Falk Gastro-Kolleg Darm Das hereditäre Kolonkarzinom Zusammenfassung Es gibt mehrere unterschiedliche erbliche Tumordispositionssyndrome, die mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten eines kolorektalen Karzinoms (KRK) assoziiert sind. Oft handelt es sich um Erkrankungen, bei denen zusätzlich das Risiko zur Entstehung weiterer Malignome außerhalb des Dickdarms erhöht ist. Die Pathogenese wird zunehmend besser verstanden und eine molekulargenetische Diagnostik mit der Möglichkeit einer prädiktiven Testung gesunder Familienmitglieder bei Mutationsnachweis beim Index-Patienten steht für die meisten dieser Erkrankungen zur Verfügung. Trotzdem stellt die Diagnose insbesondere von nicht-polypösen Tumorsyndromen eine Herausforderung für den Kliniker dar. Eine sorgfältige klinische Beurteilung mithilfe standardisierter Kriterien bei jedem Patienten mit einem KRK ist für ein rechtzeitiges Erkennen einer erblichen Genese notwendig. Die frühzeitige Diagnose ist essenziell, um eine umfassende humangenetische Beratung sowie eine effiziente Vor- und Nachsorge für alle Betroffenen sowie für gesunde Anlageträger und Risikopatienten in der Familie zu gewährleisten. Prof. Dr. Dr. Judith Fischer Dr. Harald Gaspar Institut für Humangenetik Universitätsklinikum Freiburg Breisacher Str. 106 Freiburg Dr. Jan Kuhlmann PD Dr. Volker Brass* Medizinische Klinik II Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Str. 55 106 Freiburg *Korrespondierender Autor Schlüsselwörter Erblicher Darmkrebs | HNPCC | FAP Fragebeantwortung unter www.falkfoundation.de Falk Gastro-Kolleg Titelbild: Exemplarischer Stammbaum einer Familie mit HNPCC 1 Das hereditäre Kolonkarzinom Epidemiologie Das kolorektale Karzinom (KRK) zählt zu den häufigsten soliden Tumoren in Industrienationen und ist weltweit die dritthäufigste Tumorerkrankung. In Deutschland liegt die Inzidenz bei ca. 70/100.000 Einwohner, im Jahr 2014 wird mit ungefähr 64.000 Neuerkrankungen und 25.000 Todesfällen gerechnet [1]. Etwa zwei Drittel der KRK entstehen sporadisch ohne eine erkennbare erbliche Komponente im Gegensatz zu einem Drittel der Neuerkrankungen, die einen familiären Hintergrund aufweisen. Nur ca. 5% aller KRK entstehen auf dem Boden monogener erblicher Tumorsyndrome [2, 3], die somit zu ca. 3000–4000 KRK-Erkrankungen jährlich in Deutschland führen. Neben den Patienten mit einer manifesten Tumorerkrankung gibt es die asymptomatischen Anlageträger. Eine frühzeitige und umfassende Erkennung der Anlageträger basiert sowohl auf der rechtzeitigen Diagnose des erblichen Tumorsyndroms beim Indexpatienten als auch auf einer humangenetischen Beratung und Diagnostik der Familie. Eine hohe Vigilanz bei allen KRK-Patienten und eine umfassende interdisziplinäre Versorgung sind daher dringend notwendig. P Ca. 5% aller KRK entstehen auf dem Boden einer monogen vererbten Tumorerkrankung, das HNPCC ist mit ca. 3% zahlenmäßig die wichtigste Erkrankung. Das hereditäre nicht-polypöse Kolonkarzinom (HNPCC) ist zahlenmäßig die wichtigste monogen vererbte Erkrankung für die Entstehung eines KRK [3]. Es ist schätzungsweise für 3% aller KRK verantwortlich. Das zweithäufigste hereditäre KRK-Syndrom ist die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP). Mit einer Prävalenz von ca. 1:10.000 ist die FAP für die Entstehung von < 1% aller KRK verantwortlich [3]. Weitere sehr seltene monogen vererbte Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für die Entstehung eines KRK sind in Tabelle 1 aufgelistet. Klinische Eigenschaften von hereditären gastrointestinalen Tumorerkrankungen Erkrankung KRK-Risiko Klinische Eigenschaften 60–70% EM: Endometriumkarzinom, Magenkarzinom, Dünndarmkarzinom, Karzinome der Harnwege, Hauttumoren, Ovarialkarzinom Präferenziell rechtsseitige Kolontumoren mit undifferenzierter Histologie FAP 100% > 100 adenomatöse Polypen EM: Dünndarmadenome (Duodenum, Papille), Magenadenome, Dünndarmkarzinome, Schilddrüsenkarzinome, Desmoide, Osteome, CHPRE, Epidermoidzysten, Hepatoblastome, Medulloblastome Attenuierte FAP (AFAP) 70–80% Leichtere Verlaufsform der FAP mit weniger Adenomen und späterem Manifestationsalter MUTYH-assoziierte Polyposis (MAP) > 80% Autosomal rezessiver Erbgang 20 bis mehrere 100 Polypen im Dickdarm und Duodenum Breites und heterogenes klinisches Spektrum EM: selten Talgdrüsentumoren Peutz-Jeghers-Syndrom (PJS) 35–40% EM: Dünndarmpolypen Mukokutane und periorale Hyperpigmentierung (nimmt oft im Lauf des Lebens ab), Ovarialtumoren (SCTAT), Karzinome (Mamma, Pankreas, Magen, Uterus, Hoden) Familiäre juvenile Polyposis (FJP) 40–60% Oftmals schwierige histologische Interpretation der Polypen EM: In ca. 20% Magenpolypen und Magenkarzinome, hereditäre hämorrhagische Teleangiektasien, Pankreaskarzinome Cowden-Syndrom (CS) 10–30% EM: Polypen des Dünndarms, Dickdarms und Magens, mukokutane Tumoren, Mammakarzinom, Endometriumkarzinom, Schilddrüsenkarzinom, Melanom Tab. 1 Nicht-polypöse Erkrankungen HNPCC Adenomatöse Polyposen Nicht-adenomatöse Polyposen EM = extrakolische Manifestationen; CHPRE = kongenitale Hypertrophie des retinalen Pigmentepithels; SCTAT = sex cort tumor with annular tubules 2 Einteilung Ein wichtiges klinisches Kriterium zur Einteilung der monogen vererbten Kolonkarzinomsyndrome ist das Auftreten einer Polyposis. Diese liegt vor, wenn multiple (ca. > 10) polypöse Veränderungen im Dickdarm zu sehen sind, wobei die genaue Anzahl nicht eindeutig definiert ist. Bei HNPCC entsteht ein KRK ohne vorherige manifeste Poly­ posis, obwohl adenomatöse Polypen des Kolons sogar häufiger als in der Allgemeinbevölkerung vorkommen. Hiervon abzugrenzen sind die hereditären Polyposissyndrome, die wiederum in adenomatöse und nicht-adenomatöse Erkrankungen zu unterteilen sind. Zur Gruppe der adenomatösen Polyposissyndrome zählt die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP), die attenuierte Form der FAP (AFAP) und die MUTYHassoziierte adenomatöse Polyposis (MAP). Zu den nicht-adenomatösen Polyposissyndromen gehören das Peutz-Jeghers-Syndrom (PJS), die familiäre juvenile Polyposis (FJP), das Cowden-Syndrom (CS), das hyperplastische Polyposissyndrom und die erblich gemischte Polyposis. Insgesamt sind letztgenannte Erkrankungen sehr selten, weisen jedoch ebenfalls ein erhöhtes Risiko für die Entstehung eines KRK, intestinaler und extraintestinaler Tumoren auf. P Polyposissyndrome sowie nichtpolypöse Erkrankungen können zur Entstehung eines KRK beitragen. Klinik Die Diagnose HNPCC stellt eine besondere Herausforderung für den behandelnden Kliniker dar. HNPCC bleibt oft unerkannt, weil im Gegensatz zu den meisten polypösen Tumorsyndromen keine offensichtliche endoskopische Auffälligkeit eine sichere Unterscheidung vom sporadischen KRK ermöglicht. Die Verdachts­diagnose basiert daher auf einer detaillierten Anamnese, die alle wichtigen klinischen Aspekte beinhaltet, die eine Abgrenzung zum sporadischen KRK erleichtern. P Das Erkennen von HNPCC stellt eine besondere Herausforderung für den behandelnden Kliniker dar. Das durchschnittliche Erkrankungsalter bei HNPCC liegt mit 45 Jahren deutlich niedriger als beim sporadischen KRK, das mit ca. 70 Jahren auftritt [4]. Eine Erkrankung vor dem 25. Lebensjahr ist allerdings selten. Deshalb muss immer an HNPCC gedacht werden, wenn ein KRK vor dem 50. Lebensjahr auftritt. Gleiches gilt bei einer familiären Häufung des KRK, insbesondere, wenn erstgradige Angehörige betroffen sind. Da­ rüber hinaus ist HNPCC mit einem erhöhten Risiko für die Entstehung von Tumoren außerhalb des Kolons verbunden [4]. Berücksichtigt man die Pathogenese, ist es nicht verwunderlich, dass die Inzidenzen anderer Malignome (z. B. Endometriumkarzinom, Magenkarzinom, Karzinome der Harnwege, Ovarialkarzinome, Dünndarmkarzinome, ZNS-Tumoren, Hauttumoren) ebenfalls erhöht sind [5]. Weiterhin gibt es bestimmte Tumoreigenschaften, z. B. eine rechtsseitige Lokalisation oder histologische Besonderheiten (Lymphozytenreichtum, muzinöse Histologie), die bei HNPCC vermehrt auftreten. Deshalb müssen das Erkrankungsalter, die Familienanamnese und die weitere Tumor­ anamnese bei jedem Patienten mit der Diagnose eines KRK detailliert erhoben werden. Zur standardisierten Erfassung und Beurteilung der genannten Risikofaktoren wurden verschiedene diagnostische Kriterien eingeführt. Die Amsterdam-Kriterien (Tab. 2) sind sehr stringent und können den hochgradigen Verdacht auf das Vorliegen eines HNPCC bereits klinisch stellen. Sie fokussieren sich auf die Familienanamnese und sind daher bei kleineren Familien und Einzelpersonen schwierig anwendbar. Deshalb sind für den klinischen Alltag die revidierten Bethesda-Kriterien von größerer Relevanz (Tab. 2). Sind sie erfüllt, besteht die Indikation für ein molekularpatho­lo­gisches Screening des Tumorgewebes. In einer kürzlich veröffentlichten Studie [6], bei der über 10.000 neu diagnostizierte KRK systematisch molekularpathologisch auf das Vorliegen eines HNPCC untersucht wurden, lag die Sensitivität der revidierten Bethesda-Kri­ terien allerdings unterhalb 90%. Aus diesem Grund befürworten die Autoren eine HNPCC-Diagnostik aller Patienten unter 70 Jahren und über 70 Jahren nur bei positiven Bethesda-Kriterien. Dieser Empfehlung schließen sich die europä­ischen und amerikanischen [7, 8], nicht aber die deutschen Leitlinien an. Zusammenfassend sollte die Indikation eines molekularpathologischen Screenings bei klinischem Verdacht groß­ zügig gestellt werden. P Die revidierten Bethesda-Kriterien müssen bei allen Patienten mit einem KRK abgefragt werden. 3 Tab. 2 Diagnostische Kriterien für HNPCC Kriterien müssen Kriterien erfüllt sein Amsterdam-Kriterien Alle Mindestens 3 Familienangehörige sind an einem KRK oder einem HNPCC-assoziierten Tumor erkrankt Mindestens 1 Betroffener ist Verwandter 1. Grades Betroffene Patienten in mindestens 2 aufeinanderfolgenden Generationen Mindestens 1 Betroffener < 50 Jahre Ausschluss einer FAP Revidierte Bethesda-Kriterien Mindestens 1 KRK < 50. Lebensjahr Patient (jedes Alter) mit Verwandtem 1. Grades mit einem KRK oder HNPCC-assoziiertem Tumor < 50. Lebensjahr Patient mit einem KRK sowie synchronem oder metachronem KRK oder HNPCC-assoziiertem Tumor in jedem Alter Patient (jedes Alter) mit mindestens 2 Verwandten 1. oder 2. Grades mit einem KRK oder HNPCC-assoziiertem Tumor Patient mit KRK und suggestiver Histologie < 60. Lebensjahr Amsterdam-Kriterien I – nur KRK Amsterdam-Kriterien II – zusätzlich extrakolische Tumoren Die klassische familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) ist der häufigste Vertreter der polypösen Tumorsyndrome. Charakteristisch für die FAP ist der Nachweis von mehr als 100 kolorektalen Adenomen, die meist erst nach dem 1. Lebensjahrzehnt entstehen. Patienten mit klassischer FAP entwickeln unbehandelt fast zu 100% ein KRK [3]. Polypen außerhalb des Kolons können ebenfalls auftreten und zu Karzinomen führen. In 75% finden sich Duodenal- und Papillenadenome, weniger häufig Magenadenome. Insbesondere die Entstehung eines Duodenalkarzinoms ist relativ häufig [9]. Das Gesamtrisiko an einem Magenkarzinom zu erkranken, liegt in der Größenordnung von 1% und ist somit relativ gering. Häufig finden sich Drüsenkörperzysten im Magen, diese zeigen allerdings nur eine geringe Entartungstendenz. Bei der FAP beobachtet man weiterhin Desmoidtumoren, Schilddrüsenkarzinome (überwiegend bei Frauen), Hirntumoren (meist Medulloblastome) und Hepatoblastome, Osteome, Epidermoidzysten und Pigmentanomalien der Retina (CHRPE). P Die klassische FAP ist durch den Nachweis von mehr als 100 kolorektalen Adenomen charakterisiert und führt unbehandelt fast zu 100% zu einem KRK. Die attenuierte Form der FAP (AFAP) wird durch eine geringere Anzahl (< 100) und ein 10–20 Jahre späteres Auftreten der kolorektalen Adenome und Karzinome definiert [10, 11]. Trotzdem ist das Risiko für die Entstehung eines KRK im Laufe des Lebens ohne Behandlung sehr hoch und die extrakolischen Manifestationen sind ähnlich. Die MUTYH-assoziierte adenomatöse Polyposis (MAP) wird als einziges der hereditären KRK-Syndrome autosomal rezessiv vererbt. Meist entstehen zahlreiche adenomatöse Polypen, allerdings ist das klinische Spektrum breit und es kann auch zur Entstehung eines KRK ohne Polyposis kommen. Die MAP ist deshalb nicht nur die wichtigste Differenzialdiagnose der FAP und AFAP, sondern auch des HNPCC. In der Regel treten KRK bei MAP erst nach dem 30. Lebensjahr auf. Bei MAP-Patienten besteht auch ein erhöhtes Risiko für die Entstehung von Duodenalkarzinomen sowie für extraintesti­ nale Tumoren wie Ovarial-, Mamma-, Blasen- und Hautkarzinome [12, 13]. P Die MAP wird als einziges der hereditären KRK-Syndrome autosomal rezessiv vererbt. Sie ist eine wichtige Differenzialdiagnose der FAP, der AFAP und des HNPCC. Verschiedene nicht-adenomatöse Polyposissyndrome, z. B. das Peutz-Jeghers-Syndrom (PJS), die familiäre juvenile Polyposis (FJP) oder das Cowden-Syndrom (CS), können ebenfalls zur Entstehung eines KRK beitragen [3]. Die verschiedenen klinischen Besonderheiten sind in Tabelle 1 zusammengefasst. 4 Beim PJS kommen neben den histologisch charakteristischen hamartomatösen Polypen des Gastrointestinaltrakts mukokutane Melaninpigmentierungen mit Betonung im perioralen Bereich vor. Das Manifestationsalter ist sehr variabel. Das Lebenszeitrisiko für die Entstehung eines Malignoms (Kolon, Mamma, Dünndarm, Pankreas, Magen, Uterus, Ovarien, Hoden) liegt aber bei nahezu 90%. Die Diagnose der FJP wird bei Vorliegen von juvenilen Polypen auch außerhalb des Kolons in Kombination mit einer auffälligen Familienanamnese gestellt. Neben einem relevanten Lebenszeitrisiko an einem KRK zu erkranken, treten bei der FJP gehäuft Magenpolypen, Magenkarzinome, Pankreaskarzinome und hämorrhagische Teleangiektasien (Morbus Osler-Rendu-Weber) auf. Beim CS steht das Auftreten extraintestinaler Tumoren im Vordergrund, z. B. Mammaund Schilddrüsenkarzinome. Darüber hinaus können KRK, Melanome, Nieren- und Endometriumkarzinome entstehen. Molekulare Pathogenese Die Pathogenese von HNPCC beruht auf einer Mutation in einem der Gene des DNAMismatch-Reparatur (MMR)-Systems. Über 80% der gefundenen MMR-Mutationen finden sich in den Genen MLH1 und MSH2. Weitaus seltener sind Keimbahnverände­ rungen in den Genen MSH6, PMS2 und EPCAM [14, 15]. Das MMR-System ist für die Reparatur von Basenfehlpaarungen im Genom notwendig, die bei der DNA-Replika­ tion entstehen. Bei einer Keimbahnmutation in einem der beschriebenen Gene werden die zugehörigen Proteine nur von einem intakten Allel exprimiert. Deshalb ist das Risiko eines kompletten Expressionsverlusts beim betroffenen Anlageträger deutlich höher. Im Sinne dieser „Second-Hit-Theorie“ können beispielsweise epigenetische Veränderungen wie Methylierungsprozesse das intakte Allel inaktivieren. Die Folge ist ein Defekt des MMR-Systems und eine zunehmende genetische Instabilität in der betroffenen Zelle. Im ungünstigen Fall akkumulieren Mutationen und es kommt zu einer malignen Transformation. Das EPCAM-Gen ist kein direkter Bestandteil des MMR-Systems. Deletionen im EPCAM-Gen führen zu einer Inaktivierung des MSH2-Promotors und in der Folge zu einem Expressionsverlust mit dem klinischen Bild eines HNPCC [16]. P Die Pathogenese von HNPCC beruht auf der Mutation von Genen des DNA-Mismatch-Reparatursystems. Bei der klassischen Form der FAP lassen sich bei etwa 80% der Patienten heterozygote Mutationen im APC-Gen nachweisen. Diese werden in 10–25% der Fälle nicht von den Eltern weitervererbt, sondern sind Neumutationen [17]. Beim APC-Gen handelt es sich um ein Tumorsuppressorgen, das indirekt in den Wnt-Signalweg eingreift. Das kodierte Protein ist am Abbauprozess des β-Catenin beteiligt. Eine Mutation im APC-Gen führt zu einer Akkumulation von β-Catenin in der Zelle und zu einer Dysregulation des Zellzyklus [18]. Im Gegensatz zur klassischen FAP finden sich bei der AFAP in nur ca. 10–30% der Patienten Keimbahnmutationen des APC-Gens [11]. Folglich handelt es sich bei der AFAP um eine genetisch heterogene Erkrankungsgruppe und bei einem relevanten Anteil der Patienten lässt sich aktuell keine Mutation nachweisen. Somit ist davon auszugehen, dass im Krankheitsbild der AFAP genetisch bisher nicht charakterisierte erbliche Tumorsyndrome enthalten sind. Für einen Großteil der weiteren erblichen Tumorsyndrome, die zu einem KRK führen können, sind die zugrunde liegenden genetischen Veränderungen definiert und beschrieben worden [18]. Eine Übersicht ist in Tabelle 3 zusammengefasst. 5 Tab. 3 Genetische Grundlage der hereditären Kolonkarzinomsyndrome Erkrankung Mutiertes Gen Funktion HNPCC MLH1 Bestandteile des DNA-Mismatch-Reparatur-Systems MSH2 MSH6 PMS2 FAP EPCAM EPCAM-Mutationen führen zur Inaktivierung des MSH2 Promotors APC Regulation des β-Catenin-Abbaus Mutationen führen zur Akkumulation von β-Catenin und Störung des Zellzyklus Attenuierte FAP (AFAP) APC 10–15% s. FAP MUTYH-assoziierte Polyposis (MAP) MUTYH DNA-Glykosylase, beteiligt an der Reparatur von oxidativen DNA-Schäden Peutz-JeghersSyndrom (PJS) STK11/LKB1 Serin/Threonin-Kinase 11, liver kinase B1; Proteinkinase, beteiligt an der Regulation der Zellproliferation und Zellpolarität, Tumorsuppressorfunktion. Familiäre juvenile Polyposis (FJP) SMAD4 SMAD4 – Teil des TGF-β-Signalwegs BMPR1A Bone morphogenetic protein receptor, type- 1A – Regulation der Zelldifferenzierung und Apoptose CowdenSyndrom (CS) PTEN Phosphatase – Regulation des Zellzyklus über die Dephosphorylierung von PIP3 Molekulare Diagnostik Bei jedem Patienten mit der Erstdiagnose eines KRK muss die Möglichkeit des Vor­ liegens eines erblichen Tumorsyndroms berücksichtigt werden. Zur Erkennung von HNPCC werden bei allen Patienten die revidierten Bethesda-Kriterien abgefragt. Eine weiterführende molekular-pathologische Untersuchung auf HNPCC sollte bei mindestens 1 erfüllten revidierten Bethesda-Kriterium empfohlen werden. Wie oben bereits erwähnt, wird von manchen Zentren und Gesellschaften eine breiter angelegte Screeningstrategie für alle Patienten unter 70 Jahren und alle Patienten über 70 Jahren mit 1 erfüllten revidierten Bethesda-Kriterium vorgeschlagen. Zunächst wird am Tumorgewebe eine immunhistochemische (IHC) Expression der MMR-Pro­teine MLH1, MSH2, MSH6 und PMS2 untersucht. Ein KRK, das im Rahmen eines HNPCC entsteht, zeigt in dieser Untersuchung typischerweise den Ausfall von MMR-Proteinen im Vergleich zum gesunden Gewebe. Der Vorteil der IHC besteht darin, dass sie die Keimbahnmutation der MMR-Gene weiter eingrenzen kann. Bei unauffälligem Ergebnis sollte zusätzlich eine Untersuchung der Mikrosatelliteninstabilität (MSI) erfolgen, als Hinweis auf einen Defekt des MMR-Systems. Mikrosatelliten bestehen aus repetitiven DNA-Sequenzen von 2–4 Basenpaaren und sind für Lesefehler im Rahmen der DNAReplikation besonders anfällig. Sie eignen sich deshalb besonders zum Nachweis für Defekte im DNA-Reparatursystem. Finden sich bei mehr als 30% der Mikrosatellitenmarker auffällige Unterschiede zwischen gesundem und Tumorgewebe, so spricht man von einem hochgradig mikrosatelliteninstabilen (MSI-H) Tumor als Hinweis auf das Vorliegen eines HNPCC. Falls immunhistochemisch ein Expressionsverlust eindeutig ist, kann auf die MSI-Analyse auch verzichtet werden. Eine Übersicht über das Vorgehen zur Abklärung eines HNPCC gibt (Abb. 1). P Die immunhistochemische Unter­ suchung der MMR-Genexpression und die Mikrosatellitenstabilitäts-Analyse dienen als Screeninguntersuchung auf das Vorliegen eines HNPCC. 6 Abb. 1 Diagnose KRK Jeder Patient! Rev. BethesdaKriterien erfüllt? Nein Ja Screening: IHC, MSI-Analyse Nach-, Vorsorge nach S3-Leitlinie Unauffällig Auffällig Aufklärung (GenDG); genetische Beratung Patient und Angehörige Einwilligung Sequenzierung Mutationsnachweis Nein Sporad. KRK Unbekannte Mutation BRAF-Mutation EPCAM-Mutation Nachsorge nach S3-Leitlinie Ja Spezifische Nach-, Vorsorge Patient und Anlageträger Vorgehen zur Diagnose bei Verdacht auf HNPCC. Vereinfachter Algorithmus. Für Details s. aktuelle S3-Leitlinie [21] Eine besondere Situation ist der Nachweis einer MSI-H zusammen mit einem Expressionsverlust von MLH1. Obwohl dies eine typische Konstellation für das Vorliegen eines HNPCC ist, liegt diese auch bei bis zu 15% der sporadischen KRK vor. Die Pathogenese beruht dann auf einer Methylierung des MLH1-Promotors. Dieser Methylierungsdefekt geht wiederum mit einer somatischen BRAF-Mutation (V600E) einher, die praktisch nie bei einem HNPCC-assoziierten KRK auftritt [19]. Daher sollte bei immunhistochemischem MLH1-Verlust zur weiteren Differenzierung eine BRAF-Mutationsanalyse erfolgen. Die MSI-Analyse und die IHC werden somit als Screeningverfahren bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen von HNPCC genutzt. Ergibt sich hierbei ein auffälliger Befund, besteht die Indikation zu einer humangenetischen Beratung und endgültigen Diagnosesicherung mittels Sequenzanalyse des jeweiligen MMR-Gens. Durch die molekulargenetische Diagnostik auf Keimbahnebene kann die klinische Verdachtsdiagnose einer erblichen Darmkrebserkrankung bestätigt werden, indem eine Mutation in dem entsprechenden Gen nachgewiesen wird. Gelegentlich ergibt sich die Situation, dass bei einem MSH2-Expressionsausfall und einem mikrosatelliteninstabilen Tumor keine Keimbahnmutation im MSH2-Gen nachweisbar ist. In dieser Situation ist die Suche nach einer Deletion im 3’-Bereich des EPCAM-Gens indiziert (s. Abschnitt „Molekulare Pathogenese“). Der Nachweis einer Keimbahnmutation in einem der MMR-Gene bei einem betroffenen Indexpatienten ermöglicht die prädiktive Testung weiterer Familienmitglieder. Eine molekulargenetische Diagnostik und prädiktive Mutationsanalysen sind durch das Gendiagnostikgesetz (GenDG) geregelt und sollten im Rahmen von genetischen Beratungen durchgeführt werden, da die Diagnose eines erblichen KRK für den Pa­ tienten selbst bzw. seine Angehörigen erhebliche Konsequenzen hat. Somit bezieht sich die genetische Beratung auch auf Familienangehörige von Indexpatienten, die potenzielle Anlageträger sind. Eine prädiktive Testung einer bekannten familiären Muta­ tion kann für Risikopersonen für HNPCC ab dem 18. Lebensjahr angeboten werden. 7 Die genetische Beratung sollte auch psychosoziale und versicherungstechnische Aspekte beinhalten. Liegt endoskopisch und histologisch das Bild einer klassischen FAP vor, so besteht nach humangenetischer Beratung die Indikation zum Nachweis der Keimbahnmutation im APC-Gen. Beim Nachweis einer APC-Mutation wird eine genetische Beratung empfohlen, in der die Möglichkeit einer prädiktiven Testung der Angehörigen des Indexpatienten besprochen wird. Eine Besonderheit besteht darin, dass eine prädik­ tive Testung bereits im Kindesalter angeboten werden kann, weil bereits im 10. Lebensjahr mit Vorsorgemaßnahmen begonnen wird. Ergibt sich klinisch der Verdacht auf eine AFAP, so besteht ebenfalls die Indikation zur Suche nach Mutationen im Bereich des APC-Gens. Hierbei finden sich allerdings in nur 10–30% der Fälle entsprechende Keimbahnmutationen. Eine wichtige Differenzialdiagnose bei fehlendem Nachweis einer APC-Mutation ist die MAP. Deshalb sollte eine Testung des MUTYH-Gens bei denjenigen Patienten mit klinischem Verdacht auf AFAP durchgeführt werden, bei denen keine APC-Mutation gefunden wurde. Für Geschwister eines Betroffenen besteht bei autosomal rezessiver Vererbung ebenfalls ein Risiko von 25% beide Mutationen geerbt zu haben. Verwandten von Betroffenen ab dem 18. Lebensjahr sollten eine genetischen Beratung empfohlen werden. In diesem Rahmen kann eine prädiktive Testung durchgeführt werden. Eine besondere Konstella­ tion entsteht bei heterozygoten Anlageträgern der MAP. Das Risiko für die Entstehung eines KRK wurde bisher nicht im Detail validiert, scheint aber etwas erhöht zu sein, sodass die aktuelle Leitlinie eine Vorsorgestrategie analog zu Verwandten 1. Grades von Patienten mit einem sporadischen KRK empfiehlt (Koloskopie 10 Jahre vor Auftreten des Karzinoms beim Indexpatienten). P Das diagnostische Prozedere bei V. a. Vorliegen eines erblichen Polyposissyndroms richtet sich nach dem klinischen Bild unter Einbeziehung der extrakolischen Manifestationen. Die weiterführende genetische Diagnostik beim Vorliegen einer nicht-adenomatösen hamartomatösen Polypose orientiert sich am klinischen Bild, der Histologie und dem Spektrum weiterer Tumorerkrankungen beim Indexpatienten und der Familie. Die hohe Heterogenität dieser Tumorsyndrome, die oft sehr variable klinische Ausprägung und die schwierige histologische Beurteilung erschweren sowohl die Diagnostik als auch die Planung einer adäquaten Nachsorge. Daher sollten diese Patienten an ein erfahrenes interdisziplinäres Zentrum angebunden werden. Vorsorgestrategien Die engmaschige endoskopische Kontrolle von Patienten mit familiärem Darmkrebs ist von fundamentaler Bedeutung für eine effiziente Vorsorge und Früherkennung. Dies gilt sowohl für Patienten, die bereits an einem KRK erkrankt waren, als auch für asymptomatische Anlageträger. Die endoskopische Diagnostik beschränkt sich nicht auf den Dickdarm, sondern schließt in vielen Fällen den oberen Gastrointestinaltrakt mit ein. Darüber hinaus ist meist ein engmaschiges Screening zur Erkennung extraintestinaler Tumoren, z. B. im gynäkologischen Bereich, notwendig. Basierend auf den klinischen Manifestationen wurden daher für verschiedene Tumorsyndrome unterschiedliche Vorsorgestrategien entwickelt. Abhängig von der Häufigkeit der verschiedenen Erkrankungen sind diese mehr oder weniger umfassend validiert. Insbesondere für die nicht-adenomatösen Polyposen können aufgrund der sehr eingeschränkten Evidenz keine generellen Empfehlungen ausgesprochen werden. Eine Übersicht über die verschiedenen Früherkennungs- und Vorsorgeprogramme gibt Tabelle 4. Besteht klinisch der Verdacht auf ein erbliches Kolonkarzinomsyndrom (z. B. positive Amsterdam- oder Bethesdakriterien) ohne Nachweis einer MSI oder einer Keimbahnmutation, sollten engmaschigere Vorsorgeuntersuchungen als bei der Allgemeinbevölkerung erfolgen (s. auch aktuelle S3-Leitlinie [21]). P Die Vorsorgestrategie beim Vorliegen eines HNPCC beschränkt sich nicht auf den Dickdarm, sondern bezieht extra­ kolische Manifestationen ein. 8 Vorsorge- und Früherkennungsstrategien entsprechend der aktuellen S3-Leitlinien [21] Syndrom ÖGD Koloskopie Sonstiges HNPCC I: 1 I: 1 B: 30–35 B: 20–25 § Tab. 4 Frauen: jährliche gynäkologische Untersuchung ab dem 25. LJ inkl. transvaginaler Ultraschall; jährliche Endometriumbiopsie ab dem 35. LJ; ab dem 40. LJ evtl. prophylaktische Hysterektomie/ Ovarektomie Nutzen der Abdomensonografie und Urinzytologie fraglich, daher aktuell keine klare Empfehlung; keine generelle Empfehlung zur prophylaktischen Kolektomie FAP AFAP MAP PJS FJP I: 1–3* I: 1 B: 20–25 B: 10** Beurteilung der Papille in Seitoptik; prophylaktische Kolektomie, wenn möglich, nach der Pubertät; mindestens jährliche Pouchoskopie und Rektoskopie nach Kolektomie; jährliche Schilddrüsensonografie (15. LJ) bei Frauen I: 1–3* I: 1* s. FAP B: 30 B: 15 Wegen rechtsseitiger Betonung Koloskopiescreening mit kompletter Koloskopie, nicht mit Sigmoidoskopie I: 1–3* I: 1* B: 25–30 B: 18–20 Prophylaktische Kolektomie, wenn die Polypen endoskopisch nicht mehr beherrschbar sind I: 2–3* I: 2–3 B: 10 B: 8–20+ I: 1–3* I: 1–3+ B: 10–15 B: 10–15 Mammakarzinom-Screening (MRT/US) jährlich ab dem 25. LJ; jährliche Untersuchung der Hoden, jährliche gynäkologische Untersuchung ab Geburt. Dünndarmuntersuchung ab ca. 8.–12. LJ alle 2–3 Jahre ÖGD = Ösophagogastroduodenoskopie; LJ = Lebensjahr; I = Intervall [Jahre]; B = Beginn [Lebensjahr] * Intervall abhängig vom endoskopischen Bild (Anzahl, Größe und Histologie von Polypen) ** Bei der FAP Beginn mit Rektosigmoidoskopie, komplette Koloskopie beim Nachweis von Adenomen + abhängig von klinischen Beschwerden § bzw. 5 Jahre vor dem jüngsten Manifestationsalter in der Familie Ein HNPCC führt nur selten zur Entstehung eines KRK vor dem 25. Lebensjahr. Somit beginnt das jährliche Koloskopiescreening mit 25 Jahren [20]. Eine Ausnahme von diesem Vorgehen ist ein sehr junges Erkrankungsalter in der Familie. In diesem Fall beginnt die Koloskopievorsorge 5 Jahre vor dem jüngsten Manifestationsalter in der Familie. Ab dem 30. Lebensjahr sind jährliche Gastroskopien indiziert. Weiterhin ist bei Frauen ab dem 25. Lebensjahr eine jährliche gynäkologische Vorstellung sinnvoll. Die gynäkologische Vorsorge umfasst ab dem 35. Lebensjahr eine jährliche Endometriumbiopsie. Letztendlich sollte ab dem 40. LJ eine prophylaktische Hysterektomie und Ovarektomie diskutiert werden. Die Bedeutung einer jährlichen Abdomensonografie und Harnzytologie zur Vorsorge eines Tumors der ableitenden Harnwege ist nicht klar und kann aktuell nicht generell empfohlen werden [21]. Bei Anlageträgern der klassischen FAP beginnt die Koloskopievorsorge ca. mit dem 10. Lebensjahr. Das distale Kolon ist immer beteiligt. Deshalb beginnt das Vorsorgescreening mit jährlichen Rektosigmoidoskopien. Spätestens wenn hier Adenome entstehen, muss die endoskopische Vorsorge auf das gesamte Kolon ausgeweitet werden. Das Gastroskopiescreening sollte mit ca. 20–25 Jahren beginnen. Die Untersuchungsintervalle hängen dann vom klinischen Bild ab, d. h. von der Anzahl, Größe und Histologie der Polypen. Eine standardisierte Beurteilung der Duodenalpolyposis ermöglicht die sogenannte Spigelman-Klassifikation. Neben der üblichen Gastroskopie sollte auch in regelmäßigen Abständen eine adäquate Beurteilung der Papillenregion in Seitoptik mithilfe eines Duodenoskops durchgeführt werden. Weiterhin ist aufgrund des erhöhten Karzinomrisikos vornehmlich bei Frauen [22] eine Schilddrüsensonografie bei weiblichen Anlageträgern ab dem 15. Lebensjahr sinnvoll. Hepatoblastome entstehen bei FAP-Anlageträgern meist vor dem 10. Lebensjahr. Insgesamt ist das Risiko aber gering, sodass aktuell kein generelles Screening empfohlen wird. P Die Koloskopievorsorge beginnt bei der klassischen FAP ca. mit dem 10. Lebensjahr. 9 Da die FAP eine obligate Präkanzerose für das KRK darstellt, ist die prophylaktische Kolektomie eine wichtige präventive Maßnahme. Optimalerweise erfolgt die Kolektomie nach der Pubertät und vor dem 20. Lebensjahr. Die klassische FAP kann allerdings sehr unterschiedlich verlaufen. Deshalb ist darauf zu achten, dass eine Operation spätestens dann erfolgen muss, wenn eine sichere endoskopische Kontrolle der Kolonadenome nicht mehr möglich ist. Nach der Operation kommt es häufig zur Entwicklung von Adenomen im Bereich des Pouches. Daher muss hier eine regelmäßige jährliche endoskopische Nachsorge erfolgen. Dies ist von besonderer Wichtigkeit, wenn ein Rektumteil belassen wird. In diesem Fall sollten die Kontrollintervalle 12 Monate keinesfalls überschreiten oder abhängig vom Befund ggf. noch engmaschiger erfolgen. P Nach der prophylaktischen Kolektomie muss bei der klassischen FAP die endoskopische Kontrolle des Pouches und des Restrektums fortgeführt werden. HNPCC ist keine generelle Indikation für eine prophylaktische Kolektomie. Meist erfolgt die Diagnose eines HNPCC nach Resektion eines KRK und anschließender diagnostischer Aufarbeitung bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen eines erblichen Tumorsyndroms. Kommt es bei bereits bekanntem HNPCC zum Auftreten eines KRK, kann eine subtotale Kolektomie im Einzelfall diskutiert werden. Prospektive Daten liegen zu dieser Frage bisher nicht vor. In retrospektiven Analysen konnte gezeigt werden, dass mit metachronen Tumoren in über 20% der Patienten zu rechnen ist, bei denen lediglich eine segmentale Kolektomie erfolgt ist [23]. Daher sollte die Möglichkeit einer subtotalen Kolektomie bei Patienten mit HNPCC und Kolonkarzinom nach ausführlicher Diskussion mit dem Patienten erwogen werden und kann im Einzelfall, z. B. bei schwierigen endoskopischen Verhältnissen, sinnvoll sein. Bei Frauen, die an HNPCC erkrankt sind, konnte ein deutlicher Rückgang der Entstehung von Endometrium- und Ovarialkarzinomen nach prophylaktischer Hysterektomie und Ovarektomie nachgewiesen werden [24]. Daher sollte mit betroffenen Anlageträgerinnen eine entsprechende prophylaktische Operation nach eintretender Menopause diskutiert werden. Die Wirksamkeit von Acetylsalicylsäure (ASS) zur Vorbeugung von Tumorerkrankungen wurde in den letzten Jahren vielfach diskutiert. Unterschiedliche Ergebnisse ergaben sich für die präventive Bedeutung von ASS für das KRK. In einer prospektiven rando­ misierten Untersuchung (CAPP2-Studie) wurde der Effekt von 600 mg ASS täglich bei HNPCC untersucht. Die kurzfristige Analyse am Ende des Behandlungszeitraums ergab keinen positiven Effekt bezüglich der Entstehung von Adenomen oder Karzinomen. Allerdings zeigte sich nach ca. 5 Jahren Nachbeobachtungszeit eine signi­fikante Verringerung der Entstehung von KRK bei Patienten, die ASS eingenommen hatten [25]. Diese Ergebnisse sind vielversprechend und unterstreichen eindrucksvoll, dass selbst bei erblichen Tumorsyndromen mit einer sehr schnellen Karzinogenese die Beurteilung eines Effekts auf die Tumorentstehung ausreichend lange Nachbeobachtungszeiten benötigt. Aufgrund der sehr hohen täglichen ASS-Dosis und der zu erwartenden relevanten Nebenwirkungen in der täglichen Praxis kann allerdings aktuell keine abschließende Empfehlung zur prophylaktischen ASS-Gabe bei HNPCC ausgesprochen werden. Weitere Studien, insbesondere mit niedrigeren ASS-Dosierungen, sind diesbezüglich notwendig. P Eine prophylaktische Gabe von ASS wird weder bei der FAP noch bei HNPCC generell empfohlen, obwohl die prospektive CAPP2-Studie auf eine Wirksamkeit beim HNPCC hindeutet. Eine analoge Studie (CAPP1-Studie) ergab bei der FAP einen Trend zur Entstehung weniger und kleinerer Polypen unter 600 mg ASS im Vergleich zur Placebogruppe. Ein signifikanter Effekt konnte in dieser Studie allerdings nicht nachgewiesen werden [26]. Weitere Untersuchungen weisen auf einen möglichen Effekt von Sulindac oder COX2Inhibitoren auf die Entstehung von Adenomen bei der FAP hin [27, 28]. Allerdings ist die Bedeutung solcher nicht-steroidaler Antiphlogistika für die Karzinomentstehung unklar. Darüber hinaus sind die getesteten Substanzen in Deutschland aktuell nicht zugelassen oder erhältlich. Zusammenfassend kann eine medikamentöse Prophylaxe sowohl für die FAP als auch für HNPCC aktuell nicht generell empfohlen werden. In ausgewählten Einzelfällen kann eine Therapie individuell diskutiert werden. Eine mögliche Situation wären zum Beispiel endoskopisch und chirurgisch schwierig zu behandelnde Dünndarmadenome. 10 Zu empfehlende Literatur Literatur 1 Robert Koch-Institut, Zentrum für Krebsregisterdaten, Berlin https://www.krebsdaten.de 2 Lynch HT, Lynch PM, Lanspa SJ, Snyder CL, Lynch JF, Boland CR. Review of the Lynch syndrome: history, molecular genetics, screening, differential diagnosis, and medicolegal ramifications. Clin Genet. 2009;76(1):1–18. 3 Jasperson KW1, Tuohy TM, Neklason DW, Burt RW. Hereditary and familial colon cancer. Gastroenterology. 2010;138(6):2044–58. 4 Bonadona V, Bonaïti B, Olschwang S, Grandjouan S, Huiart L, Longy M, et al. Cancer risks associated with germline mutations in MLH1, MSH2, and MSH6 genes in Lynch syndrome. JAMA. 2011;305(22):2304–10. 5 Win AK, Young JP, Lindor NM, Tucker KM, Ahnen DJ, Young GP, et al. Colorectal and other cancer risks for carriers and noncarriers from families with a DNA mismatch repair gene mutation: a prospective cohort study. J Clin Oncol. 2012;30(9):958–64. 6 Moreira L, Balaguer F, Lindor N, de la Chapelle A, Hampel H, Aaltonen LA, et al. Identification of Lynch syndrome among patients with colorectal cancer. JAMA. 2012;308(15):1555–65. 7 Balmaña J, Balaguer F, Cervantes A, Arnold D; ESMO Guidelines Working Group. Familial risk-colorectal cancer: ESMO Clinical Practice Guidelines. Ann Oncol. 2013;24 Suppl 6:vi73–80. 8 The National Comprehensive Cancer Network (NCCN), Fort Washington, PA, USA http://www.nccn.org/ 9 Bülow S, Björk J, Christensen IJ, Fausa O, Järvinen H, Moesgaard F, et al. Duodenal adenomatosis in familial adenomatous polyposis. Gut. 2004;53(3):381–6. 10 Burt RW, Leppert MF, Slattery ML, Samowitz WS, Spirio LN, Kerber RA, et al. Genetic testing and phenotype in a large kindred with attenuated familial adenomatous polyposis. Gastroenterology. 2004;127(2):444–51. 11 Knudsen AL, Bisgaard ML, Bülow S. Attenuated familial adenomatous polyposis (AFAP). A review of the literature. Fam Cancer. 2003;2(1):43–55. 12 Cleary SP, Cotterchio M, Jenkins MA, Kim H, Bristow R, Green R, et al. Germline MutY human homologue mutations and colorectal cancer: a multisite case-control study. Gastroenterology. 2009;136(4):1251–60. 13 Vogt S, Jones N, Christian D, Engel C, Nielsen M, Kaufmann A, et al. Expanded extracolonic tumor spectrum in MUTYH-associated polyposis. Gastroenterology. 2009;137(6):1976–85. 14 Lynch HT, de la Chapelle A. Hereditary colorectal cancer. N Engl J Med. 2003;348(10):919–32. 11 15 Kuiper RP, Vissers LE, Venkatachalam R, Bodmer D, Hoenselaar E, Goossens M, et al. Recurrence and variability of germline EPCAM deletions in Lynch syndrome. Hum Mutat. 2011;32(4):407–14. Literatur 16 Ligtenberg MJ, Kuiper RP, Chan TL, Goossens M, Hebeda KM, Voorendt M, et al. Heritable somatic methylation and inactivation of MSH2 in families with Lynch syndrome due to deletion of the 3’ exons of TACSTD1. Nat Genet. 2009;41(1):112–7. 17 Hes FJ, Nielsen M, Bik EC, Konvalinka D, Wijnen JT, Bakker E, et al. Somatic APC mosaicism: an underestimated cause of polyposis coli. Gut. 2008;57(1):71–6. 18 Rustgi AK. The genetics of hereditary colon cancer. Genes Dev. 2007;21(20):2525–38. 19 Deng G, Bell I, Crawley S, Gum J, Terdiman JP, Allen BA, et al. BRAF mutation is frequently present in sporadic colorectal cancer with methylated hMLH1, but not in hereditary nonpolyposis colorectal cancer. Clin Cancer Res. 2004;10(1 Pt 1):191–5. 20 Engel C, Rahner N, Schulmann K, Holinski-Feder E, Goecke TO, Schackert HK, et al. Efficacy of annual colonoscopic surveillance in individuals with hereditary nonpolyposis colorectal cancer. Clin Gastroenterol Hepatol. 2010;8(2):174–82. 21 Pox C, Aretz S, Bischoff SC, Graeven U, Hass M, Heußner P, et al. S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom. Version 1.0 – Juni 2013. Z Gastroenterol. 2013;51(8):753–854. 22 Herraiz M, Barbesino G, Faquin W, Chan-Smutko G, Patel D, Shannon KM, et al. Prevalence of thyroid cancer in familial adenomatous polyposis syndrome and the role of screening ultrasound examinations. Clin Gastroenterol Hepatol. 2007;5(3):367–73. 23 Parry S, Win AK, Parry B, Macrae FA, Gurrin LC, Church JM, et al. Metachronous colorectal cancer risk for mismatch repair gene mutation carriers: the advantage of more extensive colon surgery. Gut. 2011;60(7):950–7. 24 Schmeler KM, Lynch HT, Chen LM, Munsell MF, Soliman PT, Clark MB, et al. Prophylactic surgery to reduce the risk of gynecologic cancers in the Lynch syndrome. N Engl J Med. 2006;354(3):261–9. 25 Burn J, Gerdes AM, Macrae F, Mecklin JP, Moeslein G, Olschwang S, et al. Long-term effect of aspirin on cancer risk in carriers of hereditary colorectal cancer: an analysis from the CAPP2 randomised controlled trial. Lancet. 2011;378(9809):2081–7. 26 Burn J, Bishop DT, Chapman PD, Elliott F, Bertario L, Dunlop MG, et al. A randomized placebo-controlled prevention trial of aspirin and/or resistant starch in young people with familial adenomatous polyposis. Cancer Prev Res (Phila). 2011;4(5):655–65. 27 Giardiello FM, Hamilton SR, Krush AJ, Piantadosi S, Hylind LM, Celano P, et al. Treatment of colonic and rectal adenomas with sulindac in familial adenomatous polyposis. N Engl J Med. 1993;328(18):1313–6. 12 28 Steinbach G, Lynch PM, Phillips RK, Wallace MH, Hawk E, Gordon GB, et al. The effect of celecoxib, a cyclooxygenase-2 inhibitor, in familial adenomatous polyposis. N Engl J Med. 2000;342(26):1946–52. Literatur Abkürzungsverzeichnis AFAP attenuierte familiäre adenomatöse Polyposis CHPRE kongenitale Hypertrophie des retinalen Pigmentepithels CSCowden-Syndrom FAP familiäre adenomatöse Polyposis FJP familiäre juvenile Polyposis GenDGGendiagnostikgesetz HNPCC hereditäres nicht-polypöses kolorektales Karzinom IHC Immunhistochemie KRK kolorektales Karzinom MAP MUTYH-assoziierte Polyposis MMR Mismatch-Reparatur-Gen MSAMikrosatelliteninstabilitäts-Analyse MSI-H Mikrosatelliteninstabilität hoch MSS Mikrosatellitenstabilität PJS Peutz-Jeghers-Syndrom ZNS zentrales Nervensystem 13 Fragen zum hereditären Kolonkarzinom Falk Gastro-Kolleg Darm Frage 1: Die revidierten Bethesda-Kriterien sind bei einer Patientin mit einem Rektumkarzinom (Erstdiagnose mit 60 Jahren) erfüllt, wenn: EE EE EE EE EE zusätzlich eine CLL diagnostiziert wird ein Familienangehöriger 1. Grades mit 70 Jahren an einem Kolonkarzinom erkrankt mit 65 Jahren ein Endometriumkarzinom diagnostiziert wird es sich aufgrund der Histologie um einen G2-Tumor handelt Drüsenkörperzysten im Magen zu finden sind Frage 2: Welches der unten genannten Karzinome gehört nicht zu den typischen HNPCC-assoziierten Tumoren? EE EE EE EE EE Dünndarmkarzinom Kleinzelliges Bronchialkarzinom Kolonkarzinom Karzinom der ableitenden Harnwege Endometriumkarzinom Frage 3: Welche Aussage zur FAP trifft zu? EE EE EE EE EE Bitte beachten Sie: Bei der Beantwortung der Fragen ist immer nur 1 Antwort möglich. Die Beantwortung der Fragen und Erlangung des Fortbildungszertifikats ist nur online möglich. Bitte gehen Sie dazu auf unsere Homepage www.falkfoundation.de. Unter dem Menüpunkt Falk Gastro-Kolleg können Sie sich anmelden und die Fragen beantworten. Bitte diesen Fragebogen nicht per Post oder Fax schicken! Die FAP ist das häufigste erbliche Tumorsyndrom, das zum KRK führt Das Lebenszeitrisiko zur Entstehung eines KRK liegt bei 40% Das rechtsseitige Kolon ist bevorzugt befallen Es handelt sich um eine autosomal rezessive Erkrankung Neben dem KRK-Risiko ist auch das Risiko für Duodenalkarzinome erhöht Frage 4: Welche Aussage zur Epidemiologie von erblichen KRK-Syndromen trifft zu? EE Ca. 3–5% aller KRK entstehen auf dem Boden einer monogen vererbten Tumorerkrankung EE Bei ca. 3–5% der KRK-Patienten zeigt sich eine familiäre Belastung EE Eine familiäre Belastung ist gleichbedeutend mit einer monogen vererbten Erkrankung EE Man kann in Deutschland mit ca. 25.000 Patienten pro Jahr rechnen, die ein KRK auf dem Boden eines HNPCC entwickeln EE Das häufigste erbliche Tumorsyndrom, das zu einem KRK führt, ist die MAP Frage 5: Welche Aussage zur Diagnostik des HNPCC trifft zu? Wichtig: Fragebeantwortung unter www.falkfoundation.de Falk Gastro-Kolleg EE Die revidierten Bethesda-Kriterien kommen nur bei Patienten mit offensichtlicher familiärer Häufung zum Einsatz EE Sind die revidierten Bethesda-Kriterien erfüllt, besteht immer die Indikation zur genetischen Untersuchung der MMR-Gene EE Die immunhistochemische Analyse der Proteine des MMR-Systems ist eine Screeninguntersuchung und kann zusätzlich eingrenzen, welches Gen mutiert ist EE Eine Analyse zur Mikrosatelliteninstabilität sollte bei Angehörigen eines Patienten mit bekanntem HNPCC als Screening erfolgen EE Die Diagnose HNPCC kann mit hoher Sicherheit aufgrund der Histomorphologie gestellt werden 14 Frage 6: Welche Aussage zur Vorsorge bei HNPCC-Anlageträgern trifft zu? EE Eine jährliche Urinzytologie ist dringend erforderlich EE Jährliche Koloskopien sollten ab dem 40. Lebensjahr erfolgen EE Bei jungem Erkrankungsalter sollte das Koloskopiescreening 5 Jahre vor der Erstdiagnose beim Indexpatienten beginnen EE Eine prophylaktische Hysterektomie macht auf keinen Fall Sinn EE Eine prophylaktische Proktokolektomie sollte ab dem 40. Lebensjahr empfohlen werden Falk Gastro-Kolleg Darm Frage 7: Welche Aussage zur Vorsorge bei FAP-Anlageträgern trifft zu? EE Wenn ein Rektumstumpf belassen wird, muss dieser engmaschig endoskopisch nachgesorgt werden EE Die jährliche koloskopische Vorsorge beginnt mit dem 25. Lebensjahr EE Eine endoskopische Untersuchung des oberen Gastrointestinaltrakts ist nicht indiziert EE Bei Männern muss eine jährliche Schilddrüsensonografie durchgeführt werden EE Aufgrund des hohen Endometriumkarzinomrisikos sind ab dem 30. Lebensjahr jährliche Endometriumbiopsien indiziert Frage 8: Welche Aussage zu den adenomatösen Polyposissyndromen trifft zu? EE Bei der MAP handelt es sich um eine autosomal dominante Erkrankung EE Bei der attenuierten FAP treten weniger und später Adenome des Kolons auf und das Risiko eines KRK ist gering EE Die MAP ist eine wichtige Differenzialdiagnose der attenuierten FAP und des HNPCC EE Bei der attenuierten FAP findet man in ca. 90% der Patienten die gleichen APC-Mutationen wie bei der klassischen FAP EE Eine humangenetische Beratung bei adenomatösen Polyposissyndromen ist nicht notwendig Frage 9: Welche Aussage zu den nicht-adenomatösen Polyposissyndromen trifft zu? EE Die hamartomatösen Polyposen sind die häufigsten monogenen Tumorsyndrome, die zum KRK führen EE Die genetische Diagnostik wird geleitet vom klinischen Bild, der Histologie und dem Spektrum gut- und bösartiger Tumoren EE Die genetische Ursache des Peutz-Jeghers-Syndroms ist bisher nicht verstanden EE Das KRK ist die führende Erkrankung des Cowden-Syndroms EE Familienangehörige von Patienten mit nicht-adenomatösen Polyposissyndromen sollten nicht humangenetisch beraten werden Frage 10: Welche Aussage zur molekularen Pathogenese trifft zu? EE Die Mutation des APC-Gens bei der FAP führt zu einem Defekt des Reparatursystems für oxidative DNA-Schäden EE Das EPCAM-Gen ist ein Bestandteil des DNA-Mismatch-Reparatursystems EE Bei einer Keimbahnmutation des MLH1-Gens liegt typischerweise im Tumorgewebe zusätzlich eine BRAF-Mutation vor EE Bei HNPCC ist ein Schritt der Karzinogenese oft die Inaktivierung des Wildtypallels des betroffenen MMR-Gens, z. B. durch Methylierungsprozesse EE Bei der attenuierten FAP kommen neben APC-Mutationen häufig Keimbahn­ mutationen im PTEN-Gen vor 15