~~~~.~~------------------~------~ Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Empires in World History. Power and the Politics 0/ Diffirence © 2010 Jane Burbank, Frederick Cooper by Princeton University Press IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE Das Repertoire der Macht vom alten Rom und China bis heute Aus dem Englischen von Thomas Bertram Jane Burbank ist Professorin für Geschichte und Slawistik, Frederick Cooper Professor für Geschichte und Afrikanistik an der New York University. Von Frederick Cooper erschien bei Campus auf Deutsch Kolonialismus denken. Campus Verlag Frankfurt/New York 280 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE tanz von Verschiedenheit als normale Tatsache des imperialen Lebens erhöhte die Flexibilität der patrimonialen Staatsführung. Solange es keine neuen Ländereien zu verteilen gab, konnte die imperiale Elite neue Leute aufnehmen, die, wie die alten, durch ihre persönlichen Beziehungen zum Souverän kontrolliert würden. Dies war eine kreative Anpassung des Patrimonialismus nach Art der Khane an Russlands territoriale Möglichkeiten, ohne die Gefahrdungen der Souveränität, die europäische Aristokratien darstellten. Die Mischung der Qing sah anders aus - sie waren eher auf Beamte als auf adlige Grundbesitzer und auf eine über Jahrhunderte ausgebildete und verfeinerte Staatskunst angewiesen. Das Ideal einer uralten chinesischen kulturellen Ordnung hielt weder mandschurische Eroberer davon ab, an chinesischen Institutionen Gefallen zu finden, noch Han-Beamten davon, ihre neuen Herrscher zu unterstützen. Ein eurasisches Element war die routinierte Manipulation militärischer und ziviler Befehlsketten und, wie bei den Russen, die Pflege persönlicher Beziehungen zum Kaiser als höchste Quelle von Macht, Ungnade, Leben und Tod. Mit dem Banner-System schärften die Qing das Instrument der Verschiedenheit - indem sie ausgeprägt ethnisierte Einheiten schufen und die Mandschu bis zu einem gewissen Grad von den Han trennten. Sich auf Verschiedenheit einzustellen, nicht sie auszumerzen, war ein Kennzeichen der beiden Regime. Beide imperialen Systeme entwickelten flexible Ideologien, die sich grundlegend von den einheitsstiftenden religiösen Projekten katholischer und protestantischer Imperien unterschieden. Russische Herrscher förderten die Orthodoxie, hielten sie aber unter ihrer Kontrolle, expandierten früh in muslimisches Territorium und versuchten nicht, alle ihre Untertanen zu Christen zu machen (Kapitel 9). Für die Qing genügte das »Mandat des Himmels« als göttliche Legitimation; die Kaiser wechselten ihre eigenen Konfessionen, stellten die verschiedenen Glaubensgemeinschaften unter ihren Schutz und nahmen sich von außen kommender Repräsentanten anderer Religionen besonders an. Beide Systeme schufen Mythen, die ihren eurasischen Ursprung unkenntlich machten. Die Russen standen nicht zu ihrer mongolischen Vergangenheit, vor allem dann nicht, als die Steppe zu einem Gebiet wurde, das sie eroberten. Chinesische Herrscher, sogar jene, die auf ihre eigene Unverwechselbarkeit pochten, stellten die politische Überlieferung als sehr viel kontinuierlicher dar, als sie gewesen war. Dennoch hatten beide Imperien eurasische Fäden zu imperialer Staatskunst verwoben. Jedes besaß einen Kaiser, der, wie ein universaler Khan, über unterschiedliche Gruppen herrschte, als Gesetzgeber fungierte, auf geschulte Bürokraten vertraute, treuen Dienern Titel und Privilegien gewährte oder sie ihnen willkürlich entzog, mit Außenstehenden pragmatisch verfuhr und sich grundlegend voneinander unterscheidende Völker als Bausteine seiner übergeordneten Befehlsgewalt betrachtete. 8 Imperium, Nation und Staatsbürgerschaft in einem revolutionären Zeitalter In Kapitel 6 haben wir dargelegt, dass es im Europa des 17. Jahrhunderts keine Revolution der Souveränität gab: Das Verhältnis von Herrscher, Volk und Territorium blieb mehrdeutig und schwankend. Im 18. Jahrhundert gab es eine Revolution der Vorstellungen von Souveränität. Über das Verhältnis von Revolution und Imperium nachzudenken ist schwierig, weil wir möchten, dass unsere Revolutionen sehr revolutionär sind. In Lehrbüchern wird uns erzählt, dass eine »Epoche« der Könige und Kaiser einer »Epoche« der Nationalstaaten und der Volkssouveränität Platz machte. Aber die neuen Vorstellungen von Souveränität waren wichtig und stießen Diskussionen an, gerade weil sie sich von tatsächlich bestehenden Institutionen und Verfahrensweisen unterschieden, innerhalb von Europa ebenso wie in den überseeischen Teilen seiner Imperien. Innerhalb von Europa selbst standen monarchische und aristokratische Privilegien das gesamte 19. Jahrhundert hindurch weiter in einem gespannten Verhältnis zum Anspruch des >,volkes« auf Rechte und Mitsprache. Nachdem Frankreichs Revolution von 1789 das Prinzip der republikanischen Regierung verkündet hatte, war der französische Staat in dem darauf folgenden Jahrhundert etwa ein Drittel der Zeit republikanisch; meistenteils jedoch wurde Frankreich von Männern regiert, die sich König oder Kaiser nannten. Die Frage, welche Menschen souverän waren, blieb bis Mitte des 20. Jahrhunderts unbeantwortet. Das neue Arsenal politischer Ideen des 18. Jahrhunderts machte es möglich, sich ein Nicht-Imperium vorzustellen: ein einziges Volk als Souverän über ein einziges Territorium. Die konkrete Umsetzung einer solchen VorstellungsweIt fand von Anfang an nicht in national definierten Gemeinwesen innerhalb Europas statt, sondern in einem viel größeren und unsichereren Raum. Das Imperium war die Bühne, nicht das Opfer der Revolutionen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Aber der Charakter der politischen Alternativen innerhalb von Imperien und zu Imperien - änderte sich grundlegend. Großstädte wie London und Paris waren gleichauf hinsichtlich ihres Wohlstands, der teils aus dem Überseehandel und gewinnbringenden Zuckerkolonien stammte; hier entwickel- 282 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE ten Kaufleute, Handwerker und Teile des niederen Adels eine neue interaktive Politik, die das von monarchischen Regimes gepflegte Muster vertikaler Beziehungen durchbrach und die Vorstellung in Frage stellte, dass »Rechte« von oben kamen und an bestimmte Individuen oder Gesamtheiten weitergegeben wurden. Politische Denker in England, Frankreich und anderen Ländern behaupteten stattdessen, dass die Souveränität bei einem >>Volk« liege, dass die Autorität des Herrschers auf dieses Volk zurückgehe und dass er auf dessen Willen reagieren müsse, und zwar mittels Institutionen, die dazu bestimmt seien, diesen Willen auszudrücken. Menschen besaßen Rechte, die sich aus ihrer Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen ergaben, und diese Rechte schränkten die Entscheidungsmöglichkeiten eines Herrschers ein. Im Kontext des Imperiums warfen Vorstellungen von natürlichen Rechten und von einem Gesellschaftsvertrag eine neue Frage auf: Wer war das Volk? Wäre Staatsbürgerschaft »national« - konzentriert auf ein Volk, das sich als eine einzige sprachliche, kulturelle und territoriale Gemeinschaft darstellte -, oder wäre sie »imperial« und würde verschiedene Völker umfassen, welche die Bevölkerung eines Staates ausmachten? Oder konnte die Teilhabe an staatlichen Institutionen eine nationale Gemeinschaft begründen, zumindest in Teilen des Imperiums? Verfügten Menschen, die in abhängige überseeische Territorien ausgewandert waren, über ihre eigenen Repräsentativorgane, oder wären sie an den zentralen beteiligt? Keine der Extrempositionen fand bedingungslose Akzeptanz, weder die totale Statusangleichung aller Menschen im Imperium als Bürger noch die vollständige Reduzierung kolonisierter Bevölkerungen auf rechtlose, ausbeutbare Objekte, die einer Nation dienten, zu der sie nicht gehörten. Gerade die Frage, welche Rechte und welcher Grad an Zugehörigkeit Menschen unterschiedlicher Herkunft anhaftete, die in unterschiedlichen Teilen des Imperiums lebten, blieb brandaktuell. In diesem Kapitel betrachten wir eine Reihe miteinander verknüpfter Revolutionen. Die revolutionäre Spirale begann mit einem interimperialen Konflikt: mit dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763), den manche Historiker als den ersten Weltkrieg bezeichnen. Mit Hannover, Großbritannien und Portugal, die sich mit Preußen verbündeten, sowie Österreich, Russland (anfangs), Schweden, Sachsen und Spanien, die ein Bündnis mit Frankreich eingingen, wurde der Krieg auf dem amerikanischen Kontinent und in Indien, auf allen Meeren und in Europa ausgetragen. Die Kosten des Krieges zwangen seinen Sieger, Großbritannien, die Kontrolle zu verschärfen und mehr Ressourcen aus seinen überseeischen Besitzungen herauszuholen, was sowohl zu wachsender Wut und Mobilisierung unter den Eliten in den dreizehn Kolonien Nordamerikas als auch zu strafferer territorialer Kontrolle in Indien führte, Der Verlust von Kolonien und die Kriegsschulden trieben Frankreich dazu, zu Hause an IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 283 der Steuerschraube zu drehen, und verstärkten die französische Abhängigkeit von seiner lukrativsten verbliebenen Kolonie, Saint-Domingue: beides bedeutsame Schritte hin zu einer revolutionären Situation. Spanien erkannte, wie Großbritannien, die Notwendigkeit der »Reform«, um seine Herrschaft über die amerikanischen Kolonien zu vereinheitlichen und zu festigen, und es verdarb sich überdies sein Verhältnis zu den imperialen Mittelsmännern, auf die es angewiesen war. Die revolutionäre Dynamik in Frankreich endete in einer weiteren energischen Form von Imperiumsbildung, diesmal durch Napoleon, dessen Eroberung Spaniens einen Kampf zwischen in Europa und Hispanoamerika ansässigen Eliten auslöste, der wiederum weitere revolutionäre Mobilisierungen begünstigte. Wären die Diplomaten im Jahr 1756, was die Verwicklung in einen interimperialen Krieg betraf, vorsichtiger gewesen, dann hätten die Revolutionen im britischen, französischen und spanischen Imperium möglicherweise überhaupt nicht stattgefunden, zumindest nicht zu dem Zeitpunkt und in der Form, wie sie sich dann vollzogen. In Frankreich hatte die Revolution den Tod des Monarchen, aber nicht des Imperiums zur Folge. Die Frage, ob die Menschen- und Bürgerrechte sich auf unterschiedliche Kategorien von Menschen im Imperium erstrecken sollten, wurde unausweichlich. In Britisch-Nordamerika entzog die Revolution der Monarchie und dem britischen Imperium dreizehn Kolonien, aber sie schmälerte nicht die Macht des Imperiums, die Politik zu gestalten. Amerikanische Patrioten proklamierten ein »Empire of Liberty«, ein »Reich der Freiheit« wenngleich sie nicht wollten, dass alle Menschen in diesem Imperium in den Genuss seiner Freiheit kamen (Kapitel 9). Auch wenn »nationale« Vorstellungen vom Staat eher die Folge als die Ursache von Revolutionen in Hispanoamerika waren, hielten solche Ideen weder einige ehrgeizige Führer davon ab, ihre eigenen Imperien zu proklamieren, noch führten sie zu einem Ausgleich der akut vorhandenen, in der imperialen Vergangenheit erzeugten Spannungen aufgrund der hierarchischen Ordnung und der kulturellen Verschiedenheit. Brasiliens Weg aus dem portugiesischen Imperium bestand darin, sich zum Imperium aus eigenem Recht zu erklären - unter einem Zweig derselben königlichen Familie, die in Lissabon regierte. Es war ein Prozess, nicht ein bestimmtes Ergebnis, der das Zeitalter revolutionär machte. Neue Ideen, neue Möglichkeiten und neue Kämpfe traten in den Vordergrund, und Imperien standen noch immer vor den alten Problemen: dass sie im Verhältnis zu anderen Imperien handelten und dass sie Eliten anwarben, damit diese überall in ihren mannigfachen Räumen die tägliche Verwaltungsarbeit erledigten, Sobald wir von einer nationenzentrierten historischen Sichtweise Abstand nehmen und von der Annahme, dass die Geschichte sich unaufhaltsam auf die Übereinstimmung eines »Volkes« mit 284 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 285 einem Staat zubewege, können wir uns auf die seit langem anhaltenden Debatten darüber konzentrieren, was Demokratie, Staatsbürgerschaft und Nationalität eigentlich bedeuteten und wann, wo und für wen diese Begriffe galten - innerhalb von Imperien, bei interimperialen Rivalitäten, bei Mobilisierungen gegen Imperien. Wir müssen andere Formen der Revolution berücksichtigen, nicht bloß die, die am 4· Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, oder am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, gefeiert werden, nicht die zielgerichteten Schöpfungen ihrer Macher: die Industrielle Revolution und die Agrarrevolution des 18. und 19. Jahrhunderts, die explosive Entwicklung des Kapitalismus. Für einige politische Denker und Aktivisten erwuchs der Imperialismus aus dem Kapitalismus, aber wie wir gesehen haben, war das Imperium als politische Form in einem kapitalistischen Zeitalter nicht neu. Die Fragen danach, wie das Imperium den Kapitalismus prägte und wie der Kapitalismus das Imperium prägte, regen zu einem weiteren Blick auf die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen und politischen Prozessen an. Bis zum 18. Jahrhundert hat unsere hisrorische Erzählung europäische Staaten gezeigt, die sowohl expandierten als auch versuchten, Fernverbindungen einzuschränken; die von den produktiven und geschäftlichen Interessen anderer Menschen profitierten, insbesondere in Asien; die um Imperien herum agierten, vor allem um das osmanische und das chinesische, die zu mächtig waren, als dass man sie direkt hätte angreifen können; und denen es im größten Teil Afrikas und Südostasiens nicht gelang, ins Landesinnere vorzudringen. Führten die kapitalistische Entwicklung in Europa, insbesondere in Großbritannien, sowie der Reichtum und die technischen Verbesserungen, die sie hervorbrachte, tatsächlich dazu, dass sich die Wege zwischen Europa und dem Rest der Welt einschließlich des chinesischen, russischen und osmanischen Imperiums trennten? Lenkte diese grundlegende ökonomische Veränderung die Geschichte, wie Imperien sich gegenseitig beeinflussten und in Konkurrenzkämpfen miteinander standen, in eine neue Richtung? Der Kapitalismus kann nicht einfach als Marktaustausch oder gar als ein auf Lohnarbeit beruhendes Produktionssystem verstanden werden. Der Kapitalismus war auch ein Werk der Vorstellungskraft. So wie unter der Oberfläche von Darstellungen der »Nation« als natürlicher politischer Einheit eine komplexe und konfliktbeladene Geschichte lag, so war die kapitalistische Entwicklung sowohl ein historischer Prozess, der neue Märkte für Güter und Arbeitskräfte hervorbrachte, als auch ein ideologischer Prozess, der solche Märkte »natürlich« erscheinen ließ. Als im 18. und 19. Jahrhundert Imperien zusammenstießen und miteinander konkurrierten, wurden Fragen akut, die darum kreisten, welche Formen politischen und wirtschaftlichen Verhaltens Atlantischer Ozean VEREINIGTE PROVINZEN VON ZENTRAlAMERIKA 1823-1839 Pazifischer Ozean o Kolonie, 1783 Jahr der Unabhängigkeit PATAGONIEN (zwischen Argentinien und Chile umstritten) $> Karte 8.1: Imperium und Unabhängigkeit auf dem amerikanischen Kontinent 1783-1839 normal und legitim seien. In Kapitel 10 werden wir darlegen, dass Lohnarbeit erst zu einer Norm der britischen Gesellschaft gemacht werden konnte, als man sie von anderen Formen der Arbeit - besonders der Sklaverei - abgrenzte, und dass dieser Prozess der Unterscheidung einer Art von Arbeit von einer anderen im Raum des britischen Imperiums stattfand. In diesem Kapitel zeigen wir, dass die Vorstellung von einern französischen »Bürger«, dem Rechte und Pflichten gegenüber einern Staat zukamen, im Raum des französischen Imperiums ausgearbeitet wurde. Die politischen • 286 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE Ideen, die in der Amerikanischen und in der Französischen Revolution solche offenkundige Kraft entfalteten, lieferten verschiedenen Seiten das Rüstzeug in lang andauernden Kämpfen, die sich darum drehten, wer welche Rechte besaß und an welchem Ort. Das Zeitalter der Revolution lieferte keine endgültige Antwort auf diese Fragen. Auf den folgenden Seiten betrachten wir die uneindeutige, aber immer gegenwärtige Rolle des Imperiums in den Revolutionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts sowie politische Bewegungen, die sich sowohl innerhalb imperialer Systeme als auch gegen sie definierten. Die Franco-Haitianische Revolution Die unübersehbare Menge an wissenschaftlicher Literatur zur Französischen Revolution konzentriert sich in einer Weise auf ein nationales Frankreich, dass die Revolution in den Kolonien beinahe dahinter verschwindet. Doch als die Revolution im Jahr 1789 begann, war Saint-Domingue (Haiti) - das die Hälfte des Zuckers und Kaffees der westlichen Welt produzierte _ von enormer Bedeutung für die französische Wirtschaft und seine besitzende Elite. Die Revolution wurde rasch zu einer Frage des Imperiums. Nation und Revolution im imperialen Europa Heutige Wissenschaftler halten die Französische Revolution nicht für das Werk eines kollektiven Akteurs - ob nun die »Bourgeoisie« oder die ,,volksklassen« -, sondern für einen dynamischen Prozess, angetrieben von der Interaktion zahlreicher Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Anliegen. Eine starke Monarchie hatte staatliche Institutionen und patrimoniale Beziehungen zu Eliten in ganz Frankreich aufgebaut, intensiver als in vielen europäischen Staaten des 18. Jahrhunderts. Aber Aristokraten ärgerten sich über die königliche Macht, nichtadlige Haus- und Grundbesitzer über die Privilegien der Aristokratie und Bauern über die Abgaben und Dienste, die sie Gutsbesitzern schuldeten. Die ältere, hierarchische, patriarchalische Vorstellung von der französischen Gesellschaft und der Schirmherrschaft königlicher und adliger Gönner entsprach immer weniger dem wachsenden Selbstbewusstsein der Angehörigen höherer Berufe in den Städten oder von Frauen aus der Oberschicht, die sich an gesellschaftlichen Begegnungsorten (wie Cafes, Salons und politischen Versammlungen) als Konsumenten und aktive Teilnehmer verstanden. Zeitschriften, Zeitungen, Bücher und Skandalblätter verzeichne- IMPERIUM. NATION UND STAATSSÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 287 ten starke Zuwächse und verbreiteten das Gedankengut der Aufklärung unter der gebildeten Bevölkerung und jenen, denen diese Schriften laut vorgelesen wurden. Mit der Erweiterung des Kontextes für die politische Debatte trat der "Bürger« in den Vordergrund. Bei der Unterscheidung der eigenen Bürgerschaft von »Ausländern« war das französische Ancien Regime weiter gegangen als andere europäische Staaten, aber seine Verwaltungsbeamten hielten den Bürger für ein Subjekt staatlicher Souveränität, nicht für ihre Quelle. Die politischen Aktivisten des späten 18. Jahrhunderts entwickelten eine andere Vision. Sie stützten sich auf ältere Vorstellungen vom politisch engagierten Bürger, wobei sie Präzedenzfalle aus griechischen Städten, der Römischen Republik und den Stadtstaaten der Renaissance anführten. Wie in der Vergangenheit war das politisierte Ideal der Staatsbürgerschaft nicht allumfassend, denn es bedeutete die Fähigkeit und den Willen, sich in staatsbürgerlichen Angelegenheiten zu betätigen. In bestimmten Momenten drängte der Pariser »Pöbel« politische Führer in radikale Richtungen; in anderen waren es elitäre Reformer, die Ideen bis ins Extrem trieben. Der revolutionäre Moment in Frankreich wurde nicht nur durch interne Veränderungen des politischen Bewusstseins und der politischen Organisation ausgelöst, sondern auch durch die Belastungen des interimperialen Konflikts. Frankreich verlor den Siebenjährigen Krieg und mit ihm seine kanadischen Kolonien und so gut wie alle Außenposten seiner südasiatischen Kolonien, behielt aber die enorme Gewinne bringenden Zuckerinseln, vor allem SaintDomingue. Sieger und Verlierer standen am Ende mit enormen Schulden da, und wenn Großbritannien versuchen konnte, mehr aus seinen Kolonien herauszuholen - mit Folgen, die seine politischen Führer nicht absahen -, so musste Frankreich sich nach innen wenden. Während Forderungen nach mehr Steuern von oben nach unten durch die französische Hierarchie weitergereicht wurden, drängte der Widerstand von unten nach oben. Verwundbar und auf Zusammenarbeit angewiesen, berief Ludwig XVI. für den Mai 1789 eine beratende Versammlung ein, die Generalstände (Etats generaux), etwas, worauf immer mächtigere französische Könige seit 1614 verzichtet hatten. Die Versammlung repräsentierte die drei Stände, in welche die französische Gesellschaft eingeteilt war - Klerus, Adel und Bürgertum. Nicht einverstanden mit den alten Bedingungen, unter denen die Generalstände zusammengetreten waren, forderten die Abgeordneten des »Dritten Standes« (tiers etat) die Abstimmung nach Köpfen und nicht nach Ständen und erklärten sich am 17. Juni zur Nationalversammlung, die schließlich zur »verfassunggebenden« Versammlung (constituante) wurde. Hier vernahm man die Behauptung, dass das Volk der Souverän sei, nicht der König. • 288 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE Am 14. Juli 1789 stürmte eine Menschenmenge die Bastille und zerstörte sie, während sich in ländlichen Gebieten viele Bauern weigerten, Abgaben an Grundbesitzer zu zahlen, und Herrenhäuser plünderten, Die Nationalversammlung wurde zur De-facto-Regierung; sie schaffte den Adel ab und reformierte das System ländlicher Abgaben. Am 26. August verabschiedete sie die »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«, die in Artikel 3 verkündete: »Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaften, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht.« Die Nationalversammlung betonte die Gleichheit vor dem Gesetz und die parlamentarische Regierung. Aber was war die französische Nation? Die Revolution kollidierte bald mit dem nicht-nationalen Charakter der europäischen Politik. Im Jahr 1791 drohten Österreich (woher die Königin Marie Antoinette stammte) und Preußen, in Frankreich einzumarschieren, Diese Drohung erweckte in den Leuten das Gefühl, das Vaterland sei in Gefahr (»Ja patrie en danger«), und mündete in den Versuch, eine Freiwilligenarmee aus Bürgern aufzustellen. Aber der nationale Gedanke war nicht stark genug, und 1793 wurde bei der Aushebung von Soldaten dem Geist der Staatsbürgerschaft durch Zwang nachgeholfen; die allgemeine Wehrpflicht für alle unverheirateten Männer zwischen 18 und 25 Jahren folgte (Anordnung der Levee en masse durch Konvent und Wohlfahrtsausschuss im August 1793). Drohungen aus dem Ausland und die Radikalisierung des revolutionären Regimes zu Hause (einschließlich der Hinrichtung von König und Königin) waren Teil einer explosiven Mischung, die zu Wellen des Terrors und Gegenterrors und anschließend zu einer konservativen Wende führte, Frankreich war unterdessen zur Nation und Republik erklärt worden, und die Verfassung sowie eine Fülle revolutionärer Schriften verankerten eine Ideologie des Republikanismus, die seitdem ebenso beschworen wie missachtet worden ist. Die Macht lag qua seiner gewählten Vertreter beim Volk; der Staat war »eins und unteilbar«; seine tragenden Prinzipien waren Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Dies war die kühne Erklärung einer neuen Art von Souveränität, aber die Grenzen gleichberechtigter Bürgerschaft wurden von Anfang an in Frage gestellt. Frauen galten als Bürgerinnen, aber nicht als »aktive« - sie erhielten erst 1944 das Wahlrecht. Ob das republikanische Ideal sowohl soziale und ökonomische als auch politische Gleichwertigkeit bedeutete, wurde diskutiert. Viele Haus- und Grundbesitzer fürchteten, dass zu viel politische Teilhabe seitens der Besitzlosen nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch die soziale Ordnung gefährden würde. Die Angst vor gesellschaftlichem Chaos als Tarnung nutzend, konnte sich eine stärker autoritär ausgerichtete Regierung in IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 28g die nachrevolutionäre Politik einschleichen; 1797 weigerte sich die neue Exekutive, das Direktorium, eine Wahlniederlage zu akzeptieren. Die Spannung drohte völlig zu eskalieren, bis General Napoleon Bonaparte durch den Staatsstreich vom 18. Brumaire VIII des Republikanischen Kalenders (9. November 1799) das Direktorium auflöste und eine provisorische Regierung bildete. Im Jahr 1804 ernannte er sich in einer spektakulären Aufhebung des revolutionären Vokabulars selbst zum »Kaiser der Franzosen«. Staatsbürgerschajt und die Politik der Differenz imjranzösischen Imperium Werfen wir nun einen Blick auf das, was gewöhnlich aus der historischen Erzählung ausgelassen wird. Um das europäische Frankreich lässt sich nicht einfach eine Linie ziehen, um es exakt abzugrenzen. Weder die Philosophie der Aufklärung noch die revolutionäre Praxis lieferten eine klare Vorstellung davon, wer das französische Volk war oder wie die Beziehung des europäischen Frankreich zum überseeischen Frankreich aussehen sollte. Einige politische Denker, die beharrlich behaupteten, sie würden sich bei ihrer Betrachtung der Gesellschaft auf die Vernunft stützen, entwickelten Klassifizierungen von Volksgruppen, die erklären sollten, warum afrikanische und asiatische Völker nicht am bürgerlichen Leben teilhaben konnten. Andere wollten Besonderheit unter Menschen nicht gelten lassen und setzten voraus, dass ihre eigenen Vorstellungen vom Universellen für alle gelten sollten. Wieder andere nutzten ihre aufgeklärte Vernunft, um eine differenziertere Sichtweise menschlicher Verschiedenheit zu liefern. Für Denis Diderot bedeutete das Eintreten für universelle Werte, die Integrität unterschiedlicher Kulturen anzuerkennen. Aus seiner Sicht war es illegitim, wenn die Europäer auf dem Recht bestanden, andere zu kolonisieren - ein Zeichen für den moralischen Bankrott der europäischen Staaten. Abbe Gn!goire lehnte die Kolonisierung ab, wie sie zu seiner Zeit praktiziert wurde. Er verabscheute die Sklaverei, nicht aber die Bekehrung und »Zivilisierung« anderer Menschen. Im Jahr 1788 gründeten führende Vertreter der Aufklärung die Sociite des Amis des Noirs, die »Gesellschaft der Freunde der Schwarzen«, um für die Sache der Sklaven im französischen Imperium einzutreten. Obwohl sie über die Bedeutung kultureller Verschiedenheit nicht einer Meinung waren, begrüßten diese Theoretiker und Aktivisten die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen und bestritten, dass Menschen in den Kolonien willkürlich versklavt oder ausgebeutet werden durften. Die meisten Abolitionisten sprachen sich für eine allmähliche Emanzipation aus, was die 290 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE imperiale Wirtschaft von ihren entwürdigenden Praktiken abbrächte, ohne sozialen Aufruhr nach sich zu ziehen. Aber die Intellektuellen des Mutterlandes waren nicht die Einzigen, die sich für das Verhältnis der Kolonien zur Revolution interessierten. Weiße Pflanzer in Saint-Domingue setzten die Staatsbürgerschaftsdoktrin in Forderungen nach einem gewissen Maß an Selbstverwaltung um. Ihre nach Paris entsandten Delegationen wollten durchsetzen, dass koloniale Versammlungen die Vollmacht erhielten, Eigentum und sozialen Status betreffende Angelegenheiten innerhalb der Kolonie zu regeln, wobei sie nachdrücklich betonten, dass Kolonien, die Sklaven und Freie, Afrikaner und Europäer vermischten, nicht nach denselben Grundsätzen regiert werden könnten, die das europäische Frankreich bestimmten. Aber die revolutionären Versammlungen in Paris erfuhren auch von freien gens de couleur (»Farbigen«): grundbesitzenden und sklavenhaltenden Bewohnern der Karibischen Inseln, die Kinder französischer Väter und versklavter Mütter oder ehemaliger Sklavenmütter waren. In Saint-Domingue stellten diese Mulatten eine beachtliche Gruppe dar, der ein Drittel der Plantagen der Kolonie und ein Viertel der Sklaven gehörte - und vielen mangelte es nicht an Geld, Bildung oder Beziehungen nach Paris. Die Staatsbürgerschaft, betonten sie nachdrücklich, dürfe nicht durch die Hautfarbe eingeschränkt werden. Die Pariser Versammlungen versuchten Zeit zu schinden. Alle Beteiligten, die Pariser Revolutionäre inbegriffen, mussten ihre Positionen überdenken, als die Sklaven sich im August 1791 in den Kampf stürzten. Zwei Drittel der Sklaven von Saint-Domingue waren gebürtige Afrikaner, und die Revolte ging aus Netzwerken hervor, die sowohl durch afrikanische religiöse Gemeinsamkeiten als auch durch die Kenntnis der Pariser Ereignisse geprägt waren. In einer ganzen Region der Insel, der Plaine du Nord, brannten die Aufrührer Plantagen nieder und ermordeten Pflanzer. Die Revolution von Saint-Domingue zerfiel binnen kurzem in zahlreiche zeitgleiche Kämpfe: zwischen Royalisten und Patrioten, zwischen Weißen und gens de couleur, zwischen Sklaven und Sklavenhaltern. Untergruppen jeder Kategorie verbündeten sich manchmal mit anderen, wobei sie häufig die Seiten wechselten. Politisches Handeln wurde nicht durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie bestimmt. Der revolutionäre Staat fürchtete, eine wertvolle Kolonie an die royalistische Konterrevolution oder an die rivalisierenden Imperien Englands oder Spaniens zu verlieren. Die gens de couleur erschienen den Führern der französischen Republik nun als ein notwendiger Bundesgenosse. Im März 179 2 erklärte die Regierung in Paris sich einverstanden, alle freien Weißen und Mulatten zu französischen Staatsbürgern mit gleichen politischen Rechten zu IMPERIUM. NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 291 erklären. Im Jahr 1794 nahm einer aus ihrer Gruppe, Jean-Baptiste Belley, als Delegierter aus Saint-Domingue einen Sitz im französischen Konvent ein. Die Tür zur imperialen Staatsbürgerschaft stand nun einen Spalt offen. Sie öffnete sich weiter, als die französische Regierung feststellte, dass sie den mehrseitigen Konflikt nicht kontrollieren konnte, wenn sie nicht die Unterstützung der Sklaven gewann. Im April 1793 beschloss der französische Regierungskommissar in Saint-Domingue, die Sklaven zu befreien und sie zu Staatsbürgern zu erklären. Paris - wo die revolutionäre Dynamik ebenfalls in eine radikalere Phase eingetreten war - ratifizierte seine Verordnung und dehnte sie im nächsten Jahr auf andere Kolonien aus. Die Direktorialverfassung von 1795 erklärte, die Kolonien seien »Bestandteile der Republik«. Frankreich wurde, zumindest eine Zeit lang, ein Imperium von Bürgern. Dass Sklaven benötigt wurden, um das Militär zu verstärken, war nicht gerade neu in der Geschichte der Imperien: Schon islamische und andere Imperien hatte diese Taktik angewandt. Und Sklavenkämpfer waren in der Karibik schon früher bei imperialen Rivalitäten eingesetzt worden. Aber die praktische Seite entsprach nun einem Prinzip, das in der Tat neu war: der Staatsbürgerschaft. Im Gegensatz zur persönlichen Abhängigkeit des kämpfenden Sklaven vom Herrn war die Beteiligung der ehemaligen Sklaven von Saint-Domingue an der französischen Armee mit ihrer neuen Rechtsstellung verknüpft. Die Revolution von Saint-Domingue war folglich eine Bewegung für Freiheit innerhalb des Imperiums, bevor sie zu einer Bewegung gegen das Imperium wurde. Der am meisten verehrte Anführer der Sklaven, Frans;ois-Dominique Toussaint L'Ouverture, verkörperte die Unklarheiten der Situation. Der gebildete und qualifizierte befreite Sklave schloss sich dem Sklavenaufstand schon früh an und stieg rasch an dessen Spitze auf. Eine Zeit lang erwog er, sich mit den Spaniern zu verbünden, aber als Frankreich, nicht Spanien, sich auf die Abschaffung der Sklaverei zu bewegte, wechselte er zur französischen Seite über, wo er Offizier der Republik und 1797 der De-facto-Herrscher von Französisch-Saint-Domingue wurde, der gegen Royalisten und rivalisierende Imperien und für die Verteidigung der frisch beanspruchten Freiheit der ehemaligen Sklaven kämpfte. Im Jahr 180! schrieb Toussaint, nach wie vor seine Treue zu Frankreich verkündend, eine neue Verfassung für Saint-Domingue. Weder die französischen Führer noch Toussaint wollten erleben, dass die Zuckerproduktion zum Erliegen kam, und sie sahen keine Alternative zu den wachsamen Augen von Grundbesitzern und Beamten, zumindest so lange nicht, wie die ehemaligen Sklaven nicht die Selbstdisziplin des »freien« Arbeiters erlangt hätten. Nicht alle ehemaligen Sklaven waren dieser Meinung; es gab Aufstände innerhalb der Revolution, die sich an Fragen der Arbeit und • 292 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE der Autonomie entzündeten, und obendrein einen alltäglichen Kampf, weil ehemalige Sklaven die Kontrolle über ihr Arbeitsleben anstrebten und darauf beharrten, dass der Staat sie - beispielsweise bei behördlichen Registrierungen von Namen, Eheschließungen und Todesfällen - genauso behandelte wie weiße Bürger. Wenn die Aktionen der Bevölkerung von Saint-Domingue die Pariser Revolutionäre zwangen, ständig zu überdenken, was sie mit Staatsbürgerschaft meinten, dann hatte umgekehrt die Dynamik des Imperiums in Europa eine gewaltige Wirkung auf die Kolonien. Als Napoleon an die Macht kam, revidierte er die stolpernden Schritte hin zur inklusiven, reichsweiten Staatsbürgerschaft. Im überseeischen Imperium war Napoleon ein gründlicher Restaurationspolitiker - was seine persönlichen Beziehungen zu Siedlern des Ancien Regime in der Karibik widerspiegelte (welche die Sklavenhalterfamilie seiner ersten Frau Josephine einschlossen, sich aber nicht auf sie beschränkten). Er wollte nicht nur die vorrevolutionäre Sonderstellung der Kolonien wiederherstellen, sondern auch die Sklaverei wieder einführen. Zu diesem Zweck entsandte er im Jahr 1802 eine Armee nach Saint-Domingue. Er verhehlte seine Absicht ausreichend, um Taussaint, der nach wie vor im Rahmen der imperialen Staatsbürgerschaft agierte, zur Kapitulation zu veranlassen. Taussaint wurde verhaftet und nach Frankreich deportiert, wo er 1803 in der Haft auf Fort de Joux bei Pontarlier starb. Es war die napoleonische Spielart des Imperiums - nicht eine nationale oder republikanische -, die Taussaints Vision der Emanzipation innerhalb Frankreichs beendete. Andere Generäle sklavischer Herkunft setzten den Kampf fort. Die Armeen ehemaliger Sklaven erwiesen sich im Verein mit der Verheerung, die das Gelbfieber in Napoleons Armee anrichtete, als zu viel für den großen Imperator. 1803 gab er auf. Im Jahr darauf riefen die Sieger die Republik Haiti aus. Ein Kampf um Freiheit und Staatsbürgerschaft innerhalb eines revolutionären Imperiums endete also damit, dass Haiti sich aus dem Imperium verabschiedete. Frankreichs andere Zuckerkolonien, Guadeloupe und Martinique, wo Aufstände eingedämmt worden waren, mussten 44 weitere Jahre der Sklaverei erdulden, bis eine andere revolutionäre Situation im europäischen Frankreich im Verein mit einer neuen Runde von Aufständen in den Plantagenkolonien die verbliebenen Sklaven des französischen Imperiums endgültig zu Staatsbürgern machte. Haitis Unabhängigkeit stellte ein neues Problem für die Imperien der Welt dar. Gehörte Haiti zu den Vorreitern von Emanzipation und DekoIonisierung? Oder war es ein Symbol für die Gefahren des Kontrollverlusts über afrikanische Sklaven? Nicht nur Frankreich, sondern auch andere Imperialstaaten hatten gute Gründe, dafür zu sorgen, dass Haiti Paria blieb und nicht IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 293 Vorreiter. Erst 1825 gewährte Frankreich Haiti die bedingte Anerkennung als souveräner Staat, und dies auch nur, nachdem Haiti zugestimmt hatte, Frankreich für seine angeblichen Verluste finanziell zu entschädigen. Die volle Anerkennung folgte schließlich 1838. Die Vereinigten Staaten erkannten Haiti 1862 an, inmitten ihres eigenen Bürgerkrieges. Als der aus der ehemaligen britischen Sklavenkolonie Trinidad gebürtige C. L. R. James im Jahr 1938 seine berühmte Geschichte der Revolution von Saint-Domingue schrieb, Die schwarzen Jakobiner,l versuchte er Haiti abermals zum Vorreiter der Befreiung zu machen und sprach sich unter Rückgriff auf das Beispiel der jungen Republik für das Ende des Kolonialismus auf der ganzen Welt aus. Im Jahr 1946 beschwor der afrikanische Politiker Leopold Senghor, der nach dem Krieg in die französische Nationalversammlung gewählt worden war, den 150 Jahre zurückliegenden Augenblick, als Frankreich die Staatsbürgerschaft schwarzer Sklaven anerkannte. In Paris versuchte er andere Abgeordnete zu überzeugen, sich auf das Versprechen des revolutionären Frankreich zu besinnen und alle Untertanen in den Kolonien zu Staatsbürgern zu machen, mit denselben Rechten, wie sie die Bürger des europäischen Frankreich hatten. Die Franco-Haitianische Revolution von 1789 bis 1804 konfrontierte die Welt mit Fragen nach dem Verhältnis von Staatsbürgerschaft und Freiheit - innerhalb und außerhalb von Imperien -, Themen, die nach wie vor diskutiert werden. Napoleon Heute ruht Napoleon in seinem prunkvollen Sarkophag in Paris, ein paar Kilometer entfernt vom Are de Triomphe, seinem Monument für sich selbst und für die glorreichen Schlachten, durch die er den größten Teil Europas eroberte. Die französische Nation, wie sie inzwischen ist, hat sich die napoleonische Legende angeeignet. Aber Napoleons Geschichte passt schlecht zur rückblickenden Beteuerung eines französischen Nationalstaates. Da Napoleons Eroberungen - die auf ihrem Höhepunkt etwa vierzig Prozent der Bevölkerung Europas umfassten - allgemein bekannt sind, wollen wir uns auf zwei Fragen konzentrieren: Repräsentierte sein Imperium eine neue, nachrevolutionäre Vorstellung von Imperialpolitik, weniger aristokratisch und hierarchisch, zentralistischer und bürokratischer? Und wie französisch war das französische Imperium unter Napoleon? Für eine neue Art von Imperium spricht Napoleons augenscheinliches Interesse daran, den Rationalismus der Aufklärung in ein logisch geplantes, inte- M 294 IMPERIEN DER WElTGESCHICHTE griertes. zentralistisches Verwaltungssystem umzusetzen. besetzt mit Leuten. die ungeachtet ihres sozialen Status. sondern aufgrund ihrer Kompetenz und Loyalität zum Staat ausgewählt wurden. Die Wissenschaft _ einschließlich Geografie. Kartografie. Statistik und Ethnografie - würde die Staatsbeamten leiten und die Selbstwahrnehmung der Bevölkerung prägen. Die Rolle des Staates bei der Definition und Überwachung der Gesellschaft durch eine einzige Rechtsordnung wurde im Code Napoleon verkörpert. Das Gesetzbuch war systematischer als Justinians Kompendium des 6. Jahrhunderts (Kapitel 3); es legte sowohl öffentliches als auch privates Recht dar. das von Justizorganen auf einheitliche und neutrale - und vor allem berechenbare - Weise angewendet werden sollte. Die Besteuerung war hoch. aber aufgrund der systematischen Eintragung von Grundbesitz war ihre Grundlage transparent. Eine direkte Beziehung des Bürgers zum Souverän sollte die fest verwurzelten Privilegien von Adel und Klerus. die willkürlichen. korrupten Methoden der vorrevolutionären Monarchie ebenso ersetzen wie die Ehrfurcht gegenüber lokalen Eliten und lokalen Traditionen. Den einzigen symbolischen Rivalen _ seit langem ohne jegliche echte Macht - bei seinen Forderungen nach allumfassender imperialer Autorität in Europa beseitigte Napoleon: das Heilige Römische Reich. Natürlich war Napoleon ein Diktator und kein Demokrat. aber in der Argumentation dieses Buches verkörpert sein imperiales Regime die Ideale einer hinter ihrem Führer geeinten französischen Bürgerschaft und einer rationalisierten Bürokratie - zwei Produkte von Revolution und Aufklärung. über ganz Europa bis nach Russland ausgeweitet. Für die Rückbesinnung auf eine ältere Erscheinungsform des Imperiums spricht zunächst die Symbolik staatlicher Macht. die Napoleon beschwor und an der nichts auffallender war als seine Annahme des Kaisertitels. seine öffentliche Zurschaustellung von Thronen. Roben und Kronen und dass er den Papst dazu bewegte. die Krönung zu vollziehen _ selbst angesichts der Wendung. die Napoleon der Zeremonie gab. als er dem Papst die Krone aus den Händen nahm und sie sich selbst aufs Haupt setzte. All dies erinnerte absichtlich und offenkundig an die Krönung Karls des Großen eintausend Jahre früher. so wie Napoleons Triumphbögen Anspruch auf das Erbe Roms erhoben. Der Bruch der Revolution mit dem auf die Monarchie und die Aristokratie ausgerichteten alten Staat wurde in zweierlei Hinsicht grundlegender gefährdet. Da war erstens die Vergabe von Adelstiteln und dotations (in männlicher Linie vererbbarer Grundbesitz. der denjenigen zugeteilt wurde. die dem Regime dienten) durch Napoleon an viele seiner Generäle und führenden Anhänger. darunter eine beträchtliche Anzahl von Leuten. die schon unter dem Ancien Regime Titel innegehabt hatten. sowie an Eliten in einigen IMPERIUM, NATION UND STAATSSÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 295 Moskau /'"'~~ Napoleo~s Route nach Moskau \ RUSSLAND Atlantischer Ozean Karte 8.2: Napoleonisches Reich in Europa eroberten Territorien. wodurch das geschaffen (oder wiedererschaffen) wurde. was ein Historiker als »imperialen Adel« bezeichnet. 2 Zweitens wandte Napoleon bei seinen Eroberungen eine weitere klassische Strategie imperialer Herrscher an: unterschiedliche Gebiete unterschiedlich regieren. Je nach Kontext bedeutete dies manchmal- in Norditalien beispielsweise -. ein neues Territorium in die elementare Verwaltungsstruktur Frankreichs zu integrieren und vereinheitlichte Gesetze und bürokratische Verfahrensweisen durchzusetzen. während es ein anderes Mal - im Fall des Herzogtums Warschau beispielsweise - bedeuten konnte. den lokalen Adel einzubeziehen. statt ihn auszubooten, Solche Strategien standen in Widerspruch zu den Gleichheitsvorstellungen. welche die Revolution geHirdert hatte. Und der Code Napoleon war ein patriarchalisches Gesetzbuch. welches die männliche Autorität innerhalb der Haushalte der Bürger stärkte. Ein imperialer Blickwinkel hilft uns. die falsche Dichotomie zwischen Kontinuität und Wandel zu vermeiden. Napoleon stand vor Herausforderungen. wie sie allen Imperien gemeinsam waren: der Notwendigkeit. eine Balance zu 296 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE finden zwischen der Einbeziehung besiegter Könige und Fürsten und einer hierarchisch strukturierten Autorität, und eine praktikable Strategie zu entwickeln, die sich irgendwo zwischen der Schaffung einer homogenisierten Elite und der gesonderten Regierung jedes Imperiumsteils bewegte. Andere imperiale Herrscher hatten es mit der Einsetzung von Beamten versucht, die auf die eine oder andere Art distanziert waren von der Gesellschaft, die sie verwalteten; die Chinesen hatten lange vor der Aufklärung einer sorgfältig ausgewählten und ausgebildeten Beamtenschaft den Weg geebnet. Napoleon brachte neue Vorstellungen von Regierung mit klassischen imperialen Strategien in Einklang. Michael Broers behauptet, dass Napoleon sich ein »inneres Imperium« vorstellte - das heutige Frankreich abzüglich der Vendee, mit den Niederlanden, den Staaten des Rheinbundes, der Schweiz, einem Großteil von Norditalien -, in dem ein zivilisierendes, zentralisierendes, bürokratisierendes Herrschaftsmodell am rigorosesten durchgesetzt wurde.3 Dann käme ein »äußeres Imperium«, in dem lokale Adelsgeschlechter eine viel stärkere Rolle spielten und die napoleonischen Reformen - insbesondere mit Blick auf die Privilegien der Adligen - abgeschwächt wurden. Napoleon setzte seine Verwandten als Monarchen ein: die Brüder Joseph, Louis und Jeröme in Neapel/Spanien, den Niederlanden, Westfalen und Schwager Joachim Murat in Berg. Im Rheinbund hatten sechzehn Fürsten nominell das Sagen in bestimmten Territorien, die locker zusammengeschlossen und mit Napoleons eigenen Beamten durchsetzt waren. In Wirklichkeit vereinigte er kleinere Königreiche und Herzogtümer zu größeren Einheiten, alle unter dem Dach des napoleonischen Imperiums. Die zahlreichen Kanäle der Staatsgewalt - deren wichtigstes, aber nicht einziges Instrument, um Informationen nach oben und Befehle nach unten weiterzugeben, die Präfekten nach römischem Vorbild waren - dienten als Struktur, in welcher der Kaiser, wie in der Vergangenheit, der König der Könige war. Zu Napoleons potenziellen Verbündeten, Unterkönigen oder Feinden zählten die Habsburger - mit ihren eigenen imperialen Ansprüchen. Manchmal kämpften die habsburgischen Herrscher gegen Napoleon, manchmal - wenn sie seine überlegene Macht anerkannten - verbündeten sie sich mit ihm. Eine habsburgische Prinzessin wurde Napoleons Kaiserin, nachdem er sich von Josephine hatte scheiden lassen. Habsburgische Ansprüche auf einen imperialen Status wurden bedeutungslos angesichts der militärischen Dominanz Napoleons. Aber für die österreichische Elite war Napoleon ein imperialer Herrscher, mit oder unter dem man leben konnte, lieber als unter zwei anderen angrenzenden Imperien: dem osmanischen und dem russischen. Das Kernproblem des napoleonischen Apparats war die Aufrechterhaltung der Armee. Das revolutionäre Ideal- eine der Nation dienende Bürgerarmee war gefährdet worden, schon bevor Napoleon die Macht übernahm. Die Leute IMPERIUM, NATION UND STAATSSÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 297 Abb. 8.1: Napoleon auf seinem kaiserlichen Thron, Jean·Auguste-Dominique Ingres. 1806. Musee de l'Armee, Paris. Bridgeman Art Library. Gettylmages. kämpften für ihr Land, weil sie mussten. Wie Peter 1. in Russland ein Jahrhundert zuvor, systematisierte Napoleon die Wehrpflicht. Diese Maßnahme brachte es mit sich, dass die militärische und administrative Staatsmacht bis zur Ebene des Dorfes durchdrang, denn es waren die ländlichen Gebiete, aus denen die meisten Wehrpflichtigen kommen mussten. Napoleon postierte zusätzlich zu einer Verwaltung unter einem Präfekten in jedem Departement seine Gendarmerie, eine militarisierte Polizei. Die Wehrpflicht wurde nicht nur auf die vornapoleonischen Grenzen Frankreichs angewendet, sondern auch auf eroberte Territorien. Der Widerstand 298 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE gegen die Wehrpflicht war in den Bergdörfern Zentralfrankreichs größer als in nicht-französischsprachigen Gebieten wie der Rheinregion, in Teilen Italiens und in Westfalen, Im Großen und Ganzen zermürbte der Staatsapparat die Trotzhaltung und schuf eine Armee, die mehr imperial als französisch war, Nur ein Drittel der gewaltigen Armee, die 1812 Russland angriff, stammte aus »Frankreich«, Dies führt uns zu der zweiten Frage: Wie französisch war das Imperium? Die Sprache der Verwaltung war Französisch, und viele - aber nicht alle - in nichtfranzösischsprachigen Gebieten eingesetzte Präfekten und militärische Obrigkeiten stammten aus Frankreich. Nach und nach wurden lokale Eliten für jene Funktionen eingestellt, die durch französische Inhaber dieser Positionen definiert worden waren. Einige Autoren sprechen von einem französischen "kulturellen Imperialismus«, dem Länder wie Italien ausgesetzt gewesen seien, wo napoleonische Beamte die Menschen für rückständig hielten und glaubten, sie bedürften einer zivilisierenden, gegen den Einfluss von Priestern und reaktionären Aristokraten gerichteten Einwirkung: nämlich des französischen Gesetzbuchs, fähiger Staatsbeamter und einer wissenschaftlichen Einstellung. Doch ein Großteil »Frankreichs« wurde zur selben Zeit »zivilisiert« wie Regionen, die Italienisch oder Deutsch sprachen. Teile Westfrankreichs, die Vendee, wurden nachsichtig regiert, weil die Region als aufmüpfig und gefährlich galt, während Polen ebenfalls nachsichtig regiert wurde, weil man seinen Adel einbeziehen wollte. In einigen besetzten Ländern fanden Eliten gute Gründe, einem Weg zu folgen, der in vielen auf Rom zurückgehenden Imperien eingeschlagen wurde: dem Weg des gelegentlichen Entgegenkommens. Die rationalisierende Seite der napoleonischen Verwaltung sprach zumindest eine Zeit lang bestimmte liberal gesinnte, handels- und wirtschaftsorientierte Leute an, die sich ihren antiaristokratischen, antiklerikalen Zug zu eigen machten. Aber Napoleon identifizierte eine stabile soziale Ordnung stark mit Landbesitz - obschon nicht mit Royalisten und Feudalherren -, und grundbesitzende Eliten hatten ihre Gründe, den Frieden unter Napoleon einem Krieg gegen ihn vorzuziehen. Viele Liberale, die Napoleon begrüßt hatten, waren rasch enttäuscht von seinem System; manche widersetzten sich der französischen Herrschaft aus nationalen Gründen. Die Lage in Spanien entsprach vielleicht am ehesten einem von großen Teilen der Bevölkerung unterstützten Guerillakrieg gegen einen Eindringling, aber selbst dort richtete sich die Mobilisierung teilweise gegen spanische Eliten, welche die Kleinbauern unterdrückten. Die Kämpfer in den verschiedenen Provinzen Spaniens konnten nicht kontinuierlich und einheitlich gemeinsam handeln, und Teile der »spanischen« Kampagne gegen Napoleon wurden von britischen Generälen geführt. IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 299 Napoleons Imperium wird manchmal eher als Kontinental-, denn als Überseereich gesehen - aber nur, weil seine überseeischen Unternehmungen keinen Erfolg hatten. Napoleons einzige große Niederlage durch eine nachmalige nationale Befreiungsbewegung wurde ihm von den bunt zusammengewürfelten Armeen aus Sklaven, ehemaligen Sklaven und freien Farbigen von SaintDomingue beigebracht, die Hilfe von Frankreichs imperialen Feinden, von amerikanischen Kaufleuten und von tropischen Viren erhielten. Napoleons andere, frühere überseeische Unternehmung, die Eroberung Ägyptens im Jahr 1798, erwies sich als kurzlebig. Die britische Intervention half, dieses Gebiet an das Osmanische Reich zurückzugeben. In Ägypten hatte Napoleon versucht, seine imperiale Ahnentafel bis zu den Pharaonen zu verlängern und zugleich einem Teil des »rückständigen« Osmanischen Reiches Wissenschaft und rationale Herrschaftspraxis zu bringen, Außerdem hatte er gehofft, auf Saint-Domingue und Louisiana bauen zu können, um einen weiten imperialen Raum quer durch die Karibik und den Golf von Mexiko zu schaffen. Weder in Ägypten noch in Saint-Domingue war es an ihm, den Ausgang zu bestimmen. »Verdammter Zucker! Verdammter Kaffee! Verdammte Kolonien!«, soll Napoleon 1803 ausgerufen haben, als er Louisiana an die Vereinigten Staaten verkaufte, um seine anderen imperialen Träume zu finanzieren. 4 Überdehnung lautet eine landläufige und unbefriedigende Erklärung für Napoleons Niederlagen, doch in der Geschichte der Imperien trennt keine klare Linie Überdehnung von Ausdehnung, Napoleon versuchte sich die Ressourcen Mitteleuropas zunutze zu machen - mit beträchtlichem Erfolg -, aber Russland konnte auf die Ressourcen Sibiriens und der Ukraine zurückgreifen und sie zur Wirkung bringen, während Großbritannien überseeische Territorien und obendrein die beste Kriegsmarine der Welt besaß. Napoleon unterlag nicht dem aufwallenden Nationalgefühl, das sich gegen die reaktionäre Macht des Imperiums richtete, sondern anderen Imperien, vor allem dem britischen und dem russischen. Als Napoleons Armee nach dem Debakel seines Einmarschs in Russland im Jahr 1812 die Herrschaft entglitt, rekonstituierten sich Bestandteile seiner Eroberung als politisch existenzfähige Gebilde, in deren Mittelpunkt monarchische und dynastische Persönlichkeiten standen, wenngleich in etwas anderen Formen als zuvor. Gemeinwesen wie Baden und Bayern hatten unter napoleonischer Oberherrschaft kleinere politische Einheiten in ihrem Umfeld geschluckt und traten danach als stärkere, gefestigtere Staatswesen in Erscheinung. Als der König von Preußen 1813 versuchte, den Kampf gegen Napoleon zu organisieren, appellierte er nicht an .. Deutsche«, sondern an .. Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer«.5 Die Bestandteile des Imperiums, die um ein Haar in Frankreich integriert worden wären (Norditalien, die Rheinregion, die Niederlande), bekamen die 300 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE Auswirkungen des napoleonischen Imperiums, die erhöhte Professionalisierung der regierenden Eliten inbegriffen, am stärksten zu spüren. Napoleons Niederlage ermöglichte bis zu einem gewissen Grad einen politischen Zusammenschluss zwischen Gemeinwesen, die er unterworfen hatte und die sich nun als Verbündete gegen ihn rekonstituierten. Eliten in ganz Europa, die sich eine Zeit lang von Napoleons Projekt einer geregelten Verwaltung und Rechtskodifizierung hatten beeinflussen lassen, sollten den späteren politischen Verlauf mitprägen. Das nachnapoleonische Europa blieb beherrscht von einer kleinen Anzahl starker Akteure: Russland, Österreich, Preußen, Großbritannien und - wie vorher - Frankreich. Der 1815 in Wien ausgehandelte Frieden verstärkte diese monarchische Konsolidierung. Die Hauptgewinner behielten ihre Imperien; Frankreich bekam 1814, fünfundzwanzig Jahre nach der Revolution, mit dem aus dem Exil heimgekehrten Bourbonen Ludwig XVIII. wieder einen König. Napoleons Eroberungen, seine Regierung, seine Verwaltung und seine Niederlagen hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Staatenbildung. Aber Staat und Nation stimmten nicht überein in Napoleons Imperium, und der Kampf gegen Napoleon brachte Staat und Nation unter seinen Feinden nicht zur Deckung. Napoleon war nicht der letzte Herrscher, der den europäischen Kontinent beinahe einem gewaltigen Imperium einverleibt hätte, und obwohl die Imperiumsarchitekten des späten 19. Jahrhunderts nach Übersee blickten, waren ihre Handlungen nach wie vor Teil der Rivalität zwischen einer kleinen Anzahl von in Europa zentrierten Imperialstaaten. Frankreich geriet nach monarchischen und revolutionären Episoden und nach einer neuen Republik (1848-1852) unter ein Regime namens Zweites Kaiserreich, an dessen Spitze ein Mann stand, der sich Napoleon III. (der Neffe des Originals) nannte. Das Zweite Kaiserreich währte bis 1870, und wie beim ersten wurde sein Ende herbeigeführt durch das Handeln eines anderen Imperiums beziehungsweise in diesem Fall eines kurz vor seiner Gründung stehenden Imperiums, des Deutschen Kaiserreiches. Aufstieg und Fall der beiden Napoleons ließen ein Europa der Imperialstaaten zurück, die das Mitspracherecht der Bürger auf unterschiedliche Weise mit der Macht von Monarchen mischten und dabei benachbarte und ferne Territorien sowie kulturell vielfaltige Bevölkerungen miteinander verbanden (Kapitel 11). Kapitalismus und Revolution im britischen Imperium In Kapitel 6 haben wir gesehen, dass »Großbritannien« nicht als zusammenhängendes Projekt eines einzelnen Volkes entstand, sondern aus mannigfa- IMPERIUM. NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOlUTIONÄREN ZEITEN 301 chen Initiativen, staatlichen wie privaten, die allmählich miteinander verknüpft wurden: zusammengesetzte Monarchie auf den Britischen Inseln und Seeräuberei, königlich privilegierte Handelsgesellschaften, Handelsenklaven, Plantagen- und Siedlungs kolonien in Übersee. Ein mit leistungsfahigen Bankhäusern verbundener •• fiskalisch-militärischer« Staat lieferte die Einkünfte für eine Flotte, die Siedlungen und Handelswege schützen und einen Großteil des Welthandels durch britische Schiffe und britische Häfen hindurchleiten konnte. England war nicht frei von internen Zwistigkeiten, aber die erfolgreiche Einschränkung der königlichen Macht durch das Parlament, das größtenteils den niederen Landadel und den Hochadel repräsentierte, ermöglichte es, dass die Imperiumsbildung der Krone die Interessen der Magnaten eher ergänzte, als dass sie ihnen widersprochen hätte. Angesichts der Konsolidierung der Regierung durch den »King in Parliament« (die drei Kammern des Parlaments: Monarch, Oberhaus und Unterhaus) nach dem Bürgerkrieg von 1688 und unter dem Druck einer langen Reihe von Kriegen gegen Frankreichum den Versuchen Ludwigs XlV. entgegenzuwirken, Europa zu dominieren und England möglicherweise katholische Könige aufzuzwingen - entwickelte Großbritannien eine Regierung, die in der Lage war, diverse Unternehmungen im Ausland und zugleich den sozialen und wirtschaftlichen Wandel zu Hause zu bewältigen. England, das Imperium und die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaft Für das britische Imperium war das 18. Jahrhundert in mehr als einer Hinsicht revolutionär. Die Verknüpfung der Plantagensklaverei in Übersee mit der landwirtschaftlichen und industriellen Entwicklung zu Hause wurde während der außerordentlichen Expansion der Zuckerwirtschaft enger. Die schleichende Kolonisierung Indiens durch eine private Handelskompanie weitete sich zu einem Prozess terrirorialer Eingliederung aus, bei dem die Krone eine stärker überwachende Funktion übernahm. Die Revolution in den nordamerikanischen Kolonien enthüllte sowohl die Grenzen des britischen Imperiums als auch das Ausmaß, in dem Prinzipien der britischen Politik über einen Ozean verbreitet worden waren. Worin besteht der Zusammenhang zwischen Großbritanniens führender Rolle bei der Entwicklung des Kapitalismus und seiner imperialen Macht, selbst wenn man den Verlust seiner dreizehn amerikanischen Kolonien in den 1780er Jahren berücksichtigt? Kenneth Pomeranz bietet einen erhellenden Vergleich zwischen der Wirtschaft des chinesischen und des britischen Impe- " 302 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE riums, ersteres ein bedeutendes Landreich mit Beziehungen in ganz Eurasien, während das zweite seine Stärke aus seiner Stellung als Seemacht bezog. Pomeranz behauptet, dass sich im 18. Jahrhundert das Potenzial für Wirtschaftswachstum und industrielle Entwicklung in den beiden Imperien - vor allem in den Kernregionen - nicht deutlich voneinander unterschied. Ihre Landwirtschaft, Handwerkszweige, gewerblichen Einrichtungen und Finanzmechanismen waren grob vergleichbar. Das »große Auseinanderdriften« erfolgte am Ende des 18. Jahrhunderts. Durch Sklavenhandel und Zuckerproduktion akkumuliertes Kapital - so beträchtlich es war - erklärt nicht die unterschiedlichen Bahnen dieser Imperien. Es war die gegenseitige Ergänzung der Ressourcen des Mutterlandes und der imperialen Ressourcen, die Großbritanniens Wirtschaft vorantrieb. Zuckerrohr wurde in der Karibik angebaut; Arbeitskräfte kamen aus Afrika. Die Ernährung von Industriearbeitern in England wurde daher nicht durch heimische Beschränkungen von Land und Arbeitskräften eingeschränkt. Kombiniert mit Tee, einem weiteren imperialen Erzeugnis, trug Zucker viel dazu bei, dass Arbeiter für lange Stunden in den Baumwollspinnereien behalten werden konnten - ohne britische Ressourcen an Kartoffeln, Getreide oder Zuckerrüben zu verwenden, die alternative Kalorienquellen gewesen wären. Genauso lief es mit der Baumwolle, die Arbeiter kleidete: Andere Pflanzen zur Gewinnung von Fasern hätten in England angebaut werden können, aber Sklavenbaumwolle aus dem Süden der Vereinigten Staaten im frühen 19. Jahrhundert beanspruchte weder Land auf den Britischen Inseln noch Arbeitskräfte innerhalb des britischen Mutterlandes. Chinas imperiales System war darauf ausgerichtet, Einkünfte aus dem Land herauszuholen; Land wie Arbeitskräfte waren systemintern. Großbritanniens hervorragender Zugang zu Kohle spielte eine wichtige Rolle bei seinem industriellen Wachstum, aber die Fähigkeit, Opportunitätskosten bei Land und Arbeitskräften in Übersee zu drücken, verschaffte Großbritannien einen klaren Vorteil. Andere Unterschiede kamen nur ins Spiel, weil Großbritannien über ein maritimes Imperium verfügte: Beispielsweise bot der britische Einsatz von Aktiengesellschaften in der heimischen Produktion keinen großen Vorteil, aber er brachte die großen Ressourcen zusammen, die für den Transport ebenso erforderlich waren wie für die militärische Stärke, um Zwangsoperationen auf große Entfernung zu unterstützen. Großbritannien hatte sich selbst zum Zentrum der Neuverteilung von Waren gemacht, die nicht nur aus seinen abhängigen Gebieten in Westindien, Nordamerika und Indien, sondern aus vielen Teilen der Welt eintrafen. In den Inoer Jahren stammte über die Hälfte der britischen Importe aus nichteuropäischen Regionen, und im gleichen Verhältnis bewegte sich die Zahl IMPERIUM. NATION UND STAATSeÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 303 der Exporte. 6 Angesichts des Industriewachstums sowie der Entwicklung von Geldinstituten und gewerblichen Einrichtungen erhielt sich Großbritanniens wirtschaftliche Macht zunehmend selbst. Die Briten konnten die nordamerikanischen Kolonien einbüßen, ohne den Handel mit ihnen zu verlieren, an den wertvollen Zuckerinseln festhalten sowie die Breite und Tiefe des eigenen Aktionsradius ins Innere Asiens ausweiten. Am Ende des 18. Jahrhunderts produzierten Großbritanniens Industriezweige Waren, die Menschen auf dem amerikanischen Kontinent, in Afrika und sogar in Asien begehrten. Die Bahn der britischen Wirtschaft kann nicht nur auf imperiale Unternehmungen einschließlich der Plantagensklaverei zurückgeführt werden. Wäre Sklaverei der entscheidende Faktor gewesen, dann hätten Portugal oder Spanien - in dieser Hinsicht die imperialen Pioniere - die Führung bei der Industrialisierung übernehmen müssen. Es war die Symbiose zwischen den Faktoren des Mutterlandes und den imperialen Faktoren, die erklärt, warum Großbritannien sein Imperium so produktiv nutzte. Bei weniger dynamischen einheimischen Volkswirtschaften, wie denen Spaniens und Portugals, floss ein Großteil des Gewinns aus dem Export in die Kolonien in Banken außerhalb des imperialen Territoriums. Portugal und Spanien brauchten lange Zeit, um vom vorherrschenden System aus grundbesitzenden Adligen mit abhängigen Bauern abzurücken, und Frankreichs Bauern konnten sich ihres Landes relativ sicher sein. Im Falle Großbritanniens beschränkten im 17. und 18. Jahrhundert Grundeigentümer den Zugang zu Land für Pacht- und andere Bauern und setzten in der Landwirtschaft mehr Lohnarbeit ein. Was in der Interpretation von Karl Marx - der gehörigen, wenn auch widerwilligen Respekt vor den durch den Kapitalismus bewirkten materiellen Erfolgen hatte - das kapitalistische System kennzeichnete, waren nicht bloß freie Märkte, sondern auch die Trennung der Mehrzahl der Produzenten von den Produktionsmitteln. Weil Englands Kleinbauern durch die enclosures (»Einhegungen«) der Zugang zu Land gewaltsam verwehrt wurde, blieb der Mehrzahl nichts anderes übrig, als das einzige zu verkaufen, was sie hatten: ihre Arbeitskraft; und Grund- und Fabrikbesitzern blieb nichts anderes übrig, als sie zu kaufen. Langfristig war der Kapitalismus erfolgreicher als Heimarbeit, Leibeigenschaft oder Sklaverei - und heute könnte man noch den Kommunismus hinzufügen -, weil er die Besitzer der Produktionsmittel zwang, miteinander zu konkurrieren, um Arbeitskräfte einzustellen und diese Arbeitskräfte so effizient wie alle anderen einzusetzen. Die Befähigung und das Bedürfnis von Eigentümern, Arbeitskräfte einzustellen, war keine automatische Folge von Märkten oder von Zwangs gewalt; beides hing vielmehr von rechtlichen und politischen Institutionen ab, die in der Lage waren, der Eigentümerschaft Legitimität zu verleihen. Großbri- 304 IMPERIEN DER WElTGESCHICHTE tannien verfügte, nachdem es seine Bürgerkriege überstanden und Ressourcen mobilisiert hatte, um gegen das spanische und französische Imperium zu kämpfen, am Ende über ein fest institutionalisiertes Staatssystem. Die Briten fanden einen Mittelweg zwischen dem konservativen Adelsprivileg Spaniens und dem monarchischen Zentralismus Frankreichs. Die britische Kaufmannsschicht war ebenso leidenschaftlich unternehmerisch aktiv wie die der Niederlande, aber sie hatte einen stärkeren Staat im Rücken. Großbritannien war in der Lage, ein flexibles Machtrepertoire zu entwickeln, wie es auf einige Zeit kein Rivale realisieren konnte. Imperiale Macht und die nordamerikanische Revolution Auf Großbritannien zentrierte geschäftliche Verbindungen verknüpften miteinander, was Edmund Burke in seinem Letter to the Sheriffs 0/ Bristol eine »mächtige und seltsam breit gefacherte Masse«7 nannte: sklavenhaltende Zuckerproduzenten, Neuengland-Farmer, indische Nabobs, Seeleute, Fischer, Kaufleute, Kleinbauern und Sklaven. Die europäische und europäischstämmige Bevölkerung der nordamerikanischen Kolonien wuchs zwischen 1700 und 1770 von 250000 auf 2,15 Millionen - mehr als ein Viertel der Bevölkerung Großbritanniens selbst. Die Exporte aus England und Wales in die dreizehn Kolonien verdreifachten sich zwischen 1735 und 1785 - inmitten des politischen Konflikts. 8 Und im Jahr 1773 wurde zum ersten Mal »dieses Riesenreich, in dem die Sonne nie untergeht«,9 erwähnt. Manche englischen Autoren sahen sich als die Erben der Römischen Republik. Wie David Armitage hervorgehoben hat, war der britische Staat »weder einzig und allein eine Leistung des Mutterlandes noch eine ausschließlich provinzielle Errungenschaft; er war eine gemeinsame Vorstellung vom britischen Empire«.!O Wo Sklaven zahlen mäßig dominierten, wie in der Karibik, bedeutete die Angst vor einem Sklavenaufstand - und die Wehrlosigkeit reicher Inseln gegen andere Imperien -, dass die Weißen die Sicherheit der Anbindung an das Imperium brauchten. Die nordamerikanischen Siedler, die sich einer beträchtlichen indigenen Bevölkerung gegenübersahen, standen vor anderen und widersprüchlichen Möglichkeiten bezüglich ihres Verhältnisses zum Imperium. Einheimische Völker konnten gefahrlich sein, daher bestand ein Bedürfnis nach Anwesenheit einer imperialen Armee; sie konnten nützliche Handelspartner sein, die eine ergänzende Rolle innerhalb einer imperialen Wirtschaft spielten. Aber das Land der indigenen Völker war attraktiv für Siedler, was imperiale Behörden in Konflikte verwickelte, die sie nicht unbedingt wollten. Die britische Regierung betrachtete indigene Völker innerhalb IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 305 der Kolonien als Untertanen des Königs und Stämme jenseits der kolonialen Grenzen als unter dem »Schutz« des Königs stehend. Nach dem Siebenjährigen Krieg - in dem Franzosen und Briten um Bündnisse mit indianischen Gruppen gewetteifert und jene der gegnerischen Seite bekämpft hatten - zog die britische Regierung eine Grenzlinie, und es war Kolonisten verboten, sich westlich davon anzusiedeln. Mit dieser Maßnahme hoffte man, Konflikte um Land zu entschärfen und gleichzeitig der Krone - nicht lokalen Verwaltungen - alle Rechte zur Verhandlung mit den Indianern vorzubehalten. Diese Bestimmung wurde eine Quelle des Streits zwischen Siedlern und Regierung, der verschlimmert wurde durch wiederholte Verstöße seitens jener Siedler, die unbedingt Land in fruchtbaren Tälern im Landesinnern kaufen oder in Besitz nehmen wollten. Die Vorstellungen, die das britische Imperium sowohl britisch als auch zu einem Imperium machten, förderten am Ende die gegen sie gerichtete Rebellion. Britische Kreolen (Bezeichnung für die Nachfahren europäischer Einwanderer) erwarteten, dass für vermögende Männer Institutionen einer parlamentarischen Regierung eingerichtet wurden, ganz gleich, an welchem Ort des Imperiums sie lebten - und das bedeutete Versammlungen in den einzelnen Kolonien. In gewissem Umfang wurden ihre Erwartungen erfüllt, obwohl Kolonialversammlungen eher Ad-hoc-Erfindungen waren als MiniParlamente. John Adams schlug sogar vor, dass die Hauptstadt von Großbritannien nach Nordamerika verlegt werden könnte. Wäre amerikanischen Kolonisten die von ihnen angestrebte Befugnis zugestanden worden, hätte sie das britische Imperium in eine Konföderation verwandeln können - jeder Bestandteil mit seinen eigenen Regierungseinrichtungen, seinem eigenen Sinn für politische Einheit und - wie die Bemühungen von George Washington und anderen zur Erlangung der Kontrolle über die Flusstäler im Landesinnern deutlich machten - seinen eigenen imperialen Ambitionen. Doch eine solche Lösung riskierte, das zu schaffen, was britische Juristen, die ihr römisches Recht kannten, als imperium in imperio bezeichneten: ein Imperium innerhalb eines Imperiums. Bis zum Vorabend der Revolution schätzten die Kolonisten die britische Verbindung, waren aber hinsichtlich der Bedingungen dieser Verbindung anderer Meinung, weil sie zumindest eine gewisse Provinzregierung und Anerkennung ihrer Rechte wollten. Einige Kolonisten behaupteten - vielleicht unaufrichtig -, dass die Gründungsurkunden ihrer Siedlungen sie zu Untertanen des Königs, aber nicht des Parlaments machten. Das Parlament dachte anders und beharrte darauf, dass ihm allein das Recht zur Besteuerung zustehe, während die Regulierung des Handels durch die Navigationsakten und andere Gesetze unerlässlich sei, um die diversen Teile des Imperiums an Großbritannien selbst anzubinden. Die im Krieg von 306 IMPERIEN DER WElTGESCHICHTE Abb. 8.2: »Amerikas Rachen wird der Tee gewaltsam eingeflößt«, von Paul Revere für das Royal Ame,ican Magazine, '774. Britische Männer halten »lady liberty« fest, während der britische Premierminister ihr Tee in den Rachen gießt. Britannia - Symbol für das, was wahrhaft britisch war-wendet ihren Blick ab. Die Karikatur protestiert gegen die britische Vergeltung für die Boston Tea Party von '773. selber ein Protest gegen britische Bestimmungen, die Verbraucher in Neuengland zwangen, von der Britischen Ostindien·Kompanie verschifften Tee zu kaufen, eine Einschränkung, die amerikanischen Kaufleuten schadete. Hulton Archive, Gettylmages. 1756- 1763, im Zuge der Unterstützung der aggressiven Haltung der Ostindischen Kompanie in Indien und in Konflikten mit den Indianern angehäuften Schulden veranlassten London, sowohl die Kontrolle der eigenen Beamten über die Verwaltung zu verschärfen als auch höhere Steuern zu erheben - einschließlich jener auf ihre nordamerikanischen Untertanen. Der »Sugar Act« (r7 64) und der »Stamp Act« (Stempelgesetz, 1765), die Eingang in den Mythos der amerikanischen Rebellion fanden, waren Teil dieses imperiumsweiten fiskalischen Problems. Die Eliten auf dem amerikanischen Kontinent - die Kaufleute, Anwälte und Großgrundbesitzer, die zu den entscheidenden Mittelsmännern eines imperialen Regimes zählten - waren die von solchen Maßnahmen am unmittelbarsten Betroffenen, und sie setzten sich an die Spitze der zusehends eskalierenden Proteste, die schließlich zum Krieg führten. Aus imperialem Blickwinkel war die Amerikanische Revolution ein britischer Bürgerkrieg. Viele Bewohner der Dreizehn Kolonien identifizierten sich durchaus stark mit ihren Brüdern auf den Britischen Inseln oder sahen genug gemeinsame Interessen mit dem Imperium, um der Krone gelegentlich entgegenzukommen. Die »Loyalisten« waren eine wichtige Dimension des Krieges. Wie jedes erfolgreiche Imperium versuchte Großbritannien, Unterschiedlichkeit auszunutzen, um seine abhängigen Gebiete zu retten, indem es IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOlUTIONÄREN ZEITEN 307 Sklaven dazu verleitete, ihre Herren zu verlassen und für Großbritannien zu kämpfen, wofür ihnen als Belohnung die Freiheit versprochen wurde. Diese Sklaven nannten sich ebenfalls »Loyalisten«, und nachdem ihre Seite den Krieg verloren hatte, folgten viele von ihnen den imperialen Verbindungslinien ins kanadische Nova Scotia (Neuschottland) oder nach Sierra Leone. Großbritannien versuchte mit einigem Erfolg, indianische Verbündete zu finden, wie es ihm gegen die Franzosen im Krieg von 1756-1763 gelungen war, und viele Aufständische sahen die Indianer inzwischen als ihre Feinde an. Umfassender betrachtet verwandelte sich die Revolution in einen weiteren interimperialen Krieg, denn Frankreich und Spanien traten auf der Seite der Aufständischen ein, eroberten etwas Territorium in der Karibik und Florida, lenkten britische Streitkräfte nach Westindien ab und forderten die britische Flotte hinlänglich heraus, um Verstärkung und Nachschub für die auf dem amerikanischen Kontinent kämpfende Armee zu erschweren, was den Ausgang des Krieges maßgeblich beeinflusste. Auf der Seite der Aufständischen sahen die Führer sich durch ihren Wunsch nach Einheit veranlasst klarzustellen, dass trotz Klassenunterschieden auch weiße Siedler mit bescheidenen Mitteln Teil der amerikanischen politischen Gemeinschaft waren. Auf diese Weise verschärften sie die Rassenschranken. Der patriotische Kampf brachte arme und reiche Weiße zusammen; das Los der Sklaven war Arbeit (Kapitel 9). Die ihnen von den Kolonialrebellen zugefügte Niederlage, nicht lange nach dem Sieg über den imperialen Rivalen Frankreich im Jahr 1763, zwang die britische Führung, sich auf die Begrenzung des Imperiums einzustellen. Der scheinbar sichere Weg, um britische Macht auf der anderen Seite eines Ozeans zu verankern - die Ansiedlung britischer Untertanen -, war mit einem alten Problem des Imperiums in Konflikt geraten: dass Mittelsmänner ihre ideologische und politische Verbundenheit mit dem Mutterland nicht dafür nutzen, diese Verbindung aufrechtzuerhalten, sondern um sie neu auszurichten. Das Imperium nach der Revolution Am Ende war die britische Führung nicht bereit, parlamentarische Souveränität zu opfern, um den Forderungen kreolischer Rebellen entgegenzukommen, oder den Preis fortgesetzter Kriegführung zu zahlen, um sie in den Schoß des Imperiums zurückzuholen. Aber auch wenn der Verlust der nordamerikanischen Kolonien die britische Regierung der Steuereinnahmen beraubte, setzte Großbritannien den Handel mit den Amerikanern fort, zum Nutzen geschäftlicher Interessen auf beiden Seiten des Atlantiks. Nachdem es ein Imperium 308 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE 1767 IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN , 1805 CHINA CHINA ,~ S - -S " ~ \~,ov<' Oelhi- Agra1602" . ~<".r .. ", BIHAR .- , BENGALEN Plassey • Kalkutta 1690 • ~> ORISSA . AhZ1adabad 1612 .Bombay 1661 Bhakta11638· \1 Co , ~Madra51639 \ OTerritorien der Britischen Ost- indien-Kompanie Daten bezeichnen Jahr der Übernahme • ..0:' Agra._~ , \! ...:; , --_.- " \ Bomba)" ~. \L.,!; ';Wo> \~Madras ',' \! . CEYLON' ," .... G~nges Kalkutta. " , /,,"N'-' - " ) o Territorien der Britischen Ost- indien-Kompanie 11 mit Großbritannien verbündete indische Staaten Karte 8.3: Indien 1767 und 1805 aus Bekannten und Verwandten verloren hatte, stand Großbritannien nun mit einer weniger bevölkerungsreichen, weniger wohlhabenden Version der Siedlerkolonie da: Kanada. Hinzu kamen Inseln in der Karibik, wo die meisten Bewohner Sklaven waren, und aufgrund einer Vereinbarung mit einer privaten Handelskompanie Teile Indiens. Vielen Menschen in England kam es so vor, als würde der Zusammenhalt des verbliebenen Imperiums weniger vom Appell an eine gemeinsame >.britische Wesensart« abhängen als vielmehr von der direkten Ausübung von Macht über Menschen, die als rückständig galten, oder über Eliten, die man für tyrannisch hielt. Aber die britische Fähigkeit, diese strengere Kontrolle auch tatsächlich in die Tat umzusetzen, wurde nach wie vor eingeschränkt durch die Notwendigkeit, lokale Eliten am imperialen Unternehmen zu beteiligen; durch die auch in der am stärksten reglementierten Sklavengesellschaft latente Aufstandsgefahr; und durch die Überzeugung zumindest einiger Mitglieder des imperialen Establishments, dass die politische und moralische Lebensfähigkeit des Imperiums davon abhinge, den Platz aller Untertanen innerhalb des Gemeinwesens anzuerkennen. Indien stand im Fokus sowohl der intensiveren Kolonisierung als auch der zunehmend schwieriger werdenden Frage, was eine stärkere Beteiligung für die britische Konzeption von politischen Institutionen bedeutete. Die schleichende Kolonialisierung - ein am Handel interessiertes Unternehmen profitiert von bereits bestehenden geschäftlichen Netzwerken in Indien und Südostasien und übernimmt allmählich immer mehr hoheitliche Aufgaben - begann nach der Jahrhundertmitte viel schneller voranzuschreiten, Im 309 Jahr 1756 hätte der Nawab von Bengalen die Ostindische Kompanie beinahe des Landes verwiesen; dies wurde die Gelegenheit für die Kompanie, ihre militärische Schlagkraft und ihre lokalen Verbündeten ins Spiel zu bringen, um 1757 in der Schlacht bei Plassey einen großen Sieg über lokale Herrscher zu erringen. Unterdessen veranlasste der Siebenjährige Krieg den britischen Staat, umfangreiche neue militärische Ressourcen beizusteuern, so dass die Kompanie und ihre indischen Verbündeten die Franzosen und deren indische Verbündete im Kampf um die Vorherrschaft über Südostasien besiegen konnten. Der Einsatz wurde erhöht. Angesichts der Tatsache, dass seine eigene Macht stark geschwächt und die Kompanie gestärkt war, übertrug der Mogulkaiser im Jahr 1765 der Ostindischen Kompanie in Bengalen, Bihar und Orissa die diwani: das Recht, Steuern zu verwalten und einzutreiben. Die EIe würde sich nun der Einkünfte erfreuen, die von etwa zwanzig Millionen Menschen in einer Gegend Indiens erwirtschaftet wurden, die bekannt war für ihre ertragreiche LandwirtschaftReis und Feldfrüchte für den Export -, ihre Tuch- und anderen Industrien sowie ihre kultivierten Handels- und Finanzeliten. Die große Mehrheit der als »Bewohner Indiens« definierten Menschen geriet nun unter die Zuständigkeit von Gerichten, die von der Kompanie beaufsichtigt wurden, jedoch anwendeten, was Beamte für islamisches oder Hindu-Recht hielten. In weiten Teilen des indischen Subkontinents war die Regierungsarbeit - die De-facto-Ausübung von Souveränität - fortan eine gewinnbringende Tätigkeit. Der Schlüssel zum Erfolg bestand darin, die Kosten auf die Regierten abzuwälzen. Die EIe setzte vor Ort rekrutierte Soldaten ein, die Sepoys. Die politische Karte Indiens wurde ein Flickenteppich, der sich zusammensetzte aus Gebieten, in denen die Kompanie herrschte und die sich von Bengalen aus erstreckten, Regionen, in denen weiterhin die Moguln herrschten, und unabhängigen Fürstentümern. In Südindien beispielsweise verschwor sich die Kompanie mit dem Herrscher von Hyderabad gegen den mächtigen Tipu Sultan von Mysore und führte eine Reihe von Kriegen, bis Tipu Sultan im Jahr 1799 getötet und Mysore ein verbündeter Staat wurde. Aber Versuche der Kompanie, über Bombay und Madras hinaus zu expandieren, wurden durch verschiedene Faktoren gebremst: die Besorgnis der britischen Regierung, ihre Kriegsschulden von 1756-1763 zu vermehren, die Stärke einheimischer Gemeinwesen und die Grenzen, die selbst kooperierende Herrscher den Aktionen der Kompanie setzten. Die EIe versuchte, Mogul-Einrichtungen und die Legitimität des Mogulkaisers dort zu nutzen, wo sie ins Gewicht fielen; ihre Bemühungen bei der Steuereintreibung waren auf Hierarchien einheimischer Beamter angewiesen, die ausreichend belohnt wurden, damit sie kooperierten. Obwohl die EIe blieb, als was sie ursprünglich gegründet worden war - eine handeltreibende 310 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE Aktiengesellschaft -, agierte sie immer mehr wie ein Staat, indem sie Einnahmen kassierte, Verträge schloss oder Kriege gegen regionale Machthaber führte und richterliche Gewalt ausübte. Einige Männer der Kompanie brachten es in diesem halbmonopolistischen Handelssystem und in dem in keinster Weise vom Markt bestimmten Verfahren der Steuererhebung zu sagenhaftem Reichtum. Die Folgen der unverhohleneren Machtausübung seitens der EIC wurden all mählich in England spürbar. Die britische Regierung hatte seit den 1770er Jahren ihre Aufsichtsfunktion gegenüber der Kom»Ich klage Warren Hastings an, panie ernster genommen, und Indien war Teil des schwere Vergehen und Verbreimaginären Universums der britischen Elite geworchen begangen zu haben. den. Etwa dreihundert Publikationen über Indien Ich klage ihn an im Namen der erschienen zwischen 1750 und 1785 in Großbritanim Unterhaus versammelten nienY Das Kolonisierungssystem eignete sich für Abgeordneten Großbritanniens, den Missbrauch. Wie Las Casas im Spanien des 16. deren Vertrauen er missbraucht Jahrhunderts gründete Edmund Burke zwei Jahrhat. hunderte später seine Kampagne gegen ElC-MissIch klage ihn an im Namen aller stände auf die Annahme, dass das Imperium eine Bürgerlichen Großbritanniens, moralische Sphäre darstelle, in welcher Herrscher deren Nationalcharakter er entzur Rechenschaft gezogen werden konnten. Burke ehrt hat, beschuldigte Warren Hastings, seit 1773 GouverIch klage ihn an im Namen neur von Indien, Grausamkeiten gegen Zivilisten des Volkes von Indien, dessen stillschweigend zu dulden, lokalen Herrschern Geld Gesetze, Rechte und Freiheiten abzupressen, das Land arm zu machen und sich er zerrüttet, dessen Besitz er zerselbst zu bereichern. stört, dessen Land er verwüstet Hastings musste sich vor dem Parlament verund ausgedörrt hat. antworten - ein Prozess, der sich über sieben Jahre Ich klage ihn an namens und hinzog. Am Ende wurde er freigesprochen, aber kraft der immergültigen Gesetze Burkes Anschuldigung, die unmittelbar nach der der Gerechtigkeit, gegen die er Amerikanischen Revolution erfolgte, führte zu einer verstoßen hat. Reihe von Fragen darüber, über was für eine Art von Ich klage ihn an im Namen der Imperium Großbritannien herrschte. Die Regierung menschlichen Natur selbst, die versuchte die EIC zu bewegen, ihre Geschäftspraker in beiden Geschlechtern, allen tiken zu bessern, ernannte einen neuen GeneralgouAltersstufen, Ständen, Lebensverneur und Oberbefehlshaber für Ostindien (nielagen und Lebensverhältnissen mand anderen als Charles Cornwallis, 1. Marquess grausam gekränkt, verletzt und of Cornwallis, den Verlierer der letzten Schlacht unterdrückt hat.« gegen die amerikanischen Rebellen bei Yorktown Edmund Burke bei seinem Angriff im Oktober 1781) und bestand darauf, dass die EIC aujHastings ihre Methoden der Steuereinziehung vereinheitim Parlament, 178812 lichte. Das sogenannte »Permanent Settlement« von IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 311 1793 legte die Einkünfte fest, die Zamindare - Grundbesitzer - dem Staat liefern mussten, und stellte sicher, dass sie diese Zahlungen auf Kosten ihrer Pächter herausholen müssten, wollten sie nicht riskieren, zwecks Begleichung der Schuld enteignet zu werden. Weil sie Mittelsmänner brauchten, trugen britische Beamte dazu bei, die Hierarchie in der indischen Gesellschaft zu verfestigen - nur um die indische Gesellschaft dann dafür zu kritisieren, dass sie hierarchisch war. Auf die langfristigen Folgen dieser Strategien werden wir in Kapitel 10 zurückkommen. Burke war nicht die einzige bekannte Persönlichkeit, welche die Art, wie das britische Imperium regiert wurde, in Frage stellte. Auch Adam Smith kritisierte die Ost indien-Kompanie und das Imperium und allgemeiner die Sklaverei. Für Smith lag die Entwicklung offener, nicht eingeschränkter Märkte im langfristigen Interesse Großbritanniens. Nicht überzeugt davon, dass die britische Lebensart der einzige Weg zum Fortschritt sei, favorisierte er eine einfühlsamere und bescheidenere Haltung gegenüber nichteuropäischen Gesellschaften und eine weniger kriegerische gegenüber anderen europäischen Gemeinwesen. In den letzten beiden Jahrzehnten des 18, Jahrhunderts entwickelte sich eine Bewegung gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel, die sich mit Petitionen an das Parlament wandte, in denen ein Ende der britischen Beteiligung an dem Handel verlangt wurde. Herausforderungen wie diese machten eines deutlich: Was auch immer im Imperium geschah, stellte zu Hause eine Angelegenheit von Bedeutung dar, selbst wenn es Menschen betraf, die an fernen Orten lebten und mit denen die englischen und schottischen Untertanen des Königs kulturell wenig gemeinsam hatten. Inzwischen galt es gegen andere imperiale Herrscher und Imperien zu kämpfen. Die Französische Revolution, die Entwicklung radikaler Modelle von Souveränität, die möglicherweise Gegner von Aristokratie und Monarchie innerhalb Großbritanniens ansprachen, und die anschließende Rückkehr Frankreichs zur Imperiumsbildung in den Jahren 1799 bis 1815 stellten Großbritanniens imperiale Errungenschaften in Frage. Ressourcen von jenseits der Britischen Inseln und der früher erfolgte Aufbau einer Kriegsmarine zum Schutz des Handels über riesige ozeanische Räume hinweg waren ausschlaggebend dafür, dass Napoleons imperiale Pläne eingedämmt und letztendlich vereitelt werden konnten. Großbritanniens Sieg über Napoleon verschaffte den Briten neue Vorteile im Mittelmeer (Malta, größerer Einfluss in Ägypten) und - auf Kosten von Napoleons zweitrangigem Partner, den Niederlanden - neue Territorien in Südafrika, Ceylon und Teilen Indiens, Javas und der Karibik. Weit davon entfernt, angesichts der Beispiele für Republikanismus und Staatsbürgerschaft in Nordamerika und Frankreich einzuknicken, ging Großbritannien daran, 312 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE seine Autorität über das große Imperium, das zu bewahren und auszuweiten ihm gelungen war, zu festigen. Nach einem Aufstand in Irland im Jahr 1798 wurde die Insel durch den »Act of Union« zum I. Januar 180! mit Großbritannien zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland vereinigt. Das Gesetz schaffte Irlands protestantisch beherrschtes Parlament ab und brachte irische Abgeordnete nach London, wo sie eine Minderheit waren. Katholiken durften bis zur •• Katholischen Emanzipation« von 1828 nicht für das Parlament kandidieren, und selbst dann hielten Vermögensvorgaben für die Ausübung des Stimmrechts die meisten Katholiken von den Wahlurnen fern. In England bestand eine - wenngleich mickrige - Armenfürsorge, aber in Irland nicht, und Iren, die sich in England um diese Unterstützung bemühten, konnten in ihre Heimat deportiert werden. Irland war keine Kolonie, keine Grafschaft und kein eingegliedertes Königreich; es war nicht wie Kanada oder Jamaika. Irland war Teil eines Imperiums, das unterschiedliche Menschen unterschiedlich regierte, Die Krone hatte im späten 18. Jahrhundert begonnen, das von der Ostindien-Kompanie übernommene, expandierende Territorium direkter zu kontrollieren. Mit der Niederlage Napoleons wurde sie zur unangefochtenen Beherrscherin der Meere. In den frühen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konnte Großbritannien es sich leisten, die strengere Verwaltung einiger von ihm kontrollierter Territorien gegen die Ausübung ökonomischer Macht gegenüber formell unabhängigen Staaten abzuwägen (Kapitel 10). Britische Führer hatten gelernt - am auffallendsten in Nordamerika -, dass die direkte imperiale Kontrolle ihre Gefahren barg. In der Karibik und in Indien traten Spannungen zwischen Unterordnung und Integration in einem Imperialstaat zutage. Während die Ehe von Imperium und Kapitalismus eine beispiellose wirtschaftliche Dynamik auslöste, wurden Fragen hinsichtlich der zerstörerischen Vorgehensweisen laut, die sich unter britischer Herrschaft abspielten. Imperium, Nation und politische Vorstellungskraft in Hispanoamerika Das Imperium verschwand nicht zusammen mit der Französischen und der Amerikanischen Revolution aus Europa - weder als Name noch als Faktum-, und es wurde zum angestrebten Ziel in den gerade unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten. Aber entstand der »Nationalstaat« tatsächlich als Alternative? In der Interpretation von Benedict Anderson waren die »kreolischen IMPERIUM, NATION UND STAATSSÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN lEITEN 313 Revolutionen« Nord- und Südamerikas die Schmelztiegel des Nationalismus und spiegelten die sich verändernden Bahnen wider, entlang derer sich Kreolen - Europäer, die sich in Kolonien niederließen und fortpflanzten - unter Umgehung der imperialen Zentren London oder Madrid bewegten. Die nationale Vorstellungskraft wurde durch das Aufkommen von Zeitungen innerhalb der jeweiligen Kolonien angeregt. Das Imperium bildete nicht mehr länger den Rahmen für den politischen Diskurs der Kreolen, und zur »vorgestellten Gemeinschaft« - so Andersons berühmte Formulierung - wurde schließlich ihr koloniales Territorium auf dem amerikanischen Kontinent,l3 Aber nationale Gemeinschaften waren zu dieser Zeit nur ein Element der politischen Vorstellungskraft. Wie wir bei den Revolutionen von Saint-Domingue und der Dreizehn Kolonien gesehen haben, verwendeten politische Mobilisierer imperiale Ausdrucksweisen und richteten sich an imperiale Institutionen; Sezession tauchte als Ziel erst auf, als imperiale Konflikte sich als unlösbar erwiesen. Auch in Südamerika war die »horizontale« Verbundenheit, von der Anderson glaubt, sie mache eine Nation gleichwertiger Bürger aus, weniger hervorstechend als die durch die Kolonisierung entstandene differenzierte Gesellschaft. Die Beziehungen zwischen Freien und Sklaven, zwischen kosmopolitischen Eliten und engstirnigen Kleinbauern waren einer vertikalen sozialen Ordnung immanent. Der Nationalismus entstand als Ideologie, um ungleiche Gesellschaftsordnungen zu verteidigen, aber erst nachdem imperiale Strukturen Konflikte innerhalb der Imperialform des Staates nicht hatten bewältigen können. Obwohl die kreolischen Revolutionen Hispanoamerikas (1809-1825), wie die von Britisch-Nordamerika, als Kämpfe im Rahmen des Imperiums begannen, war dieser Rahmen monarchisch, nicht parlamentarisch. Der Fokus transatlantischer Loyalität war auf die spanische Monarchie (siehe Kapitel 5) gerichtet gewesen. Wie in Nordamerika führten Versuche, die imperiale Macht in Europa zu »reformieren« und zu festigen, zu Konflikten in Übersee. Die Dynastie der Bourbonen, seit 1700 an der Macht, passte nicht mehr in das Muster der zusammengesetzten Monarchie. Ebenso wie Großbritannien und Frankreich mit schweren Schulden aus dem Siebenjährigen Krieg belastet, unterwarfen die Bourbonen Aragon, Katalonien und andere Provinzen einer direkteren Aufsicht und verschärften die finanzielle Kontrolle. In Hispanoamerika intervenierten sie stärker in Gebieten, die größtenteils von Indianern bevölkert waren, auf Kosten stillschweigender Vereinbarungen zwischen Staatsbeamten und indigenen Eliten. Siedler europäischer und mestizischer Abstammung zogen in vormals indianische Regionen, was zu Spannungen und, in den 1780er Jahren, zu ausgedehnten Aufständen führte, die unter großen Verlusten an Menschenleben unterdrückt wurden. .. 314 IMPERIEN DER WElTGESCHICHTE IMPERIUM. NATION UND 5TAATSSÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN Zu den finanziellen Aufwendungen zur Eindämmung der amerikanischen Spannungen gesellten sich in den 1790er Jahren die Kosten, welche die anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen in Europa verursachten. Der spanische Staat musste immer mehr aus einem Imperium herauspressen, das nicht mehr expandieren konnte. Die fortschrittlichen Eliten im Hispanoamerika des frühen 19· Jahrhunderts suchten zuerst die Zwänge des merkantilistischen Systems zu lockern, indem sie durch Gilden an den bedeutenden Umschlagplätzen regelten, wer sich am Handel beteiligen durfte, anstarr durch einen einzigen Kontrollmechanismus, der von Kaufleuten aus dem spanischen Hafen Cadiz beherrscht wurde. Reformer suchten wirtschaftliche Bande durch ozeanübergreifende Netzwerke aus persönlichen Beziehungen, Verwandtschaft und Kredit wiederzubeleben. Napoleon lieferte den unmittelbaren Anstoß, eine bereits angespannte imperiale Struktur auseinanderzureißen. Im Jahr 1808 eroberte er Spanien und setzte seinen Bruder Joseph als König ein. Vor der napoleonischen Macht zunächst in der Extremadura, dann in Sevilla und schließlich in Cidiz Zuflucht suchend, berief die von König Ferdinand VII. im September 1808 eingesetzte Junta Suprema Central, die in den nicht französisch kontrollierten Gebieten Spaniens die absolute Staatsgewalt ausübte, ein Parlament ein, die Cortes (Ständeversammlung) von Cadiz, die den Anschein eines spanischen Staates aufrechtzuerhalten suchten und im März 18I2 die Verfassung von Cadiz verkündeten. Spanische Untertanen, die sich in Übersee befanden, hatten allen Grund zu fürchten, dass ihre Patronatsbeziehungen und merkantilistischen Handelssysteme in Gefahr waren. Die Präzedenzfalle der Revolution in Frankreich und der parlamentarischen Regierung in Großbritannien deuteten auf Alternativen sowohl zur spanischen Monarchie als auch zum napoleonischen Imperium hin, aber die Eliten in Hispanoamerika fürchteten auch die Gefahr einer Revolution nach haitianisehern Vorbild. Im größten Teil Hispanoamerikas waren Sklaven nicht so zahlreich wie in der Karibik, und die Sklaverei war Teil einer Reihe hierarchischer Institutionen, die Arbeitskräfte verwalteten; die Bevölkerungen umfassten Mischungen verschiedener Völker indianischer, afrikanischer und europäischer Abstammung und völlig unterschiedlicher gesellschaftlicher Stellung. Kreolische Eliten glaubten zu guten Teilen, ihre Vertrautheit mit lokalen Bräuchen bedeute, dass sie mit der Hier~rchie besser zurechtkommen konnten als europäische Spanier. Die Cortes von Cadiz wurden zum Austragungsort des Konflikts zwischen »Peninsulares« (von der Iberischen Halbinsel) und amerikanischen Abgeordneten über die Verteilung der Sitze, darüber, wie die nicht-weiße oder Mischlingsbevölkerung aus den Kolonien zu zählen sei, über Verfassungsbestimmungen und über die Kontrolle des Handels. Die Armut und die Schwäche 3'5 der Monarchie und der Cortes ließen die Probleme zunehmend als Nullsummenspiel erscheinen. Die Peninsulares fürchteten, dass sie von ihren ehemaligen Kolonien kolonisiert werden könnten, von Leuten, die nicht vollkommen »spanisch« waren. Wir werden ähnlichen Ängsten während anderer Momente imperialer Umgestaltung begegnen, in Frankreich beispielsweise erst in den 1940er Jahren, als koloniale Untertanen mehr politische Mitsprache in Paris forderten (Kapitel 13). Für die Spanier des amerikanischen Kontinents verringerte sich der Nutzen des europäischen Spanien, und das Mutterland wurde zu einer stärkeren Belastung. Die Reihenfolge ist wichtig: In Neuspanien, Neugranada oder anderen amerikanischen Territorien hatte sich zuvor kein »nationales« Gefühl gefestigt, stattdessen hatte es eine allmählichere Bewegung von Forderungen nach vollerer Mitsprache innerhalb des Imperiums über lokale Autonomie-Erklärungen bis hin zu weit verbreiteten Rufen nach einer Abspaltung von Spanien gegeben. Das Parlament von Cadiz versuchte das Imperium durch integrative Gesten zusammenzuhalten: »Die spanische Nation ist die Vereinigung aller Spanier beider Hemisphären.«14 Diese Formulierung warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Formell waren die Indianer in dieser Nation enthalten, aber ihre Teilhabe erfolgte nicht auf gleicher Basis; Menschen afrikanischer Herkunft waren ausgeschlossen. Außerdem konnten die Cortes den ökonomischen und politischen Forderungen der überseeischen Spanier nicht entgegenkommen, ohne die Kontrolle aufzugeben, auf der die Peninsulares bestanden. Als König Ferdinand VII. 1814 wieder an die Macht gebracht wurde, reagierte er auf den Konflikt nicht mit einem Kompromiss, sondern mit eskalierender Repression, nämlich indem er die Rechtmäßigkeit der liberalen Verfassung von 1812 bestritt. Während die Debatten über die erneute Vereinigung des spanischen Imperiums eskalierten, fassten auf dem amerikanischen Kontinent Versuche Fuß, aus dem Imperium auszuscheiden. Sich an aufklärerischen Idealen von vernünftig geordnetem Fortschritt und Freiheit orientierend, trat Sim6n Bolivar als der führende Kopf eines energischen Unternehmens in Erscheinung, das die Gründung spanischsprachiger amerikanischer Nationen zum Ziel hatte. Auch Bolivars Vision war ausschließend: Menschen, die nicht Spanisch sprachen oder die Wertvorstellungen der Elite nicht teilten, sollten an der neuen Ordnung nicht uneingeschränkt teilhaben. Das iberische Spanien hatte auf dem amerikanischen Kontinent nach wie vor seine Anhänger, ebenso wie seine militärischen und administrativen Einrichtungen. Die Folge war Bürgerkrieg: eine Serie von Konflikten in verschiedenen Teilen des amerikanischen Kontinents. Spanische Versuche, die Sezession zu unterbinden, mitsamt ihren unausweichlichen Exzessen, stießen viele .. 316 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE Menschen vor den Kopf, deren Unterstützung das Imperium einst zusammengehalten hatte. Diese Konflikte forderten die Spannungen innerhalb der kolonialen Gesellschaft zutage, vor allem wegen des höchst ungleichen sozialen Gefüges. Da beide Seiten versuchten, Sklaven dazu zu bringen, für sie zu kämpfen, wurde die Sklaverei auf dem hispanoamerikanischen Festland unhaltbar. Die Sklaverei ging nicht wegen der Verbreitung liberaler Prinzipien oder des Sklavenaufstands unter, sondern wegen der Unfähigkeit der Sklavenhalter und politischen Führer, die Folgen der Verwicklung von Sklaven in ihren revolutionären Konflikt einzudämmen. Auf dem Festland führten verschiedene von Bolivar mobilisierte Streitkräfte bis in die I820er Jahre hinein Feldzüge. Wo es Spanien erwartungsgemäß gelang, am Ball zu bleiben, war auf den Plantageninseln Kuba und Puerto Rico. Dort war der Schutz einer imperialen Regierung entscheidend für ein Sklavensystem, das dank reduzierten Wettbewerbs nach der Befreiung der Sklaven von Saint-Domingue an Größe und Intensität zugenommen hatte (und durch die Abschaffung des britischen Sklavenhandels, die in Kapitel 10 behandelt wird, weiteren Auftrieb erhielt). Die Zermürbung der finanziell arg strapazierten Regierung des imperialen Spanien und der letztendliche Triumph der kreolischen Armeen (siehe Karre 8.1) führten weder zu geografischer Einheit - einem Staatenbund spanischsprachiger amerikanischer Nationen - noch zu unabhängigen Republiken Gleichgestellter. Die Verfassungen lateinamerikanischer Staaten in den I820er Jahren waren hybride Dokumente, die das Ende der Sklaverei als vollendete Tatsache akzeptierten, den Indianern ein paar Zugeständnisse machten, aber versuchten, die neuen Republiken vor zu viel Demokratie und zu viel kultureller Pluralität zu schützen. Aber das Entstehen so vieler unabhängiger Staaten aus einem alten Imperium hatte wichtige Auswirkungen auf das Gleichgewicht der Macht zwischen den Imperien: Die neuen Staaten _ gleichermaßen gefürchtet von den Führern Frankreichs, Russlands und der Vereinigten Staaten - waren durchlässig für britisches Kapital und den geschäftlichen Einfluss der Briten. Wie wir sehen werden, legte Großbritanniens imperiales Repertoire nun mehr Gewicht auf wirtschaftliche Macht _ mit der Drohung der britischen Flotte im Hintergrund. In Brasilien zeigte sich ein anderes Muster. Brasilianische Eliten hatten schon viel von der Autonomie erlangt, die spanische Eliten auf dem amerikanischen Kontinent zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstrebten. Brasilien schien kurz davor zu stehen, sein Mutterland in den Schatten zu stellen. Mit ihrer bahnbrechenden Zuckerindustrie, die Kapital erwirtschaftete, welches das europäische Portugal nicht aufbringen konnte, rüsteten die Brasilianer Skla~enschiffe aus, die direkt mit Afrika Handel trieben. Als Napoleon die Macht In Portugal ergriff, richtete der König sich in Brasilien ein und machte es IMPERIUM, NATION UND STAATSBÜRGERSCHAFT IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN 317 dadurch zu einer Kolonie ohne Mutterland. Brasiliens wirtSchaftliche Macht wuchs; das Land war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der größte Sklavenimporteur. Als Portugal lange nach Napoleons Niederlage seinen Monarchen zurückhaben wollte, teilte sich die königliche Familie; viele Brasilianer waren der Auffassung, ihr Land sei nun das imperiale Zentrum. Dom Pedros Entscheidung, in Brasilien zu bleiben, überließ Portugal seinen Verwandten und machte Brasilien unabhängig, ohne dass ein Sezessionskrieg hätte geführt werden müssen. Im Jahr 1822 nahm Dom Pedro, Sohn des portugiesischen Königs, den Titel eines Kaisers von Brasilien an - das ältere Imperium hatte ein zweites hervorgebracht, einen riesigen Staat, der von einer SklavenhalterOligarchie beherrscht wurde. Dies war schwerlich eine soziale Revolution. In den nachfolgenden Jahrzehnten bemühten sich brasilianische Eliten nach Kräften - wie die in Venezuela, Argentinien und anderswo -, nationale Ideologien hervorzubringen, die in der Lage wären, Konflikte einzudämmen, die während der Kämpfe um die Unabhängigkeit aufgekommen waren. Politische Möglichkeiten, politische Spannungen Der chinesische kommunistische Führer Zhou Enlai soll auf die Frage nach der politischen Bedeutung der Französischen Revolution geantwortet haben: »Es ist zu früh, um ein Urteil abzugeben.« Die meisten Kommentatoren waren nicht so vorsichtig. Die Französische Revolution und die Revolutionen in Nord- und Südamerika wurden in Gründungsmythen ihrer jeweiligen Länder verwandelt und gelten als Geburtsstunden von Staatsbürgerschaft, von Volkswirtschaften und eben der Idee der Nation. Aber in ihrer eigenen Zeit waren die Lehren der Revolutionen wenig überzeugend. Die Französische Revolution schien zu verheißen, dass die Werte der Freiheit, für die sie eintrat, nicht nur für einen in Europa liegenden Staat gelten würden, sondern auch für ein transkontinentales Imperium, in dem aus Afrika gebürtige Sklaven sich mit aus Europa gebürtigen Bürgern vereinigten. Aber die doppelte Tatsache der Unabhängigkeit Haitis und der Wiedereinführung der Sklaverei durch Napoleon auf Frankreichs anderen Inseln schloss später die Möglichkeit eines Imperiums der Bürger - bis auf weiteres - aus. Die Patrioten, die die Vereinigten Staaten schufen, erklärten, dass Menschen, die sich als politische Gemeinschaft konstituierten, das Recht hätten, ihr gemeinsames Geschick zu bestimmen - aber dieses Recht wurde Sklaven verwehrt und Indianern genommen, gegen die Unterwerfungskriege mit mehr Nachdruck geführt wurden als unter dem britischen Imperium des 18. Jahr~ 318 IMPERIEN DER WELTGESCHICHTE hunderts (Kapitel 9). Die Revolutionen auf dem amerikanischen Kontinent begannen durch Rückgriff auf Vorstellungen von englischer Freiheit, französischer Staatsbürgerschaft oder spanischer Monarchie, um Souveränität und Macht innerhalb imperialer Gemeinwesen neu zu definieren, führten aber am Ende zu neuen Staaten, die sich den Raum der Welt mit umgestalteten Imperien teilten. Die Abspaltung von Staaten vom britischen, französischen und spanischen Imperium brachte genauso wenig Nationen gleichwertiger Bürger hervor, wie sie eine Welt gleichwertiger Nationen hervorbrachte. Dass Staaten wie die Vereinigten Staaten, Kolumbien oder Haiti in einem imperialen Kontext entstanden und nicht aus einer älteren, allgemein akzeptierten nationalen Idee, mindert nicht ihre Bedeutung für oder ihren Einfluss auf die Zukunft. Jeder Staat markierte auf seine Weise die Möglichkeit, dass ein »Volk« eine souveräne Nation konstituierte. Die Komplexität jedes Kampfes - die in den Versuch, die politische Gemeinschaft zu schaffen, eingebauten Ausgrenzungen, die Ungewissheiten darüber, wie diese Gemeinschaft aussehen würde - zwang Menschen immer wieder zu Debatten darüber, was sie mit Freiheit, mit Nation, mit Souveränität und mit Volk meinten. Volkssouveränität war alles andere als eine akzeptierte Norm in Westeuropa, und innerhalb der überseeischen Räume der Imperien war unklar, ob die Vorstellung von einem mit Rechten ausgestatteten Individuum allgemeine Verbreitung fände oder von ein paar wenigen eifersüchtig gehütet werden würde. Die Verlockungen und Gewohnheiten des Imperiums gaben weiterhin den Kontext für verschiedene Klärungen dieser Frage vor: in einem nachrevolutionären Frankreich, das die koloniale Unterordnung, die es in den 179 0 er Jahren kurzzeitig abgeschafft hatte, wieder einführte und sich in ein bis 181 5 währendes neues imperiales Abenteuer stürzte; in den Vereinigten Staaten, die sich von einem König bef(eiten und Sklaven auf einem Territorium ansiedelten, das Indianern entrissen worden war; in südamerikanischen Staaten, die Einheimische als Nicht-Gleichwertige behandelten; in einem britischen Imperium, das ein umfangreiches strategisches Repertoire in verschiedenen Teilen der Welt einsetzen konnte. Die Nation war eine vorstellbare Möglichkeit in der Weltpolitik geworden. Aber die Führer Frankreichs, Großbritanniens, Spaniens und der Vereinigten Staaten wollten ihren politischen Kompass nicht auf nationale Grenzen beschränken. Sie konnten aber auch nicht verhindern, dass Vorstellungen von Volkssouveränität sich über Ozeane hinweg verbreiteten und Siedler europäischer Herkunft, Sklaven und indigene Völker neben anderem mit einer neuen Sprache versahen, die diese nutzen konnten, um Ansprüche gegen Imperien zu erheben. 9 Kontinentübergreifende Imperien Die Vereinigten Staaten und Russland Im 18. und 19. Jahrhundert griffen das amerikanische und das russische Imperium nach Westen und Osten aus, über zwei Kontinente der nördlichen Hemisphäre und quer über den Pazifischen Ozean. Russen wie Amerikaner waren überzeugt von ihrer manifest destiny: ihrer »offensichtlichen Bestimmung«, über riesige Territorien zu herrschen. Doch ihre Strategien für diese Expansion und ihre Herrschaftsformen fußten auf unterschiedlichen imperialen Erfahrungen. In diesem Kapitel untersuchen wir Varianten der Politik der Differenz, die angepasst und weiterentwickelt wurde, als die beiden Imperien ihre Herrschaft über Raum und Menschen ausdehnten. Die britische Besiedlung Nordamerikas hatte >,frei geborene Engländer« in eine Neue Welt gebracht, aber die Revolutionäre hatten sich als allzu frei erwiesen, sich von ihrem König abgewandt und ihr eigenes Projekt in Angriff genommen, ein »Empire ofLiberty«, ein »Reich der Freiheit«. Als die Vereinigten Staaten nach Westen expandierten, wurden Regionen eingegliedert, dann von Territorien in Staaten umgewandelt, und jeder Staat war eine gleichberechtigte Einheit des Gemeinwesens. In der Theorie garantierte die Verfassung der Vereinigten Staaten ihren Bürgern die natürlichen und gleichen Rechte, doch in der Praxis war die Staatsbürgerschaft auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt. Sklaven afrikanischer Herkunft waren von Beginn an ausgeschlossen. Anfangs erkannten die Amerikaner verschiedene indigene »Nationen« innerhalb des Gemeinwesens an, schlossen sie letztendlich aber wieder davon aus und sperrten die »indianischen Völker« in Reservate. Auf dem eurasischen Kontinent brachen russische Herrscher nicht mit den Souveränitätspraktiken, die sie von ihrer aus mongolischen, byzantinischen und europäischen Elementen gemischten Vergangenheit geerbt hatten (Kapitel7). Die Romanows akzeptierten die Vielfalt der Völker, über die sie herrschten, als gegebene Tatsache. Ihre Politik der Differenz erlaubte ihnen, die Eliten eingegliederter Regionen selektiv zu belohnen, den verschiedenen Religionen und traditionellen Gepflogenheiten unter Aufsicht Rechnung zu tragen sowie Rechte und Pflichten pragmatisch aufzuteilen. Der Grundsatz differenzierter Staatsführung wurde auf alte wie auf neue Teile des Imperiums angewendet.