dieser einen Abschnitt von der Länge der dritten Seite (BO für unser Beispiel), dessen Mitte mit der Seitenmitte (B') zusammenfällt. Hieraus ergibt sich eine einfache Konstruktionsmethode der Halbierenden, wenn man die Seitenmitten hat: Um z.B. Kund G zu erhalten, braucht man nur den Halbkreis mit Mittelpunkt B' und Radius B' 0' zu ziehen (Fig. 3). Fig. 4 zeigt ein Dreieck mit seinen 6 Halbierenden. Wegen Satz 2 und einem bekannten Satz über die Winkelhalbierenden bilden diese 6 Geraden ein Dreieck mit seinen drei Höhen. Auf jeder der Seiten des LI AB 0 erscheinen durch die Seitenmitte halbiert die Längen aller drei Seiten. Z. B. ist GI = a, K L = b, AB = c. c ~ A +- C' Fig. 5. Dreieck mit 0, Sund_ V 8 Fig. 4. Dreieck mit inneren und äußeren Halbierenden 267 Satz 3. 0, Sund V liegen auf einer Geraden und es ist 0 S = 2 · VE (Fig. 5). Der Beweis ergibt sich leicht aus Satz 1. LI A' B' 0' istperspektivähnlich zu LIA BO im Verhältnis 1 :2. Folglich geht die Verbindungsgerade der Inkreismittelpunkte durch das Zentrum S und wird dort im Verhältnis 1 :2 geteilt. Es ergibt sich also eine zweite Euler-Gerade e2 • (Die erste geht bekanntlich durch H, SundMund es ist MS = tHS.) Zusatz. Die vier Punkte 0, H, V, M bilden ein Viereck, dessen Diagonalen, die beiden Euler-Geraden H Mund 0 V, sichinS schneiden und dort im Verhältnis 1:2 geteilt werden (Fig. 6). Weiter ist HO!IVM und H0 = 2·VM. Diese Beziehungen folgen aus der Ähnlichkeit der Dreiecke LI H 0 S und LI M V S im Verhältnis 2 : 1. Satz 4. 0" liege auf der zweiten Euler-Geraden e2 und es sei 0" V= 0 V. Man verdoppelt also 0 V. 0" ist der Inkreismittelpunkt des" Verdopplungsdreiecks" LIA" B" 0" (zu dem LIA B 0 das Mittendreieck ist) ( Fig. 7). c e1 A Fig. 6. Dreieck mit den fünf besonderen Punkten und den Euler-Geraden C" Fig. 7. Dreieck mit Verdopplungsdreieck und deren Inkreisen Beweis. LIA" B"O" ist perspektiv ähnlich zu LIABO im Verhältnis 2:1 mit ZentrumS. Also ist 0" S = 2 · 0 S. Nach Satz 3 ist 0 S = 2 · SV, folglich 0V=OS+SV=3SV und O''V= O''S -SV = 20S -SV=4SV- SV= 3SV. Im Sinne der am Ende des ersten Abschnittes erwähnten Dualität entsprechen sich die beiden Euler-Geraden. Unser Inkreis Ka des Verdopplungsdreiecks entspricht dem FEUERBACH-Kreis der neun Punkte. Ka hat einige erwähnenswerte Eigenschaften. Satz 5. Zieht man von den Ecken des Dreiecks ABO jeweils die zweite4) Tangente an Ka(ta, tb, tc), so erhält man drei Tangentenvierecke (In- oder Ankreisvierecke), die jeweils von zwei dieser Tangenten und zwei Dreiecksseiten gebildet werden. (Die Tangenten gehen natürlich jeweils von den beiden Ecken aus, in denen sich die beiden Dreiecksseiten nicht schneiden.) Das Dreieck wird also auf drei Arten zu einem Tangentenviereck umgeformt, indem eine Seite, bildlich gesprochen, "geknickt" wird. 5) (Fig. 8). Wie man entscheidet, ob ein bestimmtes Viereck Inkreis- oder Ankreisviereck ist, zeigen wir am besten anhand des Vierecks A BE 0 in Fig. 8: Der Berührungskreis muß erstens im Raum des <f. BA 0 liegen .(also rechts von A), zwej.tens muß er 4) Sie kann mit der ersten Tangente (Seite des LI A" B" 0") zusammenfallen. S) Fallen zwei der Tangenten zusammen, so entarten die Vierecke zu Dreiecken. 268 die Tangente tb (das gleiche gilt für t0 } auf der gleichen Seite von E berühren ;:------,-------,::=-"-==-"----'<"-------""? wie Ka (E darf alsonicht zwischen diesen Berührpunkten liegen). Folglich ist unser Viereck ein Inkreisviereck, wobei es natürlich nichts schadet, daß der Winkel bei E überstumpf ist 6). Es folgt der Beweis, daß Viereck ABEO Inkreisviereck ist. (In Klammern fügen wir die Abänderungen für C" den Fall hinzu, daß E außerhalb des Fig. 8. Dreieck mit Tangenten an Kreis Ka Dreiecks liegt. Der Fall des Ankreisvierecks wird ganz ähnlich bewiesen und kann anhand des Vierecks A 0 BG aus Fig. 9 vom Leser selber behandelt werden.) A"' Mit unserer Behauptung gleichwertig ist bekanntlich die Beziehung (4) AO+BE=AB+OE oder BE-OE=c-b. Da, Db, Dc seien die Berührpunkte der Tangenten ta, tb, t0 , Ta, Tb, Tc die Berührpunkte der Seiten des Verdopplungsdreiecks, dann ist BE- OE= BDbc+,EDb- OE = BTb c+lEDc- OE ODe= BTb <+lOTe= (A"Tb- A" B)- (A"Tc- A"O) = c- b. Eine weitere Eigenschaft der Tangenten ta, tb und t0 erkennt man, wenn man die zu den Seiten von LI A" B" 0" parallelen Tangenten an K a ~G zieht. Sie bilden ein zu LI A B 0 /I\ I :\ perspektiv ähnliches Dreieck I I \ I LIA1 B1 01. Das ÄhnlichkeitsI \ zentrum Z liegt auf der zweiI \ ten Euler- Geraden e2 und es I \ I \ ist ZO = 0"0. Hier gilt nun der folgende Satz: '\ II = BTb c+l I 1 F/ 811 - - - - - ...,._,_K , \ Satz 6. AufJ·eder der Geraden A'' A1A, B1 B, 010, die sich in Z ttE--------~ _____ schneiden, liegt der Schnittpunkt -vonzweiender Tangenten ta, tb, tc. (Auf A 1 A derjenige von tb und t0 usw.) 7) Wir beweisen, daß die Gerade A 1 A durch E geht (Fig. 9): Die beiden Vierecke A1LSK und ABEO sind Tangentenvierecke mit paral- \ - fc Fig. 9. Dreieck mit Kr~,, neun Tangenten und drei Vierecken mit Tangierungskreisen 6) Es wäre hier besser, statt von Vierecken von Vierseiten zu sprechen. 7) Sind zwei Tangenten parallel, so sind sie es auch zu der Geraden, die durch ihren Schnittpunkt gehen soll. (Schnittpunkt im "Unendlichen".) Fallen sie zusammen, so kann man jeden ihrer Punkte als ihren Schnittpunkt auffassen. 269 lelen bzw. zusammenfallenden Seiten. Nach den zu Satz 5 angegebenen Kriterien (für die Entscheidung, ob ein Inkreis oder Ankreisviereck vorliegt) liegen die parallelen Tangenten jeweils auf der gleichen Seite ihres Berührungskreises. Folglich sind die beiden Viereckeperspektiv ähnlich mit Zentrum E, woraus sich sofort die Behauptung ergibt. An den Kreis Kc~, sind nun neun Tangenten gezogen. Man kann diese, wenn man will, als ein gewisses, wenn auch nicht strenges Analogon zu den neun Punkten des Feuerbach-Kreises auffassen. Zu den Sätzen 3 bis 6 ist noch zu bemerken, daß sich leicht ganz entsprechende Sätze für die Äußeren Halbierendenschnittpunkte, die Ankreise und ihre J\fittelpunkte aufstellen lassen. Es gibt also noch drei weitere EulerGeraden usw. Wir wollen diesen Abschnitt mit einer Zusammenstellung der wichtigsten Entsprechungen im Sinne unserer Dualität abschließen. Die Halbierenden sind parallel zu den Die Höhen sind parallel zu den J\fittelWinkelhalbierenden. senkrechten. Zieht man durch die J\fitten der Dreiecks- Zieht man durch die Ecken des Dreiecks seiten Parallelen zu den Dreiecksseiten, Parallelen zu den Dreiecksseiten, so erso erhält man das J\fittendreieck. hält man das Verdopplungsdreieck. Seine Seine Winkelhalbierenden sind die Hal- J\fittelsenkrechten sind die Höhen des bierenden des (ursprünglichen) Dreiecks. (ursprünglichen) Dreiecks. H, Sund M liegen auf einer Geraden V, S und 0 liegen auf einer Geraden (Euler-Gerade) und es ist (zweite Euler-Gerade), und es ist HS=2·MS VS=i·OS Halbiert man die Strecke M H, so ist der Verdoppelt man die Strecke 0 V (über erhaltene Punkt M' Umkreismittelpunkt V hinaus), so ist der erhaltene Punkt 0" des J\fittendreiecka (Kreis der neun Inkreismittelpunkt des VerdopplungsPunkte). dreiecks. I I I 3. Sehlußbemerkung. Rückblickend glauben wir gezeigt zu haben, daß die Menge der besonderen Punkte {0, H, S, M} um einen fünften Punkt V erweitert werden kann und erst dadurch eine sinnvolle Gesamtheit wird. Das gilt sowohl bezüglich der besonderen Eigenschaften (zweites Schema in Abschnitt 1) als auch bezüglich der räumlichen Anordnung (Fig. 6). Betrachtet man Inkreismittelpunkt, Schwerpunkt und Umkreismittelpunkt eines Dreiecks und die entsprechenden Punkte des J\fitten- und des Verdopplungsdreiecks, so erhält man ein Schema, das nocheinmal die innere Ordnung der entwickelten Gesamtheit zeigt. Es möge den Abschluß bilden: Mittendreieck V S M' Dreieck 0 S M Verdopplungsdreieck 0" s H B). B) Man könnte also H mit M" und V mit 0' bezeichnen. Aus einer Zeitschrift i :· Erster Versuch einer mathematischen Darstellung der Idee Gottes, dies ist das Thema einer Arbeit von Abba DEOONCHY an der Sorbonne, Paris. Kurzmeldung nach "Paris Match" Nr. 957 vom 12. Aug. 1967 WIGAND 270