Eine „der sympathischsten Heldengestalten der germanischen Urzeit“? - Alarich und der Fall Roms in der deutsch-französischen Wissenschaftsgeschichte Heinrich Schlange-Schöningen Alte Geschichte Am 24. August 410 n. Chr. wurde Rom, seit Jahrhunderten als urbs aeterna Inbegriff des Römischen Reiches und seiner Weltherrschaft, von den Westgoten unter Alarich erobert. Die Einwohner der Stadt erlebten Greuel und Schrecken aller Art. Viele waren zuvor aus der Stadt geflohen, und etliche der Flüchtlinge hatten sogar Italien verlassen, um sich im Osten des Reiches oder in Nordafrika in Sicherheit zu bringen. Wer aber geblieben war, hatte während der Belagerung Hunger gelitten, war bei der Einnahme in Lebensgefahr geraten, musste, wenn er überlebt hatte, damit rechnen, von den Goten, die die Stadt plünderten und den verängstigten Einwohnern ihren Besitz abnehmen wollten, gefoltert, oder, wenn zum weiblichen Geschlecht gehörig, vergewaltigt und verschleppt zu werden. Es war eine der Katastrophen, die im Verlauf des 4. und 5. Jahrhunderts den seit augusteischer Zeit immer wieder beschworenen Glauben an die Ewigkeit des Reiches und seiner kaiserlichen Herrschaft erschütterten, und so reagierte z.B. der Kirchenvater Hieronymus im fernen Palästina mit Entsetzen auf die Nachricht vom Fall Roms: „Die Stadt, die die ganze Welt erobert hat, ist selbst erobert worden. Mir bleibt die Stimme im Halse stecken und während ich dies diktiere, bin ich von Schmerz geschüttelt“ (ep. 127; vgl. Abb. 1). Schockierend war das Ereignis für Christen und Heiden, und es war Anlass zu erbitterten Kontroversen über die Frage, ob nicht die christliche Religion, die während des 4. Jahrhunderts an die Stelle des heidnischen Staatskults getreten war, die Schuld am nunmehr unübersehbaren Ruin des Reiches trage. Dieses von den Heiden vorgebrachte Argument forderte Augustinus, den Bischof von Hippo Regius in Nordafrika, dazu heraus, in Briefen, Predigten und in seiner großen Abhandlung über den „Gottesstaat“ zu Alarichs Eroberung Stellung zu nehmen. Augustinus bemühte sich zu zeigen, dass die Einfälle der Goten in das Römische Reich keineswegs ein Beweis für den Verlust des Wohlwollens der von den Christen gestürzten alten Göt- 40 Abb. 1: Die Einnahme Roms durch die Goten; Miniatur des 15. Jhd.s; Illustration zum „Gottesstaat“ des Augustinus, aus: P. Courcelle, Histoire littéraire des grandes invasions germaniques, Paris 1964, Abb. 17b. ter, sondern im Gegenteil ein Ausdruck für das wohltätige und erzieherische Eingreifen des einen und einzigen christlichen Gottes in die weltlichen Geschehnisse sei. Seine apologetischen Ausführungen richteten sich aber nicht nur gegen die Heiden, die im Verbot der alten Kulte die Ursache für den Zorn der Götter sahen, sondern auch an Christen, die nicht verstehen wollten, warum sie selbst die Strafe Gottes erleiden mussten. Augustinus sah sich genötigt, auf alle einzelnen Schrecken der Eroberung einzugehen; je- de Art von Gewalt, die Ermordungen und Vergewaltigungen ebenso wie die Folterungen und Verschleppungen, musste er in ihrer für die Betroffenen nicht erkennbaren göttlichen Sinnhaftigkeit erklären. So wurde er wider Willen, aus theologisch-apologetischer Perspektive, zu dem wichtigsten Historiker der Eroberung Roms durch Alarich, denn glaubwürdig konnte die Argumentation des Augustinus nur erscheinen, wenn er sich mit dem Erlebten im Detail auseinandersetzte und nicht einfach die Schrecken vergessen zu machen suchte. Universität des Saarlandes Eine solche Tendenz zur Minimalisierung der Vorgänge vom August 410 ist dann allerdings bei einem Schüler des Augustinus, bei dem spanischen Historiker Orosius, unübersehbar. Orosius hatte im Auftrag des Augustinus um 417 eine „Weltgeschichte gegen die Heiden“ verfasst, die, wie der Titel schon zeigt, dazu dienen sollte, die Angriffe der Heiden auf das Christentum zurückzuweisen. Das tat Orosius, indem er alle Gewalttaten in Erinnerung rief, die das Römische Reich in seiner Geschichte und damit auch in seiner vorchristlichen Zeit erlebt hatte. Damit sollte bewiesen werden, dass es den Römern früher schlechter gegangen sei als unter den christlichen Kaisern. Schon Augustinus hatte dieses Argument entwickelt, als er in den Jahren nach 410 die ersten Bücher seines “Gottesstaates” niederschrieb. Doch während Augustinus aus der erläuterten apologetischen Notwendigkeit, die sich aus der zeitlichen Nähe zum Fall Roms ergab, auch in de civitate dei die Gewalttaten der Goten noch im Einzelnen anspricht, meint Orosius wenige Jahre später bereits verkünden zu können, dass in Rom eigentlich kaum etwas geschehen sei: „Obwohl die Erinnerung an die Eroberung durch Alarich frisch ist, so wird man doch, wenn man die Menge des Volkes in der Stadt Rom sieht und ihre Stimmen hört, glauben, es sei, wie die Römer auch selbst bekennen, nichts geschehen, wenn man nicht durch einige noch vorhandene Brandruinen zufällig über das Ereignis belehrt wird“ (VII 40). Im Vordergrund des Berichts, den Orosius über das Jahr 410 gibt, steht die Zugehörigkeit Alarichs zum christlichen Glauben. Dass Alarich als Christ sowohl von Augustinus als auch von Orosius positiv bewertet wurde, ist insofern bemerkenswert, als der Gotenkönig und seine Gefolgschaft dem arianischen Bekenntnis anhingen, während doch Augustinus und sein Schüler Orosius das „orthodoxe“ Bekenntnis vertraten, das 325 in Nikäa die Gottgleichheit Christi festgeschrieben hatte. Die Goten dagegen gehörten zu den germanischen Völkern, die seit der Mitte des 4. Jahrhunderts von Konstantinopel aus arianisch missioniert worden waren und eine andere Auffassung von der Natur Christi hatten. Aber der Arianer Alarich hatte eben doch als Christ den Befehl gegeben, die heiligen Stätten Roms zu schützen und das Asylrecht der Kirchen zu respektieren. Diese Nachricht findet sich bereits bei Augustinus, der damit die göttliche Fügung der Geschehnisse deutlich machen will. Wäre Rom nämlich einige Jahre früher in die Hände des Radagais, eines anderen, aber im Unterschied zu Alarich magazin forschung 1/2009 heidnischen Goten gefallen, wäre es für die Stadt viel schlimmer gekommen als unter Alarich. Augustinus ist sonst ein scharfer Gegner aller Schismen und Häresien, doch jetzt ist er bereit, die arianischen Goten als das kleinere Übel gutzuheißen und in ihren militärischen Erfolgen ein mildes göttliches Strafmaß zu erkennen. Wann, so fragt Augustinus in de civitate dei, hätten es die Römer in ihrer Geschichte sonst je erlebt, dass Kriege so glimpflich abgelaufen seien? Sind nicht in den Zeiten der römischen Bürgerkriege viel mehr Menschen, darunter auch sehr viel mehr Senatoren ermordet worden, als unter Alarich? (CD III 29) Diese positive Bewertung Alarichs ist von Orosius noch verstärkt worden. Aus der Nachricht bei Augustinus (CD I 5), die Goten hätten die christlichen Kultgeräte Roms nicht als Beute behandelt, sondern der Kirche zurückerstattet, wird bei Orosius eine fromme Legende über das religiöse Wohlverhalten der Goten. Ob Orosius’ Darstellung allein auf Augustinus basiert oder ob die Legende zunächst in Rom aufgekommen und dann nach Nordafrika vermittelt worden ist, lässt sich nicht feststellen, aber man kann doch gut beobachten, wie im Verlauf weniger Jahre aus den Nachrichten vom Kirchenasyl und der Rückgabe der Kultgeräte eine geschlossene Wundererzählung entsteht, die an die Stelle der chaotischen Schreckensnachrichten tritt, mit denen sich Augustinus um 410 auseinanderzusetzen hatte. Als die Goten in Rom plünderten, so erzählt Orosius, sei ein Barbar in eine Kirche eingedrungen, dort auf eine fromme Frau getroffen und habe von ihr die Herausgabe aller Wertgegenstände verlangt. Die Frau habe dem Druck nachgegeben, einen glänzenden Schatz an Kirchengütern herbeigeholt und dem Goten verkündet, es handele sich bei diesen Gegenständen um die Gerätschaften des Apostels Paulus; sie ständen unter dem Schutz Gottes. Nun traut sich der Gote nicht mehr, sich die Stücke anzueignen, sondern schickt zu Alarich, der seinerseits eine feierliche Überführung in die Peterskirche veranlasst. Inmitten aller Schrecken der Eroberung kommt es so zu einer Prozession unter dem Schutz Gottes, in der sich Römer und Barbaren in ihrem christlichen Glauben vereinen: „Durch von allen Seiten zur Verteidigung gezückte Schwerter wurde der fromme Festzug gesichert. Ein Hymnus für Gott wurde öffentlich gesungen, wobei Römer und Barbaren gemeinsam den Gesang anstimmten. Weithin erschallte beim Untergang der Stadt die Trompete des Heils“ (VII 39). Abb. 2: Heinrich Leutemann, Die Beisetzung Alarichs im Busento, aus: J. C. Ridpath, Ridpath’s Universal History, Bd. 12, 1895, S. 342. 41 Wie wirksam die hier einsetzende Formung des Bildes Alarichs gewesen ist, sieht man nicht nur an dem bekannten Gedicht „Grab im Busento“, in dem August Graf von Platen (1796-1835) im Anschluss an den Bericht bei Jordanes, eines Historikers des 6. Jahrhunderts, von der Grablege des Gotenkönigs in Süditalien erzählt. Alarich, der nach der Einnahme Roms vergeblich versucht hatte, über Sizilien nach Nordafrika zu gelangen, und im Herbst 411 in Süditalien gestorben war, ist für Platen des Gotenvolkes „bester Tote“, seine Bestattung unter dem Flussbett soll die nun ihrerseits als beutegierig bezeichneten Römer davon abhalten, das Grab des Königs zu plündern („Und es sang ein Chor von Männern: / ‚Schlaf in deinen Heldenehren! / Keines Römers schnöde Habsucht / soll dir je dein Grab versehren!’“; vgl. Abb. 2). Der von Augustinus und Orosius ausgehenden positiven Alarich-Rezeption ist auch zuzuschreiben, dass noch in der jüngsten Publikation zum spätantiken Römischen Reich, in der großen Darstellung von Peter Heather (Der Untergang des Römischen Weltreiches, Stuttgart 2007) die Eroberung Roms von 410 als „eine der manierlichsten Plünderungen“ bezeichnet wird, die sich je ereignet habe. „Dass Rom“, so Heather, „eine so hochzivilisierte Plünderung erlebte, die von christlichen Goten durchgeführt wurde, die das Heiligtum von Sankt Peter respektierten, mag als herbe Enttäuschung erscheinen, wenn man blutrünstige Barbaren erwartet, losgelassen auf die großartige Metropole des Imperiums“ (S. 269). Die Position, die Peter Heather hier vertritt, ist in früherer Zeit vor allem von der deutschen Forschung vertreten worden, während französische Gelehrte die Gegenposition formulierten und vor der Verniedlichung der Vorgänge von 410 warnten. Warum diese nationale Verteilung der Positionen? Die Antwort liegt in der mehr oder weniger bewussten Bewertung historischer Ereignisse aus den Erfahrungen, die die Schreibenden in ihrer Gegenwart machten, und somit auch in der Identifizierung historischer Personengruppen mit den Franzosen und Deutschen der Neuzeit. Will man ein historisches Ereignis wie die Eroberung Roms im Sinne Walter Benjamins so untersuchen, dass man den Menschen, die es erlebt und erlitten haben, gerecht wird, muss man sich auch der Entstehungsgeschichte dieser historisch bedingten Bewer tungspositionen klar werden und sich fragen, inwieweit man diese Positionen überwinden muss, um möglichst vorurteilslos das Geschehene darstellen zu können. Das ist der Grund, warum die Wirkungsgeschichte 42 der Antike inzwischen zu einem wichtigen Forschungsgebiet der Alten Geschichte geworden ist. Hatte man während des 19. Jahrhunderts zunächst die Methode der Quellenkritik entwickelt, um sich nicht von der Perspektive unserer Quellen (wie z.B. eines Orosius) in die Irre führen zu lassen, so stellt die mit Namen wie Arnaldo Momigliano oder Karl Christ verbundene Wissenschaftsgeschichte der Altertumswissenschaften eine wichtige Ergänzung zu Quellenkritik dar, indem sie u.a. die Deutungstraditionen zum jeweiligen historischen Thema untersucht. Wie sehen diese Traditionen nun zu Alarich und speziell im deutsch-französischen Spannungsfeld des 19. und 20. Jahrhunderts aus? Dass dieses Bild im Umfeld der große Konflikte, die Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert erlebt haben, zwischen den Gelehrten beider Nationen kontrovers diskutiert wurde, ist wenig überraschend, doch wie dies geschah, ist im Einzelnen noch kaum untersucht. Einige Grundzüge dieses Kapitels der deutsch-französischen Wissenschaftsgeschichte, die für die Klärung der eigenen Ausgangslage immer mit berücksichtigt werden muss, sollen hier vorgestellt werden. Für eine allerdings recht grobe Unterteilung können drei Stufen unterschieden werden: Vor dem Hintergrund des sog. Dekadenzdiskurses, der von Montesquieu für den Untergang des Römischen Reiches initiiert wurde, bewerteten sowohl französische als auch deutsche Gelehrte des 18. Jahrhunderts Alarich positiv. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Bewertung auseinander; der positiven deutschen steht eine zunehmend negative französische Bewertung gegenüber. Im 20. Jahrhundert, bis in die Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg, spitzt sich diese konträre Beurteilung noch weiter zu, bevor sie im Verlauf der jüngeren Vergangenheit durch neue Erklärungskonzepte zur Völkerwanderung und zum Untergang des Römischen Reiches, der jetzt oftmals als Transformationsprozess zur Welt des Mittelalters verstanden wird, ersetzt wird; die Person Alarichs tritt dabei in den Hintergrund. Montesquieu hatte bereits in seinen „Lettres persanes“ von 1721 das Bild der freien Germanen gezeichnet, die ein von despotischen Monarchen beherrschtes Imperium eroberten, um das es kaum schade gewesen sei (Brief Nr. 136). 1734, in seinen wirkungsmächtigen „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence“, erklärte Montesquieu den Unter- gang des Römischen Reiches mit dem Zerfall der inneren Werte der Römer. Solange Rom starke äußere Gegner hatte, so meinte Montesquieu im Anschluss an den römischen Historiker Sallust, hätte diese Gefahr das Gemeinwesen zusammengehalten; später, nach der Überwindung aller äußeren Feinde wie zuletzt Karthagos, seien dann die moralischen Prinzipen vergessen worden, was den inneren Verfall herbeigeführt habe. Die Verantwortung für den Untergang des Reiches liegt also nicht bei den angreifenden Germanen, sondern bei den Römern selbst, die unter ihren Kaisern schon jahrhundertelang in Unfreiheit gelebt hätten. Auf einer solchen Deutungsgrundlage konnte dann z.B. Charles Lebeau in seiner seit 1757 erscheinenden „Histoire du Bas-Empire“ den dekadenten Römern die starken Germanen gegenüberstellen, deren Anführer Alarich („naturellement porté à la douceur“) trotz aller Schrecken der Eroberung Roms als milder Eroberer erscheint (Bd. V, Paris 1826, S. 362). Dabei verweist Lebeau auf Augustinus und Orosius, deren Einschätzung, Rom sei unter Alarich besser weggekommen als in den römischen Bürgerkriegen, er allerdings mit dem Hinweis versieht, die geringere Zerstörung habe eine Stadt und eine Bevölkerung getroffen, die bereits dem inneren Untergang geweiht gewesen sei: „La majesté du nom romain fut à jamais flétrie, Rome subsista dans son étendue, mais ce ne fut plus […] qu’un cadavre“ (S. 367). Auch in der deutschsprachigen Aufklärungsliteratur wurde der Untergang aus inneren Gründen erklärt. So meinte etwa Herder 1774, die Ankunft der Barbaren habe nur noch vollzogen, was ohnehin bevor stand. 1784 bezeichnete er Alarich in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ als einen „tapferen Räuber“, der vom römischen Kaiser Honorius betrogen worden sei und sich deshalb gegen Rom gewandt habe. In der deutschen Rezeption des 19. Jahrhunderts führt diese Deutung dann dazu, dass Alarich in der von Leo von Klenze erbauten, 1842 fertiggestellten Walhalla bei Regensburg eine eigene Gedenktafel erhielt. Das positive Alarich-Bild ist noch in vielen weiteren Formen verbreitet worden. Während z.B. die Liebigbilder von 1905 Alarich nicht bei der Plünderung Roms, sondern im (noch) friedlichen Gegenüber mit römischen Senatoren zeigen (vgl. dazu die ganz anders geartete Darstellung Attilas: Abb. 3 und 4), wird in historischen Erzählungen ebenso wie in populärphilosophischen Abhandlungen die Friedfertigkeit der freien Germanen betont. Beispiele dafür sind Luise Pichlers „Erzählung Universität des Saarlandes Abb. 3 und 4: Liebigbilder, aus der Serie 662: Die Völkerwanderung (1905) magazin forschung 1/2009 43 Abb. 5: John William Waterhouse, The Favorites of the Emperor Honorius, 1883 (A. Hobson, J. W. Waterhouse, London 1989, S. 29, Abb. 20). Das Historiengemälde illustriert eine von Prokop überlieferte Anekdote: „Wie man sich erzählt, meldete damals in Ravenna ein Eunuch, offenbar ein Vogelwärter, dem Kaiser Honorios, dass Roma unter dem Ansturm der Goten zugrunde gegangen sei. Da soll der Herrscher mit lauter Stimme ausgerufen haben: ‚Aber er hat doch erst jüngst noch aus meinen Händen gefressen!’ Der Kaiser besaß nämlich einen sehr großen Hahn namens Roma. Als nun der Eunuch dies hörte, erklärte er, die Stadt Rom sei durch Alarich zugrunde gegangen, worauf Honorios erleichtert aufatmete und zur Antwort gab: ‚Ich glaubte, lieber Freund, mein Vogel Roma sei eingegangen.‘ So unwissend soll dieser Kaiser gewesen sein“ (Vandalenkrieg I 2). aus der Zeit der Völkerwanderung“ über „Alarich in Rom“ (Leipzig 1894), in der sich ein „geistesschwacher Honorius“ und der „große Gote“ Alarich gegenüberstehen (vgl. Abb. 5), oder auch die Darstellung Alarichs in dem Buch „Scheiternde Deutsche“, das Arthur Moeller van den Bruck 1909 veröffentlichte. Während Luise Pichler die Zerstörung Roms mit der antiken Sklaverei erklärte, da die sich gegen ihre römischen Herren empörenden Sklaven nicht nur den Eroberern die Tore der Stadt geöffnet, sondern dann auch „im Blutbade geschwelgt“ hätten, um sich an ihren Unterdrückern zu rächen (S. 63f.), verharmloste Arthur Moeller van den Bruck, der sich später als „Vordenker“ der „Konservativen Revolution“ einen Namen machte und 1923 ein Buch mit dem Titel „Das dritte Reich“ veröffentlichte, die Vorgänge von 410 mit der Vermutung, dass nach der Eroberung Roms „nicht erst der Befehl Alarichs, sondern schon das Gefühl der Krieger alles Kostbare schonte und vor jeder rohen und sinnlosen Zerstörung von selbst zurückschreckte“ (S. 85). Bei Ludwig Schmidt (1862-1944), dessen „Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung“ lange Zeit als das Grundlagenwerk zur historischen Germanenforschung galt, ist Alarich dann schließlich „eine der 44 kraftvollsten, sympathischten Heldengestalten der germanischen Urzeit“ (Die Ostgermanen, München 1941, S. 452). Angesichts dieser positiven Rezeption Alarichs dürfte übrigens auch die Annahme Peter de Mendelssohns zutreffend sein, dass der im Mai 1943 entwickelte Plan zur Besetzung Italiens durch deutsche Truppen den Decknamen „Unternehmen Alarich“ unter bewusster Bezugnahme auf den Italienzug des historischen Alarich erhielt (während J. Schröder, Italiens Kriegsaustritt 1943, Göttingen 1969, S. 179, Anm. 256 diese Annahme m.E. zu Unrecht als „völlig abwegig“ und „in sich widersprüchlich“ zurückweist). Gegen die „Theorie von den guten Germanen“ (P. Courcelle), die von den deutschen Historikern wie Ludwig Schmidt unter Bezug auf Augustinus entwickelt worden war, protestierten die französischen Gelehrten in den Jahren unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg. Die prominentesten Beispiele, an die Bryan Ward-Perkins vor kurzem erinnert hat (Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation, Darmstadt 2007, S. 181f.) sind Pierre Courcelle und André Piganiol. Courcelle bezog sich dabei direkt auf Ludwig Schmidt, während Piganiol gegen Herder anschrieb. Courcelle warf Schmidt vor, Augustinus falsch verstanden zu haben. Der Kirchenvater habe nicht Alarichs Persönlichkeit, sondern das wunderbare Wirken Gottes darstellen wollen: „Les actes de clémence des Wisigoths sont un miracle de la Grâce qui a adouci leurs cœurs, quoiqu’ils soient farouches et cruels de nature“ (Histoire littéraire des grandes invasions germaniques, Paris 1948, S. 50; 2. Aufl. 1964, S. 71). Diesem negativen Bild entspricht auch die Art und Weise, in der Courcelle die Germanen und ihre Eroberungszüge beschreibt. Dazu bemerkte Brian Ward-Perkins, Courcelle habe „Parallelen zwischen Frankreichs jüngster Vergangenheit und der Erfahrung der Barbareninvasion im 5. Jahrhundert“ gezogen und „Argument und eine Sprache benutzt, die explizit und in reichem Maße antigermanisch sind: die Invasoren waren ‚barbares’, ‚ennemis’, ‚envahisseurs’, ‚hordes’ und ‚pillards’; ihr Zug durch das Römische Reich war gekennzeichnet durch ‚incendies’, ‚ravages’, ‚sacs’, ‚prisonniers’ und ‚massacres’; sie hinterließen ‚ruines désertes’ und régions dévastées’“ (S. 181). Nicht weniger deutlich war André Piganiol, der 1947 davon sprach, dass das Römische Reich nicht an innerer Dekadenz zugrunde gegangen, sondern „ermordet“ worden sei: „La civilisation romaine n’est pas morte de sa belle morte. Universität des Saarlandes Elle a été assassinée“ (L’empire chrétien, Paris 1947. S. 422; 2. Aufl. 1972, S. 466). Nachdem man lange und intensiv über das Problem diskutiert hatte, wie es überhaupt zum Untergang des Römischen Reiches kommen konnte, für den der Fall Roms im Jahre 410 als das herausragende einzelne Ereignis die größte Wirkung auf Zeitgenossen und Spätere ausgeübt hat, hat sich seit einiger Zeit, beeinflusst auch durch gegenwärtige Erfahrungen mit Migrationen, Assimilationen und Integrationen, die Perspektive der Forschung verschoben: Gefragt wird nun, ob das Konzept der Dekadenz und des Untergangs des Römischen Reiches überhaupt zu akzeptieren sei, oder ob nicht eher die vielfältigen Kontinuitätsphänomene betont werden müssten, welche die Spätantike mit dem westlichen wie östlichen Mittelalter verbinden. Schließlich haben die Völker, die sich im Römischen Reich niederließen, viel von den politischen Strukturen und geistigen Traditionen der Römer übernommen, z.B. im Rechtswesen, wo die Gesetzessammlungen der römischen Kaiser zu manchen Teilen in die germanischen Rechtssammlungen übernommen worden sind. Betont man solche Aspekte, dann erscheint die Spätantike eher als eine Zeit des Übergangs. Diese modernen Ansätze, die nun nicht mehr so sehr von einer Konfrontation zwischen Rom einerseits und den angreifenden Völkern wie Goten, Alanen oder Vandalen andererseits, sondern mehr von Kulturtransfer, Assimilation und Integration ausgehen, zwingen aber dazu, die Schadensbilanz der Völkerwanderung noch einmal genauer zu bestimmen: Wie einschneidend war die Völkerwanderung tatsächlich, welche Schäden hat sie angerichtet, welche Opfer gefordert? Und wie sind speziell die Vorgänge in Rom im August 410 aus heutiger Sicht zu beurteilen? Gibt es eine Möglichkeit, auf der Grundlage unserer Quellen zu einer angemessenen Beurteilung der Eroberung zu gelangen, ohne sich dabei von einem negativen oder positiven Alarich- bzw. Germanenbild in die Irre führen zu lassen? Um diese Fragen zu beantworten, sei abschließend noch eine kurze quellenkritische Analyse der Aussagen unternommen, die sich bei Augustinus finden. „Schreckliches wurde uns berichtet“, so führt Augustinus in seiner Ende 410 in Hippo gehaltenen Predigt de urbis excidio („Über den Fall der Stadt“) aus: „Niederlage, Brand, Raub, Mord, Martern. Vieles haben wir gehört. Alles haben wir betrauert, oft haben wir geweint und uns kaum zu trösten gewusst.“ Nimmt man die vielfältigen Aussagen über magazin forschung 1/2009 Heinrich Schlange-Schöningen, Professor für Alte Geschichte an der UdS, studierte von 1982 bis 1987 Geschichtswissenschaften, Religionswissenschaft und Philosophie in Göttingen, Berlin und Bordeaux. Zunächst war er Mitarbeiter am Lehrstuhl für Spätantike, dann Assistent am Lehrstuhl für Römische Geschichte der Freien Universität Berlin. Er promovierte 1993 mit einer Arbeit zum spätantiken Bildungswesen (“Kaisertum und Bildungswesen im spätantiken Konstantinopel”). 2003 erfolgte die Habilitation mit einer Arbeit zur Sozialgeschichte der Römischen Kaiserzeit (“Die römische Gesellschaft bei Galen. Biographie und Sozialgeschichte”). Nach einer Vertretung der Oberassistenz für Alte Geschichte an der Technischen Universität Dresden und einem Aufenthalt an der School of Historical Studies am Institute for Advanced Study in Princeton lehrte Schlange-Schöningen als Privatdozent für Alte Geschichte an der FU Berlin; 2006 wurde er an die UdS berufen. Neben Arbeiten zur griechischen und römischen Geschichte, darunter u.a. zum frühen Prinzipat, stehen Forschungen zur Wissenschaftsgeschichte der Altertumswissenschaften. Zuletzt erschienen ist ein gemeinsam mit Andreas Goltz (Universität Bamberg) publizierter Sammelband zur Wirkungsgeschichte Konstantins des Großen (“Konstantin d. Gr. Das Bild des Kaisers im Wandel der Zeiten”). die Eroberung Roms zusammen, die Augustinus in seinen Briefen, seinen Predigten und in de civitate dei niedergeschrieben hat, so gewinnt man eine von der modernen Geschichtsschreibung kaum genutzte Fülle von Detailinformationen über die Eroberung Roms durch Alarich. Vielleicht aber, so wäre zu fragen, predigt Augustinus über Flucht, Mord, Folterung und Vergewaltigung, um seine Zuhörer zur Abkehr von den weltlichen Dingen zu bewegen? Sind seine Ausführungen also aus theologisch-pädagogischer Absicht übertrieben oder lassen sie sich doch als historische Quellen nutzen, um eine „Schadensbilanz“ für das Jahr 410 aufzustellen? Berücksichtigt man die aufgeregte Stimmung nach der Eroberung und die vielen Nachrichten, die aus Italien nach Nordafrika gelangten, so liegt der Schluss nahe, dass Augustinus, um den Zweifel und die Skepsis zu zerstreuen, mit der die Christen nach dem Fall der Stadt auf ihren Gott blickten, die von Alarichs Goten ausgehenden Schrecken sicher gerne verkleinert hätte, galt es doch, die Gläubigen in ihrem erschütterten christlichen Selbstverständnis wieder aufrichten. Gegen alle einzelnen Schreckensmeldungen musste Augustinus anpredigen, doch er musste dabei eben auch auf jedes Detail eingehen und für jede Untat der Eroberer eine Rechtfertigung finden, die das Geschehen theologisch erklärte. Im Unterschied zu den Darstellungen der Eroberung Roms bei Orosius, Jordanes und Prokop oder auch bei Philostorg, Sokrates und Sozomenos hat man es bei Augustinus nicht mit einem geschlossenen Bericht zu tun, doch in der Fülle der Einzelheiten wird er von keinem anderen spätantiken Schriftsteller übertroffen. Deshalb wird Augustinus zu einem „Historiker wider Willen“ und deshalb können aus seinen Aussagen auch historische Informationen gewonnen werden, die der grundlegenden apologetischen Tendenz, wie sie etwa bei Augustinus’ Bewertung von Alarich erscheint, widersprechen. Was damit gemeint ist, soll an zwei Aspekten der Eroberung verdeutlicht werden, die die christlichen Zeitgenossen besonders erschüttert haben. Gemeint sind die Folterungen der Einwohner Roms und die Vergewaltigungen, von denen in Rom auch Nonnen betroffen waren. In de civitate dei findet Augustinus über viele Seiten viele gute Gründe dafür, warum Christen mit Gottes Einverständnis gefoltert wurden. Grundsätzlich, so meint er, könnten Christen nichts erlitten haben, „was ihnen nicht, wenn sie es mit gläubigem Sinn betrachten, zu Nutz und Frommen gereichte.“ Denn wenn ein Sünder gefoltert wurde und so seinen Besitz verlor, dann hat er seine gebührende Strafe erhalten. Traf es dagegen einen aufrechten Christen, so sollte dieser nun gelernt haben, allen weltlichen Besitz zu verachten und statt dessen das Unvergängliche zu lieben; folglich waren für ihn die „Qualen, die da lehrten, dass man das unvergängliche Gut lieben müsse, von größerem Nutzen als jene Güter, die ohne irgend welche ersprießliche Frucht ihre Herren durch die Liebe zu sich quälten.“ Wer gar keinen Besitz hatte, aber doch gefoltert wurde, musste dies erleiden, weil er wohl Besitz begehrte! Sollte aber gar jemand gefoltert worden sein, der reinen Herzens und ohne Besitz war, was Augustinus für ganz unwahrscheinlich hält, dann hätte dieser reine Christ doch unter den Schmerzen seinen Glauben bekennen und himmlischen Lohn erlangen können (CD I 9f.). 45 Wie immer man zu dieser Art von Theodizee stehen mag, die Ausführlichkeit, mit der sich Augustinus diesem Problem stellt – und dies nicht nur in de civitate dei – zeigt doch deutlich, dass man von einem hohen Maß an Brutalität ausgehen muß, mit dem die Goten während ihres kurzen Aufenthalts in Rom alles aus der Stadt herauszupressen suchten, was an Besitztümern hier noch verborgen war. Wie wichtig Augustinus als „Historiker wider Willen“ ist, zeigt sich auch daran, dass die Parallelquellen zur Eroberung Roms, Orosius und Jordanes, Isidor und Prokop, sich zu diesem unerfreulichen Detail überhaupt nicht äußern. Dies gilt auch für die Vergewaltigungen. Wie konnte es denn geschehen, so musste sich Augustinus fragen lassen, dass Alarichs Goten Priester gefoltert und Nonnen vergewaltigt hatten? Die Antwort, die Augustinus auf diese Frage zu bieten hat, zeigt noch einmal, wie seine Verteidigung der Rolle, die das Christentum in der römischen Geschichte einnimmt, zwangsläufig zu einer Rechtfertigung des christlichen Gottes wurde. Denn die Schrecken der Geschichte ließen sich nur damit erklären, dass Gottes Strafgericht alle trifft, Gute wie Schlechte, weil auch die Guten Sünder sind oder aber Gelegenheit erhalten sollen, sich in den Schrecken zu bewähren. Es sei doch, so argumentiert Augustinus, ganz unwichtig, ob Gottesdiener durch das Schwert der Barbaren oder durch eine Krankheit sterben würden, und überhaupt sei ein schneller Tod als Gnade Gottes zu verstehen! Und christliche Frauen erlitten, wenn sie vergewaltigt würden, auch kein echtes seelisches Leid, vorausgesetzt nur, dass sie die Tat ohne „schmähliche Einwilligung“ über sich ergehen ließen. Dann gäbe es keinen Anlass zur Klage: „Ihr habt doch einen großen und wahrhaftigen Trost, wenn ihr das sichere Bewusstsein in euch traget, dass ihr nicht eingewilligt habt in ihre Sünden, deren Begehung an euch zugelassen worden ist.“ Aber denkbar sei auch, dass die Vergewaltigungen eine Strafe Gottes seien, denn möglicherweise hätten die Frauen Stolz auf das „Gut der Unberührtheit, der Enthaltsamkeit oder der Keuschheit“ empfunden und sich so der Sünde der superbia schuldig gemacht. Augustinus will das nicht einfach behaupten, doch fordert er die betroffenen Frauen dazu auf, sich selbst zu prüfen, ob er mit seiner Vermutung nicht recht habe (CD I 28). Diese apologetischen Bemühungen können nicht verdecken, dass der Goteneinfall in Rom für viele Frauen zu einem grauenhaften Erlebnis wurde. Darauf verweisen auch Augustinus’ ausführliche Überlegungen zu der Frage, ob sich Frauen durch Selbstmord aus der gefahrenvollen Lage befreien durften oder nicht. Von einem „manierlichen“ oder „hochzivilisierten“ Verhalten der erobernden Goten sollte man doch besser nicht sprechen. Hungersnot und Seuchen in Rom, die Zerstörung der Gebäude, die unbestatteten Leichname auf den Straßen oder die Ermordung auch von Senatoren, das sind noch weitere Punkte, auf die Augustinus zu sprechen kommt. Dabei gibt es in der jüngeren Forschung, ausgehend von den minimalisieren- den Aussagen von Augustinus und Orosius, Kontroversen vor allem um die Frage, wie groß denn die Zerstörungen in der Stadt Rom tatsächlich gewesen sind. Ohne aber auf diese Details noch näher einzugehen, dürfte bereits deutlich geworden sein, dass Augustinus ein detailreiches und anschauliches Bild von der Eroberung und Zerstörung Roms vermittelt. Augustinus zeigt uns unmissverständlich, dass die Völkerwanderung mit großer Gewalt über Rom hereinbrach, und man sollte bei allem Nachdenken über Integration oder Kontinuität in Spätantike und Frühem Mittelalter nicht vergessen, dass der Fall Roms nicht nur ein Symbol für das Ende einer Epoche darstellt, sondern auch ein real erlittenes Ereignis gewesen ist. Literatur G. W. Bowersock, P. Brown u. O. Grabar (Hgg.), Late antiquity. A guide to the postclassical world, Cambridge 1999; A. Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München 1984; P. Heather, The Fall of the Roman Empire. A New History. London 2005 (dt. 2007); H. Schlange-Schöningen, Augustinus und der Fall Roms. Theodizee und Geschichtsschreibung, in: Jenseits der Grenzen. Beiträge zur Geschichtsschreibung im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Hrsg. von A. Goltz / H. Leppin / H. Schlange-Schöningen (Berlin 2009; im Druck); B. Ward-Perkins, The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford 2005 (dt. 2007). > www.uni-saarland.de/wissenschaftssommer im Wissenschafts-Sommer 1 SchülerInfoTag 20.06.09 Campus 46 2 Expedition Forschung N O S 20.06.09 Campus 3 Wissenschaftszelt 20.-26.06.09 am Theater 4 Ausstellungen & Vorträge 21./23./26.06.09 in der Stadt Universität des Saarlandes ze