S II B Moralphilosophie · Beitrag 3 Aristoteles 1 Grundlagen der philosophischen Ethik: Aristoteles Dr. Frank Martin Brunn, Mannheim t h c i s n a r o V Bild: Aristoteles, dpa picture-alliance. Klasse: 12 Dauer: 14 Stunden Arbeitsbereich: Moralphilosophie / Ansätze philosophischer Ethik Wie führt man ein glückliches Leben? Die „Nikomachische Ethik“ des Aristoteles lässt sich lesen als Antwort auf diese Frage. Es geht Aristoteles um das Tun des Menschen im Blick auf ein gelungenes Leben. Dabei steht der Begriff der Tugend im Mittelpunkt seiner Ausführungen. Wer aus Überzeugung tugendhaft lebt, der weiß zum einen um Tugenden, zum anderen übt er sie beständig ein. Dies Einüben führt zur Entwicklung von normativen Handlungsdispositionen und prägt den Charakter eines Menschen, sodass ein tugendhaftes und glückliches Leben schließlich aus einer inneren Haltung heraus gelebt wird. Gleichwohl muss Aristoteles zugestehen, dass nicht jedermann gänzlich seines Glückes Schmied sein kann. Es gibt äußere Lebensumstände, in die wir hineingeboren werden, die das Glück beeinflussen. Was ein glückliches Leben ist, bleibt letztlich jedoch subjektiv und individuell verschieden. Dieser Unterrichtsentwurf versucht, das aristotelische Konzept einer Tugendlehre in der heutigen Zeit anschaulich werden zu lassen. Die hierfür notwendige Transferleistung baut auf einer Arbeit mit Texten aus der „Nikomachischen Ethik“ auf. 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 S II B Moralphilosophie · Beitrag 3 Aristoteles 5 Materialübersicht Sequenz 1 Was bedeutet es, ethisch zu handeln? Stunde 1 Was ist das höchste erstrebenswerte Gut? Leere Kärtchen und Packpapierbögen mitbringen! (nicht im Materialteil) Stunde 2 Wer war Aristoteles? M 11 (Bd/Fo) Platon und Aristoteles (Raffael: „Die Schule von Athen“) M 12 (Tx) Gruppe 1: Das Denken Platons M 13 (Tx) Gruppe 2: Wer war Aristoteles? Stunde 3 Glückseligkeit als oberstes Handlungsziel M 14 (Tx) Das oberste Handlungsziel: Glückseligkeit Sequenz 2 t h c Tugendlehre Stunde 4 Lebensformen 1 – Aristoteles M 15 (Tb) M 16 (Tx) Die Seelen- und Tugendlehre des Aristoteles Welche Lebensweisen gibt es? i s n a r o Stunde 5/6 Was ist Tugend? M 17 (Ab) M 18 (Tx) Rollendiskussion zum Thema „Fleischkonsum und Massentierhaltung“ Die Bestimmung der Tugend V Stunde 7 Lebensformen 2 – Massenmedien M 19 (Ab) Welche Werte und Tugenden propagieren die modernen Massenmedien? Stunde 8 Sittliche Tugenden 1 – Platon M 10 (Bd/Tx) Platon: Das Gleichnis vom Seelenwagen Stunde 9 Sittliche Tugenden 2 – Aristoteles (ein Gruppenpuzzle) M M M M M Gruppe Gruppe Gruppe Gruppe Gruppe 11 12 13 14 15 (Tx) (Tx) (Tx) (Tx) (Tx) 1: 2: 3: 4: 5: Der Mut Die Mäßigkeit Die Freigebigkeit Die Sanftmut Prahlerei und Ironie Stunde 10 Dianoetische Tugenden M 16 (Tx) M 17 (Tb) Freiwilligkeit und Klugheit Die Tugendlehre des Aristoteles 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 6 Aristoteles Sequenz 3 B Moralphilosophie · Beitrag 3 Gesellschaftliches Leben Stunde 11 Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Leben M 18 (Tx) M 19 (Tb) Gerechtigkeit Aristoteles' Gerechtigkeitsbegriff Stunde 12 Freundschaft M 20 (Bd) M 21 (Tx) Bartolomé Estéban Murillo: „Melonen- und Traubenesser“ (1618–1682) Freundschaft Sequenz 4 S II Sind Tugenden attraktiv? Stunde 13 Tugenden im „Struwwelpeter“ M 22 (Ab) Die Vermittlung von Tugenden im „Struwwelpeter“ Stunde 14 Einen Zeitungsartikel über eine Tugend verfassen (nicht im Materialteil) i s n t h c a r o V 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 S II M1 B Moralphilosophie · Beitrag 3 Aristoteles 7 Platon und Aristoteles t h c i s n a r o V Bilder: Raffael: „Die Schule von Athen“ (1508–1511), dpa picture-alliance. 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 S II B Moralphilosophie · Beitrag 3 Aristoteles 11 Erläuterungen (M 1) Stunde 2: Wer war Aristoteles? Ziel der Stunde ist es, Aristoteles als Schüler Platons kennen zu lernen und die beiden erkenntnistheoretischen Methoden der Deduktion und der Induktion zu verstehen. Zu Beginn der zweiten Stunde wird das Bild M 1 betrachtet und von den Schülerinnen und Schülern beschrieben. Es zeigt das Zentrum von Raffaels Bild „Die Schule von Athen“. Der italienische Renaissance-Maler und Architekt Raffael (1483–1520) malte sie 1509 an die Ostwand der Stanza della Segnatura im Vatikan. Das Bild gibt ein Panorama der um 1500 n. Chr. als maßgeblich angesehenen Wissenschaftler und Philosophen der Antike und der durch das ganze Mittelalter bis zur Renaissance hin wirkenden Tradition. Zu 1: Im Mittelpunkt sind Platon und Aristoteles abgebildet. Platon hat in dieser Darstellung die Gesichtszüge des Wissenschaftlers und Künstlers Leonardo da Vinci und trägt die Liebesfarbe Rot über violettem Untergewand. Diese Farbgebung weist auf den Eros, die strebende, begehrende Liebe, die ein wichtiges Element in Platons Philosophie ist. Platon weist in den Ideenhimmel hinauf, der im Dialog Timaios beschrieben wird, welchen er senkrecht unter dem Arm hält. Zum Ideenhimmel strebt die Seele gemäß Platons Philosophie, weil nur dort die Wirklichkeit zu erkennen ist. t h c Bild: Platon, dpa picture-alliance. i s n Neben Platon steht sein Schüler Aristoteles. Er ist elementenfarbig in himmelblaues Tuch über erdhaftem Braun gekleidet. Diese Farbgebung zeigt, dass Aristoteles keine himmlische Wahrheit sucht, die hinter den Dingen liegt, sondern die Wahrheit in den Dingen sucht. Mit seiner zur Erde weisenden Hand verweist er auch auf den Betrachter des Bildes selbst, um dessen Handeln es gemäß der „Ethik“ geht, die er von vorn waagerecht auf seine Hüfte stützt. Platon und Aristoteles sind im Gespräch einander zugewandt. a r o V Bild: Aristoteles, dpa picture-alliance. Zu 2: An Raffaels Darstellung von Platon und Aristoteles lässt sich den Lernenden in anschaulicher Weise der grundlegende methodische Unterschied im Denken der beiden großen antiken Philosophen veranschaulichen: Platon weiß sich einem deduktiven Ansatz verpflichtet. Er geht vom Allgemeinen, den Ideen, aus und schließt von ihnen auf das Besondere (Deduktion). Darum lässt Raffael ihn nach oben in den Ideenhimmel weisen, wo die Seele nach Platons Lehre vor der Geburt die Ideen geschaut hat. Die Fülle dessen, was die Seele geschaut hat, hat sie allerdings unter dem Schock der Geburt vergessen und muss sich mühsam lernend daran erinnern (Mimesis). Aristoteles verwirft diesen Grundgedanken seines Lehrers. Er setzt bei dem an, was vor Augen ist: dem Einzelnen, das er als Besonderes begreift, von dem aus sich auf ein Allgemeines schließen lässt (Induktion). Aristoteles versteht sich als Empiriker und weiß sich einem induktiven Ansatz verpflichtet. Darum lässt Raffael ihn nach vorn auf das zu Füßen Liegende weisen. I Deduktion = vom Allgemeinen zum Einzelnen II Induktion = vom Einzelnen zum Allgemeinen 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 B Moralphilosophie · Beitrag 3 S II Aristoteles 15 Den Schülerinnen und Schülern etwas fremd wird der Begriff „Glückseligkeit“ sein. Es ist zudem fraglich, ob er das griechische eudaimonia treffend wiedergibt. Glückseligkeit mag zu voll oder zu transzendental klingen. Das viel gebräuchlichere Wort „Glück“ ist allerdings lange nicht so klangvoll wie der griechische Ausdruck und mag zu wenig oder zu unbestimmt sein. Da Aristoteles an dieser Stelle selbst problematisiert, wie unbestimmt die Vorstellungen von eudaimonia sind, lässt sich die Frage, ob der Mensch mit den Worten der Übersetzung nach Glückseligkeit strebt oder ob es nicht vielleicht doch bloß das Glück ist, was er sucht, leicht didaktisch aufnehmen und im Unterrichtsgespräch thematisieren. Dass zum Glückselig- oder auch nur Glücklichsein „gut leben“ (eu zen) und „es gut machen“ oder altertümlich: „sich gut gehaben“ (eu prattein) gehört, ist evident. Doch wie im Altgriechischen, so schwingen auch im Deutschen hier unterschiedliche Bedeutungen mit: „Gut leben“ heißt sowohl tugendhaft, also sittlich gut zu leben als auch vergnüglich zu sein. „Es gut machen“ bedeutet sowohl gut handeln als auch sich wohl befinden. So kann derselbe Ausdruck situationsabhängig Unterschiedliches bezeichnen. Aristoteles weist entsprechend auf unterschiedliche Lebenssituationen. – Die Offenheit, was Glückseligkeit individuell je sein kann, sollte das Unterrichtsgespräch anregen können. t h c Schaubild zu M 4: Die Architektur der Handlungsziele i s n a r o V Zeichnung: Oliver Wetterauer. 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 16 Die Seelen- und Tugendlehre des Aristoteles vernünftiger Teil c) Leben der philosophischen Betrachtung b) politisches Leben a) Genussleben dianoetische Tugenden/ Verstandestugenden: Kunstfertigkeit, Klugheit, Wissenschaft, Weisheit Vernunft sinnlich begehrendes/ strebendes Vermögen (leistet der Vernunft gegebenenfalls Folge) vegetatives Vermögen (Prinzip der Ernährung und des Wachstums) ethische/sittliche Tugenden: Mut, Freigebigkeit, Sanftmut, Mäßigkeit B Moralphilosophie · Beitrag 3 t S II ich unvernünftiger Teil Tugenden der Seelenteile Aristoteles Lebensweisen Seele ans Vor 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 M5 B Moralphilosophie · Beitrag 3 S II M6 Aristoteles 17 Welche Lebensweisen gibt es? Aristoteles ordnet den beiden Seelenkräften „Vernunft“ und „sinnlich begehrendem/strebendem Vermögen“ zusätzlich zu ihren jeweiligen Tugenden auch Lebensweisen zu: [...] Nimmt man die verschiedenen Lebensweisen in Betracht, so scheint es einmal nicht grundlos, wenn die Menge, die rohen Naturen, das höchste Gut und das wahre Glück in die Lust setzen und darum auch dem Genussleben frönen. Drei Lebensweisen sind es nämlich besonders, die vor den anderen hervortreten: das Leben, 5 das wir eben genannt haben [a], dann das politische Leben [b] und endlich das Leben der philo- sophischen Betrachtung [c]. [a] Die Menge nun zeigt sich ganz knechtisch gesinnt, indem sie dem Leben des Viehes den Vorzug gibt. [...] [b] Die edeln und tatenfrohen Naturen ziehen die Ehre vor, die man ja wohl als das Ziel des 10 öffentlichen Lebens bezeichnen darf. Indessen möchte die Ehre doch etwas zu Oberflächliches t h c sein, als dass sie für das gesuchte höchste Gut des Menschen gelten könnte. Scheint sie doch mehr in den Ehrenden als in dem Geehrten zu sein. Vom höchsten Gute aber machen wir uns die Vorstellung, dass es dem Menschen innerlich eigen ist und nicht so leicht verloren geht. Auch scheint man die Ehre zu suchen, um sich selbst 15 für gut halten zu können. Denn man sucht seitens der Einsichtigen und derer, die einen kennen, geehrt zu werden, und zwar um der Tugend willen. So muss denn, falls ein solches Verhalten etwas beweist, die Tugend das Bessere sein. i s n a r o Nun könnte man ja vielmehr diese für das Ziel des Lebens in der staatlichen Gemeinschaft ansehen. Aber auch sie erscheint als ungenügend. Man kann scheint's auch schlafen, während 20 man die Tugend besitzt, oder sein Leben lang keine Tätigkeit ausüben und dazu noch die größten Übel und Missgeschicke zu erdulden haben, und wem ein solches Lebenslos beschieden ist, den wird niemand glücklich nennen. [...] V [c] Die dritte Lebensweise ist die theoretische oder die betrachtende; sie wird uns in einem späteren Abschnitte beschäftigen. 25 Das auf Gelderwerb gerichtete Leben hat etwas Unnatürliches und Gezwungenes an sich, und der Reichtum ist das gesuchte Gut offenbar nicht. Denn er ist nur für die Verwendung da und nur Mittel zum Zweck. Eher könnte man sich deshalb für die vorhin genannten Ziele entscheiden, da sie wegen ihrer selbst geschätzt werden. Aber auch sie scheinen nicht das Rechte zu sein, so viel man auch schon zu ihren Gunsten gesagt hat. So sei denn diese Frage verab30 schiedet. Aus: Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hg. von Günther Bien, Meiner Verlag, Hamburg 1985, S. 5 f. (NE I, 3 [1095b–1096a]). Aufgaben (M 6) 1. Welche drei Lebensweisen nennt Aristoteles? 2. Wie illustriert er die einzelnen Lebensweisen? 3. Suchen Sie jeweils ein eigenes Beispiel für jede Lebensweise. 4. Wie beurteilt Aristoteles den Reichtum? 5. Welche Lebensweise erscheint Ihnen am attraktivsten? Warum? 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 B Moralphilosophie · Beitrag 3 S II M7 Aristoteles 19 Rollendiskussion zum Thema „Fleischkonsum und Massentierhaltung“ Position 1: Contra Fleischgenuss Stellen Sie sich vor, Sie planen die Einrichtung einer Schulkantine. Suchen Sie Argumente für folgende Haltung: „Es sollten aus Protest gegen Massentierhaltung nur vegetarische Gerichte in der Schulkantine angeboten werden!“ • Beachten Sie, dass Ihre Argumente überzeugend sein müssen. • Notieren Sie Ihre Argumente. • Gliedern Sie die Argumente entsprechend Ihres geplanten Argumentationsweges. • Sie wissen, dass Sie mit den Vertretern der Position 2 („pro Fleischgenuss“) dieselbe Schule besuchen. Weil es nur eine Schulkantine geben soll, bedeutet das, dass Sie kompromissfähig gegenüber Position 2 und ihrer Argumentation sein müssen. Überlegen Sie deshalb auch, wie die Vertreter von Position 2 argumentieren könnten und wie Sie darauf eingehen wollen. t h c ➡ i s n a r o ➡ V Position 2: Pro Fleischgenuss Stellen Sie sich vor, Sie planen die Einrichtung einer Schulkantine. Suchen Sie Argumente für folgende Haltung: „Fleisch gehört selbstverständlich auf den Speiseplan!“ • Beachten Sie dabei, dass die Argumente überzeugend sein müssen. • Notieren Sie Ihre Argumente. • Gliedern Sie die Argumente entsprechend Ihres geplanten Argumentationsweges. • Sie wissen, dass Sie mit den Vertretern der Position 1 („contra Fleischgenuss“) dieselbe Schule besuchen. Weil es nur eine Schulkantine geben soll, bedeutet das, dass Sie kompromissfähig gegenüber Position 1 und ihrer Argumentation sein müssen. Überlegen Sie deshalb auch, wie die Vertreter von Position 1 argumentieren könnten und wie Sie darauf eingehen wollen. 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005 B Moralphilosophie · Beitrag 3 S II Aristoteles 23 M 10 Das Gleichnis vom Seelenwagen In dem Dialog „Phaidros“ beschreibt Platon die Seele mit dem Bild eines Wagens, vor den zwei in Temperament und Art gänzlich verschiedene Pferde gespannt sind. Bild: dtv Atlas Philosophie, dtv, München 2002. t h c Platon geht von der Annahme dreier Seelenteile aus. Auf der einen Seite steht der denkende oder rechnende Seelenteil, das logistikon, der auf die Erkenntnis des Guten ausgerichtet ist und die Fähigkeit zur Abwägung, Überlegung und Vorausschau darstellt. Daneben steht der affektive oder mutartige Seelenteil, das thymoneides, die Basis des Machtstrebens. Und an dritter 5 Stelle begegnet schließlich der begehrende Seelenteil, das epithymêtikon, die Begierde als Grundlage von Ernährung und Fortpflanzung. i s n a r o Die einzelnen drei Seelenteile sind nun ihrerseits Träger der Haupt- oder Kardinaltugenden. Das logistikon fungiert als Subjekt der Weisheit, der sophia, die darin besteht, dass die Vernunft das erkennt, was der Seele zuträglich ist, und aufgrund dieser Erkenntnis das Seelenleben 10 beherrscht. Das thymoneides ist hingegen der Träger der Tapferkeit, der andreia, die dadurch definiert ist, dass der Mut die Vernunfteinsicht in das, was zu fürchten und nicht zu fürchten ist, gegen Lust und Schmerz bewahrt. Das epithymêtikon schließlich ist das Subjekt der Besonnenheit, der Selbstbeherrschung, der sophrosynê, die darin besteht, dass die Begierde mit der Vernunft darin übereinstimmt, wer von beiden Seelenteilen zu herrschen und wer zu gehorchen 15 hat. V Während so die drei Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit je einem bestimmten Seelenteil zugeschrieben werden, zeichnet sich die vierte Kardinaltugend, die Gerechtigkeit, die dikaiosynê, dadurch aus, dass sie alle drei Seelenteile gleichermaßen betrifft. Denn die Gerechtigkeit bezieht sich auf die Gesamtstruktur der Seele, das Verhältnis der diver20 sen Seelenteile zueinander. Und zwar soll die Seele genau dann gerecht sein, wenn jeder Seelenteil, der ja als Träger einer bestimmten Tugend definiert ist, das Seine tut, also seine spezifische Tugend ausübt. Die Gerechtigkeit beruht also darin, dass jeder das Seine tut. Aus: Rohls, Jan: Geschichte der Ethik, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 1999, S. 54. Aufgaben (M 10) 1. Suchen Sie Beispielsituationen für die von Rohls im Bild des Seelenwagens beschriebenen Tugenden. 2. Beschreiben Sie die Wirkweise der Gerechtigkeit. 3. Ordnen Sie die herausgearbeiteten Tugenden den passenden Kardinaltugenden zu (sofern das möglich ist). 4 RAAbits Ethik/Philosophie September 2005