9.4 Der 2. Hautsatz: spontane Prozesse und Entropie Beispiele für spontane Prozesse: • • • • • Ein heisser Körper kühlt sich auf Umgebungstemperatur ab. Ein kalter Köper erwärmt sich auf Umgebungstemperatur. Die Moleküle einer offenen Parfumflasche verteilen sich im Raum. 1 l Wasser und 1 l Ethanol vermischen sich. Ein Gemisch von H2 und O2 reagiert zu H2O. Spontaneität sagt nichts über die Geschwindigkeit des Prozesses aus. Ein spontaner Prozess läuft unter den selben Bedingungen nie in die entgegengesetzte Richtung. Er ist irreversibel. Spontaneität hat nichts mit der Minimierung von Energie zu tun. Welche der obigen Prozesse sind nicht exotherm ? Was ist die Triebkraft hinter der Spontaneität ? Der 2. Hauptsatz Ein Prozess läuft spontan ab, wenn sich dabei die totale Entropie im Weltall erhöht: ΔStot > 0 9.4.1 Die Entropie Mikroskopische Interpretation des 2. Hauptsatzes: spontane Prozesse gehen immer mit einer Verteilung von Energie einher. Illustration: Bei einem springenden Ball geht bei jedem Auftreffen auf dem Boden ein Teil seiner kinetischen Energie in Wärmebewegung der Moleküle im Boden über. Ein Ball liegt auf einer warmen Oberfläche. (a) Die Moleküle im Ball üben eine ungeordnete Wärmebewegung aus. (b) Damit der Ball spontan wegspringt, müssen sich die Moleküle im Ball gleichzeitig in die selbe Richtung bewegen. Dieser Zustand ist extrem unwahrscheinlich ! Mikroskopische Interpretation der Entropie: Boltzmann-Formel: mit: (9.20) • Ω(E) ... Anzahl der Realisierungen = Anzahl der Möglichkeiten (=Mikrozustände), die Energie E über alle Zustände des Systems zu verteilen • k=1.38.10-23 J K-1 (Boltzmann-Konstante) Bemerkungen: • E entspricht hier natürlich der inneren Energie U im thermodynamischen Sinn. • Für Ω(E) wird auch häufig das Formelzeichen W(E) verwendet, womit Gl. (9.20) die häufiger verwendete Form S = k . ln W(E) annimmt. Illustration: ein Wasserkristall und ein Alkoholkristall aus je 2 Molekülen mischen sich: ungemischter Zustand gemischter Zustand viel wahrscheinlicher Je grösser die Anzahl Möglichkeiten, die Energie zu verteilen (die Anzahl an Mikrozuständen), desto grösser die Entropie. Molare Entropie und physikalische Eigenschaften ([J mol-1 K-1]): → mehr räumliche Realisierungsmöglichkeiten → mehr räumliche Realisierungsmöglichkeiten → weniger räumliche Realisierungsmöglichkeiten → je grösser die Masse, desto kleiner der Abstand zwischen zwei Energieniveaus (s. Teilchen im Kasten, Kap. 3.5.5), desto mehr zur Verfügung stehende Niveaus bei einer gegebenen Energie E Molare Entropie und physikalische Eigenschaften (Forts.): → “weiche” Bindungen → tiefe Vibrationsfrequenzen → mehr Energieniveaus bei gegebener Energie E → “weiche” Bindungen → tiefe Vibrationsfrequenzen → mehr Energieniveaus bei gegebener Energie E → komplexere Verbindungen → mehr Freiheitsgrade → mehr Energieniveaus Thermodynamische Definition der Entropie: die Änderung der Entropie im Verlauf eines Prozesses entspricht der reversibel ausgetauschten Wärme dqrev dividiert durch die Temperatur: (9.21) Gl. (9.21) beschreibt die Entropieänderung für das System. Die Integrationsgrenzen 1,2 beziehen sich auf den Anfangs- und Endzustand des Systems. Motivation: es ist einsichtig, dass die Änderung der Entropie zur übertragenen Wärme proportional sein muss. Die inverse Abhängigkeit zur Temperatur erklärt sich aus der geringeren Anzahl zur Verfügung stehender Mikrozustände bei tiefen Temperaturen (vgl. Boltzmann-Statistik Kapitel 5). Die Entropie ist eine Zustandsfunktion: die Anzahl der Mikrozustände in einem thermodynamischen Zustand hängt nicht vom Weg ab, wie das System in diesen Zustand gelangt ist ! Die Entropieänderung des Systems ΔS kann somit für jeden beliebigen Prozess (reversibel oder irreversibel) gemäss Gl. (9.21) berechnet werden, indem man einen reversiblen Weg findet, der Anfangs- und Endzustand verknüpft. Da S eine Zustandsfunktion ist, muss die Entropieänderung entlang eines geschlossenen reversiblen Weges verschwinden: (9.22) Berechnung von ΔS für verschiedene Prozesse → Tafel. 1. 2. 3. 4. Isotherme Expansion Adiabatische Expansion Entropieänderung bei Phasenübergängen Entropieänderung bei Temperaturveränderungen 9.4.2 Entropieänderungen in System und Umgebung Die Änderung der totalen Entropie im Weltall dStot ergibt sich aus der Summe der Entropieänderungen im System dS und in der Umgebung dS’: (9.23) total System Umgebung Gemäss dem zweiten Hauptsatz muss dStot gilt für einen beliebigen Prozess: (9.24) Das Gleichheitszeichen in Gl. (9.24) gilt nur für einen vollständig reversiblen Prozess: (9.25) Illustration: für eine reversible isotherme Expansion wird der Umgebung reversibel eine Wärmemenge qrev entnommen und dem System zugeführt. Die Wärmeänderung in der Umgebung ist somit: und Die totale Entropieänderung ΔStot beträgt: Allgemein gilt: wobei δq die der Umgebung entnommene und dem System zugeführte Wärme bezeichnet. Aus. Gl. (9.24) folgt die Clausius’sche Ungleichung: (9.26) Beispiel: Ein Mol Eis bei 0°C wird in einen See mit einer Temperatur von 10°C geworfen. Wie gross ist die totale Entropieänderung ΔStot ? → Tafel 9.4.3 Die Temperaturabhängigkeit der Entropie Aus Gl. (9.21) und (bei konstantem Druck, s. Abschnitt 9.3.6) folgt direkt: (9.27) Analog gilt bei konstantem Volumen: (9.28) 9.5 Der 3. Hauptsatz Alle Stoffe besitzen am absoluten Temperatur-Nullpunkt T=0 eine einheitliche Entropie. Die Entropie am absoluten Nullpunkt wird konventionsgemäss S (T=0) = 0 gesetzt. Ausgehend vom 3. Hauptsatz können mit Gl. (9.27) und (9.28) die Entropien bei beliebigen Temperaturen berechnet werden vorausgesetzt, die Wärmekapazitäten sind bekannt. Mikroskopische Interpretation: beim absoluten Nullpunkt ist gemäss der Boltzmann-Statistik nur der quantenmechanische Grundzustand besetzt. Ist dieser nicht entartet, d.h., es gibt nur einen einzigen Zustand bei der tiefsten Energie, so gibt es nur genau einen möglichen Mikrozustand (Ω(T=0)=1) und somit S=k.lnΩ=0. 9.6 Die Freie Enthalpie G und das chemische Potential μ 9.6.1 Definition und Interpretation der Freien Enthalpie Aus der Clausius’schen Ungleichung (9.26) Druck folgt: und dq=dH bei konstantem (9.29) Diese Beziehung legt die Definition einer neuen thermodynamischen Hilfsgrösse nahe: die Freie Enthalpie G (auch Gibbs-Energie oder Gibbssche Freie Enthalpie) (9.30) Bei konstantem Druck und konstanter Temperatur gilt: somit mit Ungl. (9.29): (9.31) Bei konstantem Druck und konstanter Temperatur geht ein spontaner Prozess mit einer Abnahme von G einher ! Im Gleichgewicht gilt folglich: (9.32) Dies gilt insbesondere auch für das chemische Gleichgewicht. Wir werden später noch im Detail sehen, dass G die thermodynamische Grösse ist, die das chemische Gleichgewicht charakterisiert. Wie wir im folgenden sehen werden, ist G eine der zentralen thermodynamischen Grössen in der Chemie. Für Prozesse bei konstantem Volumen führt man völlig analog die Helmholtzsche Freie Energie A ein: (9.33) Für einen spontanen Prozess bei konstantem Volumen und konstanter Temperatur gilt dann: (9.34) A ist jedoch für die Chemie von weit geringerer Bedeutung als G. Was ist die physikalische Bedeutung von G ? → Tafel ΔG entspricht also der maximalen Nicht-Volumenarbeit bei konstantem Druck und konstanter Temperatur. 9.6.2 Fundamentalgleichungen der Thermodynamik Wir betrachten einen vollständig reversiblen Prozess, bei dem nur Volumenarbeit geleistet wird: (9.35) Gemäss dem 2. Hauptsatz gilt dann: (9.36) Einsetzen von Gl. (9.35) und (9.36) in den 1. Hauptsatz Gl. (9.3) liefert: (9.37) Gl. (9.37) ist eine allgemeingültige Kombination des 1. und 2. Hauptsatzes und wird deshalb als Fundamentalgleichung bezeichnet. Da U eine Zustandsfunktion ist, gilt Gl. (9.37) für beliebige Prozesse, bei denen ausser Volumenarbeit keine weitere Arbeit geleistet wird Für die Freie Enthalpie G lässt sich folgende Fundamentalgleichung herleiten (→Tafel): (9.38) 9.6.3 Temperatur- und Druckabhängigkeit der Freien Enthalpie Aus der Fundamentalgleichung (9.38) • folgt sofort: Druckabhängigkeit von G: (9.39) Trennung der Variablen und Integration: (9.40) • Temperaturabhängigkeit von G: (9.41) Dies kann umgeformt werden zu (→Tafel): Gibbs-Helmholtz-Gleichung: (9.42) 9.6.4 Das chemische Potential μ Die freie Enthalpie G ist eng verknüpft mit einer weiteren zentralen Grösse in der Chemie: dem chemischen Potential μ (9.43) μ ist die Ableitung von G nach der Stoffmenge n bei konstantem p,T. Mit anderen Worten: μ beschreibt, wie sich die freie Enthalpie bei einer Veränderung der Zusammensetzung des Systems verändert. Für einen reinen Stoff gilt G=nGm (Gm ... molare Freie Enthalpie) und somit: (9.44) Für einen reinen Stoff ist also das chemische Potential gleich der molaren Freien Enthalpie. Für Systeme, die eine Mischung aus mehreren Stoffen 1,2,... mit Molzahlen n1, n2,.. darstellen, ergibt sich die Variation von G zu: Fundamentalgleichung (9.38) Definition des chemischen Potentials (9.43) Wir erhalten somit: (9.45) wobei die Summe über alle Komponenten der Mischung j läuft. Dieser Ausdruck ersetzt die Fundamentalgleichung (9.38) für Systeme von Mischungen mit mehreren Komponenten. Bei konstantem Druck und konstanter Temperatur erhalten wir: (9.46) Lernziele Kapitel 9 - Was ist ein offenes, was ein geschlossenes und was ein abgeschlossenes oder isoliertes System? - Was ist isobar, isochor bzw. isotherm? - Was sind extensive, was intensive Grössen? - Wann befindet sich ein System im thermodynamischen Gleichgewicht ? - Wodurch unterscheiden sich Zustands- von Transfergrössen? Beispiele? - Was sind Systemgrenzen? Welche Bedeutung haben sie in Bezug auf die obigen Grössen? - Wozu benutzen wir die folgenden Symbole: Δ,d,δ,∂ ? - Warum ist folgende Aussage falsch: „Das System enthält 50 kJ Wärme.“? - Was ist ein reversibler Prozess? - Wie lautete der 0. Hauptsatz? Was wird damit definiert? - Mit welchem Modell kann er mikroskopisch interpretiert werden? - Wie lautet die Formel für die „Volumenarbeit“? - Wie gross ist w, q, ΔS(SYS) und ΔS(U) für isotherme und adiabatische Expansionen (reversibel und irreversibel) ? - Wie lautet die Boltzmann-Formel für die Entropie? Wie lautet der 3. Hauptsatz? Zusammenhang? - Was ist ein spontaner Prozess? - Wie berechnet man die Entropie als Funktion der Temperatur? Welche Grössen benötigen Sie dazu? - Wie verändert sich (qualitativ) die Entropie eines idealen Gases mit dem Druck? - Definition der freien Enthalpie? Bei welchen Bedingungen ist sie die wichtige Grösse? - Wie verhält sie sich im Gleichgewicht bzw. im spontanen Prozess? - Diskutieren Sie das Isomerisierungsgleichgewicht von n- zu iso-Butan mit Enthalpie und Entropie! - Warum kann warme Luft mehr Wasserdampf aufnehmen? - Wie ändert sich qualitativ die Entropie bei a) Verdampfung? b) der Auflösung eines Festkörpers in Wasser? c) der Auflösung eines Gases in Wasser? - Wie ändert sich S mit der a) Masse? b) Stärke der Bindung? c) Komplexität der Verbindung? Ausgewählte englische Fachausdrücke Kapitel 9 - Arbeit: work - Fundamentalgleichung: fundamental equation - Gleichgewicht: equilibrium - System (offen, geschlossen, abgeschlossen): system (open, closed, isolated) - Systemgrenzen: system boundaries - Umgebung: surroundings - Volumenarbeit: expansion work - Wärme: heat - Wärmekapazität: heat capacity - Weggrössen: path functions - Zustandsvariablen (-funktionen): state variables (functions)