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Universalismus, Relativismus
und Repräsentation
Eine Kritik des modernen Wissensbegriffs
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung des Doktorgrades
der Philosophie
am Zentrum für Philosophie
und Grundlagen der Wissenschaften
der Justus-Liebig-Universität Gießen
vorgelegt von
Alexander Farshim
aus Bargteheide
2002
1. Berichterstatter
Prof. Dr. Martin Seel
2. Berichterstatter
Prof. Dr. Joseph Vogl
Metaphysics is the finding of bad reasons for what we believe upon instinct,
but to find these reasons is no less an instinct.
F. H. Bradley
Metaphysiker sind Musiker ohne musikalische Fähigkeit.
Rudolf Carnap
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ..........................................................................................4
Zwei Arten von Fehlern ...............................................................................................4
Motiv, Ziel und Aufbau der Arbeit................................................................................8
Vorspiel: Was ist Philosophie?........................................................14
Gibt es Paradigmen in der Philosophie?...................................................................14
Philosophie als Kampf gegen das Klischee ..............................................................17
Philosophie und Humor.............................................................................................21
Beispiele univoker Ontologien...................................................................................24
Aquivozität und Normativität .....................................................................................25
Kontingente oder notwendige Bedingungen der Erfahrung ......................................26
Philosophien des Urteils versus Philosophien der Macht .........................................27
I. Pragmatismus als Kritik der Repräsentation ................................30
Richard Rorty über das philosophische Verlangen nach Transzendenz ..................30
Rortys „French Connection“ ......................................................................................32
Rortys Anti-Empirismus.............................................................................................35
McDowell vs. Rorty ...................................................................................................37
Für einen strengen Pragmatismus ............................................................................39
Pragmatismus und Neopragmatismus: William James.............................................42
Holistischer Empirismus............................................................................................43
Wahrheit, Vermittlung, Existenz ................................................................................45
Wahrheit für alle ........................................................................................................47
Empirismus des Begriffs ...........................................................................................49
II. Unbewusstes Denken und Panintentionalismus .........................53
Dennetts Panintentionalismus...................................................................................53
Marvin Minsky über Intentionalität.............................................................................56
Intentionale Systeme.................................................................................................57
Ganz oder gar nicht: Holismus und die Attribution von Intentionen ..........................59
Kein Denken ohne Selbstbewusstsein?....................................................................60
Wahrheit und Kommunikation ...................................................................................62
Dennetts Physikalismus ............................................................................................64
Exkurs: Dennett und Leibniz ...........................................................68
III. Szientismus, Subjektivismus und Philosophie ...........................72
Die Subjektivierung des Geistes ...............................................................................72
Kant über das „Ich denke“ als Bedingung der Gegenstandserkenntnis....................74
1
Inhaltsverzeichnis
Hegels Kantkritik .......................................................................................................76
Die linke und die rechte Hand der Wissenschaft ......................................................79
Die unmögliche Wissenssoziologie...........................................................................80
Der Krieg der Wissenschaften ..................................................................................84
Bourdieu über Relativismus und Objektivität ............................................................87
Die Stunde der Philosophie.......................................................................................93
Exkurs: Ist die Philosophie elitär? ...................................................96
IV. Die Welt als Kino: Bergson ......................................................103
Bilder an sich...........................................................................................................103
Das Virtuelle und das Mögliche...............................................................................105
Bergsons und Quines Zeitbegriff.............................................................................110
Dispositionale Eigenschaften ohne substantielle Träger ........................................112
Virtualität und Zeit ...................................................................................................114
Virtualität und Holismus ..........................................................................................117
Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus.....................................................119
V. Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition ......121
Vorspiel mit Quine: Zweimal Wüste ........................................................................121
Repräsentation und Differenz .................................................................................123
Univozität und Metapher .........................................................................................126
Univozität und Kategorien .......................................................................................129
Das Leben ist nur eine tote Metapher .....................................................................131
Der Normativismus der Repräsentation ..................................................................133
Der lange Irrtum ......................................................................................................135
Denken ohne Urbilder .............................................................................................138
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie ..........................................140
Fluchtlinien ..............................................................................................................140
Deleuze/Guattari – A Shoppers Guide....................................................................142
Kapitalismus und Philosophie .................................................................................144
VI. Ein pluralistisches Universum..................................................149
Was bisher geschah................................................................................................149
Univozität und Pluralismus......................................................................................151
Ontologischer Perspektivismus ohne Harmonie .....................................................154
Rortys Ethnozentrismus ..........................................................................................157
Jenseits von Innen- und Außenwelt ........................................................................161
VII. Der Universalismus der Moderne ...........................................163
Nur der Relativismus ist universal...........................................................................163
Habermas’ kritische Theorie der Moderne ..............................................................165
Habermas gegen McDowell ....................................................................................166
2
Inhaltsverzeichnis
Geist und Natur: der neue Intersubjekt-Objekt-Dualismus......................................167
Systemtheorie als Theorie verdinglichten Geistes ..................................................168
Die wunderbare Welt des Bruno Latour ..................................................................171
Die Kritik der Moderne ............................................................................................174
Ausdifferenzierung und Produktivität ......................................................................178
Wir sind immer schon modern gewesen .................................................................181
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer ..................186
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz .......................198
Repräsentation versus Ausdruck ............................................................................198
Immanenz und “causa sui”......................................................................................200
Spinoza gegen Kant und Hegel ..............................................................................201
Unterschiede zwischen Spinoza und Davidson ......................................................204
Literaturliste...................................................................................208
3
Einleitung
Einleitung
Zwei Arten von Fehlern
Was haben Männer wie Charly Manson und Jean-Baptiste de Lamarck eigentlich
falsch gemacht? Was für eine Frage? Manson ist einer der berühmtesten
Massenmörder der amerikanischen Geschichte. Lamarck ein französischer Biologe
des 19. Jahrhunderts, der behauptet hat, dass erworbene Eigenschaften in die nächste
Generation vererbt werden. Offensichtlich haben beide Männer etwas falsch gemacht.
Der eine hat entschieden gegen amerikanische Gesetze und moralische Werte
gehandelt. Der andere hat gegen einen Lehrsatz der modernen Biologie verstoßen:
erworbene Eigenschaften können nicht vererbt werden. Beide haben also einen Fehler
gemacht. Interessant ist jedoch ein ganz spezifischer Unterschied. Eine große Gruppe
von Menschen wäre, bei aller Scheußlichkeit von Mansons Verbrechen, bereit
zuzugeben, dass Manson im Gegensatz zu Lamarck einen nicht ganz so fatalen Fehler
gemacht hat. Mansons Fehler war nicht im gleichen Maße objektiv falsch wie der
Fehler von Lamarck. Schlimm ja, aber nicht wirklich falsch. Unter dieser Gruppe von
Menschen wären erstaunlich viele Philosophen zu finden. Da ich mich jedoch zunächst
auf einer vorphilosophischen Ebene bewegen möchte, nenne ich noch keinen Namen.
Wer zu dieser Gruppe gehört, den werde ich ganz allgemein als einen aufgeklärten
Menschen bezeichnen. Aufgeklärte Menschen wissen Bescheid. Sie sind nicht mehr
naiv. Sie lieben es, zu relativieren oder die Dinge ganz objektiv zu betrachten. Warum
glauben aufgeklärte Menschen, dass Charly Manson im Gegensatz zu Lamarck zwar
falsch, aber nicht so falsch oder nicht objektiv falsch liegt?
Ein "aufgeklärter Mensch" wird darauf bestehen, dass Gesetze und Werte, im
Gegensatz zu Vererbungsmechanismen, vom Menschen gemacht sind. Sie sind daher
bloß relativ oder subjektiv. Vererbungsmechanismen dagegen sind da draußen. Sie
sind so objektiv wie der Tisch, auf den "aufgeklärte" Menschen dann klopfen, um die
Härte von Vererbungsmechanismen zu demonstrieren. "Von Menschen gemacht" darf
nun aber nicht so verstanden werden, als ob ein vom Menschen produzierter
Gegenstand, bereits durch die bloße Tatsache vom Menschen hergestellt worden zu
sein etwas bloß Subjektives wäre. Der Tisch ist ja gerade nicht subjektiv, sondern dient
zusammen mit dem Stein als Paradebeispiel für die Härte der Außenwelt.1 Tische und
1
Der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg vergleicht die Objektivität
physikalischer Gesetze mit der Härte von Felsen. „We did not create the laws of physics
4
Einleitung
Felsen, Artefakte und Naturgegenstände dienen beide als Monumente der Objektivität.
Wenn der aufgeklärte Mensch von „gemacht“ statt „vorgefunden“ spricht, dann meint er
nicht den Gegensatz von „entdecken“ und „erfinden“, sondern den Gegensatz von "nur
im Auge des Betrachters" oder "nur im Kopf eines oder einer Gruppe oder auch aller
Menschen" zu "objektiv da draußen". Manson hat sich geirrt, aber er hat sich geirrt mit
Bezug auf etwas, das nur im Auge des Betrachters existiert. Wenn kein Mensch mehr
denken würde, dass Töten falsch ist, dann wäre Töten nicht mehr falsch. Die Gesetze
der Vererbung bleiben jedoch dieselben, was immer man über sie denkt.
An dieser Stelle muss sofort einem Kurzschluss vorgebeugt werden. Dass Töten für
falsch gehalten wurde, ist objektiv feststellbar. Zu dieser Konzession ist man bereit. Ein
Kulturwissenschaftler kann in diesem Sinne ebenso objektives Wissen wie der
Naturwissenschaftler verkünden. Aber die Falschheit des Tötens ist abhängig davon,
dass das Töten für falsch gehalten wurde. Ein Naturwissenschaftler dagegen
verkündet Fakten, die vollkommen unabhängig sind von allem, was Menschen denken.
Dieser Unterschied ist wichtig in Hinblick auf die Überzeugungskraft dieser
Wissenschaften in der Öffentlichkeit. Was ein Naturwissenschaftler sagt, muss man
glauben, wenn man die Dinge so zur Kenntnis nehmen will, wie sie sind, vollkommen
unabhängig von irgendwelchen Standpunkten. Was ein Kulturwissenschaftler sagt,
muss man dagegen nur glauben, wenn man den Standpunkt einnehmen will, dessen
Glaubensinhalt der Kulturwissenschaftler wiedergibt. Der Kulturwissenschaftler sagt
nicht: „Töten ist falsch, basta!“ Sondern er sagt: „Töten ist für bestimmte Menschen in
bestimmten Situationen zu bestimmten Zeiten für falsch gehalten worden.“ Die
Objektivität des Kulturwissenschaftlers hat einen relativierenden Effekt. Ich kann nicht
leugnen, dass die Amerikaner Manson für einen Teufel halten, aber ich kann mich von
den Amerikanern distanzieren und mich auf die Seite von Manson stellen. Indem ich
dies tue, gerate ich nicht in Konflikt mit dem Kulturwissenschaftler. Wenn ich mich
jedoch auf die Seite von Lamarck stelle, gerate ich sehr wohl in einen Konflikt mit dem
Naturwissenschaftler. Hier gibt es nur ein Entweder-Oder. Während es viele Kulturen
gibt, gibt es nur eine Natur. Die Natur ist nicht groß genug für Darwin und Lamarck,
aber die Kultur hat ein Herz für Manson und seine Gegner. Kein Wunder also, dass der
Naturwissenschaftler in einer solchen Sichtweise zu einem autoritären Charakter wird,
während der Kulturwissenschafter oder der Sozialkonstruktivist, wie ich ihn ab jetzt
nennen werde, zu einem Entlarver und Befreier von eingebildeten Zwangsläufigkeiten
or the rocks in the field, and we sometimes unhappily find that we have been wrong about
them, as when we stub our toe on an unnoticed rock…” Zitiert nach Rorty, "Thomas
Kuhn, Rocks and the Laws of Physics", in: Philosophy and Social Hope, S.182f.
5
Einleitung
mutiert. Die rechte und die linke Hand der Wissenschaft. Aus dieser Aufgabenteilung
erklärt sich die Denkfigur der Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter
Unmündigkeit. Mit ihr wird der Startschuss gesetzt für das Genre des subjektiven
Konstruktivismus. Die Gesetze der Vererbung versus die soziale Konstruktion von
Massenmördern. Harte Fakten versus weiche Glaubenszustände. Die Vererbung
kannst du nicht beeinflussen, aber Charlie Manson wird eigentlich nur gesellschaftlich
unterdrückt. Auf der einen Seite die kalte, harte Wirklichkeit der Außenwelt, auf der
anderen, die warme, weiche Innerlichkeit der Subjektivität.
Das Gegenteil zum aufgeklärten Menschen, der alle Phänomene in einen objektiven
und einen subjektiven Anteil spaltet, ist der naive, primitive Mensch. Der Primitive
weigert sich, in seiner Ablehnung von Charlie Manson nur die Projektion seiner
Wertvorstellung auf eine wertfreie Außenwelt zu sehen. Umgekehrt weigert er sich, in
Vererbungsmechanismen bloße Fakten wahrzunehmen, die vollkommen unabhängig
sein sollen von denen, die sie entdecken. Ohne eine Gemeinschaft von Forschern,
gemeinsamen Untersuchungsmethoden, geteilten Rechtfertigungsstandards wären die
Aussagen des Naturwissenschaftlers über das Erbmaterial genauso wenig möglich wie
die Aburteilung Manson ohne moralische Wertvorstellungen und Strafgesetzbücher, so
der Primitive. Der aufgeklärte Mensch wird sich jedoch nicht unterkriegen lassen.
Untersuchungsmethoden,
Rechtfertigungspraktiken
helfen
uns,
objektive
Eigenschaften des Erbmaterials zu entdecken, während Strafgesetzbücher die
Verwerflichkeit von Mansons Handeln allererst konstituieren. Ohne Gesetze könnte
Manson in Ruhe sein Unwesen treiben, das Erbmaterial wäre aber weiterhin
demselben Mechanismus unterworfen. Hierauf antwortet der Primitive, dass unter
bestimmten Umständen auch erworbene Eigenschaften vererbt werden können,
vielleicht mit Hilfe der Gentechnik. Umgekehrt wäre Manson ohne Gesetze zwar kein
Mörder, das macht diese Eigenschaft jedoch nicht subjektiv. Manson und das
Erbmaterial sind in ein Geflecht von Beziehungen verwickelt, die sie erst zu dem
machen, was sie sind. Nichts in diesem Geflecht ist bloß subjektiv oder objektiv.
Hier widerspricht der aufgeklärte Mensch. Gesetze sind normativ, Natureigenschaften
sind Fakten. Gesetze macht der Mensch, die Natur ist vorgegeben. Man muss strikt
zwischen Theorie und Praxis, Sein und Sollen trennen. Der Primitive schüttelt den
Kopf: Was sind Fakten, was sind Normen? Was ist Sein, was ist Sollen? Mit diesen
Begriffen kann der Primitive nichts anfangen. Der Aufgeklärte lässt nicht locker.
Normen sind essentiell um sprachliche Praxis zu verstehen. Denken, Erkennen,
Handeln setzt Sprachfähigkeit und damit die Empfänglichkeit für normative Ansprüche
voraus. Der Primitive schaut um sich: Aber alles spricht, die Natur ist voller Zeichen,
alles handelt, die Dinge ebenso wie die Menschen. Der Aufgeklärte kann es nicht
fassen. Die Natur ist das, was bezeichnet wird. Zeichen selbst gibt es nur im Geist des
6
Einleitung
Menschen. Ebenso gibt es Intentionen und Handlungen nur für den Menschen. Die
Natur handelt nicht, sie intendiert nichts. In seiner Verzweiflung greift der Aufgeklärte
zu einem Buch und liest vor:
"Uns, die wir einer modernen Lebenswelt angehören, irritiert, daß wir in einer
mythisch gedeuteten Welt bestimmte Differenzierungen, die für unser
Weltverständnis fundamental sind, nicht oder nicht hinreichend präzise
vornehmen können. Von Durkheim bis Levi-Strauss haben Anthropologen immer
wieder auf die eigentümliche Konfusion zwischen Natur und Kultur hingewiesen.
Dieses Phänomen können wir zunächst als eine Vermischung von zwei
Objektbereichen, eben der Bereiche der physischen Natur und der
soziokulturellen Umwelt, verstehen. Der Mythos erlaubt keine klare
grundbegriffliche Differenzierung zwischen Dingen und Personen, zwischen
Gegenständen, die manipuliert werden können, und Agenten, sprach- und
handlungsfähigen Subjekten, denen wir Handlungen und sprachliche
Äußerungen zurechnen. ...Allerdings bedeutet die Konfusion zwischen Natur und
Kultur keineswegs nur die konzeptuelle Vermengung von objektiver und sozialer
Welt, sondern auch eine für unser Empfinden mangelhafte Differenzierung
zwischen Sprache und Welt, also zwischen dem Kommunikationsmedium
Sprache und dem, worüber in einer sprachlichen Kommunikation eine
Verständigung erreicht werden kann. In der totalisierenden Betrachtungsweise
mythischer Weltbilder scheint es schwierig zu sein, die uns geläufigen
semiotischen Unterscheidungen zwischen dem Zeichensubstrat eines
sprachlichen Ausdrucks, seinem semantischen Gehalt und dem Referenten, auf
den ein Sprecher mit Hilfe des Ausdrucks jeweils Bezug nehmen kann,
hinreichend präzise zu treffen. Die magischen Beziehungen zwischen Namen
und bezeichneten Gegenständen, die konkretistische Beziehung zwischen der
Bedeutung von Ausdrücken und den repräsentierten Sachverhalten belegen die
systematische Verwechslung zwischen internen Sinn- und externen
Sachzusammenhängen. Interne Beziehungen bestehen zwischen symbolischen
Ausdrücken, externe Beziehungen zwischen Entitäten, die in der Welt
vorkommen. In diesem Sinne gilt die logische Beziehung zwischen Grund und
Folge als intern, die kausale Beziehung zwischen Ursache und Wirkung als
extern (physical vs. symbolic causation). (...) Es gibt offenbar noch keinen
präzisen Begriff für die nicht-empirische Geltung, die wir symbolischen
Äußerungen zuschreiben. Geltung wird mit empirischer Wirksamkeit konfundiert.
Dabei dürfen wir nicht an spezielle Geltungsansprüche denken: im mythischen
Denken sind verschiedene Geltungsansprüche wie propositionale Wahrheit,
normative Richtigkeit und expressive Wahrheit noch gar nicht ausdifferenziert.
Aber selbst der diffuse Begriff von Geltung überhaupt ist noch nicht von
empirischen Beimengungen befreit; Geltungsbegriffe wie Moralität und Wahrheit
sind mit empirischen Ordnungsbegriffen wie Kausalität und Gesundheit
amalgamiert. Darum kann das sprachlich konstituierte Weltbild so weit mit der
Weltordnung selbst identifiziert werden, daß es nicht als Weltdeutung, als eine
7
Einleitung
Interpretation, die dem Irrtum unterliegt und der Kritik zugänglich ist, durchschaut
werden kann. In dieser Hinsicht gewinnt die Konfusion von Natur und Kultur die
Bedeutung einer Reifikation des Weltbildes."2
Der Primitive ist sprachlos. Der Aufgeklärte lächelt triumphierend. "Das war unfair",
entgegnet der Primitive. „Das Buch, aus dem du gelesen hast, ist ein Philosophiebuch
und wir wollten uns doch in diesem Vorwort auf Laien beschränken.“ Der Aufgeklärte
stutzt über soviel Sinn für Reflexionshumor. Paradoxie durch Vermischung von
Erzählebenen ist doch eine typisch moderne Erfindung. "Um die Fairness zu wahren,
werde auch ich zu einem Philosophiebuch greifen müssen", fährt der Primitive fort, holt
ebenfalls ein Buch hervor und beginnt daraus zu lesen:
Motiv, Ziel und Aufbau der Arbeit
Die ursprüngliche Motivation dieser Arbeit war ein Interesse an dem, was man - mit
Bruno Latour - politische Epistemologie nennen kann.3 Ein Beispiel für politische
Epistemologie ist die Reaktion der Feministin Monique Wittig auf die Frage, ob sie eine
Vagina habe. Sie meinte, nein.4 Wittig ist nicht zu dumm, um die Frage zu verstehen,
sondern sie zweifelt die Selbstverständlichkeit eines Vokabulars an, um auf die
politischen Implikationen von scheinbar neutralen Fakten hinzuweisen. Politische
Epistemologie interessiert sich dafür, warum man seine Kinder vom Religionsunterricht
befreien kann, aber nicht vom Physikunterricht. Warum Mode bloße Geschmackssache
ist, aber Quantenphysik nicht. Poltische Epistemologie fragt nicht, was richtige
Erkenntnis ist, sondern warum man bestimmte Wissensformen propagiert und andere
bekämpft. Politische Epistemologie bringt Wahrheit und Macht, Fakten und Werte in
eine unerlaubte Verbindung. Sie interessiert sich für die Wahrheits- und Wissenspolitik
unserer Gesellschaft. Ein Phänomen wie der "Rassismus der Intelligenz", die
Legitimation von Machtverhältnissen über den Begriff der Intelligenz, ist ein Beispiel für
die politische Epistemologie.5 Wie werden gesellschaftliche Machtverhältnisse,
2
Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, S. 79-82.
3
Siehe Latour, Politiques de la nature, S. 354.
4
Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S.226.
5
Bourdieu, „Der Rassismus der Intelligenz“, in: Soziologische Fragen, S. 253. "Der
wissenschaftliche Diskurs wird zur Rechtfertigung des Rassismus der Intelligenz nicht nur
deshalb herangezogen, weil die Wissenschaft die herrschende Form des legitimen
8
Einleitung
Verteilungsfragen, ja das Existenzrecht selbst von Wissensfragen abhängig gemacht?
Politische Epistemologie ist eine Art Frontberichterstattung vom Krieg der Ideen. Seit
den Sophisten handeln sich politische Epistemologen die immergleichen Vorwürfe des
Relativismus ein. Sie glauben nicht an objektive Wahrheit, verwickeln sich daher in
Selbstwidersprüche und sind außerdem moralisch gefährlich. Sie sind die eigentlichen
Vaterlandsverräter der Philosophie und Wissenschaft.
Um auf diese Vorwürfe zu antworten habe ich mich mit den philosophischen
Implikationen des Streits zwischen politischen Epistemologen und ihren Gegnern
beschäftigt. Denn es reicht nicht aus mit empirischen Fallstudien zum Verhältnis von
Wissen und Macht, Faktenproduktion und sozialen Netzwerken zu kontern. Man muss
philosophisch werden.6 Die Argumente, die sich gegen die politische Epistemologie
richten, richten sich ebenfalls gegen eine als Ontologie verstandene Philosophie. D.h.
gegen jede Philosophie, die sich weder wie die nach-quinsche, post-analytische
„Philosophie“
als
eine
empirische
Wissenschaft
versteht,
noch
die
erkenntnistheoretische Wende Kants mitmacht. Szientisten und Kantianer halten aus
unterschiedlichen
Gründen
das
ontologische
Paradigma
seit
Descartes
für
überwunden. Moderne Kantianer glauben selbst die Bewusstseinsphilosophie hinter
sich und lokalisieren sich im sprachphilosophischen Paradigma.7 Auf zwei ganz
unterschiedliche Weisen haben sowohl Hegel als auch Heidegger gegen diese
Auffassung von Philosophie Einspruch eingelegt. Der eine durch den Versuch das
Subjekt ontologisch zu fundieren, der andere durch den Versuch das Subjekt durch
Rückkehr zur Ontologie zu überwinden. Den zweiten Weg kann man als Versuch
verstehen, ein klassisches Philosophieverständnis zu rehabilitieren. Klassisch soll hier
ein Denken heißen, das sich weigert dem Subjekt eine konstitutive Rolle zu geben.
Damit werden sowohl Descartes, Kant als auch die Phänomenologie abgelehnt. Für
die Griechen existierte das Subjekt nicht, die platonischen Ideen sind nicht die Ideen
eines Geistes. Philosophie wurde als Ontologie verstanden. Diese Arbeit steht in
Diskurses darstellt; sonder auch und vor allem deshalb, weil eine Macht, die meint, sie
habe eine wissenschaftliche Grundlage, von der Wissenschaft natürlich verlangt, daß sie
dieser Macht die Grundlage liefert; weil die Intelligenz das ist, was zum Regieren
legitimiert, wenn die Regierung behauptet, ihre Grundlagen seien die Wissenschaft und
die "wissenschaftliche" Kompetenz der Regierenden (man denke an die Rolle der
Wissenschaften für die schulische Auslese, bei der die Mathematik das Maß aller
Intelligenz geworden ist). Die Wissenschaft steckt mit dem, was sie rechtfertigen soll,
unter einer Decke."
6
Bruno Latour und Steve Woolgar verweisen im Nachwort von "Laboratory Life" auf die
ontologische und damit philosophische Dimension der dort entwickelten
Wissenssoziologie. Bruno Latour und Steve Woolgar, Laboratory Life, S.280f.
7
Siehe Schnädelbach, Philosophie- Ein Grundkurs, Band 1, S.37ff.
9
Einleitung
Kontinuität zur ontologischen Tradition. Einer Epistemologie, die objektiven bloß
relative Geltungsansprüche entgegenstellt, liegen Unterscheidungen zugrunde, die
selbst
Ausdruck
einer
ontologischen
Entscheidung
sind.
Eine
Kritik
dieser
Epistemologie hat daher auch das erstaunliche Ergebnis einer Rehabilitierung der
Philosophie selbst.8 Denn die Philosophie als Ontologie ist nicht vereinbar mit einem
Szientismus, verstanden als Glaube an eine objektive, unparteiische, a-perspektivische
Wahrheit. Der moderne Szientismus führt zu einer Subjektivierung des ureigensten
Themas der Philosophie: dem Denken. Die Subjektivierung des Denkens und der
Glaube an objektive Fakten sind zwei Seiten desselben Prozesses.
Diese Arbeit hatte also auf einmal zwei Ziele. Zum einen geht es um eine Kritik des
modernen Subjektivismus wie Szientismus und der von diesen Positionen implizierten
Hierarchisierung von Wissensansprüchen. Zum anderen geht es um eine Verteidigung
der Philosophie. Ich hoffe zeigen zu können, dass beides ein und dieselbe Sache ist.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht dabei der Begriff der Repräsentation und
das in diesem Begriff implizierte Verhältnis von Geist und Natur. Um diesen Begriff zu
kritisieren, versucht die Arbeit eine Tradition in der Philosophie zu reaktualisieren, die
sowohl in der angelsächsischen als auch in der deutschen Gegenwarts-Philosophie in
Vergessenheit geraten ist. Die Helden dieser Arbeit finden sich vor allem unter
französischen und amerikanischen Philosophen, mit der löblichen Ausnahme von
Nietzsche. Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Gabriel Tarde, Alfred North Whitehead,
William James, John Dewey, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Michel Serres und Bruno
Latour philosophieren ausgehend von vorkantischen Philosophen wie Spinoza und
Leibniz und sind hierzulande, zumindest von der akademischen Philosophie, wenig zur
Kenntnis
genommen
oder
missverstanden
worden.
Philosophiehistorisch
gut
bearbeitete Denker wie Spinoza und Leibniz werden von der systematischen
Philosophie vor allem als zwei weitere tote weiße Männer betrachtet. Bergson, der
zwischen den Weltkriegen kurze Zeit in Deutschland Mode war, ist vollkommen
vergessen. William James ist trotz des Pragmatismusbooms unbeachtet geblieben.
Und auch Whitehead gilt als unzeitgemäßer Metaphysiker und findet in der
8
Anders als eine bestimmte (schlechte) Lesart Rortys, nach der dieser mit dem Ende der
Erkenntnistheorie auch das Ende der Philosophie verkündet, ist diese Arbeit von der
Überzeugung getragen, dass das Ende der Erkenntnistheorie eine Rückkehr zur
Philosophie ermöglicht. Wenn man die Anti-Philosophie an ihrer Wurzel packen will, dann
muss man sehen, dass die kritische Philosophie Kants der erste Schritt in die AntiPhilosophie ist. Kant, und das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, ist der erste AntiPhilosoph! Er subjektiviert die Rationalität und gibt damit den Startschuss für das Genre
des Sozialkonstruktivismus. Siehe Kapitel 3 dieser Arbeit.
10
Einleitung
philosophischen Lehre fast nicht statt. Und Deleuze, Serres und Latour werden meist
als postmoderne Anti-Philosophen rezipiert. Der Grund für diese Nichtbeachtung ist
schnell benannt. Alle diese Philosophen eint ein entschiedener Anti-Kantianismus.
Kant ist der Vater des subjektiven Konstruktivismus. Er erfindet das Genre der
Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit, das heute in
Form des Sozialkonstruktivismus weit verbreitet ist.9 Diesem setzen die Helden dieser
Arbeit einen objektiven oder ontologischen Konstruktivismus gegenüber.
Die Arbeit beginnt mit der Darlegung ihres Philosophiebegriffs. Philosophie ist
Ontologie. Ontologie wird in einem engen Sinne verstanden, der auf Deleuze und
Guattari zurückgeht. Ontologie treibt, wer versucht einen eindeutigen Seinsbegriff zu
konstruieren. Deleuze und Guattari nennen dies ein Denken der Immanenz. Dieser
Begriff ist in seinem Kern anti-repräsentationalistisch. Deleuze und Guattari wenden
sich mit ihm gegen die Idee des Geistes als Spiegel der Natur.
Die stärkste anti-repräsentationalistische Bewegung des letzten Jahrhunderts war der
Pragmatismus. Dieser ist zum Ende des 20. Jahrhunderts von Richard Rorty
wiederbelebt worden. Ich werde im ersten Kapitel jedoch zeigen, dass auch Rortys
Spiegel der Natur noch an Dualismen hängt, die ihn daran hindern die Einsichten des
Pragmatismus vollständig zu entfalten. Um die eigentliche Kraft des Pragmatismus zu
vergegenwärtigen, werde ich die Philosophie des radikalen Empirismus von William
James vorstellen. Der Neo-Pragmatismus kann vom Pragmatismus noch lernen.
Ein zentraler Kern des klassischen Pragmatismus war die Naturalisierung des Geistes
in Form eines „Panpsychismus“, der Idee eines unbewussten, präsubjektiven Denkens.
Rorty lehnt diesen Begriff, wie fast alle zeitgenössischen Philosophen, ab. Im zweiten
Kapitel werde ich am Beispiel Daniel Dennetts, den ich als „Panintentionalist“ lese,
versuchen, den Begriff eines unbewussten Denkens seinen schlechten Ruf zu
nehmen. Einen Begriff von unbewussten, präsubjektiven Denkens respektabel zu
9
Martin Seel versucht den Bock zum Gärtner zu machen, indem er Kant den heutigen
Sozialkonstruktivisten entgegenstellt. Siehe Seel, „Kapriolen des Konstruktivismus“, in:
Merkur, Nr. 621. Nach Seel beachten die heutigen Konstruktivisten den Unterschied
zwischen Begriff und Gegenstand nicht mehr. Sie sind also nach Seel eher Hegelianer
als Kantianer. Ich denke, man sollte den Sozialkonstruktivismus nicht als Schritt in
Richtung Hegel, sondern als eine Relativierung des Kantischen a priori sehen. Die
Kant’sche Trennung zwischen Begriff und Gegenstand bleibt erhalten, aber die Begriffe
werden als durch und durch historische Schöpfungen des Menschen verstanden. Es
kommt zu einer Detranszendentalisierung Kants. Siehe dazu das 3. Kapitel „Szientismus,
Subjektivismus und Philosophie“.
11
Einleitung
machen, ist Vorraussetzung um eine monistische Philosophie zu entwickeln, die
keinerlei Reduktionismus impliziert.
Szientismus und Subjektivismus hängen zusammen. Im dritten Kapitel wird versucht
einen Überblick über diese Zusammenhänge zu geben. Den Krieg der Wissenschaften
zwischen der linken und der rechten Hand der Wissenschaft, Naturalisieren und
Kulturalisieren, deute ich als Chance für die Philosophie zu einem Comeback.
Um dieses in die Wege zu leiten, stelle ich im vierten Kapitel den Begriff des Virtuellen
vor, den Bergson entwickelt hat und den Deleuze/Guattari als die eigentliche Domäne
der Philosophie verstehen. Dieser Begriff impliziert eine Philosophie des Werdens und
der Kreativität. Mit ihm wendet sich Bergson gegen die Idee einer Ready-Made-World.
So ausgerüstet wende ich mich im fünften Kapitel Gilles Deleuzes Kritik der
Repräsentation zu. Denken wird von Deleuze als ein Prozess verstanden, das den
Unterschied von Modell und Kopie aufhebt. Denken repräsentiert nichts. Das Trugbild
geht der Unterscheidung in Urbild und Abbild voraus. Differenz bekommt den Vorrang
vor Identität, der Prozess vor seinem Produkt. Die Philosophie ist nicht länger ein
Begründungs- sondern ein Entgründungsunternehmen. Sie konstruiert Fluchtlinien.
Der
Gegensatz
von
szientistischem
Objektivismus
und
subjektivistischem
Konstruktivismus kann nun ersetzt werden durch einen ontologischen Perspektivismus.
Denken findet nicht in einer Innenwelt statt, sondern ist ein wirklicher Prozess in der
Welt. Denken ist keine Perspektive auf die Welt, sondern die Welt besteht aus
Perspektiven. Das sechste Kapitel versucht das Problem des Relativismus mit Hilfe
des Perspektivismus zu lösen.
Im siebten und letzten Kapitel der Arbeit diskutiere ich anhand von Habermas und
Latour die Folgen dieser Metaphysik für das universalistische Selbstverständnis der
Moderne. Mit Latour werde ich argumentieren, dass die Aufgabe des Universalismus
paradoxerweise einem wirklichen Universalismus den Weg bahnen kann. Anders als
Latour verteidige ich jedoch den Moderne-Begriff.
Obwohl in dieser Arbeit unterschiedslos analytische wie nicht-analytische Philosophen
zu Wort kommen, steht diese Arbeit nicht in dem wissenschaftlichen Selbstverständnis
der analytischen Philosophie. Dass Philosophie keine Wissenschaft ist, ist ja Teil ihres
Inhaltes. Es wäre deshalb falsch, einen wissenschaftlichen Stil zu imitieren. Sie ist
deshalb aber keineswegs eine kontinentalphilosophische Arbeit. Die geographische
Unterscheidung in anglo-amerikanische versus kontinentale Philosophie ist auf die
Unterscheidung analytisch und nicht-analytisch nicht anwendbar. Denn England wie
Amerika haben auch eigenständige nicht-analytische Traditionen, wie etwa den
Empirismus oder den Pragmatismus. Kontinentale Denker wie Deleuze stehen stark in
diesen anglo-amerikanischen Traditionen, obwohl sie ganz sicher keine Analytiker
sind. Umgekehrt hat die analytische Philosophie kontinentale Ursprünge: Bolzano,
12
Einleitung
Brentano, Frege, die polnischen Logiker, der Wiener Kreis, Wittgenstein. Eine
inhaltliche, beispielsweise am logischen Positivismus orientierte, Definition scheidet
ebenfalls aus. Sie zeigt nur die Unkenntnis über den Reichtum und die Vielfalt der
analytischen Philosophie. In der analytischen Philosophie kann jeder fündig werden, da
es inzwischen ein breites Spektrum von Positionen gibt. Eine andere Definition wäre
die Dummettsche, die die Orientierung an der Sprache hervorhebt.10 Ein Analytiker
gewinnt Erkenntnisse über Dinge, indem er die Sätze analysiert, mit denen wir über die
Dinge sprechen. Wenn man diese Verfahrenweise jedoch nicht doch wieder inhaltlich
versteht, dann scheint die Definition viel zu weit. Denn schon immer haben
Philosophen die Sprache thematisiert, mit der wir über die Dinge reden. Allerdings ist
diese Arbeit in einem Punkt tatsächlich mehr der analytischen Tradition verpflichtet: Sie
versucht im Gegensatz zu vielen Texten der postmodernen Philosophie die Dinge so
einfach wie möglich zu erklären und sowohl das heideggerische Pathos der
Tiefgründigkeit als auch den esoterischen Stil des Eingeweihten, der sich nicht mehr
erklären muss, zu vermeiden.11 Foucault wendet sich am Ende eines Vortrags an sein
Publikum und bringt die Haltung, die ich mir auch von einem Leser dieser Arbeit
wünsche, auf den Punkt:
Je n’aime pas l’obscurité parce que je considère que l’obscurité est une forme de
despotisme ; il faut s’exposer á dire des erreurs ; il faut s’exposer à arriver à dire
des choses qui, probablement, vont etre difficiles à exprimer et pour lesquelles,
évidemment, on cafouille un peu et là, je crains de vous avoir donné l’impression
de cafouiller. Si vous en avez eu l’impression, c’est que j’ai, effectivement,
cafouillé! 12
10
Siehe Dummett, „Kann und sollte die analytische Philosophie systematisch sein?“, in:
Wahrheit, S.185ff.
11
Siehe zu diesem Aspekt der „postmodernen“ französischen Philosophie den Exkurs "Ist
die Philosophie elitär?".
12
Foucault, « Sexualité et pouvoir », in: Dits et écrits, Tome III, S. 570.
13
Vorspiel: Was ist Philosophie?
Vorspiel: Was ist Philosophie?
Gibt es Paradigmen in der Philosophie?
In olden days a glimpse of stocking
was looked on as something shocking
Now heaven knows:
Anything goes!
Cole Porter
Die Philosophiegeschichte wird häufig als eine Abfolge von drei Paradigmen
beschrieben.13 Antike und Mittelalter verharren im ontologischen Paradigma, sie
philosophieren naiv über das Sein an sich. Mit der Moderne wechselt die Philosophie in
das bewusstseinsphilosophische Paradigma. Vor dem Sein kommt die Erkenntnis des
Seins. Erkenntnis wird zu etwas, das sich „in“ einem Bewusstsein abspielt. Das Sein
wird zur Außenwelt, die immer nur vermittelt über eine Innenwelt gegeben ist. Die
Bewusstseinsphilosophie wird schließlich durch die Wende zur Sprache überholt.
Dieses dritte Paradigma ersetzt das Bewusstsein durch die Sprache als das Medium,
in dem sich Welterkenntnis vollzieht.
Diese Schilderung der Philosophiegeschichte ist alles andere als unparteiisch.
Zunächst einmal gab es auch nach Descartes und Kant Philosophen, die das
bewusstseinsphilosophische Paradigma abgelehnt haben. Spinoza und Leibniz sind
Anti-Cartesianer, die dem Subjekt keine privilegierte Stellung einräumen. Nietzsche,
Bergson,
James
und
Transzendentalphilosophie
Whitehead
vehement
sind
kritisiert
Philosophen,
haben
und
die
ebenso
Kants
den
Intentionalitätsbegriff der Phänomenologen links liegen ließen. Die Wende zur Sprache
schließlich ist als Paradigmenwechsel nicht vom selben Gewicht wie die Wende zum
Bewusstsein. Denn die Mediumsauffassung der Erkenntnis kann auch beim Wechsel
des Mediums beibehalten werden. Die Sprache spielt dann dieselbe Rolle wie zuvor
das Bewusstsein. Bei Apel oder Habermas ist dies deutlich der Fall. Nun hat die
Wende
13
zur
Sprache
allerdings
Schnädelbach, „Philosophie“,
Grundkurs. Band 1, S.37ff.
keinesfalls
in:
immer
Schnädelbach,
14
diese
Martens
Mediumsauffassung
(Hg.):
Philosophie-Ein
Vorspiel: Was ist Philosophie?
fortgesetzt.14 Davidson wäre als ein Philosoph zu nennen, der Sprache zwar für eine
Voraussetzung für die Zuschreibung von Überzeugungen und Wünschen behandelt,
aber nicht als ein Medium versteht, Nichtsprachliches zu repräsentieren. Umgekehrt
hat John Searle mit seiner Version der Sprechakttheorie sicherlich einen der
wichtigsten Beiträge zur Wende zur Sprache geliefert, obwohl er Sprache für
zweitrangig hält. Tiere und Menschen haben für ihn Bewusstsein, Überzeugungen und
Wünsche, auch wenn sie über keine Sprache verfügen. Einer der größten Kritiker des
Bewusstseins, Daniel Dennett, kommt ganz ohne eine Sprachphilosophie aus. Dennett
vertritt die These, dass es Intentionalität ohne Bewusstsein, was immer das ist, und
auch ohne Sprache geben kann. Damit steht er im Widerspruch zu dem Philosophen,
der vielleicht am ehesten als Sprachphilosoph verstanden werden kann: Wilfrid Sellars.
Sellars behauptet, dass der Gegenstand der Bewusstseinsphilosophie sprachlich ist.
Alles Bewusstsein ist sprachlich konstituiert. Da Sellars und seine Nachfolger auch
noch den Intentionalitätsbegriff auf Sprache reduzieren, müssen sie die Rede von
intentionalen, aber sprachlosen Systemen, wie man sie bei Searle und schlimmer noch
bei Dennett findet, ablehnen. In Sellars Tradition stehen heute Robert Brandom und
John McDowell, die beide auf unterschiedliche Weise die Sprache als Voraussetzung
für das Denken auszeichnen. Der Wechsel zum Sprachparadigma ist also nur bei
Philosophen wie Davidson, Sellars, Brandom und McDowell wirklich vollzogen.
Sprachphilosophen wie Searle oder Grice stehen dagegen nicht unbedingt im
Gegensatz zur Bewusstseinphilosophie. Andererseits sind Daniel Dennett als auch
französische Philosophen, welche die Phänomenologie kritisieren, wie Deleuze, Serres
oder Derrida, entschiedene Gegner der Bewusstseinphilosophie, obwohl sie keine
Sprachphilosophen sind. Auf Spinoza, Leibniz, Darwin, Marx, Nietzsche und Freud
zurückgehend, kritisieren sie die Bewusstseinsphilosophie in einer Weise, die viel eher
einem Paradigmenwechsel gleichkommt als die sprachphilosophische Transformation
des Kantianismus oder Hegelianismus bei Sellars, Brandom oder McDowell.
Die Rede von den verschiedenen Paradigmen ist also historisch schlicht eine verkürzte
und parteiische Darstellung. Vieles spricht dafür, dass der Begriff des Paradigmas auf
die Philosophie gar nicht anwendbar ist. Die Philosophie kann ihrer Geschichte nicht
auf dieselbe Weise entgehen, wie dies beispielsweise die moderne Physik tut. Für
Rorty, der sich hierbei an Kuhn orientiert, ist die Philosophie eine chronisch nicht-
14
Die Wende zur Sprache kann auch in einem bloß methodischen oder stilistischen Sinn
verstanden werden. Diesen vernachlässige ich hier, denn Philosophen haben in diesem
Sinne, wie bereits gesagt, schon immer Sprachanalyse betrieben.
15
Vorspiel: Was ist Philosophie?
normale Wissenschaft.15 Es gibt in ihr keinen Paradigmenwechsel, denn sie hat nicht
mal Paradigmen. Der Versuch, Philosophie zu einer normalen Wissenschaft zu
machen, wird zwar immer wieder unternommen, er hat jedoch nie Erfolg gehabt.16 Die
Gleichzeitigkeit verschiedenster Positionen in der Philosophie lässt höchstens die
Dominanz der einen oder anderen Position zu. Es ist sicherlich richtig, dass der
Gedanke des Subjekts eine Dominanz in der neuzeitlichen Philosophie hat, den er in
der Antike nicht hatte. Die Griechen philosophierten nicht über das Subjekt. Trotzdem
ist es falsch, alle Philosophie nach Descartes als Subjektphilosophie zu klassifizieren.
Der Linie Descartes, Kant, Hegel, Husserl steht die Linie Spinoza, Leibniz, Nietzsche,
Bergson, Whitehead, Deleuze gegenüber.
Entsprechend ist auch der Übergang vom ontologischen zum Bewusstseinsparadigma
zu differenzieren. Denken und Sein fallen nur dann auseinander, wenn Sein als bloße
Materie gedacht wird, Denken als bewusstes Denken. Spinoza wie Leibniz vertreten
eine Philosophie des Unbewussten, die den ontologischen Dualismus zugunsten eines
Monismus oder eines monokategorialen Pluralismus vermeidet. Diese Philosophie des
Unbewussten hat ihre Fortsetzung in Nietzsche, Bergson, James, Dewey, Whitehead
und heute in den Positionen von Dennett, Serres, Deleuze, Latour. Mit ihrer Hilfe kann
der Alternative eines Materialismus einerseits, einer Subjektivierung der Welt
andererseits entgangen werden.
Eine weitere Alternative zum Gegensatz von Ontologie und Bewusstseinsphilosophie
bietet
Hegel.
John
McDowell
schlägt
heute
eine
an
Hegel
orientierte
Wiederverzauberung der Natur vor.17 Er erinnert daran, dass der Cartesianische
Dualismus eine Frucht des modernen Naturverständnisses ist, das die Griechen in
dieser Durchschlagskraft nicht kannten. Wie Hegel schlägt er eine Rückbesinnung auf
aristotelische Begriffe vor. Damit aktualisiert er vor allem Hegels Reontologisierung des
Geistes. Hegel hatte die Ontologie zur Überwindung der Subjekt-Objekt-Philosophie
von Descartes und Kant rehabilitiert, ohne den modernen Subjektgedanken
aufzugeben. Das selbstbewusste Subjekt findet eine Verkörperung, eine Inkarnation
oder zweite Natur, ohne in seiner Autonomie gefährdet zu werden. Hegel als
15
Rorty, Der Spiegel der Natur, S.396ff.
16
Dummett äußert in einem Text von 1977 die Hoffnung, dank Frege sei die Philosophie
nun endlich auf den Weg zur strengen Wissenschaft. Diese Hoffnung konnte Dummett
schon damals nicht äußern, ohne durch Hinweis auf die lange Reihe von gescheiterten
Versuchen einer Verwissenschaftlichung der Philosophie die Komik dieser Hoffnung
herauszuheben. Siehe Dummett, "Ist analytische Philosophie systematisch?", in:
Wahrheit, S.220. Nach 25 Jahren ist die Hoffnung verflogen, die Komik dagegen bleibt.
Um es mit Billy Wilder zu sagen, die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.
17
McDowell, Geist und Welt.
16
Vorspiel: Was ist Philosophie?
Fleischwerdung Kants. Mit Spinoza auf der einen, Hegel auf der anderen Seite haben
wir also zwei anti-cartesianische Philosophen, die beide die Alternative zwischen
ontologischen
oder
bewusstseinsphilosophischen
Paradigma
nicht
akzeptieren
würden.
Die Einteilung der Philosophiegeschichte nach Paradigmen wird ihrer Vielfalt nicht
gerecht. Man kann an Ontologie festhalten ohne das Subjekt aufzugeben (Hegel), man
kann das Subjekt aufgeben ohne eine Sprachphilosophie zu betreiben (Dennett), man
kann sowohl das Subjekt als auch die Sprache als konstitutive Instanzen ablehnen und
den Vorrang der Ontologie verteidigen (Deleuze). Es ist alles offen. Was Philosophie
ist und wie man zu philosophieren hat, ist so unentschieden wie eh und je.
Anything goes!
Hier also ein weiterer Versuch:
Philosophie als Kampf gegen das Klischee
Ah, good taste! What a dreadful thing.
Taste is the enemy of creativity.
Pablo Picasso
"Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die
Wahrscheinlichkeit: Sie suchen das Erstaunen. Sie halten die Metaphysik für
einen Zweig der phantastischen Literatur. "18
Die Philosophie gehört in das Genre der phantastischen Literatur. Sie beschäftigt sich
nicht mit der Wirklichkeit, wie sie vom Alltagsverstand oder von den Wissenschaften
konstruiert wird. Ein philosophisches Vokabular liefert keine Erkenntnisse, wenn man
unter Erkenntnis die Darstellung von Sachverhalten versteht. Georges Brague
antwortete auf die Kritik, sein Bild sehe einer Frau gar nicht ähnlich, ich wollte keine
Frau malen, sondern ein Bild. Die Philosophie streitet nicht um die richtige
Repräsentation von Geist, Natur, Moral, Liebe, Ökonomie und dergleichen, sondern
konstruiert Natur-Begriffe, Moral-Begriffe, Liebes-Begriffe. Das Kriterium der Qualität
eines Begriffs ist nicht seine Wahrheit. Ein Begriff ist weder wahr noch falsch, er ist
18
Siehe Jorge Luis Borges, „Tlön, Uqbar und Orbis Tertius“, in: Fiktionen, S. 23.
17
Vorspiel: Was ist Philosophie?
eine Kraft. Die Kriterien, an denen man einen Begriff beurteilen kann, sind daher
solche der Bedeutsamkeit, der Spannung, der Intensität. Gute Begriffe sind
interessant, spannend, schlechte Begriffe dagegen langweilen. Der Gegner der
Philosophie ist das Klischee, das Denken in Gemeinplätzen. Was alle akzeptieren, ist
banal. Klischees sind Routine, eingefahrenes Denken. Gemeinplätze stehen nicht im
Gegensatz zu Meinungen, die von einem Einzelnen vertreten werden. Eine individuelle
Meinung ist ein Gemeinplatz in einem Fall. Richard Rorty wird häufig der Privatisierung
und Ethnozentrierung der Philosophie gescholten, aber auch er definiert die ironische
Philosophie als Neubeschreibung und grenzt Neubeschreibungen von Beschreibungen
ab, die dem Leser in seinen Phantasien entgegenkommen.
"Wir sollten einmal unterscheiden zwischen dem Bereich von Zwecken, die man
jetzt innerhalb eines vertrauten, weitverbreiteten abschließenden Vokabulars
bestimmen kann, und dem Zweck, ein neues abschließendes Vokabular
auszuarbeiten. Wendet man diese Unterscheidung auf Bücher an, dann
entstehen zwei Gruppen: Bücher, deren Erfolg auf der Basis vertrauter Kriterien
beurteilt werden kann, und andere Bücher, bei denen das nicht möglich ist. Diese
zweite Gruppe enthält nur den winzigen Bruchteil aller Bücher, aber sie enthält
auch die wichtigsten - die, die auf lange Sicht den größten Unterschied
ausmachen."19
Die Privatisierung eines Teils der Philosophie (des ironischen) darf daher nicht als eine
Reduktion der Philosophie auf bloße Meinungen verstanden werden. Auch für Rorty ist
die Philosophie in ihrem Wesen kontraintuitiv oder paradox, gegen die Doxa
gerichtet.20
19
Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 232.
20
Ich stelle hier und im folgenden Rorty und Deleuze als zwei Kritiker der
Transzendenzphilosophie dar, wohlwissend, dass beide Parteien nur Spott für einander
übrig haben. Rorty liest Deleuze als ein Beispiel für die Verknüpfung von Politik und
Philosophie, die Rorty als Identitätspolitik bemängelt. Deleuze/Guattari wiederum
klassifizieren Rorty als Meinungsmacher, der Philosophie zu einer Form von
Unterhaltung werden lässt. Ich denke, dass Rorty zu Unrecht die Verknüpfung von
Philosophie und Politik ablehnt. Er betreibt selbst Identitätspolitik in Form eines Plädoyers
für den Nationalismus. Zum anderen vereinfachen Deleuze/Guattari Rortys
Philosophiekonzept, wenn sie den Unterschied zwischen Klischee und Neubeschreibung
nicht beachten, den Rorty explizit zieht. Rorty folgt hier dem klassischen Pragmatismus.
Anders als Platonisten können weder Rorty noch Deleuze/Guattari die Alternative
Episteme oder Doxa, Wissen oder bloße Meinung akzeptieren. Sie müssen beide den
Rekurs auf ewige Wahrheiten durch die Idee der Kreativität, des Neuen ersetzen. Die
Meinung kann nicht mehr kritisiert werden, indem sie auf ein ewiges Reich der Ideen
bezogen wird, denen sie zu ähneln hat, sondern sie muss als Konvention, Klischee,
Verkrustung kritisiert werden. Es muss ein doppelter Kampf geführt werden, gegen die
18
Vorspiel: Was ist Philosophie?
Das Mittel mit dem Philosophie diese Kontra-Intuition zu erzeugen versucht, ist ihr
Systemcharakter. Sellars definiert die Philosophie als ein Unternehmen „to understand
how things in the broadest possible sense of the term hang together in the broadest
possible term.“21 Ebenso Whitehead:
“Spekulative Philosophie ist das Bemühen, ein kohärentes, logisches und
notwendiges System allgemeiner Ideen zu entwerfen, auf dessen Grundlage
jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann.“22
Philosophie, selbst wenn sie pluralistisch ist, erhebt immer den Anspruch alle Dinge in
einen Zusammenhang zu bringen. Selbst eine Philosophie des Multiplen, des
Fragments kann nicht umhin, vom Ganzen als multipel, fragmentiert etc zu sprechen.
Dieser systematische Anspruch bringt Heterogenes zusammen und zwingt dadurch zur
Kreativität.23 Philosophen entwerfen Zusammenhänge, selbst wenn sie behaupten,
dass die Dinge nicht miteinander zusammenhängen oder in zwei Lager zerfallen.
Immer bleibt das Ganze als Kontrast, vor dem solche Aussagen Kontur gewinnen.
Die stärkste Forderung nach einem System in der Philosophie ist die These von der
Univozität des Seins. Wie Quine sagt, ist die Frage nach dem, was ist, leicht zu
beantworten: Alles.24 Die Univozität qualifiziert diese Antwort. Die Univozität fordert von
der philosophischen Konstruktion, das sie die Dinge als seiend im selben Sinne
bestimmt. Die Interpretation des Wortes "Sein" muss sich als univok erweisen.25
Urbilder und gegen die Abbilder, gegen Episteme und Doxa, gegen die Herrschaft der
Experten als auch gegen den Subjektivismus, gegen den Elitismus und gegen den
Common Sense. Wenn Philosophie Unterhaltung ist - Deleuze definiert Unterhaltung als
kreative Verknüpfung, ein Werden, das nicht Bildung, im Sinne des Strebens nach einem
Ideal, ist - dann ist sie eine aggressive Form der Unterhaltung, die sich gegen das
Klischee wendet. Siehe den Exkurs: "Ist die Philosophie elitär?"
21
Sellars, „Philosophy and the Scientific Image of Man”, in: Science, Perception and
Reality, S. 1.
22
Whitehead, Prozeß und Realität, S. 31.
23
Zur Kontra-Intuition und dem Verhältnis von Systemzwang und Kreativität siehe Seel,
"Lob des Systemzwangs", in: Merkur 45, S.516ff.
24
Quine, „Was es gibt“, in: Von einem logischen Standpunkt, S.9.
25
Das Wort "Sein" ist dabei ein philosophisches Kunstwort. Es geht keinesfalls um eine
Rekonstruktion des Gebrauchs des Verbs "Sein" in unserer Sprache. Den Sinn von
"Sein" als univok zu denken, ist eine konstruktive Aufgabe. "Sein" wird univok gemacht,
es wird nicht als univok enthüllt. Man kann "Sein" auch äquivok denken, man hört dann
jedoch auf, Philosophie zu betreiben. Es gibt heute eine auf Wittgenstein sich berufende
Kritik der Philosophie, die darauf hinaus läuft, die Worte der Philosophie in ihre
alltäglichen Kontexte zurückzuversetzen. Damit glaubt man, die Probleme der
Philosophie aufgelöst, therapiert zu haben. Man stelle sich vor, ein griechischer
19
Vorspiel: Was ist Philosophie?
"Ein und dieselbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege kennt, ein und
derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins für alle
Seienden."26
Die Forderung der Univozität erzwingt die größtmögliche Systemazität, weil sie
verbietet Elemente der Erfahrung in verschiedene Kategorien zu werfen. Eine
kategoriale Ontologie ist immer eine Abschwächung des Systemzwangs. Die
Forderung
nach
verschiedene
Univozität
Kategorien
schließt
aus.
eine
Steine,
Departmentarisierung
Tiere,
Menschen,
der
Staaten,
Welt
in
Fakten,
Vergangenheit und Zahlen müssen im selben Sinne sein. Eine solche ontologische
Position kann daher eine zwei Welten-Lehre wie bei Descartes oder anders bei Kant
oder gar eine drei Welten-Lehre wie bei Frege oder Popper nicht zulassen.
Dualistische Positionen, seien es ontologische oder deontologische Dualismen, sind
immer das Ergebnis eines theologischen Kompromisses, das Mittelalter der
Philosophie.
Eine Systematisierung von Welt kann auch auf nicht-philosophische Weise gedacht
werden. Es ist schwer sich vorzustellen, dass die Versuche einer Systematisierung von
Welt - gesetzt es gäbe sprachfähige Kulturen - jemals ganz aussterben werden, aber
da ein solches Systematisieren auf verschiedene Weise (mythisch, religiös) geschehen
kann, gab und gibt es Alternativen zur Philosophie, mit denen diese konkurriert.
Philosophie ist also nicht selbstverständlich. Nicht jede Gesellschaft bringt Philosophie
hervor. Philosophie ist eine genauso kontingente Praxis wie Tennisspielen oder
Rappen. Nur unter bestimmten Bedingungen kann sich das philosophische Denken
und die Menschen, die es produzieren, entwickeln. Philosophieren ist also keineswegs
ein in der Natur des Menschen liegendes Bedürfnis.
Gilles Deleuze und Felix Guattari haben einen Begriff von Philosophie entwickelt, der
Philosophie als die Konstruktion einer Immanenzebene begreift.27 Immanenz steht im
Gegensatz zu Transzendenz. Was bedeuten diese Begriffe? Wenn man jeden Versuch
Wittgensteinianer hätte das Wort "hyle", griechisch für Holz, das von Aristoteles zu einem
allgemeinen Begriff für Stoff, Materie gemacht wurde, in den Alltag zurückversetzt. Nur in
solchen Kontexten habe das Wort Sinn, könnte der griechischen Wittgenstein behaupten.
Diese „Therapie“ der Philosophie läuft darauf hinaus, schlicht aufzuhören Philosophie zu
betreiben. Eine solche Therapie ist einfach und auf jedes Sprachspiel anwendbar. Sie ist
jedoch keine Therapie oder Dekonstruktion, sondern nur ein Ausweichen. Siehe zu
diesem Unterschied Rorty, „Dekonstruieren und Ausweichen“, in Eine Kultur ohne
Zentrum, S.104ff. Deleuze stellt daher mit Bezug auf die Wittgensteinianer fest, die
Philosophie stirbt niemals durch sich selbst, sondern nur durch Mord.
26
Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 377.
27
Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S.42ff.
20
Vorspiel: Was ist Philosophie?
einer Systematisierung von Welt als Konstruktion einer Immanenzebene betrachtet,
einer Ebene, auf der alles - Götter, Sterne, Tiere, Pflanzen, Menschen – zu
verzeichnen ist, dann bedeutet Transzendenz, ein Element aus dieser Ebene
herauszuheben und zum genetischen oder teleologischen Prinzip von allem auf der
Ebene zu erheben. Das Sein hat einen transzendenten Sinn, der dem Seienden nicht
immanent ist. Ein transzendenter Erklärungsversuch lässt das Explanans nicht auf
derselben Ebene liegen wie das Explanandum. Eine immanente Erklärung bleibt
dagegen auf dem Boden. Mit den Worten Daniel Dennetts: Philosophen ersetzen
Himmelshaken durch Kräne, Transzendenz durch Immanenz.28 Dennett versteht unter
einer Erklärung durch Kräne naturwissenschaftliche Erklärung im Gegensatz zu einem
Appellieren an Himmelshaken wie Wunder, Götter oder Geister. Deleuze/Guattari
grenzen Philosophie von Wissenschaft ab, aber auch sie setzen das Immanenzdenken
in den Gegensatz zu einer religiösen Welterklärung, die von oben herab mit Hilfe von
Himmelshaken operiert. "Von oben" versucht dabei auszudrücken, dass die
Transzendenz ein Element einführt, das über die zu klärenden Elemente hinausgeht.
Transzendente Erklärungen postulieren also immer zwei ontologisch verschiedene
Typen von Dingen, wobei der eine Typ den anderen erklärt. Verschiedene ontologische
Typen oder Kategorien auszuschließen, heißt eine Ontologie der Univozität zu
postulieren.
Philosophie und Humor
Eine univoke Ontologie muss man sich dabei nicht als eine abstrakte oder allgemeine
Erkenntnis denken. Versteht man Philosophie als Kreation von Begriffen, dann muss
man Ontologie als eine konstruktive Tätigkeit auffassen. Dem Seienden gegenüber
wird eine bestimmte Haltung eingenommen. Man entdeckt nicht, dass es univok
gedacht werden muss; man macht es univok. Ontologie ist eine Praxis. Man denke an
das Machen einer Late-Night-Show. Eine Late-Night-Show muss die Ereignisse des
Tages zu Witzen verarbeiten. Je besser die Show ist, desto weiter geht sie. Ein
Ereignis von allgemeinem Interesse beiseite zu lassen, kommt einem Versagen gleich.
Der Tod von Lady Di, der Terroranschlag auf das World Trade Center, das ist nicht
mehr komisch. Eine solche Haltung kapituliert: es gibt Dinge, die man nicht zum
Lachen verwenden darf. Eine Philosophie, will sie konsequent sein, also das Sein als
univok behandeln, kann sich diesen Respekt nicht leisten. Sie ist durch und durch
28
Dennett, Darwins gefährliches Erbe, S.97ff.
21
Vorspiel: Was ist Philosophie?
respektlos, sie zieht alles in den Schmutz. Nichts ist ihr heilig. Univozität behauptet,
dass eine Mücke dasselbe Sein ausdrückt wie ein Mensch oder ein Gott. Der Vergleich
mit einer Late-Night-Show ist daher keineswegs ein beliebiger. Philosophie enthält eine
wesentliche Beziehung zum Humor.29 Das Sein als univok zu denken, impliziert die
Ablehnung jeder Art von Hierarchie zwischen den Seienden. Kein Seiendes gilt als
Modell, als Norm für ein anderes. Es herrscht eine vollkommene Ausgeglichenheit, die
Deleuze in Anschluss an die Stoiker und Lewis Carroll zur Produktionsbedingung der
Seelenruhe30 und des Humors erhebt. Lewis Caroll führt Gemütsruhe und Humor in
einem Rezept zur Produktion von Nonsens zusammen:
"Betrachten wir zum Beispiel die beiden Wörter "wütend" und "heftig". Nehmt
euch einmal vor, beide Wörter zu sprechen, doch lasst offen, welches ihr zuerst
sagen wollt. Jetzt öffnet euren Mund und sprecht. Neigen sich eure Gedanken
auch nur um ein Geringes in Richtung "wütend", so werdet ihr "wütend-heftig"
sagen; wenden sie sich auch nur um Haaresbreite in Richtung "heftig", so werdet
ihr "heftig-wütend" sagen; besitzt ihr aber jene seltenste aller Gaben, nämlich ein
vollkommen ausgewogenes Gemüt, so werdet ihr sagen: "wüftig".31
Deleuze bringt den Nonsens mit dem Phänomen des Paradoxes zusammen. Ein
Paradox ist nicht einfach ein falscher Satz, sondern ein sinnverletzender Satz. Eckige
Bälle, farbige Vokale... Scheinbar notwendige Beziehungen, analytische Sätze, werden
als kontingent behandelt. Was als intern zusammenhängend erscheint, wird
auseinandergerissen. Das paradoxe Objekt ist weder Teil der normalen Sprache noch
einfach etwas Nicht-sprachliches. Nach Deleuze ist jedes Vokabular mittels paradoxer
Objekte kurzzuschließen. Paradoxe Objekte sind notwendig Teil der Sprache. Ohne sie
würde auch das normale Sprechen unmöglich sein. Im Gegensatz zum exklusiven
Verhältnis wahr-falsch, dass nur die Bedeutung und die Referenz betrifft, Möglichkeiten
und Wirklichkeiten, verhält sich der Sinn zum Unsinn inklusiv. Ein unsinniger Satz ist
sinnvoll, er drückt etwas aus, im Gegensatz zu einem bloßen Geräusch, das einfach
ein physikalisches Phänomen ist. Deleuze verweist auf die Ontologie Meinongs, der
die unmöglichen Objekte als außerseiend, aber eben als existierend aufgefasst hat.32
29
Deleuze, Logik des Sinns, S.170.
30
Der Stoizismus ist vor allem eine Philosophie des Glücks, verstanden als Seelenruhe.
Siehe Paul Veyne, Weisheit und Altruismus.
31
Lewis Carroll, The Hunting of the Snark/Die Jagd nach dem Schnatz, S. 13.
32
Meinong unterscheidet zwischen Existenz, Subsistenz und Außersein. Meinongs
Ontologie ist vor allem für Theorien über fiktionale Gegenstände von Interesse, aber auch
für die Gegenstände der Philosophie, wenn man sie als Teil der phantastischen Literatur
bestimmt, wie ich es hier im Anschluss an Borges tue. Existenz kommt raumzeitlichen
22
Vorspiel: Was ist Philosophie?
Es gibt runde Vierecke, es gibt blaue Vokale... Der Satz vom Widerspruch betrifft nur
das Wirkliche und das Mögliche, nicht jedoch das Unmögliche. Unmöglichkeiten
"existieren", im Sinne des Außerseins, nur in der Sprache. Sie drücken einen Sinn aus,
der sich nie in den Dingen verwirklichen oder auch nur als Möglichkeit existieren kann.
Das Paradox verweist daher weder auf Wirkliches, noch auf Mögliches, sondern auf
Virtuelles.33 Virtuelles wird von der Sprache impliziert, ohne jedoch jemals expliziert
werden zu können. Humor ist die Konstruktion solcher virtuellen Objekte. Man denke
an die unmöglichen Objekte Eschers oder die Bilder Magrittes, aber eben auch an
Lewis Carroll und die Nonsens-Literatur und vor allem an die Philosophie, deren Texte
Paradoxa konstruieren. Ein philosophisches Problem beginnt häufig mit der
Formulierung, es muss möglich sein, aber es kann nicht möglich sein. (Erkenntnis der
Außenwelt, Freiheit in einer determinierten Welt etc.) Viele Philosophen glauben, die
Paradoxa als unsinnig im Sinne eines einfachen Fehlens von Sinn ausschließen zu
können. Deleuze glaubt dies nicht. Es gibt Objekte, die weder einfach sinnlos, bloße
Geräusche, noch in einem normalen Sinne bedeutungsvoll sind. Diese Objekte bilden
die Grenze zwischen Bedeutungen, die wahr oder falsch sind, und bloßen
Geräuschen, ohne eine der beiden Seiten zuzugehören. Diese Objekte sind
problematisch. Eine wichtige Implikation eines an den Begriff des unmöglichen Objekts
geknüpften Begriffs des Problems besteht darin, dass ein Problem nicht bloß als ein
subjektiver Mangel, eine bloße Wissenslücke begriffen wird, sondern als Prozess in der
Welt selbst. Die Welt selbst enthält Unbestimmtes, Probleme. Bestimmt man das
Problem als Unwissen, ob diese oder jene Möglichkeit erfüllt ist, dann nimmt man die
Lösung zumindest als Möglichkeit vorweg. Man stellt sich dann Wissenserwerb als
Beantworten
vorformulierter
Fragen
vor.
Jedes
Vokabular
enthält
solche
vorformulierten Fragen. Diese stecken ein Möglichkeitsfeld ab, gleichzeitig schließen
Gegenständen zu, Subsistenz haben abstrakte Gegenstände, Außersein dagegen haben
nicht-seiende Gegenstände, die es jedoch ebenfalls gibt, da diese Gegenstände
gegenüber ihrem Sein oder nicht sein, indifferent sind. "Sein oder Nicht-Sein, das ist hier
nicht die Frage" könnte Meinongs Motto sein. Zur Indifferenz gesellt sich noch das Prinzip
der Unabhängigkeit. Was ein Gegenstand ist, sein Wesen, ist unabhängig von seinem
Sein. Damit können nicht-seiende Gegenstände Eigenschaften haben. Anders als bei
existierenden und subsistierenden Gegenständen trifft auf außerseiende Gegenstände
nicht das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten zu. James Bond mag Martinis
geschüttelt und nicht gerührt, aber weder muss die Eigenschaft „Tequila zu mögen“ auf
ihn zu treffen, noch muss sie nicht auf ihn zutreffen. Dass jede Eigenschaft entweder auf
einen beliebigen Gegenstand zutrifft oder nicht zutrifft, dieses Gesetz ist bei
außerseienden Gegenständen aufgehoben. Sie sind inkomplette Gegenstände. Siehe
Meinong, Über Gegenstandstheorie.
33
Deleuze folgt hier Bergson Unterscheidung zwischen dem Möglichen und dem Virtuellen.
Siehe Kapitel IV dieser Arbeit.
23
Vorspiel: Was ist Philosophie?
sie bestimmte Dinge a priori aus, begrenzen sie die Vorstellungskraft. Man findet in
jedem Vokabular Sätze, die analytisch, aufgrund der Bedeutung der Wörter wahr
scheinen. Bestimme Sachverhalte erscheinen als unmöglich oder notwendig. Hier setzt
die Philosophie ein, indem sie diese Bedeutungen zur Disposition stellt. Paradoxa tun
nichts anderes als dort ein Problem zu sehen, wo andere eine Selbstverständlichkeit,
einen analytisch wahren Satz erblicken. Der Philosoph agiert wie Quines Feldlinguist,
der einen analytisch wahren Satz nur als hartnäckiges Beharren wahrnimmt, als bloße
Gewohnheit.34 In der Welt, wie sie die Philosophie entwirft, kann alles auch anders
sein. Unsere Welt wird durch die Philosophie in das Licht einer radikalen Kontingenz
getaucht, in der die Dinge keinerlei notwendigen Beziehungen mehr ausbilden. Alle
Dinge sind nur noch extern miteinander verknüpft. Ihre Beziehung ist kontingent.
Deleuze definiert den englischen und amerikanischen Empirismus als eine
Philosophie, die darauf besteht, dass die Dinge nur externe Relationen miteinander
ausbilden.
Statt
einer
notwendigen,
organischen
Einheit,
nur
ein
lockerer,
zusammengewürfelter Haufen. So setzt William James einer Philosophie der Identität
eine Philosophie des „und“ entgegen. Jeder Versuch das Ganze zu bestimmen, ein für
alle mal die Dinge zu einer Einheit zu runden, scheitert an dem „und“, das jederzeit ein
neues Element hinzufügen kann. Das Land der Philosophie ist ein Einwanderungsland.
Oder um die vielleicht größten Nonsens-Künstler des vergangenen Jahrhunderts zu
zitieren: "And now to something completely different..."35.
Beispiele univoker Ontologien
Ontologien der Univozität werden von Deleuze in der Antike bei den Stoikern, im
Mittelalter bei Duns Scotus, in der Neuzeit bei Spinoza geortet. Der moderne
naturalistische Szientismus, wie er heute von Daniel Dennett vertreten wird, ist ein
Beispiel für eine zwar reduktionistische, aber entschieden monistische Philosophie. Ein
anderes Beispiel aus dieser Richtung wäre Quines Physikalismus. Quine versucht den
Sinn von Sein als physikalisch zu bestimmen: alles, was ist, ist raum-zeitlich
34
Deleuze kritisiert wie Quine den Möglichkeitsbegriff und damit den Begriff der Bedeutung.
Während aber Quine sich nur mit Extensionen zufrieden geben will und die
Identitätsbedingungen von Bedeutungen für notorisch dunkel hält, wirft Deleuze den
Bedeutungen vor, noch zu klar zu sein. Sie sind zu sehr an den Extensionen orientiert.
Eine mögliche Welt ist für Deleuze immer nur eine Variation der wirklichen Welt. Die
Philosophie beschreibt jedoch nicht eine oder alle möglichen Welten, sondern eine
virtuelle Welt.
35
Motto der Serie Monty Pythons Flying Circus.
24
Vorspiel: Was ist Philosophie?
lokalisierbar. Quine bestimmt das Sein univok, in dem er eine Begrifflichkeit entwickelt,
die auf alle Dinge zutrifft, statt zwei oder mehr Kategorien von Seienden zuzulassen.
Ein anderer Denker der Univozität ist Davidson, der heute Spinoza aktualisiert.
Spinoza hatte die Identität von Geist und Materie behauptet. Davidson greift dies auf
und kann dadurch eine Alternative zu Quines Reduktionismus entwickeln. Das Mentale
steht dem Physikalischen in nichts nach. Beide sind zwei Beschreibungen ein und
desselben. Bei allen Differenzen teilen Dennett, Quine, Davidson und Deleuze den
monistischen Grundansatz. Für sie alle gilt, was Deleuze in der "Logik des Sinns"
schreibt:
"Die Philosophie fällt mit der Ontologie zusammen, die Ontologie aber mit der
Univozität des Seins... Die Univozität des Seins bedeutet, dass das Sein Stimme
ist, dass es sich sagt und sich in einem einzigen und selben "Sinn" all dessen
sagt, wovon es sich sagt."36
Die Philosophen der Immanenz variieren nur in der Interpretation dieser Stimme. Jeder
originelle Philosoph bestimmt den Sinn von Sein anders. Daher gibt es viele
Immanenzebenen in der Philosophie. Sie alle haben aber gemein, den Sinn von Sein,
wie immer sie ihn bestimmen, als univok zu fassen. Damit unterscheiden sie sich von
Philosophien der Transzendenz.
Aquivozität und Normativität
Der Antipode der Univozität, die Transzendenz, äußert sich in der Philosophie in einem
äquivoken Seinsgebrauch. Im Mittelalter war es Gott, dem das Sein in anderer,
vollkommenen Weise zukam als seinen Geschöpfen. In der Neuzeit wird Descartes die
Univozität des Seins bestreiten. Der Substanzdualismus Descartes’ muss behaupten,
dass Geist und Materie in einem unterschiedlichen Sinne sind. Res cogitans und res
extensa teilen sich nicht ein gemeinsames Sein. Nach Descartes bewegt der Geist den
Körper ohne selbst ein Körper zu sein. Eine moderne Variante eines solchen
Dualismus ist der Normativismus des Geistigen. Der Normativismus reagiert auf den
szientistischen Monismus, indem er, statt wie Descartes eine zweite ontologische
Substanz für den Geist einzuführen, diesen deontologisiert. Die Cartesianische
Antwort, ein Substanzdualismus, erscheint Normativisten unwissenschaftlich, einen
kruden monistischen Naturalismus lehnen sie jedoch ebenfalls ab. Ihre Rettung
36
Deleuze, Logik des Sinns, S. 223.
25
Vorspiel: Was ist Philosophie?
erwarten sie vom Normativen. Der Geist könne niemals naturalisiert werden, denn er
sei ein normatives Phänomen. Die Wissenschaften sagen nur was ist, der Philosoph
sagt, was sein soll. Descartes’ ontologischem Dualismus ersetzen sie durch eine
Deontologisierung des Geistes. Der Geist wird zu einem Richter.37 Normative
Philosophen sind dabei getrieben von folgendem Problem: Wo kann es in einer Welt,
wie sie von den modernen Naturwissenschaften beschrieben wird, Platz geben für die
transzendenten Werte der Wahrheit, der Moral, vielleicht auch des Schönen? Wie kann
der Geist seine Autonomie in einer Welt, die nur von Druck und Stoß beherrscht
scheint, bewahren?
Die Unterscheidung von Sein und Sollen, Faktizität und Geltung, gebiert eine Reihe
von Kindern, die dem Normativisten am Herzen liegen: den Unterschied von
Überzeugen (Argumentation) und Überreden (Rhetorik), von Motiven und Gründen,
von Recht und Macht, von Theorie und Praxis, von Moral und Klugheit, von Intentionen
und ihren Erfüllungsbedingungen, von Propositionen und ihren Wahrheitsbedingungen.
Kurz: Geist und Welt in einem normativen Verhältnis zueinander. Einer der Helden des
Normativismus ist Kant. Aber auch Frege und Husserl haben sich mit normativistischen
Argumenten
gegen
eine
Psychologisierung
der
Philosophie
gewendet.
Der
Neukantianismus und Soziologen wie Max Weber halten dem Normativismus die
Fahne. Heute sind "Pragmatisten" wie Putnam oder Habermas und vor allem Sellars
und seine Schüler als Vertreter des Normativismus unterwegs. Robert Brandoms
Making it explicit versucht nicht weniger als eine Theorie der Kommunikation, der
Intentionalität und der Wahrheit in juristischen Begriffen zu liefern.
Kontingente oder notwendige Bedingungen der Erfahrung
Der Normativismus wird von dem konservativen Motiv getragen, der Kontingenz zu
entkommen. Der wie auch immer modifizierte Traum einer ewigen Wahrheit, eines
nicht nur kontingenten, sondern zwingenden Grundes treibt den Normativismus. Kants
empirisches Subjekt ist Teil der Erscheinungswelt. Es unterliegt jedoch Normen, die
nicht aus der Erfahrung ihren Rechtsanspruch nehmen. Das transzendentale Subjekt
37
Man denke an die Gerichtsmetaphorik in Kants Philosophie. Man müsste aus Kant eine
Figur der amerikanischen Hardboiled-Romane machen. In einer schmutzigen,
empirischen Welt, Newton City, vertritt nur noch ein Mann das Gesetz. Nachdem die
Newtonianer das göttliche Gericht zertrümmert und die Macht im Universum ergriffen
haben, nimmt ein Mann die Dinge selbst in die Hand: Immanuel Kant. Auch ohne Gott
macht er sich seine Gesetze. Der Kantianismus als Selbstjustiz-Philosophie. Ich, der
Richter.
26
Vorspiel: Was ist Philosophie?
verhält sich zum empirischen Subjekt wie eine Norm zum Sein. Bei Hume verhielt sich
die Subjektivität zur Erfahrung als ein reines Gewohnheitsprinzip, als Habit. Keine
notwendige, sondern eine selbst bloß kontingente Bedingung von Erfahrung. Die
Möglichkeit von Erfahrung wurde bei Hume auf ein selbst bloß mögliches Prinzip
verwiesen. Hume ist Naturalist. Seine Erfahrungsbedingungen sind keine Bedingungen
aller möglichen Erfahrung, also notwendige Bedingungen, die der Veränderung
enthoben und in diesem Sinne transzendent sind, sondern bloße Bedingungen
wirklicher Erfahrung und als solche veränderbar. Es gibt für den Naturalisten keine
bedingungslosen Bedingungen. Deleuze arbeitet diesen Aspekt Humes heraus.38 Der
Empirismus
des
Begriffs
führt
zu
einer
experimentellen
Philosophie.
Die
Metaphysikkritik Humes und Kants unterscheidet sich daher drastisch. Kants Kritik ist
der Versuch, die Ansprüche der Philosophie als Letztbegründungspraxis zu retten. Der
Geist wird zu
einem normativen Phänomen erklärt, dessen Regelwerk von jeder
faktischen Erfahrung schon vorausgesetzt wird. Er gilt für alle möglichen Welten. Eine
Erfahrung, die den Raum des Möglichen erweitert, ist für Kant auszuschließen. Alle
Erfahrung zu normieren, ist ja gerade sein Ziel.
Philosophien des Urteils versus Philosophien der Macht
Kants Normativismus ist der Versuch, mit immanenten Mitteln eine Transzendenz zu
errichten. Eine Norm, die wir uns selber geben. In einer anderen Fassung gab es
dieses Problem schon in der Antike als Gegensatz von Sein und Werden, Episteme
und Doxa. Wenn Entscheidungen nicht mehr unter Rückgriff auf eine transzendente
Macht getroffen werden, vielmehr jeder Bürger seine Stimme erheben kann, wie dann
aus der Masse der Meinungen, die von den Bürgern einer Demokratie vertreten
werden, die legitimen auswählen? Dazu bedarf es eines Modells, mit dem die
Bewerber verglichen und in ihrer Legitimität bestätigt oder verworfen werden können.
Dieses Modell muss die Rolle einer transzendenten Entität übernehmen, ohne in einen
Dogmatismus zu verfallen, der mit einer Demokratie, die auf dem freien Austausch und
der Rivalität von Meinungen beruht, unvereinbar ist. Kants Normativismus stellt sich
damit in eine Tradition der Philosophie, die Deleuze als Philosophien des Urteils
bezeichnet und mit Platon beginnen lässt.
"Er (Platon, A.F.) wird eine Transzendenz erfinden müssen, die im Immanenzfeld
selbst liegt und wirksam wird: Das ist der Sinn der Theorie der Ideen. Und die
38
Deleuze, David Hume, S.131ff.
27
Vorspiel: Was ist Philosophie?
moderne Philosophie wird Platon darin auch weiterhin folgen: Im Innern des
Immanenten als solchem begegnet man einer Transzendenz. Das vergiftete
Geschenk des Platonismus liegt darin, dass er die Transzendenz in die
Philosophie eingeführt hat, dass er der Transzendenz einen plausiblen
philosophischen Sinn gegeben hat (Triumph des Gottesgerichts)."39
Diese
Philosophien
wollen
das
Seiende
be-
und
verurteilen
anhand
von
transzendenten Kriterien. Platons Formen, Aristoteles „telos“, Kants Kritik dienen alle
einer Bewertung des Seienden anhand von Maßstäben, die dem Seienden
transzendent sind, sei es als „arche“, „telos“ oder Norm. Diesen mit der Religion
vermischten Philosophien stehen die Philosophien der Immanenz entgegen, die das
Seiende aufgrund immanenter Kriterien selektieren. "Die Auswahl bezieht sich nicht
mehr auf den Anspruch, sondern auf die Macht oder das Vermögen (puissance)."40 Wo
Normativisten von Urbild-Abbild, Form und Materie, Wesen und Telos, Geltung und
Faktizität sprechen, sprechen Immanenzphilosophen von Stärke, Effektivität oder
Macht. Die einen sagen, dass das Wahre sich durchsetzen soll, die andern, dass wir
wahr nennen, was sich durchsetzt. Die einen glauben, dass das Gute, das ist was wir
begehren sollen, die anderen, dass wir gut nennen, was wir begehren. Kurz,
Transzendenzphilosophen versuchen das kausale Geschehen durch ein über diesem
Geschehen stehendes Moment zu regulieren, während Immanenzphilosophen jede
Form der Transzendenz auf die Oberfläche eines univoken Seins zurückführen.41 Der
größte Anti-Normativist der Philosophiegeschichte, und nach Deleuze/Guattari der
Christus der Philosophie, ist Spinoza.42 Spinoza setzt die strikte Identität von Geist und
Materie. Beide Attribute explizieren dieselbe Substanz. Das Geistige kann keinesfalls
39
Deleuze, "Platon, die Griechen" in: Kritik und Klinik, S.185.
40
Deleuze, "Platon, die Griechen" in: Kritik und Klinik, S.185.
41
Ein häufiger Fehler von Normativisten ist es, Philosophien der Macht wie sie von
Spinoza, Nietzsche, Foucault, Deleuze oder auch Rorty vertreten werden, vorzuwerfen,
der Gewalt Tür und Tor zu öffnen. Dieser Gewaltvorwurf, der sich in Krisenzeiten zum
Terrorismusvorwurf steigert, vergisst, dass ein legitimer Einsatz von Gewalt die Gewalt
nicht auf magische Weise ungeschehen macht. Rechtfertigungen machen die getöteten
Menschen nicht wieder lebendig, sondern verschafft nur denjenigen, die die Gewalt
ausüben, Absolution. Gerade in Zeiten der Gewalt ist es die Aufgabe der Philosophie
jeder Mystifizierung von Gewalt und sei es einer rechtstaatlichen entgegenzutreten. Die
Philosophie hat immer besseres zu tun, als Kriege zu rechtfertigen.
42
"Daher ist Spinoza auch der Christus der Philosophen, und die größten Philosophen sind
allenfalls Apostel, die diesem Mysterium näher oder ferner stehen. Spinoza, das
unendliche Philosoph-Werden. Er hat die "beste", das heißt reinste Immanenzebene
gezeigt, errichtet, gedacht, diejenige, die sich nicht dem Transzendenten preisgibt,
diejenige, die am wenigsten Illusionen, schlechte Gefühle und irrige Wahrnehmungen
erregt..." Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S. 69.
28
Vorspiel: Was ist Philosophie?
die Norm der Materie sein, denn beide sind identisch, keine negative Beziehung kann
sich zwischen sie setzen.43 Der Geist schwebt nicht über der Materie, er ist kein Urbild
der Materie. Er ist Materie. Auch Bergson ist Spinozist, wenn er auf den Slogan der
Phänomenologen „Alles Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas“ kontert „Jedes
Bewusstsein ist vor allem etwas.“ 44
43
Hegel wird gegen diese Identitätstheorie von Geist und Welt opponieren. Spinoza zolle
dem Negativen, dem Widerspruch zwischen Geist und Welt, Sollen und Sein keinen
Tribut. Hegel lehnt also keinesfalls Kants Normativismus ab, im Gegenteil er ontologisiert
ihn. Siehe Pierre Macherey, Hegel ou Spinoza.
44
Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino 1, S.84.
29
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
I. Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
"Ich hatte kürzlich einen Orgasmus, aber
mein Arzt sagt, es war nicht der richtige."
"Oh, Sie hatten einen falschen! Ich hatte
nie
einen
falschen.
Selbst
mein
schlechtester traf immer mitten ins
Schwarze."
Woody Allen
Richard Rorty über das philosophische Verlangen nach Transzendenz
Folgendes Bild des Geistes wird von Richard Rorty in seinem Buch "Der Spiegel der
Natur" angegriffen.
"Das Erkennen ist das genaue Darstellen dessen, was sich außer unserem
Bewusstsein befindet; das Verständnis der Natur und der Möglichkeit des
Erkennens ist demnach das Verständnis der Weise, auf die das Bewusstsein
diese Darstellungen hervorzubringen vermag. Zentrale Aufgabe der Philosophie
ist es, allgemeine Theorie der Darstellung zu sein, eine Theorie, welche die
Kultur in unterschiedliche Bereiche einteilt: solche, die die Wirklichkeit gut
darstellen, solche, die sie weniger gut darstellen, und solche, die sie (wohl
darzustellen beanspruchen, jedoch) überhaupt nicht darstellen."45
Rorty versucht mit diesem Buch auf dem Feld der analytischen Philosophie einen
Befreiungsschlag für den amerikanischen Pragmatismus zu führen. Der Pragmatismus
hat nicht nur diese oder jene Version einer Korrespondenztheorie der Wahrheit
abgelehnt. Er hat die ganze Idee der Wahrheit als einer objektiven und universellen
angegriffen. Für den Pragmatisten gibt es keine Darstellung der Welt, wie sie an sich
ist, unabhängig von jeder Perspektive. Der Wunsch nach einer solchen Wahrheit ist ein
autoritärer. Der Pragmatismus ist daher, wie Rorty feststellt, vor allem ein
Antiautoritarismus.
„Der Antiautoritarismus ist die treibende Kraft hinter Deweys Ablehnung einer
platonischen und theozentrischen Metaphysik und seiner originellen und
wesentlich umstritteneren Ablehnung der Korrespondenztheorie der Wahrheit:
45
Rorty, Der Spiegel der Natur, S. 13.
30
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
dass die Wahrheit in der genauen Darstellung einer vorgängig vorhandenen
Wirklichkeit bestehe.“46
In einem Aufsatz über Wittgenstein und Heidegger hat Rorty versucht, die Kritik an der
Widerspiegelungsmetapher zu einer Kritik an der Philosophie selbst auszudehnen.47
Rorty setzt dazu die Philosophie im Ganzen mit dem gleich, was ich oben Philosophien
der Transzendenz genannt habe. Eine Immanenzphilosophie, welche die Univozität
des Seins fordert, wird de facto von Rorty unter dem Label des Naturalismus oder
Historismus gedacht, die er als die Position definiert, das alles hätte anders sein
können, als Affirmation absoluter Kontingenz. Transzendenzphilosophien beschreibt er
als einen Versuch, ein Problem aufzuwerfen, das in der angeblichen Unzugänglichkeit
eines Typs von Entitäten besteht, Entitäten des Typs A. Um dieses Problem zu lösen,
postuliert der Philosoph stets einen zweiten Typ von Entitäten, Entitäten des Typs B,
der die Zugänglichkeit des ersten Typs erklären soll. Dabei stellt sich dann jedoch
immer die Frage, wie die Zugänglichkeit dieses zweiten Typs von Entität sichergestellt
werden kann. Wenn sie sichergestellt werden kann, ohne einen weiteren Typ von
Entität postulieren zu müssen, wenn Typ B also selbstexplizierend ist, warum dann
nicht von vornherein den Entitäten des ersten Typs diese Eigenschaft der
Selbstexplikation
zugestehen?
Platons
Ideen,
Aristoteles’
Essenzen,
Kants
Transzendentalien sind demnach alles Versuche, ein Problem zu lösen, dass man
nach Rorty gar nicht aufwerfen sollte:
"Ich würde geltend machen, dass die Unterscheidung zwischen A und B der
kleinste gemeinsame Nenner ist, auf den sich die antike Unterscheidung
zwischen Einzeldingen und Universalien, die kantsche Unterscheidung zwischen
Anschauungen und Begriffen sowie die Tractatus-Unterscheidung zwischen der
zugänglichen ausdrückbaren Welt einerseits und der unzugänglichen,
unausdrückbaren Substanz der Welt andererseits bringen lassen. Die letzte
Version dieser Unterscheidung ist die dramatischste und die aufschlussreichste,
denn sie lässt den Gegensatz von Atomismus und Holismus krass hervortreten,
also den Gegensatz zwischen der Annahme, es könne Entitäten geben, die völlig
unabhängig von allen Beziehungen zwischen ihnen das sein können, was sie
46
Rorty, Stolz auf unser Land, S.33.
47
Rorty, „Wittgenstein, Heidegger und die Hypostasierung der Sprache“, in: Der Löwe
spricht... und wir können ihn nicht verstehen, S.69ff.
31
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
sind, und der Annahme, alle Entitäten seien lediglich Knoten in einem Netz von
Beziehungen."48
In diesem Zitat klingt auch an, wem Rorty die Schuld für dieses Scheinproblem gibt.
Nach Rorty ist es der Atomismus, der einen Zusammenhang zersplittert, der dann
künstlich durch philosophische Scheinentitäten wieder gekittet werden muss. Eine
holistische
Konzeption
vermeidet
dieses
Auseinanderfallen
von
konkreten
Partikularitäten und abstrakten Vermittlern. Allgemeines und Besonderes als zwei
Typen von Entitäten, denen eine verschiedene Seinsart zukommt, sind für Holisten
entbehrlich. Dinge zu postulieren, die einen höheren Seinsstatus haben, entspringt
nach Rorty dem Verlangen sich mit einer übermenschlichen Macht zu verbinden, die
nicht bloß die relative und zeitliche Macht einer menschlichen Gemeinschaft ist.
Während die Entitäten des Typs A den Nachteil der Kontingenz haben, geht den
Entitäten des Typs B diese Eigenschaft ab. Indem sie den Raum des Möglichen
begrenzen, wie die kantischen Transzendentalien, bestimmen sie, was notwendig, in
allen möglichen Welten der Fall ist.
Rortys „French Connection“
Die Ähnlichkeit zwischen Rortys Ablehnung der Transzendenzphilosophie und
Deleuze/Guattaris Konzept einer Philosophie der Immanenz entspringt einem
gemeinsamen Vorläufer. Deleuze selbst nennt eine reine Immanenzphilosophie einen
radikalen Empirismus.49 Der Erfinder dieses Labels ist nun kein anderer als William
James, in dessen Tradition Rorty von allen Pragmatisten am stärksten steht.50 Deleuze
ist durch Bergsons Version eines radikalen Empirismus, wie er zu Beginn von Materie
und Gedächtnis entworfen wird, beeinflusst. James wiederum hat das Werk Bergsons
aufmerksam verfolgt und seine schriftliche Korrespondenz mit Bergson bestätigt die
48
Rorty: Wittgenstein, Heidegger und die Hypostasierung der Sprache in: Der Löwe
spricht... und wir können ihn nicht verstehen, S.81.
49
Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S.56. An anderen Stellen spricht Deleuze von
einem transzendentalen Empirismus. Zum Beispiel in Differenz und Wiederholung,
S.187.
50
Robert Brandom macht folgenden, schönen Witz: “Rorty’s intellectual vision and
sensibility, no less than his prose, are thoroughly Jamesean: equal parts of William,
Henry, and Jesse.” Siehe Brandom, “Introduction”, in: Rorty and his Critics, S.XX.
32
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Affinität zwischen den beiden.51 Bergsons Einfluss auf James überträgt sich auf Rorty,
was dessen Ähnlichkeit mit der Philosophie von Deleuze/Guattari erklärt. Wenn Rorty
die postmoderne, französische Philosophie, vor allem Foucault und Derrida, mit dem
amerikanischen Pragmatismus in Verbindung bringen kann, dann weil Bergsons
Einfluss sowohl für den Pragmatismus von James und Dewey als auch für den
Poststrukturalismus entscheidend ist.52
Die oben zitierte Passage, in der Rorty die Philosophie als das Bedürfnis nach
Entitäten eines Typs B definiert, liest sich wie eine Passage von James, in der er den
radikalen Empirismus vom klassischen Empirismus eines Hume oder Locke
abgrenzt.53 James wirft den klassischen Empiristen ihren Nominalismus vor.
Universalien sind nichts, was ein klassischer Empirist zulassen kann, da sie nicht auf
Sinneserfahrungen zurückgeführt werden können. James bezweifelt diesen Glauben.
Radikaler Empirist ist, wer alles zu lässt, was erfahren werden kann.54 Und die
Erfahrung, wenn sie unmittelbar betrachtet wird, zerfällt nicht wie die klassischen
Empiristen es darstellen, in unzusammenhängendes Einzelnes. Die Erfahrung enthält
ebenso Verbindungen zwischen Einzelnem. Universalien müssen daher nicht dem
Eingriff einer die Erfahrung transzendierenden Entität zugeschrieben werden. Es ist der
reduktionistische und atomistische Erfahrungsbegriff der Empiristen, der es erfordert
an eine fremde Instanz zu appellieren, die Ordnung in die Erfahrung bringt. Kurzum, es
gibt keine zwei Typen von Dingen, sondern ein und derselbe Typ von Entität kann als
Einzelnes und als Verknüpfung auftreten, oder besser: es gibt nur Verknüpfungen.
Deleuze nennt eine solche Philosophie auch transzendentalen Empirismus, denn hier
werden die Bedingungen der Möglichkeit Kants zu Bedingungen der Wirklichkeit von
51
James treibt seine Bewunderung für Bergson bis zur Selbstdegradierung: »Wir kämpfen
auf derselben Seite; Sie als General, und ich als einfacher Soldat.« Zitiert nach Erik Oger
aus der Einleitung zu Bergson: Materie und Gedächtnis, S. XLIV.
52
Bergsons Begriff des Ganzen, das notwendig offen ist, weil es die Bewegung der Zeit
selbst darstellt, dient Deleuze, Derrida und Foucault in ihrer Kritik des Strukturalismus.
Bei Derrida verläuft diese Kritik über Heidegger. Aber Bergson nimmt Heideggers Kritik
an der Leugnung der Zeit in der klassischen Metaphysik vorweg. Zu Bergson Konzept
des Ganzen und dem Gedanken, dass das Ganze niemals präsent ist, siehe „Virtueller
Holismus“ in Kapitel IV.
53
James, "A World of Pure Experience", in: Pragmatism and other writings, S.314ff.
54
Auch John Dewey vertritt diesen radikalen Empirismus unter dem Namen "Immediate
Empiricism". Er grenzt ihn ab gegenüber dem atomistischen Empirismus und jeder Form
von Einführung einer nicht-naturalistischen Entität, wie es im Transzendentalismus Kants
der Fall ist. Dewey, „The Postulate of Immediate Empiricism“, in: The Influence of Darwin
on Philosophy and other essays, S.226ff.
33
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Erfahrung. Ähnlich äußert sich Rorty, wenn er den Naturalismus als die Auffassung
definiert,
"dass alles hätte anders sein können und dass es keine bedingungslosen
Bedingungen gibt. Die Naturalisten sind der Überzeugung, dass alle Erklärungen
kausale Erklärungen des Wirklichen sind und dass es so etwas wie eine
nichtkausale Möglichkeitsbedingung gar nicht gibt."55
Bedingungen der Wirklichkeit statt Bedingungen der Möglichkeit, eine solche
Philosophie ist eine Philosophie der absoluten Kontingenz und entspricht dem, was
Deleuze/Guattari das Entwerfen einer Immanenzebene nennen. Sie ermöglicht eine
experimentelle Philosophie, die nicht mehr ewige und universale Begriffe zum
Gegenstand hat, sondern Begriffsschöpfungen, die neue Erfahrungen möglich
machen. Wie bei Rorty wird die Orientierung am Ewigen durch eine Orientierung am
Interessanten und Originellen ersetzt.
Diese Ähnlichkeit verbirgt aber auch tiefgehende Differenzen. Anders als bei Rorty
vertritt Deleuze eine Philosophie der Zeit, die bei Rorty fehlt. Deleuze unterscheidet in
der Nachfolge Bergsons und Peguys zwischen Zeit und Dauer. Bei Rorty ist das
Originelle das Noch-Nicht-Dagewesene, das Zukünftige. Bei Deleuze ist das Neue
nicht Teil der gewöhnlichen Zeit, sondern das Ereignis der Zeit selber.56 Daher ist
Rortys Gleichsetzung von Philosophie mit Transzendenz und Deleuze/Guattaris
Gleichsetzung von Philosophie mit Immanenz nicht nur ein Streit um Worte. Es wäre
falsch,
den
Widerspruch
von
Rortys
Philosophiekritik
und
Deleuze/Guattaris
Verteidigung der Philosophie durch die Unterscheidung in Philosophien der
Transzendenz und Philosophien der Immanenz aufzulösen. Naturalisierung bedeutet
für Rorty, dass alle Erklärungen kausale Erklärungen sind. Damit gibt es für Rorty, in
der Nachfolge Quines, auch keinen Unterschied mehr zwischen wissenschaftlichen
Erklärungen und philosophischen. Anders als Deleuze/Guattari kann Rorty mit einer
Differenzierung zwischen Philosophie und Wissenschaft nichts anfangen. Diese
Angleichung,
so
werde
ich
versuchen
zu
zeigen,
bringt
Rorty
jedoch
in
Schwierigkeiten.
55
Rorty, "Wittgenstein, Heidegger und die Hypostasierung der Sprache", in: Der Löwe
spricht... und wir können ihn nicht verstehen, S.77.
56
Wittgenstein schreibt einmal: Wer seiner Zeit nur voraus ist, den holt sie irgendwann ein.
34
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Rortys Anti-Empirismus
Das fundamentale Problem von Rortys Neo-Pragmatismus ist sein von Wilfrid Sellars
übernommener Anti-Empirismus. Rortys Naturalismus - alle Bedingungen sind kausale
Bedingungen - steht seinem Anti-Empirismus entgegen. Rortys Gegner ist dabei
jedoch eigentlich der Atomismus. Nur identifiziert Rorty Atomismus und Empirismus.
Wenn Rorty den Atomismus und Empirismus in einen Topf wirft, hat er den logischen
Positivismus vor Augen. Die Idee atomarer Sätze, die definitiv durch sinnliche
Erfahrung bestätigt werden können, ein solcher szientistischer Empirismus ist es, den
Rorty mit Sellarschen Argumenten (aber keineswegs im Geiste Sellars) kritisiert. Rorty
wirft dem Empirismus die Verwechslung von Rechtfertigung und Verursachung vor.
Eine Rechtfertigungsrelation bestehe immer zwischen Sätzen, oder zumindest
zwischen Sätzen und etwas Satzförmigen. Wenn die Empiristen also keine
Tatsachenontologie vertreten wollen - was sowohl der sensualistischen Epistemologie
als auch der physikalistischen Ontologie widersprechen würde - dann müssen sie mit
Sellars einsehen, dass die Rolle des Begründers weder von Dingen noch von
Tatsachen, sondern nur von anderen Sätzen gespielt werden kann. Jede Art des
Wissens ist letztlich sprachlich. Die Empirie spielt eine kausale Rolle, aber keine
Rechtfertigende. Mit dieser Argumentation umarmt Rorty aber zunächst einmal
klassisch
rationalistische
Positionen.
Zu
verteidigen,
dass
all
unsere
Erkenntnisansprüche in rationalen Begründungsrelationen stehen müssen, ist gerade
nicht Rortys Anliegen. Eine solche Position ist vielmehr ein Schritt in Richtung eines
Begriffsidealismus, wie ihn Hegel vertreten hat.57 Begründungsrelationen sind gerade
nicht kontingent, wie es rein empirische Verhältnisse sein können. Ich sehe hier die
fundamentale Schwäche von Rortys Argumentation in Der Spiegel der Natur. Rorty
möchte mit der Philosophie der Repräsentation brechen, bedient sich aber dafür ultrarationalistischer Unterscheidungen, die dem Geist des Pragmatismus widersprechen.
Sellars ist Pragmatist nur dann, wenn man Pragmatismus in einem sehr weiten Sinne
interpretiert, der nichts mehr mit den Positionen von Peirce, James und Dewey zu tun
hat.58
57
Nur ein Schritt natürlich. Man muss McDowell lesen, um das Ende der Entwicklung zu
sehen, die mit Sellars beginnt. Sellars selbst ist viel zu sehr Szientist, um der
Wiederverzauberung der Natur, wie sie McDowell verlangt, zuzustimmen. Zu McDowell
siehe unten: „McDowells Kritik an Rorty“.
58
Siehe unten "Für einen strengen Pragmatismus". Peirce ist im Gegensatz zu Dewey und
James dem Rationalismus verpflichtet, doch auch er würde Sellars Dualismus von
Begründen und Verursachen nicht akzeptieren. Die hierzulande von Apel und Habermas
35
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Rorty möchte im Anschluss an James und Dewey die Idee des Erkennens als
Widerspiegelung oder Repräsentation der Welt beerdigen. Um dies mit dem antiempiristischen Rationalismus von Sellars in Einklang zu bringen, muss Rorty die Idee
der Rechtfertigungspraktiken, in denen Wissensansprüche erhoben werden, zu
kontingenten, bloß faktisch in Geltung seienden Sprachspielen degradieren. Damit
verfehlt
er
aber
gerade
Sellars
Ansatz.
Sellars
ist
weit
davon
entfernt
Rechtfertigungspraktiken als durch und durch historisch und damit kontingent
aufzufassen. Rorty bedient sich Sellars Kritik am Empirismus, um dann in einem
zweiten
Schritt
das
Sellar’sche
Reich
der
Gründe
zu
bloßen
faktischen
Rechtfertigungspraktiken zu degradieren. Diesen Ausstieg aus einem normativen
Verständnis von Praktiken versucht Rorty (anders als McDowell, aber auch Brandom59)
als unproblematisch zu verkaufen. Rorty reduziert den Gegensatz zwischen
normativem und faktischem Vokabular auf den Gegensatz von Teilnahme und bloßer
Beobachtung. Zwar ist jeder Beobachter auch immer ein Teilnehmer, denn sonst
wären auch seine bloß deskriptiven Äußerungen unverständlich, so ist jeder Physiker
oder Behaviorist Teil einer Gemeinschaft, der gegenüber er sich nicht physikalistisch
oder behavioristisch, also bloß beobachtend, verhalten kann, aber Rorty pluralisiert
diese Gruppen. Daher ist immer ein relativer Ausstieg möglich. Ein Demokrat kann
Rassist werden, ohne ganz aus der Sprachpraxis auszusteigen, was seine
Äußerungen
unverständlich
machen
würde.
Der
universalisierende
Übergang
"gegenüber einigen verpflichtet" zu "gegenüber allen Sprachfähigen verpflichtet" fehlt.
Rorty sieht daher seinen Ethnozentrismus durch sein Zugeständnis der partiellen
Nicht-Reduzierbarkeit einer normativen Praxis nicht bedroht. Er spielt also zunächst
den Rationalisten gegenüber dem Empiristen aus und empirisiert dann in einem
zweiten Schritt die Rechtfertigungspraktiken der Rationalisten. Dieser zweite Schritt
wird ihm, wie McDowell gezeigt hat, zum Verhängnis.
unternommene Kantianisierung Peirces
Naturphilosophie Peirces ausblendet.
59
gelingt
nur,
indem
man
die
gesamte
Brandoms Begriff eines symmetrischen und rekursiven Sanktionsverhaltens, jede
Sanktion kann ihrerseits sanktioniert werden, wenn sie nicht korrekt ausgeführt wurde,
dient dazu, einen in sich geschlossenen Kreislauf von Rechtfertigungen zu konstruieren.
Brandom akzeptiert auch McDowells hegelianische These von der Unbegrenztheit des
Konzeptuellen, glaubt aber, dass sie mit der Sellars’schen Konzeption von languageentry- und exit-transitions als bloß kausaler Verursachung nicht konfligiert. Rortys
Gründe-Ursachen-Dualismus wird von Brandom daher als unproblematisch verteidigt.
Siehe Brandom, »Vocabularies of Pragmatism: Synthesizing Naturalism and
Pragmatism«, in: Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, S. 167ff.
36
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
McDowell vs. Rorty
John
McDowell
macht
sich
Rortys
naturalistische
Beschreibung
von
Rechtfertigungspraktiken für eine Kritik an dessen Position zunutze. In seinem Buch
Geist und Welt behauptet McDowell, dass Rorty immer wieder in einen linguistischen
Idealismus gerät.60 McDowell zeigt richtig, dass das Hauptargument Rortys gegen den
logischen Empirismus im Spiegel der Natur auf dem Sellar’schen Dualismus zwischen
Rechtfertigung und Kausalität beruht. Das Reich des Physischen kennt nur kausale
Interaktionen, während das Reich der Gründe, "the logical space of reason", auf
Rechtfertigungen aufgebaut ist. Rechtfertigungsbeziehungen als kausale Beziehungen
zu deuten, ist der Grundfehler des britischen Empirismus und des auf ihn aufbauenden
logischen Empirismus’. Erkennen ist ein normatives Phänomen, ein Ergebnis von
Rechtfertigungspraktiken. Gerade deshalb mache Rortys ständiger Wechsel in eine
bloß historische, soziale oder psychologische Erklärung von Vokabularen den
objektiven Gehalt von empirischen Erkenntnissen rätselhaft. Sie werden zu einer
kulturellen
Beschreibungspraxis
unter
anderen.
Rortys
Kulturalisierung
von
Vokabularen führt ihn in einen schlechten, subjektiven Idealismus, der unsere
Welterkenntnis zu bloßen kulturellen Konstrukten reduziert. Rorty selbst gesteht zu:
"that people like Goodman, Putnam and myself - people who think that there is
no description-independent way the world is, no way it is under no description keep being tempted to use Kantian form-matter metaphors. We are tempted to
say that there were no objects before language shaped the raw material (a lot of
ding-an-sichy, all content-no-scheme-stuff). But as soon as we say anything like
this we find ourselves accused (plausibly) of making the false causal claim that
the invention of "dinosaur" caused dinosaurs to come into existence - of being
what our opponents call "linguistic idealists."61
Rorty möchte das Bild einer Pluralität von Perspektiven aufrechterhalten, deren
Geltung letztlich als kontingentes Phänomen beschrieben werden kann. Er braucht
deshalb die Rede von einer bloßen Verursachung von Überzeugungen, einer vom
Außenstandpunkt beschriebenen Produktion von Aussagen. Seine These, dass neue
60
McDowell, Geist und Welt, S. 174ff. Linguistischer Idealismus muss dabei scharf vom
absoluten Idealismus getrennt werden. McDowell spricht nicht, wie ich, vom
linguistischen, sondern vom »conceptual idealism«. Begrifflicher Idealismus meint, etwas
missverständlich, dass das Begriffliche begrenzt werden muss, dass es ein nichtbegriffliches Außen hat. Nach McDowell ist dies Kants Position. Absoluter Idealismus
setzt das Begriffliche dagegen als unbegrenzt. Vgl. ebd., S. 69.
61
Rorty, “Charles Taylor on Truth“ in: Truth and Progress, S.90.
37
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Diskurse sich Metaphern verdanken, für die nicht argumentiert werden kann, die somit
einen Bruch, eine Revolution in der Kulturgeschichte markieren, ist nicht zu
vereinbaren mit seinem anti-empirischen Holismus als unbegrenzte rationale
Verknüpfung, in die sich nie ein fremdes, nicht konzeptuelles Moment, wie eine
Metapher, mischen kann. Metaphern nehmen genau den von McDowell kritisierten
Raum eines Außen des Geistes ein. Sie begrenzen das Konzeptuelle und ähneln damit
den von Empiristen in Anspruch genommenen Sinneseindrücken. Sie verursachen
Überzeugungen, obwohl sie keine Gründe sind. Ihr Zwang ist kein normativer, sondern
ein faktischer. Sie sind kontingent und nicht notwendig. Ein solcher Typ von Entität
impliziert das Bild des Konzeptuellen als Insel in einem Meer des Nicht-Konzeptuellen.
Holist sein heißt jedoch gerade, Denken und Erkennen als eine nahtlose Kette von
Gründen, in die nichts dem Denken Fremdes intervenieren kann, zu verstehen. Rortys
ständige Relativierungen von Diskursen auf historische Zeiträume (Historismus) und
gesellschaftliche Gruppen (Soziologismus) versuchen einen Sinn für die Kontingenz
von Vokabularen herbeizuführen, indem sie ein Außerhalb des Diskurses evozieren,
das der rationalistische Begriffsholismus gerade ausschließt. McDowell hat also
vollkommen recht, wenn er Rorty nachweist, dass dessen Position mit dem hegelschen
Begriffsholismus nicht zu vereinbaren ist. Rorty missdeutet jedoch McDowells Kritik als
ein Plädoyer, hinter Sellars zurückzufallen und den britischen Empirismus zu
rehabilitieren. McDowell will genau das Gegenteil. Statt einer Naturalisierung des
Geistes im Sinne der damaligen Empiristen und der heutigen Neo-Darwinianer geht es
ihm um eine Vergeistigung des Naturbegriffs. McDowell spricht von einer
Wiederverzauberung der Natur. Das Bild einer menschlichen Gemeinschaft umgeben
von einer bloß kausal zu beschreibenden Natur, dieser Dualismus muss ebenfalls
zugunsten eines unbegrenzten Reiches des Begrifflichen und damit des Geistes
überwunden werden. McDowell wendet die von Davidson und Sellars reaktualisierte
Hegel’sche Kritik an der Kant’schen Erkenntniskonzeption, nach der Erkenntnis das
Produkt aus Begriffen und durch die Sinne gegebenen Rohmaterial ist, noch einmal
gegen Davidson und Sellars selbst. Damit geht er einen Schritt weiter in den
Hegelianismus
Rorty hat sich die falschen Philosophen als Freunde ausgesucht. Wie William James
geht es Rorty um den Bruch mit der Idee einer Wahrheit, die aperspektivisch,
interesselos und als Norm menschlichen Strebens (als Ziel der Forschung) erscheint.
Einen Satz als wahr zu akzeptieren, heißt für James, ihn nützlich zu finden. Er ist nicht
nützlich, weil er wahr ist, sondern wahr, weil er nützlich ist. Nützlichkeit ist
interessegebunden und perspektivisch. Rortys Problem ist, dass er sich Denker Sellars, Davidson oder Brandom - bedient, die diese Überzeugung nicht teilen. Sellars,
38
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Davidson oder Brandom sind überhaupt nur als Pragmatisten zu bezeichnen, weil sich
ein laxer Gebrauch des Pragmatismusbegriffs eingebürgert hat.
Für einen strengen Pragmatismus
Heute möchte jeder Pragmatist sein. Diese Mode hat dazu geführt, dass Pragmatismus
inzwischen zweierlei heißen kann. Einmal kann grundsätzlich die Idee der Wahrheit als
Widerspiegelung einer Ready-Made-World kritisiert werden, ein anderes mal geht es
darum, die Idee der Repräsentation in Begriffe des Handelns zu integrieren, ohne die
Wahrheit von ihren Eigenschaften wie Universalität oder Neutralität zu befreien.
Davidson ist in diesem zweiten Sinne Pragmatist, denn für ihn haben die Begriffe der
Überzeugung und der Wahrheit nur einen Wert in der Erklärung von Handlungen. Eine
Überzeugung spiegelt nichts wider, sondern erklärt, warum eine Person sich so und
nicht anders verhält. Davidson hält Überzeugungen, Wünsche oder Bedeutungen für
theoretische Elemente in der Konstruktion von empirischen Theorien zur Vorhersage
einer bestimmten Art von Körpern.62 Auch Robert Brandom versteht Überzeugungen
als Prämissen von Denkakten und Handlungen, allerdings erklären sie nicht
Handlungen, sondern sie verpflichten zu Handlungen.63 Sowohl Davidson als auch
Brandom vertreten keine pragmatische Wahrheitstheorie. Wahrheit ist zwar nicht in
Begriffen der Repräsentation zu deuten, aber Wahrheit behält ihre Eigenschaft der
Objektivität und Universalität. Was "wahr" ist, ist nicht in Termini zu erklären, die
angeben, was jemand für wahr hält. Eine wahre Aussage oder ein wahrer Gedanke ist
zeitlos und raumlos wahr. Er ist universell wahr. Genau diese Eigenschaften bestreiten
aber Pragmatisten im ersten, ursprünglichen Sinne des Wortes. Kritik der
Widerspiegelung meint für sie die Kritik daran, dass Denken ein Erkennen von etwas
bereits Bestehendem ist, ein bloßes Entdecken ist. Die vom Denken unabhängige
Ready-Made-World wird von einem strengen Pragmatisten ausgeschlossen. Alle
Pragmatisten - von Peirce über James zu Dewey - waren deshalb Prozessphilosophen.
Rorty blendet die ontologischen Implikationen eines strengen Pragmatismus aus. Er
versucht Pragmatisten im zweiten, laxen Sinne wie Davidson und Brandom, als
62
Davidson, "Handlungen, Gründe und Ursachen“, in: "Handlung und Ereignis", S 19ff. Eine
ähnliche Theorie vertritt Daniel Dennett, „Intentional Systems“, in: Brainstorms, S.3ff.
63
Brandom, Making it explicit. Brandom kritisiert in diesem Buch den prognostizistischen
Ansatz Dennetts wie Davidsons, S.15ff. Brandom diskutiert auch Davidsons Probleme
mit dem Phänomen der Willensschwäche und empfiehlt seinen normativistischen Ansatz
als elegante Lösung für dieses Problem, S.269ff.
39
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Pragmatisten im ersten Sinne auszugeben. Stattdessen sollte er dazu übergehen,
Davidson und Brandom für ihr Festhalten am Objektivismus zu kritisieren. Ein strenger
Pragmatismus kann jedoch nur gedacht werden, wenn man begreift, dass
Pragmatismus ohne Prozessmetaphysik nicht zu haben ist.
Rorty selbst ist durchaus ein klassischer Pragmatist. Er versucht nicht, die Radikalität
des Pragmatismus abzuschwächen. Daher muss er immer dann, wenn er seine
darwinistische Geschichte vom Entstehen und Vergehen von Vokabularen zu erzählen
versucht, zu Ideen greifen, die sich weder bei Davidson noch bei Brandom finden. Er
muss eine nicht-rationale Generierung von Vokabularen denken: eine Kriegsgeschichte
des Denkens. Am Beispiel von Orwells "1984" zeigt Rorty ganz deutlich, worauf er
hinaus will:
"Orwell hilft uns zu sehen, dass die Herrschaft in Europa zufällig in die Hände
derer kam, die Mitleid mit den Gedemütigten hatten und von der Gleichheit der
Menschen träumten, dass aber wieder ein Zufall wollen kann, dass die Welt am
Ende von Menschen regiert wird, die solche Gefühle und Ideen nicht haben.
Noch einmal: Sozialisation durchdringt alles und wer über sie bestimmt, hängt oft
davon ab, wer wen zuerst umbringt."64
Entscheidend ist, dass Rorty nicht nur meint, dass Menschen aufhören können,
bestimmte
Ideen
zu glauben, sondern das
auch
die
Wahrheit
selbst
die
Rechtfertigungspraktiken der Menschen nicht übersteigt. Ändern sich diese Praktiken,
dann verschwinden auch die durch diese Praktiken konstituierten Gegenstände, der
Begriff der Gleichheit zum Beispiel. Der Fakt, dass die Menschen gleich sind, ist für
Rorty nur die Affirmation des entsprechenden Satzes, keine ewige abstrakte Entität,
die der Satz widerspiegelt. Damit gerät Rorty aber in expliziten Gegensatz zu Robert
Brandom, der Fakten als unabhängig vom menschlichen Für-wahr-Halten setzt. Fakten
sind zwar nichts weiter als wahre Sätze, damit ist aber das mit diesen Sätzen
Ausgedrückte gemeint, ihre inferentielle Rolle. Inferenzen sind normativ. Sie sollen
gezogen werden, ihre Normativität geht nicht in ihrem faktischen Vollzug auf. Wenn
Menschen also aufhören, bestimmte Folgerungen zu ziehen, bleibt es trotzdem
weiterhin geboten, diese Folgerungen zu ziehen.
Auch Davidson lehnt einen pragmatischen Wahrheitsbegriff ab. Überzeugungen sind
keine Repräsentationen, sie sind Rationalisierer von Handlungen, theoretische
Setzungen einer Handlungstheorie. Als Elemente von „belief-desire-pairs“ begründen
sie Ereignisse und machen so eine intentionale Beschreibung dieser Ereignisse
64
Rorty, Ironie, Kontingenz und Solidarität, S.299.
40
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
möglich. Die Wahrheit dieser Überzeugungen ist jedoch nicht in Termini definierbar, die
bestimmte epistemische Bedingungen auszeichnen. Wie Brandom betont auch
Davidson, dass es möglich sein muss, dass eine Überzeugung wahr ist, obwohl jeder
sie für falsch hält. Davidson kommt Rorty jedoch insoweit entgegen, als er die
Möglichkeit des Irrtums stark einschränkt. Für die Transzendenz der Wahrheit ist es
wichtig, dass nicht nur einzelne Sätze falsch sein können (lokaler Irrtum), sondern auch
ganze Vokabulare (globaler Irrtum).65 In Ironie, Kontingenz, Solidarität operiert Rorty
mit diesem Gegensatz von Wahrheit innerhalb eines Vokabulars und der "Wahrheit"
des Vokabulars selber.66 Obwohl Rorty diesen Versuch später wieder aufgibt, ist eine
solche Unterscheidung notwendig, wenn Rorty die Transzendenz der Wahrheit in
Grenzen halten will. Mit Davidson könnte er sagen, dass wir immer dann einen Konflikt
zwischen Aussagen als objektiv unentscheidbar ansehen müssen, wenn die in Frage
stehenden Aussagen in zu unterschiedliche Kontexte eingebettet sind. Davidson stellt
die Frage, ob die Griechen wirklich glaubten, die Erde sei flach. Da das Wort "Erde"
einen für die Griechen völlig anderen Kontext hat, ist dieser Irrtum ihnen nicht ohne
weiteres zuschreibbar.67
Indem Davidson die hermeneutische Maxime von der Unmöglichkeit der Zuschreibung
von massivem Irrtum betont, kommt er der kontextualistischen und relationalistischen
Denkweise des Pragmatismus entgegen. Andererseits bietet Davidson kein anderes
Modell für den Gegensatz zwischen Aussagen als den Widerspruch. Nach Davidson ist
65
Man denke zum Beispiel an Adornos und Horckheimers Vorwurf des universellen
Verblendungszusammenhangs. Ideologiekritiker attestieren mit Vorliebe massiven Irrtum.
Der ideologisch Verblendete irrt sich nicht nur, sondern sein Irrtum ist ein ganzes System,
das ähnlich einer Verschwörungstheorie sich selbst stützt. Habermas spricht von
systematisch verzerrter Kommunikation um den Ideologiebegriff zu reformulieren. Siehe
Habermas, „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“, in: Zur Logik der
Sozialwissenschaften, S. 356ff.
66
Rorty nimmt diesen Unterschied später unter Verweis auf Quine wieder zurück. Quine
hatte Carnaps Unterscheidung von Existenzfragen innerhalb einer Kategorie von Dingen
und Existenzfragen bezüglich dieser Kategorie selbst verworfen. Nach Carnap kann man
Fragen wie "Gibt es Zahlen?" nur pragmatisch klären, es sind Fragen danach, ob man ein
bestimmtes Vokabular verwenden will. Quine nun hält auch innerkategoriale
Existenzfragen für eine Sache pragmatischer Entscheidung. Theorien sind empirisch
unterbestimmt (nicht unbestimmt). Selbst die Mathematik, die Carnap für analytisch hält,
ist für Quine durch Empirie und Pragmatik angreifbar.
67
Davidson, „Denken und Reden“ in: Wahrheit und Interpretation, S. 243. Latour gibt das
Beispiel eines Mannes, der von einem sehr heißen Sommer spricht und daraufhin von
einem Meteorologen dahingehend korrigiert wird, dass statistisch gesehen der Sommer
nicht heraussticht. Auch hier wird vom Meteorologen nicht ein einfacher Irrtum korrigiert,
sondern ein neuer Begriff eingeführt, der in einem ganz anderen Kontext funktioniert.
Siehe Latour, Science in Action, S.181.
41
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
ein Konflikt zwischen Überzeugungen entweder objektiv entscheidbar oder man redet
über verschiedene Dinge. Die Idee eines Absterben eines Vokabulars, eines Wechsels
von Wahrheitswertkandidaten statt bloßer Wahrheitswerte, dieser Gedanke, wie er sich
bei Rorty oder bei William James findet, hat in Davidsons Philosophie keinen Platz.
Davidson versichert uns der Wahrheit unserer Überzeugungen. Für Brüche,
Divergenzen und Kontingenz ist seine Hermeneutik blind. Davidson ist kein Pragmatist,
denn für die Hermeneutik gilt dasselbe, was Deleuze über die Phänomenologie sagt:
"...die Phänomenologie ist schließlich doch zu pazifizierend, sie hat allzu viele Dinge
abgesegnet."68
Pragmatismus und Neopragmatismus: William James
Um den Anti-Repräsentationalismus des Pragmatismus zu reaktivieren, genügt es also
nicht, sich mit Davidson und Brandom zu verbünden. Rortys Inanspruchnahme von
Davidson und Brandom dient ihm vor allem als Waffe gegen den logischen
Positivismus oder Empirismus. Es geht Rorty um eine Entwertung des Begriffs der
Sinnesdaten, die als letzte Rechtfertigungsgründe epistemisch privilegiert werden.
Rudolf Carnap hatte mit Bezug auf solche über Sinnesdaten empirisch zu
verifizierende Atomsätze alle Sätze, die nicht auf solche Sätze zurückgeführt werden
können, als kognitiv leer und damit sinnlos, nicht nur falsch, bestimmt. Ganze Bereiche
der Philosophie, wie Ethik und Ästhetik, bestehen nach Carnap aus Scheinsätzen, die
höchstens Emotionen zum Ausdruck bringen. Sie sind Ausdruck des Lebensgefühls.
"Wenn wir sagen, dass die Sätze der Metaphysik völlig sinnlos sind, gar nichts
besagen, so wird auch den, der unseren Ergebnissen verstandesmäßig
zustimmt, doch noch ein Gefühl des Befremdens plagen: Sollten wirklich so viele
Männer der verschiedensten Zeiten und Völker, darunter hervorragende Köpfe,
so viel Mühe, ja wirkliche Inbrunst auf die Metaphysik verwendet haben, wenn
diese in nichts bestände als in bloßen, sinnlos aneinandergereihten Wörtern?(...)
Die (Schein-)Sätze der Metaphysik dienen 'nicht zur Darstellung von
Sachverhalten', weder von bestehenden (dann wären es wahre Sätze) noch von
nicht bestehenden (dann wären es wenigstens falsche Sätze); sie dienen 'zum
Ausdruck der Lebensgefühls'."69
68
Deleuze, Foucault, S. 159.
69
Carnap, „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, in:
Erkenntnis, Band 2, S.240.
42
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Diese
Abwertung
von
Metaphysik,
Moral,
Politik,
Kunst,
denn
all
diesen
Unternehmungen wird im Gegensatz zur Wissenschaft der Anspruch auf Objektivität
geraubt, war schon Gegenstand der Kritik von William James, der den Empirismus
seiner Zeit vor Augen hatte. Anders als Rorty versucht James jedoch den Empirismus
zu kritisieren, indem er ihn radikalisiert. Ich denke, diese Strategie von James’ ist dem
Neo-Pragmatismus Rortys überlegen, weil sie den Dualismus zwischen Rechtfertigung
und Verursachung, Normativität und Faktizität vermeidet. Bevor ich James und Rorty,
Pragmatismus und Neo-Pragmatismus vergleichen kann, möchte ich William James’
Philosophie des radikalen Empirismus vorstellen.
Holistischer Empirismus
„Damn the Absolute!“
William James
Radikaler Empirismus ist das Label, unter dem James einen anti-atomistischen
Empirismus entwickelt. Der klassische Empirismus war auch immer mit einem
Nominalismus verbunden. Nur was sinnlich erfahren werden kann, ist real. Sinnlich
erfahren werden nur partikulare Gegenstände. Nicht-partikulare Dinge geraten unter
den Verdacht der Nicht-Existenz. Begriffe werden daher als bloße Abstraktionen
rekonstruiert, sie existieren nicht in der Außenwelt, die man sich physikalistisch denkt,
bevölkert von materiellen Einzeldingen.70 Das diesen Einzeldingen Gemeine,
Eigenschaften und Relationen, existiert nur als Abstraktion im Kopf. Es kann nicht aus
der Erfahrung genommen werden, da Eigenschaften oder Relationen nicht raumzeitlich lokalisierbar sind und damit auch nicht über die Sinne erfahren werden können.
Es gibt keinen 6.Sinn fürs Allgemeine. Wenn die Erfahrung nur Einzeldinge liefert,
muss die Erkennbarkeit der Welt, ihre Einheit, das dem Einzelnen Allgemeine über
Assoziationen von Sinneseindrücken erklärt werden. Diese Assoziationen sind nun
psychische Konstrukte des erkennenden Subjekts. Diesen Vorstellungen setzt James
einen erweiterten Erfahrungsbegriff gegenüber. Zwar darf Ausgangsbasis der
70
Der Empirismus kann allerdings auch gegen den Physikalismus mobilisiert werden, je
nach dem ob der Unterschied von primären und sekundären Qualitäten akzeptiert oder
abgelehnt wird. Akzeptiert man ihn, wie Locke, dann gibt es eine von Empfindungen
unabhängige Materie da draußen, lehnt man ihn ab, wie Berkeley, gelangt man zu einem
empirischen Idealismus, die Welt wird unsere Empfindung. Hume wird Locke und
Berkeley kritisieren. Den ersten wegen seines Festhaltens an primären Qualitäten, den
zweiten wegen seines Festhaltens am Subjekt.
43
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Erkenntnis nur die Erfahrung sein, allerdings müsse auch alles, was erfahren werden
kann, ernstgenommen werden. Und es sei, wenn man vorurteilsfrei die Erfahrung
untersucht, ein schlichter Fakt, dass nicht nur Einzeldinge, sondern auch Relationen
(wie Konjunktion, Disjunktion, Implikation etc.) empirisch erfahren werden können. Wie
bereits oben dargelegt, greift Rorty diese Argumentation auf.
"Alle Entitäten des Typs B ( Entitäten, die dazu dienen andere Entitäten des Typs
A in Beziehung zu setzen, um ihre Erkennbarkeit zu erklären A.F.) - alle
unerklärten Erklärer - stecken in der gleichen Lage wie der transzendente Gott.
Sofern wir an sie glauben dürfen, ohne sie auf etwas zu beziehen, was ihre
Existenz oder ihre Erkennbarkeit oder ihre Beschreibbarkeit bedingt, haben wir
unsere ursprüngliche Behauptung falsifiziert, wonach es für ihre Zugänglichkeit
notwendig ist, dass durch etwas anderes eine Beziehung hergestellt wird. Wir
haben die Frage aufgeworfen, wieso man je auf den Gedanken gekommen ist,
dass es überhaupt ein Problem der Zugänglichkeit gibt. Damit haben wir die
Notwendigkeit der Philosophie in Frage gestellt, sofern man unter Philosophie die
Untersuchung von Möglichkeitsbedingungen versteht." 71
Die Einheit der Welt muss nicht über ein transzendentales Subjekt hergestellt werden
(wie es Kant will) und auch nicht eine bloße Abstraktion sein (wie es die klassischen
Empiristen wollen). Die Erfahrung zeigt uns vielmehr eine Welt, deren Einheit
unmittelbar gegeben ist und damit ebenso empirisch ist wie die Einzeldinge, die in die
Einheit eingehen. James versucht so die klassische Metaphysik mit empirischen
Mitteln zu betreiben. Daher ist es für ihn auch falsch, a priori die Einheit der Welt
anzunehmen oder wie der Empirismus a priori die Erfahrung als disjunktiv zu
beschreiben. Die Erfahrung zeigt vielmehr eine Vielheit von verschiedenen
Verbindungen zwischen Einzeldingen, angefangen bei disjunktiven, über Dinge, deren
ganze Einheit die der Konjunktion ist, bis hin zu räumlichen, zeitlichen, kausalen,
normativen Relationen. James verwendet in diesem Zusammenhang angeregt durch
die zu seiner Zeit beginnende Elektrifizierung häufig Netzmetaphern. Die Welt wird zu
einem gigantischen Netzwerk. Dieses Netzwerk ist nicht statisch, sondern in ständiger
Bewegung. Die Erfahrung ist ein Prozess.72 Die Einheit oder Vielheit der Welt ist das
71
Rorty, "Wittgenstein, Heidegger und die Hypostasierung der Sprache", in: Der Löwe
spricht... und wir können ihn nicht verstehen, S.77.
72
James stand in Korrespondenz mit Bergson und sein prozessualer Erfahrungsbegriff
verdankt diesem viel. Ein Vorwurf wie der von Habermas, Rorty ließe sich die nüchternen
Einsichten des Pragmatismus durch eine ins linguistische gewendete Lebensphilosophie
vernebeln, zeigt, dass Habermas den Pragmatismus nicht kennt. Siehe Habermas, Der
philosophische Diskurs der Moderne, S.242. Wie James beweist, war der Pragmatismus
niemals "nüchtern" und stand nicht im Gegensatz zur „Lebensphilosophie“, wenn man
44
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Ergebnis dieses Prozesses, der zu mehr Vernetzung oder aber zu mehr Auflösungen
führen kann. Der Mensch als Teil dieses Prozesses kann aktiv auf die
Vereinheitlichung oder aber auf die Pluralisierung der Welt einwirken. Ideen als Träger
von Wahrheitswerten sind Werkzeuge in diesem Prozess der Vernetzung von
Erfahrungen.
Wahrheit, Vermittlung, Existenz
Der Unterschied zwischen objektiven, d.h. wahren, und bloß subjektiven Erfahrungen
wird ausgehend von einem fundamentalen Begriff der Erfahrung rekonstruiert, der
zunächst einmal weder subjektiv noch objektiv ist.73 Vielmehr entscheidet sich durch
gelingende oder misslingende Relationierung, ob eine Erfahrung objektiv ist oder nicht.
Eine Erfahrung muss dabei als ein Vermittler gedacht werden. Sie vermittelt zu einer
zweiten Erfahrung, diese ist wiederum ein Vermittler, der zu einer dritten Erfahrung
durchschaltet usw.
"In such a world transitions and arrivals (or terminations) are the only events that
happen, though they happen by so many sorts of paths. The only function that
one experience can perform is to lead to another experience; and the only
fulfilment we can speak of is the reaching of a certain kind of end."74
Eine objektive Erfahrung ist eine Erfahrung, die uns in nützlichen Kontakt mit einer
weiteren Erfahrung bringt, sie ist ein guter Leiter. Dabei ist es nicht wichtig, dass die
Vermittlung tatsächlich stattfindet, sondern dass sie es tun könnte. Die meisten
objektiven Erfahrungen bleiben in einem potentiellen Zustand, sie würden, wenn man
ihnen folgen würde, zu einer weiteren Erfahrung führen. Dass eine Erfahrung wahr ist,
heißt nun, dass sie ein nützlicher Vermittler eines zu weiteren Erfahrungen führenden
Prozesses ist oder sein könnte. "Primarily, and on the common sense level, the truth of
unter diesem Begriff, der nicht von Bergson stammt, eine Philosophie wie die Bergsons
subsumieren will.
73
Es ist also wichtig, Erfahrung nicht als Erfahrung eines Subjekts zu verstehen. James’
Erfahrungen sind ohne ein Ich, das sie hat. Sie sind aber auch nicht Teile einer
objektiven Realität. Der Begriff der Erfahrung soll der Unterscheidung in bloße Gedanken
und ihnen korrespondierenden Objekten vorhergehen. Deleuze wird diesen Gedanken
reaktualisieren. Der personalen Erfahrung eines Ich liegt ein ich-loses, virtuelles,
transzendentales Feld zugrunde. Siehe das Bergson-Kapitel.
74
James "A world of pure experiences", in: Pragmatism and other writings, S.324.
45
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
a state of mind means this function of a leading that is worth while."75 Nicht die
Erfahrung, sondern der Prozess, der zu ihr führt, ist wahr oder falsch. Dieser Prozess
ist nun der Erfahrung immanent, selbst nichts anderes als Erfahrung. Dies scheint
paradox. Zur Erläuterung mag folgendes Bild helfen. Erfahrung wird von James schon
in seinen Zeiten als Psychologe als Fluss oder Strom beschrieben. Wahrheiten sind
nützliche Richtungsgeber, Kanalisierer dieses Stroms. Diese Kanalisierung ist nun aber
selbst der Erfahrung entnommen, es sind Sedimente des Erfahrungsstroms, frühere
Erfahrungen, die neue Erfahrungen kanalisieren.76 Erfahrungen leiten sich auf diese
Weise selbst. Sie sind sowohl Medium als auch Inhalt. Oder besser, jede Erfahrung hat
nur einen Inhalt, weil sie auf andere Erfahrungen verweist, weil sie zu anderen
Erfahrungen überleitet. Ihr Inhalt ist das Leiten. "The medium is the message".
Wahrheit ist eine Funktion dieses Vermittlungsprozesses. Eine gute Vermittlung, wobei
gut relativ auf die Perspektive des jeweiligen Erfahrungsprozesses ist, leitet zu anderen
Erfahrungen über und gewinnt dadurch an objektiver Existenz. Bloß subjektiv wäre
eine Erfahrung, die zu keiner anderen Erfahrung überleitet, die eine Sackgasse, eine
tote Leitung ist. Keine Leitung bekommen, sich nicht durchwählen können, ist
gleichbedeutend mit einer falschen Erfahrung.
"Most thought-paths, it is true, are substitutes for nothing actual; they end outside
the real world altogether, in wayward fancies, utopias, fictions or mistakes."77
Wahrheit und objektive Existenz gehen Hand in Hand. Eine Erfahrung wird wahr,
verifiziert sich, je mehr sie zu anderen Erfahrungen durchstellen kann. Über die
Leitungsmetapher ist James in der Lage beide Begriffe, Wahrheit und Existenz, sowohl
zu gradualisieren als auch zu prozessualisieren. Eine Erfahrung ist umso wahrer und
auf was sie verweist, hat umso mehr Existenz, je mehr Anschluss sie schafft. Zur
Verdeutlichung denke man an so etwas wie soziale Existenz. Ein Mensch hat mehr
soziale Existenz, je mehr Anschluss er an andere Menschen findet. Je mehr
Telefonnummern er in seinem Adressbuch hat, die er auch tatsächlich anwählen kann,
desto mehr soziale Existenz kommt ihm zu. Kann er anderen Menschen sogar als
Leiter dienen, ihnen Kontakte verschaffen, überträgt sich seine soziale Realität sogar
75
James "Pragmatism", in : Pragmatism and other writings, S.90.
76
Wittgensteins Bild von Fluss und Flussbett, mit dem er die Identität wie den Unterschied
von empirischen und grammatischen Sätzen erläutert, mag hier hilfreich sein. Ein
grammatischer Satz leitet wie das Flussbett den Strom, kann aber selbst in Bewegung
geraten, umgekehrt können im Fluss befindliche Sätze sich zu grammatischen Sätzen
sedimentieren.
77
James, The Meaning of Truth, S.5.
46
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
auf andere Menschen, was wiederum dazu führt, dass viele seinen Kontakt suchen
werden. Er wird zu einem Knotenpunkt, einem obligatorischen Durchgangspunkt, ein
wichtiger, nützlicher Mensch, ein wahrer Freund. Damit ist er das soziale Äquivalent
einer wahren Erfahrung bei James. Dagegen nimmt die soziale Existenz eines
Menschen ab, je weniger Verkehr über ihn stattfindet, je weniger Menschen er
erreichen kann und je weniger er kontaktiert wird, desto inselhafter wird sein soziales
Leben, er gleicht immer mehr einer Geisterstadt, er wird ein Nobody, ein
Sozialzombie78.
Soziale Existenz ist nur eine Art von Existenz im allgemeinen. Die Idee der Vermittlung
lässt sich aber auch auf physikalische Existenz anwende. Man stelle sich eine
physikalische Theorie vor, die zur Erklärung eines Phänomens zwei Entitäten
präsentiert, deren Wirkungen sich zufälligerweise gegenseitig aufheben. Die zwei
Entitäten spielen für die Erklärungskraft der Theorie keine Rolle, man kann sie
genauso gut als nicht-existent annehmen. Existieren heißt eine zumindest potentielle
Wirkung zu haben, die eine praktische Differenz in Spiel bringt. Ohne Wirkung keine
Wirklichkeit. Je mehr Wirkungen von einer Entität ausgehen, desto existenter ist sie.
Wahrheit für alle
Inwiefern erlaubt dieser Begriff von objektiver Existenz und Wahrheit, die ontologischen
Wüstenlandschaften des nominalistischen Empirismus zu bevölkern? Der an den
modernen Naturwissenschaften orientierte Empirist hat alles, was sich nicht in eine
physikalistische Ontologie pressen lässt, in den Bereich des Subjektiven, der bloßen
Konstruktion verbannt. James’ radikaler Empirismus kann demgegenüber allem
Rechnung tragen, was sich erfahren lässt, d.h. was Anschluss an weitere Erfahrungen
verschafft. Die Erfahrung auf die Erfahrung der physikalischen Welt zu beschränken,
ist für James daher auf fatale Weise eindimensional. Viele gute Ideen, gute Vermittler
werden auf diese Weise kurzgeschlossen. In der Hand des Szientisten führt das
naturwissenschaftliche Wissen nicht nur zu neuen Erfahrungen, sondern schneidet
wichtige alte Anschlüsse ab. Die zunehmende Monopolstellung des Szientismus führt
78
Über keine oder wenig soziale Existenz zu verfügen, kann natürlich auch vorteilhaft sein.
In dem (schlechten) Actionfilm "Eraser" spielt Arnold Schwarzenegger einen
Geheimagenten, dessen Aufgabe es ist, Kronzeugen in Mafiaprozessen eine neue
Identität zu verschaffen, wozu er zunächst ihre alte soziale Existenz auslöschen muss. Im
Trailer zu diesem Film empfängt er einen seiner Schützlinge mit den Worten: "Entspann
dich, du existierst nicht mehr." Für von der Mafia Gejagte bedeutet eine rege soziale
Existenz zu haben, bald auf ihre biologische Existenz verzichten zu müssen.
47
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
zu einer Verarmung der Erfahrung.79 Nach James’ Wahrheitsdefinition ist er daher
schlicht falsch, denn er trennt mehr, als das er zu neuen Erfahrungen weiterleitet. Der
Szientist ist jemand, der einem fast alle Telefonnummern aus dem Adressbuch streicht,
nur um seine eigene einzutragen. Er nennt dies Aufklärung.
Hiergegen setzt James seinen radikalen Empirismus, der die Wissenschaft nur als eine
Erfahrungsmöglichkeit unter anderen sieht. Sein Plädoyer für einen radikalen, pluralen
Erfahrungsbegriff motiviert sich aber gerade aus dem Wunsch nach mehr Einheit.
James beschreibt die wissenschaftlichen Ideen als Bindungen auflösend. Sie
fragmentieren die Erfahrung und führen so zu einem Sinnverlust.80 Ihr Wahrheitsgehalt
ist für das Ziel der Vernetzung der Welt nicht förderlich. Der Mensch als aktiver Träger
dieser Vereinheitlichungen der Welt wird durch das wissenschaftliche Denken
demotiviert, an eine Einheit der Welt zu glauben. Eine an den Werten der Demokratie
orientierte Gesellschaft kann und darf sich daher kein szientistisches Monopol leisten.
Religiöse, ästhetische, moralische Erfahrungen müssen ebenso potentielle Anwärter
auf Wahrheit sein wie das von den Wissenschaften produzierte Wissen. Die
Gegenstände solcher Erfahrungen müssen wie die Gegenstände der Wissenschaften
Anwärter auf objektive Existenz sein können. James' Wahrheitsbegriff ermöglicht es
der Pluralität des demokratischen Gesprächs ohne eine Hierarchisierung der Stimmen
gerecht zu werden. Eine religiöse Behauptung kann ebenso wahr sein, auf objektive
Dinge referieren, wie eine wissenschaftliche. Wenn sie einen praktischen Nutzen hat,
dann ist sie eine für bestimmte Zwecke wahre Idee und es existiert, wovon sie spricht.
Unter Rückgriff auf empirische Untersuchungen der wissenschaftlichen Praxis kann
man aus heutiger Sicht James sowohl in bestärkender als auch in kritischer Absicht
hinzufügen, dass die Wissenschaften selbst ständig auf wirtschaftliche, ethische,
geschlechtspezifische und auch religiöse Vorstellungen zurückgreifen.81 Daher wäre
die Aufgabe des Szientismus, verstanden als Reduktion der menschlichen Erfahrung,
keineswegs nur ein Plädoyer für andere Erfahrungen, sondern auch ein Offenlegen
dessen, was Wissenschaften schon immer getan haben.82 Der Szientismus ist
79
Ein Monopol ist nichts anderes als ein obligatorischer Durchgangspunkt. Um ein Monopol
zu bilden, muss man bestimmte Erfahrungen (Vermittlungen) verknappen. Wer von A
nach B will, muss dann über C gehen. Vor der Verknappung konnte er auch über D, E etc
gehen.
80
Siehe James "Pragmatism", in : Pragmatism and other writings, S.314ff.
81
Nur zwei Beispiele: zur Rolle des Geschlechts siehe Donna Haraways Arbeiten zur
Soziobiologie, zur Rolle der Religion die Wissenschaftsphilosophie von Michel Serres,
beispielsweise seine Darstellung des Challenger-Unfalls in Statues.
82
Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Zu Latour siehe Kapitel VI dieser Arbeit.
48
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
überhaupt keine wissenschaftliche Position oder gar Praxis, sondern vielmehr ein
philosophischer Glaubensartikel, den sich manchmal auch Wissenschaftler zu Eigen
machen, um sich den alten platonischen Traum der Flucht aus der Doxa zu
ermöglichen, den Schleier der Erscheinungen abzulegen und die Wirklichkeit selbst zu
erblicken. Auf diese Weise ist es der Wissenschaft gelungen, ihrer Stimme gegenüber
allen anderen Stimmen einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu verschaffen.
Dieser Public Relations-Trick würde durch die Aufgabe des Szientismus zu Nichte
gemacht, nicht die Praxis der Wissenschaften selbst, die nie dem Bild entsprochen hat,
das insbesondere Philosophen von ihr im Guten wie im Bösen entworfen haben. In der
Einleitung zu "The Will to Believe" plädiert James dafür, Fragen des Glaubens ebenso
öffentlich zu debattieren wie wissenschaftliche Fragen. Er wendet sich damit gegen
eine vorschnelle Privatisierung der religiösen Erfahrung. Die von den Kantianern und
Weberianern angebotene Unterscheidung in Fakten und Werte oder das Kognitive und
das bloß Emotive kann James nicht akzeptieren. Eine solche Toleranz ist nichts weiter
als die Privatisierung und damit ein weiterer Schritt in der Auflösung der bindenden
Kraft religiöser Ideen.83 Anders als Habermas, der gegenüber demselben Problem des
Szientismus eine kantianische Strategie der Differenzierung von Theorie und Praxis,
Faktizität und Geltung anwendet, glaubt James, dass eine solche Trennung statt zu
einer fairen Auseinandersetzung von vornherein zu einer ungleichen Ausgangsposition
und
damit
zu
einer
Gängelung
des
demokratischen
Gesprächs
durch
die
Wissenschaften führt. Wissenschaft und Religion sollen nach James auf demselben
Spielfeld miteinander konkurrieren.
"...the freest competition of the various faiths with one another, and their openest
application to life bay their several champions, are the most favorable conditions
under which the survival of the fittest can proceed. They ought therefore not lie
hid each under its bushel, indulged-in quietly with friends. They ought to live in
publicity, vying with each other…".84
Empirismus des Begriffs
William James’ Empirismus hat eine entscheidende Konsequenz für das Verständnis
von Begriffen. Begriffe können ebenso erfahren werden wie partikuläre Gegenstände.
83
Auf die Telefonmetapher zurückgreifend, könnte man Privatisierung als kostenloses
Telefonieren innerhalb des eigenen Hauses beschreiben, will man aber in die Außenwelt
telefonieren, muss man die Null der Wissenschaft vorweg wählen.
84
James, "The Will to Believe", in: Pragmatism and other writings, S.196.
49
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Der Begriff ist nicht mehr eine Möglichkeit oder eine Norm, welche die Wirklichkeit
transzendiert, um sie zu fundieren oder zu legitimieren, sondern eine Kraft, die uns zu
einer reichhaltigeren Erfahrung führt.
Nach Kant sind die Sätze der Metaphysik notwendig und a priori. Eine empirische,
experimentelle Metaphysik ist damit ausgeschlossen. Die Transzendentalphilosophie
untersucht Bedingungen der Möglichkeit. Diese gelten in allen möglichen Welten und
begrenzen die mögliche Erfahrung. Was immer erfahren wird, unterliegt diesen
Bedingungen, die selbst a priori sind. Kant setzt Erfahrungsurteile mit synthetischen
Urteilen a posteriori gleich. Nicht das synthetische Element, sondern der Zusatz a
posteriori steht für den Erfahrungscharakter eines Urteils. Erfahrung ist vor allem durch
ihre Kontingenz gekennzeichnet. Was erfahren wird, könnte auch anders sein. Der
Modus der Notwendigkeit kann daher für Kant nur im nicht-empirischen Bereich liegen.
Kripke hat jedoch gezeigt, dass die Gleichung empirisch=kontingent und a
priori=notwendig nicht zwingend ist.85 Nach Kripke gibt es Entdeckungen a posteriori,
„Der Morgenstern ist der Abendstern“, die notwendig sind, und ebenso Urteile a priori,
„Das Urmeter in Paris ist einen Meter lang“, die kontingent sind. Nimmt man diese
Kombinationsmöglichkeiten hinzu, dann ist der Zusatz a posteriori kein Garant mehr für
Kontingenz und damit für Empirizität. Auch schließt die Eigenschaft des A priori nicht
mehr die Kontingenz aus. Es kann demnach empirische Urteile a priori geben. Damit
tut sich die Möglichkeit einer empirischen, aber dennoch a priorischen Philosophie auf.
Ein nicht-sinnlicher, begrifflicher Empirismus oder transzendentaler Empirismus, der
aus der Philosophie eine ebenso experimentelle Tätigkeit wie Wissenschaft und Kunst
macht.
Für James ist es daher kein Problem, die Kontingenz von Vokabularen zu denken.
Anders als Rorty hat er sich nicht auf Theorien eingelassen, die Begriffe als Elemente
von
Rechtfertigungspraktiken
der
Erfahrung
als
Element
bloßer
Kausalzusammenhänge entgegensetzen. Ein Begriff ist keine Norm, sondern ein
Experiment. Rorty diskutiert den Unterschied zwischen dem Pragmatismus von James
und Dewey und seinem eigenen in dem Text "Dewey between Hegel and Darwin"86.
Dort macht sich Rorty selbst den Einwand, dass sein von Sellars übernommener
Dualismus zwischen Rechtfertigung und Verursachung dem Anti-Dualismus Deweys
entgegengesetzt scheint. Rorty gibt zu, dass Dewey und James einen weiten
85
Siehe Kripke, Name und Notwendigkeit. Kripke versucht dort den Essentialismus zu
rehabilitieren, er interessiert sich deshalb vor allem für empirische, aber trotzdem
notwendige Urteile.
86
Rorty, "Dewey between Hegel and Darwin", in: Truth as Progress, S. 290-306.
50
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Erfahrungsbegriff entwickelt haben, der den Gegensatz von Denken und Kausalität
überwindet. Denken wird selbst zu einem Kausalprozess. Erfahrungen sind nicht über
Dinge, sondern selbst Dinge oder besser Ereignisse. Ein Ereignis kann zu einem
Mittler zwischen anderen Ereignissen werden, in diesem Augenblick bekommt es eine
repräsentative Funktion. Trotzdem lehnt Rorty einen solchen Erfahrungsbegriff ab. Die
Argumente,
die
Rorty
aufzählt,
klingen
aber
besonders
aus
seiner
Feder
unglaubwürdig. Erfahrung sei ein Begriff, der von seinem Kontrast zur Natur lebt. Es
muss eine Erfahrung möglich sein, die "out of touch with nature" ist. Den Begriff der
Erfahrung einfach auszudehnen, komme einer Neudefinition gleich, die nicht
anschlussfähig ist an die Probleme der Epistemologie. Ich denke, dass Rorty, der das
ganze Projekt einer Erkenntnistheorie ablehnt, nicht von Anschlussfähigkeit reden
sollte. Ein anderes Argument Rorty führt dagegen in den Kern des Streits zwischen
Pragmatismus und Neo-Pragmatismus. Rorty gesteht zu, dass Deweys und James
Erfahrungsbegriff bei Menschen und Tieren noch Sinn macht. Warum aber nicht
weitergehen
und
auch
Molekülen
oder
gar
Elementarteilchen
Erfahrungen
zugestehen? James und Deweys Erfahrungsbegriff führt in einen Panpsychismus.87
Diesen will Rorty jedoch unbedingt vermeiden. Der Panpsychismus sei „out“ und dazu
noch durch Daniel Dennetts Theorie der Intentionalität überholt, die zeigt, dass man
Bewusstsein und intentionales Verhalten trennen kann. In einem gewissen Sinn gibt es
nach Dennett Bewusstsein nicht einmal beim Menschen, schon gar nicht sollte man
Viren oder Thermostaten ein Bewusstsein zugestehen.
Ich denke, hier irrt Rorty. Zunächst ist der „Panpsychismus“ gerade nicht eine
Bewusstseinsphilosophie, sondern eine Philosophie des Unbewussten. Zweitens kann
Rorty Dennetts Theorie des Bewusstseins, die den Bewusstseinsbegriff über einen
Begriff von Intentionalität zu erklären versucht, der kein Bewusstsein voraussetzt,
gerade
nicht
akzeptieren.
Sellars
Argument
gegen
die
Zuschreibung
von
Glaubenszuständen an nicht-sprachliche Wesen, sein Slogan „Alles Bewusstsein ist
sprachlich“, ist nicht zu vereinbaren mit Dennetts weiten Intentionalitätskonzept.
Dennetts Kritik des Bewusstseins ist also alles andere als ein Argument gegen einen
„Panpsychismus“. Dennett ist nichts anders als ein moderner „Panpsychist“! Besser ist
es jedoch von Panintentionalismus zu reden, da der Begriff der Psyche pace Freud
immer noch mit Bewusstsein gleichgesetzt wird.
87
Man kann ganz allgemein die Ablehnung eines Unterschiedes von Normativität und
Kausalität als Philosophie der Immanenz und damit als Nachfolger von Spinozas
Pantheismus verstehen. Die Welt braucht keine Rechtfertigung, sie rechtfertigt sich
selbst, sie ist causa sui. Panpsychismus oder Panintentionalismus ist nur die Folge einer
solchen anti-dualistischen Position.
51
Pragmatismus als Kritik der Repräsentation
Im Gegensatz zu Rorty denke ich daher, dass es gerade Daniel Dennett ist, der einen
weiten Begriff des Denkens und der Erfahrung heute wieder respektabel macht, gerade
indem er zeigt, dass Denken kein Bewusstsein voraussetzt. Man muss dem
Thermostat keine Hitzeempfindung zutrauen, um ihm Überzeugungen über die
Temperatur zuzuschreiben.88 Es ist gerade der Witz von Dennetts Theorie,
Bewusstsein in Begriffen von unbewussten, intentionalen Prozessen zu erklären. Eine
darwinistische Geschichte des Aufkommens von Bewusstsein und Sprache, wie sie
auch Rorty gerne erzählen möchte, ist mit Sellars oder Brandom gerade nicht möglich.
Dennett ist also kein Einwand gegen Dewey und James, sondern eine Aktualisierung
ihres Naturalismus. Im Folgenden werde ich Dennetts Position vorstellen.
88
Dennett zeigt deutlich, dass wir das Verhalten vieler Systeme nicht voraussagen könnten,
würden wir ihnen nicht Überzeugungen und Wünsche zuschreiben. Weder der Fischer
noch der Schachspieler, der einen Computer zum Gegner hat, kommt um einen
Panintentionalismus herum. Siehe das nächste Kapitel.
52
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
II. Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
Dennetts Panintentionalismus
...wenn ich Claudel die Geister vom Anfang
des Jahrhunderts zu Hilfe rufen sehe, da
kann ich mir noch ein Lächeln gestatten,
wenn ich aber bei Karl Marx oder Lenin
das Wort Geist sehe, als den alten
unveränderlichen Wert, die Beschwörung
der ewigen Entität, auf die die Dinge
bezogen werden, dann sagte ich mir, das
ist doch Scheißdreck und Fickerei und Gott
hat Lenin am Hintern gelutscht und so ist
es schon immer gelaufen. Und es lohnt die
Mühe nicht, weiterzumachen, egal, da
bleibt noch eine verfluchte Rechnung zu
begleichen.
Antonin Artaud
Es erscheint ungewöhnlich, einen Text über Daniel Dennett mit einem Zitat von Artaud
einzuleiten. Trotzdem teilen Dennett und Artaud einen gemeinsamen Feind, den
Dennett mit dem Label "Cartesianischer Materialismus" bezeichnet.89 Cartesianische
Materialisten sind Monisten, Physikalisten, die jedoch das Cartesianische Bild des
Geistes beibehalten, "die sich von Gott den Hintern lutschen lassen", um mit Artaud zu
reden. Für sie ist der Geist ein Betrachter von Repräsentationen auf einer inneren
Bühne, ein Cartesianisches Theater. Artaud hat diesem Theater ein Theater der
Grausamkeit entgegengesetzt, und auch Dennetts Theorie des Geistes erscheint
vielen Kommentatoren als grausam.
Um in Dennetts Panintentionalismus einzuführen, werde ich die Theorien des Geistes
von Dennett und Davidson vergleichen. Davidson wähle ich als einen von vielen
Philosophen, welche die Zuschreibbarkeit von intentionalen Zuständen an die
Sprachfähigkeit binden.
Dazu werde ich Davidson und Dennett gegen den Strich besetzen. Statt sie in ihren
gewohnten Rollen auftreten zu lassen, kann man sie zu einem Rollentausch animieren.
89
Dennett, Conciousness explained, S.107.
53
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
Gerade in kontinentalen Kontexten erscheint Davidson als der mit allen Wassern
gewaschene analytische Philosoph, der endlich auch der angloamerikanischen
Philosophieszene erklärt, was wir dank Hermeneuten wie Gadamer, aber auch antipositivistisch eingestellte Sozialphilosophen wie Habermas immer schon gewusst
haben, das Menschliche ist irreduzibel, Vernunft nicht naturalisierbar.
Genau solch einem reduktionistischen Programm scheint aber Daniel Dennett immer
noch zu folgen. Er ist vielleicht der entschiedenste Vertreter dessen, was John
McDowell "bald naturalism" nennen würde und damit ein potentieller Antihumanist.90
Der Mensch ist nach Dennett nur ein Produkt der genetischen und memetischen
Evolution. Dennett, der Darwin des Geistes.
So in etwa könnte eine Mainstream-Beschreibung der philosophischen Positionen von
Dennett und Davidson aussehen. Für einen gelungenen Rollentausch müsste es
glaubhaft erscheinen, dass Dennett der wahre Humanist im Bunde ist, während
Davidson zu den Entzauberern und Reduktionisten gehört.
Ian Hacking verweist in seiner Auseinandersetzung mit Davidson scherzhaft auf die
Bedeutung von Wörtern wie "charity" und "humanity" im Kontext der christlichen
Missionare.91 Wer christliche Überzeugungen nicht teilte, war eben bestenfalls ein
Untermensch. Wenn man zu polemischen Zwecken die Bedeutung von "christlich" so
weit ausdehnt, dass darunter der Glaube zu verstehen ist, dass nur der Mensch (als
Gottes Ebenbild) das einzig rationale Geschöpf in einer nicht-rationalen Welt ist, dann
ist Davidson ein christlicher Philosoph, der wie die Missionare von damals den Kreis
der Kandidaten für die Mitgliedschaft im Rational-Animal-Club streng zu begrenzen
versucht. Dennett dagegen ist eher mit den Missionaren zu vergleichen, die bedingt
durch ihren langen Aufenthalt unter den Wilden diese Grenze eingerissen haben, die
einen Humanismus des Untermenschen, des kleinen Menschen propagieren.
In dem Film The Incredible Shrinking Man, einem Klassiker des Science-Fiction-Kinos
aus dem Jahre 1957, wird die Geschichte von Scott Carey erzählt, der durch einen
Zufall radioaktiver Strahlung ausgesetzt ist, und daraufhin unaufhaltsam zu schrumpfen
beginnt. Auf die Größe einer Maus geschrumpft, treibt ihn die eigene Hauskatze in den
Keller. Abgeschnitten von jeder Kommunikation, seine Stimme ist aufgrund seiner
geschrumpften Stimmbänder nicht mehr zu vernehmen, unfähig die gewaltigen Stufen
der Treppe zu bewältigen, wird der Keller sein Gefängnis, das er sich auch noch mit
90
McDowell, Geist und Natur, S.20. Dort mit „unverblümter Naturalismus“ wiedergegeben.
91
Hacking, Why does language matter to philosophy?.
54
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
der monströsen Kellerspinne teilen muss, die ihr Netz an der einzigen Nahrungsquelle,
einem Stück Käse, einem riesigen Stück Käse, aufgebaut hat. Schließlich wird er so
klein, dass er durch die Maschen eines Gitters schlüpfen kann, um in den Garten zu
entkommen. Hier endet der Film mit einer mystischen Wendung. Auf molekularere
Größe geschrumpft, verliert er die Grenzen seines Selbst und wird eins mit dem
Universum. Als ob es in dieser Größe keinen Sinn mehr macht, ein Selbst zu haben
oder eine Person zu sein.
Ist die Möglichkeit eines Selbst auch eine Frage der Größe?
Wie klein kann eine Person sein?
Nicht zu klein, sagt uns Donald Davidson. Eine bestimmte Größe ist nötig, um als
denkendes Wesen interpretierbar zu sein.92 Davidson behauptet damit nicht, dass
Überzeugungen oder ganze Überzeugungssysteme einer Person eine Größe haben
müssen, vielmehr muss ein Gegenstand, der als Person interpretiert werden soll, dem
Wünsche und Überzeugungen zugeschrieben werden können, eine bestimmte Größe
aufweisen. Größe gehört zu den Bedingungen der Zuschreibbarkeit von Gedanken.
Davidson zählt noch weitere Bedingungen auf, die allesamt ihre Begründung in
Davidson Interpretationstheorie haben. Aus dieser Theorie folgt die Ablehnung einer
Theorie des Geistes, wie sie von Daniel Dennett im Anschluss an Theoretiker der
Künstlichen Intelligenz wie Marvin Minsky vertreten wird.
Dennett entwirft in Consciousness explained ein Gegenmodell zu dem landläufigen
Bild des Geistes als eines Beobachters von inneren Vorstellungen.93 Dieses stark unter
Kritik geratene Modell (auch Davidson läutet dem Mythos des Subjektiven die
Totenglocke) hält, so Dennett, immer noch selbst hartgesottene Monisten mit
reduktionistischem Appetit in Bann. So glauben viele Theoretiker des Gehirns immer
noch an so etwas, wie die Zirbeldrüse Descartes’. Nach diesen Theoretikern muss es
im Gehirn ein Zentrum geben, in dem alle Inputs registriert und alle Befehle
ausgegeben werden.
Diese Forderung führt zu vielen Schwierigkeiten. Als ein Beispiel erwähnt Dennett den
endlosen Regress, in den empirische Theorien der Spracherzeugung geraten
können.94 So gibt es Modelle, die ein Bedeutungszentrum, einen Central Meaner
postulieren, von dem aus der Inhalt eines zu formulierenden Sprechakts an die
Sprachagenturen des Gehirns geschickt wird. Dieser Inhalt kann nicht bereits in der
92
Davidson, „Representation and Interpretation”, in: Modelling the Mind, S. 13ff.
93
Dennett, Conciousness explained, S.101ff.
94
Dennett, Conciousness explained, S.227ff.
55
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
Sprache formuliert sein, in der er ausgegeben werden soll, sonst wäre die ganze Arbeit
der Sprachagenturen schon getan. Wie verstehen nun aber die Sprachagenturen,
welchen Inhalt der Central Meaner formuliert haben möchte? Spricht der Central
Meaner in einer Sprache des Geistes, stellt sich erneut das Problem, wie der zu
formulierende
Inhalt
in
die
Sprache
des
Geistes
gekleidet
wird.
Das
Bedeutungszentrum müsste sich also wiederum in einen Central Meaner und eine
Sprachagentur gliedern und so ad infinitum.
Dem zentralistischen Bild des Geistes setzt Dennett im Anschluss an KI-Theoretiker
wie Marvin Minsky ein Pandämoniums-Modell gegenüber. Der Geist ist das Ergebnis
eines Zusammenspiels einer Heerschar von Agenten, Dämonen oder Homunkuli, von
denen jeder einzelne, wiederum aus unzähligen kleineren Agenten bestehen kann.
Diese Entitäten werden ebenso wie der Geist, den sie bilden, in einem intentionalen
Vokabular
beschrieben.
Im
Gegensatz
aber
zu
der
Postulierung
eines
Bedeutungszentrums, eines Central Meaners, der ja auch ein kleiner Mann im Kopf ist,
zeichnen sich die Agenten des Pandämoniumsmodells durch ihre abnehmende
Intelligenz aus. Jeder Agent verfügt nur über wenig Informationen und Instruktionen.
Erst ihr Zusammenwirken produziert einen Effekt, den wir in unserer Makrowelt
beispielsweise als Sprechakt einer intelligenten Person beschreiben. Das Ziel einer
solchen Idee ist zu erklären, wie aus Nicht-Geist Geist entstehen kann. Indem der
Geist in immer dümmere Agenten aufgesplittet wird, wird es immer einfacher auf eine
intentionale Beschreibung dieser Agenten zu verzichten. Am Ende der Analyse haben
wir es mit sehr einfachen Mechanismen zu tun, die in einem physikalistischen
Vokabular beschrieben werden.
Marvin Minsky über Intentionalität
Um diese Strategie besser zu verstehen, möchte ich kurz Marvin Minskys Erklärung
des Phänomens des zielgerichteten Verhaltens erläutern.95 Ein Ding oder ein Prozess
scheint für uns ein Ziel zu haben, sobald es nicht nur auf Kräfte in seiner Umgebung
reagiert, sondern auf seine Umgebung so einwirkt, als ob es von einem idealen oder
intentionalen Objekt geleitet wird. So könnte beispielsweise ein aristotelischer Physiker
die Bewegung eines Balls, der einen Hang hinabrollt so deuten, als ob der Ball das Ziel
hat, den Hang hinunter zu rollen. In der KI wurden solche Maschinen, die in der Lage
waren, scheinbar "zielgerichtet" zu operieren, bereits in den späten 50ern des 20.
95
Minsky, Mentopolis, S.78f.
56
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
Jahrhunderts entwickelt. Sie wurden Differenzmaschinen genannt, denn die Differenz
zwischen internen Inputs und externen Inputs aktiviert die Maschine und lässt sie
solange arbeiten, bis diese eingeebnet ist. Eine solche Maschine verfügt in Form ihrer
internen Inputs über eine "Beschreibung" ihres Ziels, ihr Verhalten ist für jemanden, der
diese Beschreibung kennt, mit Bezug auf die entsprechende Umgebung voraussagbar.
Dazu muss der Beobachter nicht über die physikalischen Details der Maschine
Bescheid wissen. Für den Beobachter wirkt das Verhalten der Maschine zielgerichtet,
aber sobald er den Mechanismus erklärt bekommt, kann er die intentionale
Beschreibung des Verhaltens durch eine physikalische ersetzen. So verwendet die
moderne Naturwissenschaft für rollende Bälle kein intentionales Vokabular mehr, aber
der französische Physiker und Mathematiker Jean Le Rond d'Alembert hat im 18.
Jahrhundert behauptet, dass ein rollender Ball in seinem Verhalten vollständig
vorausgesagt werden kann, indem man ihn als Differenzmaschine beschreibt, deren
Ziel es ist, ihre Eigenenergie zu reduzieren.
Nun werden viele Philosophen diese Erklärung des Phänomens des Ziels oder der
Absicht natürlich nicht akzeptieren. Die Erklärung eines intentionalen Phänomens
durch den Begriff der Differenzmaschine kann von mehreren Seiten angegriffen
werden. Man könnte sich fragen, ob nicht bereits der Begriff der Maschine intentional
aufgeladen ist. Vor allem aber wird man leugnen, dass es sich um ein echtes
intentionales Phänomen handelt.96 Um zu verstehen, welche Position Dennett in der
Frage nach echter Intentionalität einnimmt, muss man sein Konzept eines intentionalen
Systems kennen.
Intentionale Systeme
Dennett nennt jedes System intentional, dessen Verhalten mittels Zuschreibungen
intentionaler Begriffe wie dem der Überzeugungen, des Wunsches, der Absicht etc.
vorausgesagt werden kann.97 Diese Systeme sind intentional nur unter dieser
Beschreibung. Dasselbe System kann auch von einem physikalischen oder
funktionalen Standpunkt aus beschrieben werden. Eine physikalische Voraussage
bedient sich des aktuellen physikalischen Zustands eines Systems und prognostiziert
seine zukünftigen Zustände mittels physikalischer Gesetze. Eine Voraussage vom
96
Die Gegenseite wird kontern, dass bereits der Kausalbegriff den Begriff der Intention
voraussetzt. Dies ist die Strategie von Leibniz oder Whitehead, die den Kraftbegriff in der
Physik intentional interpretieren. Siehe dazu den Exkurs „Dennett und Leibniz“.
97
Dennett, “Intentional Systems”, in: Brainstorms, S.3ff.
57
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
funktionalen Standpunkt arbeitet mittels teleologischem Wissen, dem Wissen, wofür
ein System da ist. Der Begriff der Funktion erlaubt Voraussagen aber nur unter der
einschränkenden Bedingung, dass sich das System fehlerfrei verhält. Defekte lassen
sich vom funktionalen Standpunkt daher nicht vorhersagen. Je komplexer ein System
ist, desto schwieriger wird eine physikalische oder auch eine funktionale Voraussage.
Dennett bringt das Beispiel eines Schachcomputers, dessen Verhalten vom
physikalischen Standpunkt prinzipiell zwar voraussagbar ist, obwohl die Voraussage
praktisch eine Unmöglichkeit darstellt. Vom funktionalen Standpunkt aus lassen sich
zwar Voraussagen machen, aber diese
sind zu unspezifisch, um für den
Schachspieler interessant zu sein. So muss der Schachcomputer, wenn er denn
ordentlich funktioniert, nach den Regeln spielen. Ein falscher Zug wäre ein Zeichen
dafür, dass das Programm defekt ist. Um nun aber die Klasse der physikalisch und
funktional möglichen Zügen weiter einzugrenzen, muss der Spieler den intentionalen
Standpunkt einnehmen und seine Voraussage darauf stützen, was bei gegebenem
Spielstand und dem gegebenen Ziel zu gewinnen ein vernünftiger Zug wäre. Eine
solche Voraussage reduziert die möglichen Züge im Allgemeinen nicht auf einen
einzigen, aber sie erlaubt doch den Kreis der Kandidaten soweit einzuschränken, dass
das eigene Spiel daran ausgerichtet werden kann.
Die Zuschreibung von Wünschen und Überzeugungen gelingt aber nur dort, wo wir ein
im Großen und Ganzen rationales Verhalten vorfinden. Rational nach Maßstäben des
Interpreten. Dennett sieht sich hier Seite an Seite mit Davidson. In einer
Bestandsaufnahme der kontemporären Positionen in der Philosophie des Geistes sieht
Dennett sich nicht nur was die Betonung von Rationalitätsstandards angeht durch
Davidson gedeckt, sondern auch die Betonung der Indeterminiertheit der Interpretation
macht beide zu Verbündeten.98
Ich denke, dass Dennett sich hier irrt. Davidson kann aus sehr tiefgreifenden Gründen
Dennetts Begriff des intentionalen Systems nicht akzeptieren. Dennett sieht zwar, dass
Davidson mit zu denen gehört, welche die Zuschreibung intentionaler Zustände auf
den Menschen als sprachbegabtes Wesen einschränken wollen, aber er hält die
Gründe, aus denen Davidson dies tut, nicht für zentrale Elemente seiner Philosophie
des Geistes. Ich werde drei Argumente Davidsons präsentieren, die allesamt die
Aufgabe von Dennetts Begriff des intentionalen Systems zur Folge haben. Zu den
ersten beiden hat sich Dennett explizit geäußert, das dritte dagegen, das in den Kern
des Streits führt, ist von Dennett, soweit ich weiß, nie explizit behandelt worden.
98
Dennett, “Mid-Term Examinations: Compare and Contrast”, in: The Intentional Stance,
S.339ff.
58
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
Ganz oder gar nicht: Holismus und die Attribution von Intentionen
Das erste Argument betont den Holismus in der Zuschreibung von Gedanken. Schreibt
man einem Hund die Überzeugung zu, dass die Katze sich auf den Baum geflüchtet
hat, schreibt man ihm u.a. den Begriff des Baumes zu. Um jemanden das Verständnis
dieses Begriffes zuschreiben zu können, müssen wir ihm aber viele andere
Überzeugungen über Bäume zuschreiben. So sollte er glauben, dass Bäume wachsen,
dass sie Wasser und Erde brauchen, dass sie Blätter oder Nadeln haben etc. Es ist
unklar, mit welcher Berechtigung wir einem Hund all diese Überzeugungen
zuschreiben können. Soweit Davidson.
Dennett hält dieses Argument für die Folge des verfehlten Strebens nach
propositionaler Präzision. Zunächst einmal ist es für Dennett, der sogar selbst in
Begleitung eines Forscherehepaares Feldexperimente mit Affen gemacht hat, ein
typisches Arm-chair-Argument.99 Während Ethologen sich bemühen, raffinierte
Experimente zu entwickeln, um herauszufinden, was genau Affen nun eigentlich
wissen, halten Philosophen den ganzen Versuch a priori für verfehlt. Vor allem aus
Davidsons Mund ist die Forderung nach propositionaler Präzision für Dennett
unverständlich.
Wie Davidson vergleicht auch Dennett die Zuschreibung propositionaler Gehalte mit
dem Messen von Temperatur oder Gewicht (beide übernehmen diese Analogie von
Paul Churchland).100 So wie einem Körper ein bestimmtes Gewicht zugeschrieben
werden kann, um sein Verhalten zu erklären, so ist auch eine Proposition nicht anderes
als eine abstrakte Entität, die eine Rolle in der Voraussage des Verhaltens eines
Körpers spielt. Nun können Propositionen in verschiedenen Sprachen zugeschrieben
werden, genau wie Gewicht in Gramm oder Pounds gemessen werden kann. Davidson
verwendet diese Analogie um Quines These von der Indeterminiertheit der
Übersetzung zu reformulieren. Dennett wendet sich gegen diesen Vergleich.101 Er
verfehle gerade die Indeterminiertheit, nehme Quines These ihre Schockwirkung und
verführe zu dem Glauben an eine Präzision, die im Kontext intentionaler
Zuschreibungen verfehlt ist. Dennett denkt sich Propositionen eher wie Dollars oder
Euros statt Kilos oder Pounds. Zwischen Kilos und Pounds bestehen strenge
Übersetzungsregeln. Ein Gegenstand kann in Kilos nicht leichter sein als in Pounds.
Dagegen kann ein Gegenstand in Dollars billiger sein als in DM, wenn die DM eine
99
Dennett, „Out of the Armchair and into the Field“, in: Brainchildren, S.289ff.
100
Davidson, „Was ist dem Bewusstsein gegenwärtig?“, in: Der Mythos des Subjektiven,
S.27.
101
Dennett, “Real Patterns”, in Brainchildren , S.114.
59
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
geringere Kaufkraft hat. Der Wert eines Gegenstandes ist also ein anderer je nachdem,
welche Maßeinheit wir verwenden. Wenn man von Pounds in Kilo wechselt, werden die
Dinge nicht leichter oder schwerer. Wenn ich dagegen von DM in Dollar wechsle,
werden deutsche Autos billiger. Das Geld selbst hat einen Wert, der sich ständig
ändert. Daher sind Dinge billiger oder teurer in Dollar oder DM, DM heute oder vor 50
Jahren. Welcher Wert der wirkliche Wert des Gegenstandes ist, kann durch "no
matter of fact" entschieden werden. Dennett besteht darauf, dass Glaubenszustände
eine
solche
Indeterminiertheit
aufweisen.
Damit
reformuliert
Dennett
Quines
Indeterminiertheitsthese der Übersetzung, ohne ihr den Schockeffekt zu nehmen.
Anders als Davidson ist er daher nur ein gemäßigter Realist mit Bezug auf den Geist.
Das Physische ist realer, weil es keinerlei Unbestimmtheit aufweist. Sätze, in denen wir
Intentionen zuschreiben,
bedeuten
je
nach
Kontext,
je
nachdem
wem
sie
zugeschrieben werden, etwas anderes. Davidson hat recht, wenn er betont, dass der
Begriff des Baumes im Falle des Hundes fast nichts von dem impliziert, was man
erwarten würde, wenn man ihm einem Holzfäller zuschreibt. Aber das braucht es in
diesem Kontext auch nicht. Niemand schließt aus dem Satz "Der Hund glaubt, die
Katze befinde sich auf dem Baum", dass der Hund glaubt, die Katze befinde sich auf
demselben Ding, auf das sie gestern geklettert ist und das dieses Ding außerdem
entweder Blätter oder Nadeln hat. Vielmehr erklärt die Überzeugung, warum der Hund
vor
diesem
und
nicht
irgendeinem
anderen
Gegenstand
halt
macht.
Für
wissenschaftliche Zwecke sollte man natürlich mehr über den Wahrnehmungsapparat
eines Hundes herausbekommen und klären unter welcher Beschreibung Bäume im
Leben von Hunden auftauchen.
Kein Denken ohne Selbstbewusstsein?
Das zweite Argument Davidson gegen die Zuschreibung von Intentionen lässt sich in
dem Slogan "Kein Denken ohne Selbstbewusstsein" ausdrücken. Davidson verweist
auf
das
Phänomen
des
Überraschtseins.102
Ich
kann
hinsichtlich
meiner
Überzeugungen Überraschungen erleben. Eine solche Überraschung setzt voraus,
dass ich Überzeugungen über meine Überzeugungen habe. Wenn ich überrascht sein
soll darüber, dass p wahr ist, muss ich glauben, dass ich nicht geglaubt habe, dass p.
Überrascht sein, setzt also den Begriff des Glaubens voraus. Man glaubt nicht nur,
sondern weiß um seinen Glauben. Man hat eine Intention zweiter Ordnung. Der Begriff
102
Davidson, “Rational Animals”, in: Dialectica, Vol.36 , S.326.
60
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
des Glaubens setzt aber für Davidson Kommunikation und damit Sprache voraus, wie
wir im nächsten Abschnitt sehen werden.
Nun ist es für Dennett einfach zu kontern, dass dies lediglich eine Analyse des
Phänomens der Überraschung ist. Selbst wenn man diese Analyse teilt, folgt daraus
nur, dass Überraschungen Intentionen zweiter Ordnung voraussetzen, damit ist noch
nicht gezeigt, dass der Begriff des Glaubens notwendige Voraussetzung aller
intentionalen Zuschreibungen ist.103 Wir können einem Hund vielleicht nicht den
Zustand des Überraschtseins zuschreiben, genauso wenig wie wir ihm mathematische
Überzeugungen zuschreiben können. Auch Dennett leugnet nicht, dass es intentionale
Phänomene gibt, für deren Zuschreibung Intentionen höherer Ordnung oder Sprache
die
Voraussetzung
sind.
Aber
daraus
folgt
nicht,
dass
alle
intentionalen
Zuschreibungen höherstufig sind. Außerdem glaubt Dennett, dass es unter bestimmten
Umständen sogar zu rechtfertigen ist, eine Intention zweiter Ordnung einem nichtkommunizierenden Wesen zuzuschreiben.104 Sein Beispiel sind in Bodennähe nistende
Vögel, die folgendes interessante Verhalten aufweisen: Nähert sich ein Feind ihrem
Nest, versuchen diese Vögel dessen Aufmerksamkeit auf sich selbst und weg vom
Nest zu lenken. Damit der Räuber sich vom schutzlosen Nest dem jederzeit
fluchtbereiten Vogel zuwendet, muss ihm ein Grund gegeben werden, dass er
tatsächlich eine Chance hat, den Vogel zu erwischen. Dies tut der Vogel, indem er vor
dem Räuber einen gebrochenen Flügel markiert. Dieses erstaunlich komplexe
Verhalten lässt sich nur verstehen, wenn man dem Vogel eine Intention zweiter
Ordnung zuschreibt. Der Vogel glaubt, dass sein Verhalten den Räuber glauben lässt,
er wäre flugunfähig. Dieses Verhalten hat der Vogel nie gelernt, es ist ihm angeboren.
Auch ist klar, dass der Vogel die Intentionen, aus denen er handelt, nicht kennt.
Trotzdem sind wir nach Dennett berechtigt, ihm diese zuzuschreiben. Dennett
akzeptiert also, den Schluss von Intentionen höherer Ordnung auf Bewusstsein nicht.
Dennett verweist auf Grices Analyse des Meinens. Auch die höherstufigen Intentionen,
die Grice als notwendig für die Erklärung von Kommunikation betrachtet, sind den
Sprechern nicht bekannt. Viele Sprecher wären vielleicht nicht einmal in der Lage, der
Analyse von Grice zu folgen. Trotzdem müssen wir, falls Grice Recht hat, den
Sprechern mindestens Intentionen dritter Ordnung zuschreiben. Das Phänomen
Bewusstsein, wie es im Personen-Begriff und der Idee der moralischen Verantwortung
impliziert ist, haben wir nach Dennett erst dort, wo wir uns selbst gegenüber eine
Haltung einnehmen, die wir auch anderen gegenüber einnehmen. Bewusstsein haben,
103
Davidson behauptet dies jedoch ausdrücklich. Davidson, “Rational Animals”, in:
Dialectica, Vol.36 , S.324.
104
Dennett, „Conditions of Personhood“, in: Brainstorms, S.276.
61
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
heißt nach Dennett, sich wie einen anderen zu sehen, als ob man aus der Perspektive
eines anderen auf sich selbst zurückkommt. Es ist jedoch nach Dennett falsch dieses
Spezialphänomen zur Bedingung von Intentionen zu machen.105
Wahrheit und Kommunikation
Den Kern des Streits erreichen wir, wenn wir uns dem Begriff der Wahrheit zuwenden.
Für Davidson reagiert ein Tier auf die Welt, aber es hat keine Gedanken über die Welt.
Ihm fehlt das Organ der Sprache, denn nur in der Kommunikation mit anderen Geistern
bilden sich Gedanken, die wahr oder falsch sein können. Objektivität und damit die
Differenz von Wahrheit und bloßem Für-Wahr-Halten ist nur kommunizierenden Wesen
zugänglich. Da der Begriff des Glaubens den Begriff der Wahrheit impliziert, haben
nicht-kommunzierende Wesen keine Glaubenszustände. Sie können weder etwas
wissen noch sich irren. Dennett könnte dem insoweit zustimmen, als auch seine
intentionalen Systeme ihre Irrtümer nicht repräsentieren können. Ein Irrtum ist einfach
eine Aktion, die ihre Selbsterhaltung gefährdet. Ein Thermostat, der nicht richtig
funktioniert, wird nicht lange im Handel bleiben. Ein Frosch, der schwarze Papierkugeln
statt Fliegen fängt, wird bald tot sein. Allerdings werden Dennetts Gegner diese
Antwort nicht akzeptieren, denn alle diese Beschreibungen sind für sie nur Metaphern.
Sie beschreiben eine bloße „Als ob“-Intentionalität. Nur ein soziales Wesen hat echte
Gedanken und Ziele, kann sich wirklich irren, weist richtige Rationalität auf. Der soziale
Charakter intentionaler Begriffe wird nicht allein von Davidson, sondern auch von
Robert Brandom, Jürgen Habermas und selbst Richard Rorty vertreten. Ich möchte
diese Position als dualistisch und damit cartesianisch in einem weiten Sinne
bezeichnen, der keinen Substanzdualismus mehr impliziert. Für Davidson wie für die
anderen Denker zerfällt die Welt in zwei Bereiche: das Normative und das Faktische,
Geist und Natur. Geist haben Dinge, mit denen wir kommunizieren können, Natur sind
105
Dennett hält das Bewusstsein mit Nietzsche für wesentlich unproduktiv. Die bewusste,
zurechenbare Handlung kann niemals kreativ sein. Wie wir oben an Davidsons Analyse
des Überraschtseins gesehen haben, impliziert bewusstes Wissen immer den Glauben,
dass man etwas glaubt. Bewusstes Handeln richtet sich nach diesem bewussten Wissen.
Kreativität bringt jedoch Neues ins Spiel, etwas, dass man nicht wusste und von dem
nicht einmal wusste, dass man es nicht wusste. Kenne ich im Detail die Dinge, die ich
nicht kenne, kenne ich sie per definitionem doch. Daher kann Kreativität aus der Sicht
des Bewusstsein niemals beabsichtigt sein. Kreatives, experimentelles „Handeln“ ist in
seinem Wesen unbewusst.
62
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
Dinge, über die wir kommunizieren. Geist taucht nur dort auf, wo es uns gelingt
Rationalität im Objektbereich auszumachen. Dazu muss das Objekt nach Davidson
über Sprache verfügen. Nach Davidson zerfällt das Reich der Dinge in zwei Extreme,
unsere
alltagspsychologischen
Beschreibungen
von
sprachfähigen
Personen
einerseits, Erklärungen in der Physik andererseits. Der riesige Bereich dazwischen
wird von ihm ausgespart. Weder unsere Konzeption technischer Gegenstände noch
Wissenschaften wie die Biologie, die sich eines intentionalen Vokabulars bedienen, um
Systeme zu beschreiben, mit denen wir nicht in Davidson’schen Sinne kommunizieren,
werden je von ihm thematisiert. So entsteht ein Diptychon mit der kommunzierenden
Gemeinschaft aus Geistern, die das „game of giving and asking for reasons“ spielen,
auf der einen Seite, Atomen im leeren Raum auf der anderen Seite. Der cartesianische
Dualismus von Subjekt und Objekt wird durch einen Intersubjekt-Objekt Dualismus
ersetzt.
Es ist dieses dualistische Paradigma, das Davidson fundamental von Dennett trennt.
Fragt man Dennett, wie Rationalität in die Welt kam, bekommt man zur Antwort, dass
Gründe mit den ersten Selbstreplikatoren auftraten.106 Mit diesen beginnt das “game of
living and dying for reasons”. Mit den ersten sich selbst reproduzierenden
Makromolekülen kommen Systeme in die Welt, die interessant genug sind, um sie vom
intentionalen Standpunkt aus zu beschreiben. Diese Gründe sind den Replikatoren
natürlich nicht zugänglich. Sie handeln nicht aus Gründen. Auch ihre Umwelt selektiert
sie nicht aus Gründen. Trotzdem lässt sich die Evolution solcher Replikatoren als eine
rationale beschreiben. Solche Gründe nennt Dennett „free-floating“.107 Um Gründe
ihren Agenten zugänglich zu machen, bedarf es auch für Dennett der Sprache. Aber
nicht erst mit Sprache kommen Gründe in die Welt. Dies erlaubt es Dennett, eine
Erklärung von Geist und Sprache in Angriff zu nehmen, die nicht vor die Wahl gestellt
ist, entweder das vollausgereifte intentionale Vokabular zu verwenden, mit dem wir
unsere Mitmenschen beschreiben, oder in ein physikalistisches Vokabular zu
wechseln. Indem er mit dem Begriff des intentionalen Systems eine Vorform zu unserer
vollausgereiften
Intentionalität
schafft,
kann
er
wie
Darwin
angebliche
Wesensunterschiede gradualistisch auflösen. Zwischen den Atomen und uns gibt es
die Shrinking Men. Ihre Rationalität zu leugnen bezeichnet Dennett als „Spatial-Scale
Chauvinism“. Aus unserer Makroperspektive ist die Rationalität dieser Agenten nicht
auszumachen. Stellt man uns gegenüber aber einen ähnlichen Abstand her, wie
Nietzsche es scherzhaft zu Beginn von "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen
106
Dennett, Ellenbogenfreiheit, S.36ff.
107
Dennett, Ellenbogenfreiheit, S.38. Dort übersetzt mit „in der Luft schwebend“. Dennett
spricht auf derselben Seite explizit von einem Denken ohne Denker.
63
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
Sinne" macht, ist auch unsere Rationalität nicht mehr auszumachen.108 Die
Beschreibung
eines
Systems
als
intentional
hängt
also
tatsächlich
von
Größenverhältnissen ab, auch kann ein System zu langsam oder zu schnell für uns
sein, um als intentional beschrieben zu werden. Diese Relativität führt aber erst dann
zum Chauvinismus, wenn man das eigene Raum- oder Zeitmaß zum Kriterium für
echte Intentionalität erklärt.109 Davidson tut dies als Folge seiner These, dass nur
einem kommunizierenden Wesen Gedanken zuschreibbar sind. Wer wie der Shrinking
Man zu klein ist, um sich Gehör zu verschaffen, wird in den Keller des NichtIntentionalen verbannt, auf ein bloßes Atom reduziert.
Dem reduktionistischen, christlich-cartesianischen Missionar Davidson steht nun der
abtrünnige
Missionar
Dennett
gegenüber,
der
einen
Panhumanismus
oder
Panintentionalismus verkündet. Für Davidson eine Mission Impossible, denn Davidson
hält den Shrinking Man buchstäblich für „incredible“, Dennett dagegen hält ihn für den
einzigen Weg, uns selbst zu verstehen.
Auf den Vorwurf von John Searle, das Pferd vom seinem Schwanz her aufzuzäumen,
indem er unsere originale Intentionalität durch bloß derivative Intentionalität erklärt, wie
sie ein von uns konstruierter Roboter aufweisen würde, antwortet Dennett:
"We are descended from robots, and composed of robots, and all the
intentionality we enjoy is derived from the more fundamental intentionality of
these billions of crude intentional systems. I don't have it backward; I have it
forward. That’s the only promising direction to travel."110
Dennetts Physikalismus
Dennett selbst scheint jedoch in der letzten Minute in das Lager seiner Gegner
überzulaufen. Zwar will er keinen kategorialen ontologischen Unterschied zwischen
den intentionalen Zuständen von Menschen und Fröschen zugestehen, aber auch er
wertet das Reich des Intentionalen gegenüber dem Reich des Physikalischen ab. Wie
wir an Dennetts Verteidigung der Indeterminiertheit des intentionalen Vokabulars
gesehen haben, vertritt Dennett einen nur schwachen Realismus bezüglich
108
Nietzsche, “Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne”, in: Colli, Montinari
(Hg.), Kritische Studienausgabe 1, S.875.
109
Ein Gedanke, den man ebenfalls bei Bergson findet. Jeder Prozess hat seinen eigenen
Rhythmus.
110
Dennett, Kinds of Minds, S.55.
64
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
intentionaler Zustände. Die Entitäten einer intentionalen Beschreibung bleiben im
Vergleich zu einer physikalischen Beschreibung Bürger zweiter Klasse. Dennett
scheint zu glauben, dass das Physikalische keinen „Stance“ voraussetzt. Daraus ergibt
sich das Bild einer Welt, die an sich physikalisch, aber für variierende Beobachter auch
intentional beschreibbar ist. Wie man am Projekt von Marvin Minsky sieht, dient die
Postulierung immer dümmerer Homunkuli dem Ziel der letztendlichen Mechanisierung
von Denkprozessen. Damit hält Dennett an der szientistischen Idee fest, dass es eine
perspektivenunabhängige Beschreibung der Welt gibt, nämlich die physikalische.
Physikalische Beschreibungen sind nicht Beschreibungen unter anderen, sondern das
Physikalische ist das Fundament der Welt. Dieses Privileg genießt das Physikalische
aufgrund der regulativen Idee der Wissenschaft, wie sie Dennett versteht, nämlich die
Welt zu erklären durch Postulierung von Theorien, die diese Welt voraussagbar
machen. Mechanisieren heißt, ein Ding in seinem Verhalten voraussagbar machen.
Eine intentionale Beschreibung liefert zwar auch Voraussagen, bleibt jedoch an die
Unterstellung von Rationalität gebunden. Rationalität ist aber nicht in der Welt, sondern
nur ein Maßstab, den man an die Welt anlegt. Dennett folgt hier der modernen
Subjektivierung des Geistes.111 Indem Dennett die Unterscheidung von Als-obIntentionalität und intrinsischer Intentionalität ablehnt, bricht er mit der Zentrierung der
Rationalität in einem selbstbewussten Geist. Er tut dies jedoch nur, um den Begriff des
Geistes letztlich zu objektivieren, ihn als einen bloßen Mechanismus zu begreifen.
Damit ist nicht gesagt, dass Dennett der intentionalen Einstellung keine wirkliche
Erkenntnis zutraut. Dennett macht immer wieder klar, dass viele Voraussagen nur über
die Einnahme einer intentionalen Einstellung möglich sind. Nur sind diese
Voraussagen nicht ebenso zwingend, wie die Voraussagen aufgrund mechanistischer
Gesetze. Sie sind es deshalb nicht, weil sie an Normen hängen. Ein intentionales
System kann Fehler machen. Ein Frosch, der schwarze Kugeln statt Fliegen fängt, irrt
sich, nicht der Beobachter, der ihm den Wunsch, Fliegen zu fangen, zuschreibt. Eine
physikalistische Voraussage ist dagegen nach Dennett nicht normativ. Jede
Abweichung von der Voraussage fällt auf den Beobachter zurück. Hier kann sich der
Beobachter nicht rausreden, indem er behauptet, dass der Frosch die Kugel hätte nicht
fangen sollen. Daraus folgt, dass der Glaube an eine Welt, die im Grunde
mechanistisch ist, es für möglich halten muss, einen Beobachter zu postulieren, der
vollkommen fehlerfreie Voraussagen machen könnte, die jeden Zustand der Welt
abdecken. Alle anderen Beschreibungen der Welt müssten letztlich reduzierbar sein
auf diese physikalische Beschreibung. Am Beispiel des Schachcomputers wird der
Traum des Reduktionismus deutlicher. Der Schachcomputer war einer der ersten
111
Siehe dazu das nächste Kapitel: “Szientismus, Subjektivismus und Philosophie“.
65
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
Triumphe der künstlichen Intelligenz. Er steht exemplarisch für ein Forschen, das nicht
mehr das Mechanisierbare, Voraussagbare anstrebt, sondern Kreativität. Der
Schachcomputer ist selbst für seine Hersteller in seinem Tun nicht voraussagbar. Aber
basiert er denn nicht auf reiner Mechanik? Jedenfalls dient er immer wieder als
Beispiel
für
die
Mechanisierbarkeit
des
Geistes.
Was
heißt
es
nun,
der
Schachcomputer sei einerseits unvorhersagbar, andererseits rein mechanisch, also
eben doch vorhersagbar. Dennett unterscheidet zwischen von uns voraussagbar und
"prinzipiell" voraussagbar. Für einen göttlichen Verstand zum Beispiel, ist der
Schachcomputer mechanisierbar. Dennett zeigt, dass es prinzipiell einen Algorithmus
für das Schachspiel gibt, der einen immer gewinnen lässt.112 Das Universum ist
allerdings den Wärmetod gestorben, bevor man ihn berechnen kann. Die Frage ist nun,
ob die Idee eines solchen Algorithmus, den nur ein göttlicher Verstand oder ein
Supercomputer kennen könnte, wirklich so harmlos ist. Ein göttlicher Verstand oder ein
Supercomputer kann nur als ein nicht-physikalisches System gedacht werden. Er oder
es verbraucht keine Energie, braucht keine Zeit, um seine Berechnungen
durchzuführen. Gottes Denken ist daher eine bloße Abstraktion, die niemals realisiert
werden kann. Rechenvorgänge in dieser Welt verbrauchen Energie und Zeit. Der
Semiotiker und Mathematiker Brian Rotman vertritt daher die These, dass nur ein
platonisches Konzept der Mathematik und des mathematischen Operierens glaubt,
dass im Prinzip geht, was in der Wirklichkeit nicht geht.113 Die prinzipielle
Mechanisierbarkeit der Materie basiert auf einer platonischen Auffassung des
Denkens. Nur ein Denken, das über den Zwängen des Materiellen steht, kann sich
eine Mechanisierung des Denkens vorstellen. Der ganze Gedanke einer unendlichen
Fortsetzbarkeit, der die Mathematik durchdringt und ihren Platonismus ausmacht, ist
antimaterialistisch. Es
ist also paradoxerweise
ein extremer
mathematischer
Platonismus, welcher der Vorstellung der Mechanisierbarkeit der Materie zugrunde
liegt. Materialisiert man den Geist und vor allem die Mathematik, wie es heute durch
den massiven Einsatz von Computern in den Wissenschaften geschieht, dann wird der
Mechanist mit den Beschränkungen der realen Welt konfrontiert. Dennett selbst
verweist immer wieder darauf, wie die technischen Probleme der künstlichen
Intelligenz die Phantasien der Philosophen auf Eis legen. Würde er mit derselben
Konsequenz die Fiktion eines unendlichen Verstandes aufgeben, dann wäre
Mechanisierbarkeit nur noch ein lokales Phänomen, das man unter bestimmten
Bedingungen erzeugen kann. Es gäbe jedoch keinen Grund mehr, den Mechanismus
112
Dennett, Darwins gefährliche Idee, S.615f.
113
Rotman, Mathematics as Sign.
66
Unbewusstes Denken und Panintentionalismus
ontologisch zu privilegieren. Diese Argumentation wird man aber nur dann akzeptieren,
wenn man die Idee eines Geistes, der nicht selbst materiell ist, aufgibt. Als Philosoph
muss man die Intuitionenpumpe, welche die Idee eines solchen außerhalb des
materiellen
Prozesses
stehenden
Wesens
produziert,
kurzschließen.114
Die
Materialisierung des Geistes kippt dann in einem Zug sowohl den Mechanismus als
auch den Platonismus und enthüllt das heimliche Bündnis zwischen den beiden. Der
materielose Geist und die Mechanisierbarkeit der Materie stehen und fallen
zusammen. Was bleibt, könnte man einen nicht-physikalistischen Reduktionismus
nennen, im Gegensatz zu dem heute beliebten nicht-reduktionistischen Physikalismus,
wie ihn Rorty oder Davidson vertreten. Nicht-physikalistisch im Sinne einer nichtmechanisierbaren Materie, reduktionistisch, da der Geist auf die Materie zurückgeführt
wird.
114
Zum schönen Bild der Intuitonenpumpe, siehe Dennett, Ellenbogenfreiheit, S.24.
67
Exkurs: Dennett und Leibniz
Exkurs: Dennett und Leibniz
Nous venons de voir que la science, après
avoir
pulvérisé
l’univers,
arrive
à
spiritualiser nécessairement sa poussière.
Gabriel Tarde
Wir
haben
gesehen,
dass
Rortys
Vorbehalte
gegen
Deweys
und
James’
Panpsychismus ausgerechnet durch Dennett, dem wohl größten Kritikers einer naiven
Idee von Bewusstein oder Psyche, entkräftet werden. Intentionalität braucht kein
Bewusstsein, sondern geht dem Bewusstsein voraus. Wir brauchen also nicht
Ameisen, Thermostaten, Viren und Antikörpern Bewusstsein zu unterstellen, um ihr
Verhalten zu rationalisieren. Allerdings bleibt Dennett selber einem Physikalismus
verhaftet, der es verhindert seinen "robots" die volle ontologische Würde zuteil werden
zu lassen. Dieser Physikalismus beruht auf einem Mechanismus, der zutiefst
immateriell ist, weil er sich einer platonischen Mathematik verdankt. Er setzt einen
Gottes-Standpunkt voraus, einen „View from Nowhere“. Einen Beobachter, der selbst
nicht materiell ist. Die Idee eines Beobachters, der das, was er beobachtet,
transzendiert, ist natürlich bereits in der gesamten "Stance"-Metaphorik enthalten
gewesen. Eine Einstellung ist immer eine Einstellung zu etwas. Dennett evoziert damit
den Gedanken eines letzten nicht-perspektivischen Gegenstandes, zu dem der
„stance“ eingenommen wird. Der Physiker beschreibt nach Dennett diese letzte,
beschreibungsunabhängige Schicht.
Es ist interessant, Dennett mit einem Philosophen zu vergleichen, dessen Nachfolger
Dennett in vielen Dingen ist, der jedoch gerade im Physikalismus eine diametral
entgegengesetzte Position einnimmt und damit die Möglichkeit eines Perspektivismus
ohne nicht-perspektivisches Objekt formuliert: Leibniz. Leibniz’ Monaden sind Dennetts
"robots", seine "crude intentional systems". Nach Leibniz besteht die Welt aus
Monaden. Jede Monade durchströmt ein kontinuierlicher Fluss aus Wünschen
(appetitus) und Überzeugungen (perception). Leibniz definiert die Monaden als
Programme, deren durch Wünsche getriebener Ablauf sie von einer Überzeugung zur
nächsten führt.115 Monaden sind intentionale Systeme, von Belief-Desire-Pairs
115
Leibniz, Monadologie, S.17, Paragraph 14 und 15.
68
Exkurs: Dennett und Leibniz
angetrieben. Leibniz schreibt wie Dennett Überzeugungen und Wünschen auch
unbewussten
Prozessen
zu.
Der
Leibnizianismus
ist
eine
Philosophie
des
Unbewussten, aber eines Unbewussten, das nicht ausgehend vom Ich gedacht wird.116
Das Ich wird bei Leibniz in tausend Larvensubjekte, Mikropersonen zerlegt. Leibniz ist
der Philosoph des unendlich Kleinen. Dennett greift Leibniz’ Monadenlehre auf, wenn
er das Phänomen des Bewusstseins von unbewussten, aber intentionalen Prozessen
her zu erklären versucht. Nach Leibniz ist jede Monade eine individuelle Perspektive.
Da die Grundelemente von Leibniz’ Universum Monaden sind, bricht Leibniz aus dem
Subjekt-Objekt Dualismus aus. Nach Leibniz besteht die Welt nur aus subjektiven,
perspektivischen Prozessen, letztlich aus Überzeugungen und Wünschen. Die Welt ist
also nicht etwas A-perspektivisches, auf das Subjekte Perspektiven ausbilden, sondern
die Welt besteht aus Perspektiven.
Die einzige Stelle, an der Dennett über Leibniz spricht, dreht sich um eine Verteidigung
des Adaptionismus, der heute von Stephen Gould angegriffen wird, und der im 17.
Jahrhundert dem Spott Voltaires ausgesetzt war.117 Dennett stellt fest, dass Biologie
(und nicht nur Biologie) nicht ohne adaptionistisches Denken auskommen kann. Der
Slogan der Adaptionisten lautet: "Was existiert, ist gut". Dieser Slogan wurde von
Leibniz durch seine These vorweggenommen, dass alles was existiert, einen Grund
hat. Bei Leibniz rechtfertigt sich diese Überzeugung aus der Ansicht, dass Gott die
Beste aller möglichen Welten geschaffen hat. Es gibt unendlich viele mögliche
Monaden, die nie realisiert werden. Denn sie implizieren eine Welt, die Gottes Kriterien
für die Beste aller Welten nicht genügt. Dennett glaubt natürlich nicht an einen
Schöpfer, er glaubt allerdings an "Mutter Natur". Die Ideen von Mutation und Selektion
implizieren ebenfalls die Idee, dass das, was existiert, besser ist als das, was nicht
existiert, oder besser: nicht mehr existiert. Anders als Leibniz’ Gott hat Mutter Natur
keine Voraussicht. Das Schlechtere muss sich ebenfalls realisieren, es unterliegt
jedoch in der Konkurrenz zu den ebenfalls realisierten Alternativen. Evolution ist so ein
einziger Test, der die Merkmale auswählt, die sich als vorteilhaft im Existenzkampf
erwiesen haben.
Anders als Dennetts „robots“ wirken Leibniz’ Monaden nicht kausal auf ihre Umwelt
ein, noch wirkt die Umwelt kausal auf sie ein. "Die Monade hat keine Fenster, durch die
116
Das Freudsche Unbewusste wäre eines, das wie ein Ich, eine Person konzipiert ist. Hier
wird der bewussten Person eine unbewusste Person entgegengesetzt. Freud konzipiert
das Unbewusste wie einen Gesprächspartner. Siehe Rorty, „Freud und die moralische
Reflexion“, in: Solidarität oder Objektivität?, S.38.
117
Dennett, Darwins gefährliche Idee, S.330ff.
69
Exkurs: Dennett und Leibniz
irgendetwas ein oder austreten könnte."118 Sie sind rein geistige Entitäten,
metaphysische Punkte. Man kann sie nicht in Raum und Zeit situieren, vielmehr sind
Raum und Zeit nur Erscheinungen, die sich aus den Wahrnehmungen der Monaden
ableiten.119 Monaden sind also nicht physikalisch beschreibbare Entitäten, denen
gegenüber eine intentionale Einstellung eingenommen wird. Das Physikalische wird
von Leibniz aus den Monaden aufgebaut. Es ist eine wohlbegründete Erscheinung,
nicht das Fundament der Wirklichkeit. Ein Stock ist beispielsweise ein Aggregat von
Monaden,
die
alle
nur
über
unbewusste
Wahrnehmungen
verfügen.
Diese
Wahrnehmungen ähneln sich jedoch, so dass sich ein Aggregat bilden kann, das sich
in Raum und Zeit verorten lässt. Verbindet sich dieses Aggregat mit einer anderen
Monade können diese Wahrnehmungen sogar bewusst werden. Sobald ein Blinder
den Stock gebrauchen lernt, beginnt er in der Spitze des Stocks seine Umwelt zu
fühlen.120 Er artikuliert die unbewussten Wahrnehmungen des Stocks, macht sie zu
bewussten Wahrnehmungen. Der Stock wird zu einem Organ des Blinden, einer
Prothese. Nach Leibniz hat jede Monade einen dunklen Grund, der aus unbewussten
und unklaren Wahrnehmungen besteht, nur ein kleiner Teil der Wahrnehmungen wird
bewusst. Leibniz unterscheidet deshalb zwischen unbewussten Perzeptionen und
bewussten Apperzeptionen.
Der dunkle Grund jeder Monade drückt eine ganze Welt aus. Jede Monade nimmt die
ganze Welt wahr, hat dunkel alle Wahrnehmungen, die in anderen Monaden klar und
deutlich werden. Jedoch nimmt jede Monade die Welt aus einer anderen Perspektive
wahr. Ihre Perspektive individuiert die Monade. Da die Welt nur in den Monaden
erscheint, gibt es keine nicht-perspektivische Weltbeschreibung. Jede Monade ist eine
Perspektive. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass die Welt nur aus
Perspektiven besteht, denn Leibniz’ Monaden sind die einfachsten Bestandteile der
Welt. Es gibt kein Ding, das nur wahrgenommen wird, ohne selbst wahrzunehmen.
Dennetts Materie als Reduktionsbasis kommt bei Leibniz nicht vor. Damit vermeidet
Leibniz auch das Bild einer an die nackte Materie herangetragenen normativen
Einstellung. Dennetts Deutung der Intentionalität als eines normativen Begriffs wird von
Leibniz geteilt, aber die Normativität ist eine der Welt selbst. Diese Welt ist die Beste
118
Leibniz, Monadologie, S. 13.
119
Leibniz denkt sich die Beziehung zwischen Monaden als eine topologische. Die
Entfernungen fallen nicht ins Gewicht, nur die Vernetzungsstruktur, ihr Ort in einem
Gefüge zählt. Man denke an die Vernetzung von Computern im Internet. Hier können
Computer benachbart sein, ohne dass sie räumlich benachbart sind.
120
Das Beispiel verdanke ich Michael Polanyi, Implizites Wissen, S.20f. Polanyi macht sich
in diesem Buch für den Begriff des unbewussten Wissens stark und kritisiert die
Bewusstseinsfixierung, die Fixierung auf das Explizite, der Aufklärungstradition.
70
Exkurs: Dennett und Leibniz
aller möglichen Welten. Dieser Satz ist für Leibniz nicht die Rationalisierung eines arationalen Kosmos, sondern die Explikation einer Vernunft der Welt selbst. Leibniz ist
ein metaphysischer Rationalist. Rationalität als subjektiver Anspruch, als eine Norm,
die ein Subjekt an die Welt heranträgt, dieser Gedanke ist ihm fremd. Erst Kant wird
die Subjektivierung der Rationalität zu seinem Programm machen und damit einen
Grundstein für den Subjektivismus der Moderne legen. Im nächsten Kapitel werde ich
versuchen zu zeigen, dass diese Subjektivierung der Rationalität eine Reaktion auf den
modernen Szientismus ist.
71
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
III. Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Die Subjektivierung des Geistes
Das war der Ruin der modernen
Philosophie. Sie hat auf komplexe Art
zwischen drei Extremen geschwankt. Da
sind die Dualisten, die Materie und Geist
als gleichbegründet anerkennen, und die
beiden Spielarten von Monisten: Jene, die
den Geist in die Materie verlegen, und
jene, die die Materie in den Geist verlegen.
Alfred North Whitehead
Um den Subjektivismus der Moderne zu verstehen muss an die Bedingungen erinnert
werden, die eine solche Konzeption erst verständlich machen. Die Kluft zwischen
Materie und Geist folgt aus einer philosophischen Interpretation der Ergebnisse der
modernen Naturwissenschaften. Diese geht einher mit einer Subjektivierung des
Denkens. Die Subjektivierung des Denkens ist die Kehrseite einer Objektivierung der
Natur. Wie Whitehead gezeigt hat, ist die Moderne durch die beiden komplementären
Bewegungen einer Entsubjektivierung der Natur und einer Denaturalisierung des
Subjekts gekennzeichnet.121 Diese Dichotomie führt zu einer Aufgabenteilung zwischen
Philosophie und Wissenschaft: "Nach dem Ausgang des siebzehnten Jahrhunderts
nahm sich die Wissenschaft der materialistischen Natur an, und
122
kümmerte sich um die denkenden Geister."
die Philosophie
Descartes setzte Geist und Materie als
zwei unabhängige Substanzen, deren Interaktion nur durch Gott sichergestellt werden
kann. Der Szientismus entsteht dann auf der Materie-Seite dieses Dualismus. Die
moderne Physik lässt sich mit John McDowell als Bereich der Gesetze im Gegensatz
zum logischen Raum der Gründe bezeichnen.123 In diesem Bereich wird die Welt ohne
Bezug auf Werte oder Ziele beschrieben. Auf der anderen Seite bleiben die Werte und
121
Whitehead, Abenteuer der Ideen. Die Darstellung der Philosophiegeschichte in diesem
Kapitel geht auf Whitehead zurück, obwohl ich sie über die französischen
Whiteheadianer wie Deleuze und Latour vermittelt bekommen habe.
122
Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S. 170. Es ist interessant, dass Whitehead
hinzufügt: "Dabei schließe ich Spinoza und Leibniz von diesen Behauptungen über den
Hauptstrom der modernen Philosophie aus, wie er sich von Descartes herleitet;..." S.
170.
123
McDowell, Geist und Natur, S.14f.
72
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Ziele, die nun aber nur Projektionen eines Subjekts auf die „nackte“ Materie sind. Das
Subjekt ist nicht in der Welt, sondern steht der Welt gegenüber. Nur der Teil seiner
Gedanken, welche die Welt an sich widerspiegeln, ist objektiv. Der Rest ist Ausdruck
von Wünschen und Phantasien. Die Welt enthält weder Emotionen noch Farben, sie ist
weder gut noch böse, sie hat keinerlei Wert. All dies ist nur eine Projektion von
Subjekten
oder
Gesellschaften.
Die
Unterscheidung
zwischen
primären
und
sekundären, intrinsischen und extrinsischen, aktualen und bloß dispositionalen
Eigenschaften ist Ausdruck dieser äquivoken Seinsauslegung.
Die Philosophie ist selbst das erste Opfer dieses szientistischen Objektivismus. Das
Grundthema der Philosophie ist der Logos, die Rationalität, der Sinn. Mit der
Objektivierung der Natur wird der Sinn aber aus der Welt vertrieben. Damit setzt eine
Kritik an der Metaphysik als bloß subjektiver Spekulation ein, die keiner empirischen
Begründung fähig ist. Diese Kritik ist in gewisser Weise berechtigt: Das Metaphysische
kann nicht in einer Natur begründet werden, wie sie von der Naturwissenschaft nach
Newton konzipiert wird. Die Frage ist jedoch, ob die Philosophie diese Voraussetzung
mitmachen sollte: Unterwirft sich die Philosophie der modernen Naturwissenschaft, gibt
sie sich selber auf. Sie ist dann gezwungen, sich selbst dem Raum des Scheins, des
bloß Sekundären, Subjektiven zuzuordnen.
Die für die kontinentale Philosophie entscheidende Rettung aus dieser Situation
brachte Kant. Kant dreht den Spieß um: Die moderne Naturwissenschaft muss um das
Subjekt kreisen. Kant behauptet, dass die Kategorien unserer Erkenntnis nicht im
Objekt, sondern im Subjekt ihre Rechtfertigung finden. Diese Wende wurde von den
Naturwissenschaftlern nie akzeptiert. Der Konstruktivismus ist ein philosophisches und
geisteswissenschaftliches Phänomen geblieben. Physiker begegnen dem Denken
Kants mit Abscheu. Obwohl Kant die Physik Newtons a priori fundiert, degradiert er sie
gleichzeitig, in dem er ihren Raum und ihre Zeit zu subjektiven Anschauungsformen
macht. Damit behält Kant den Subjekt-Objekt-Dualismus bei, vertauscht aber die
Wertigkeit. Für Kantianer wird die kopernikanische Wende zur Voraussetzung für die
Souveränität der Philosophie. Während Leibniz noch an einer Rationalität der Welt
festhält, kann Kant diese Art von Philosophie als dogmatische Metaphysik kritisieren.
Dagegen setzt er seine subjektive Metaphysik, die jedoch Bedingung aller Objektivität
ist. Damit begründet Kant den modernen Versuch, die Rationalität der Welt vom
Subjekt her, d.h. aus sich selbst heraus zu begründen. Es ist der Begründer des
subjektiven Konstruktivismus.
73
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Kant über das „Ich denke“ als Bedingung der Gegenstandserkenntnis
Ich... fange an, die ungeheure suggestive
Wirkung zu begreifen, die von diesem Kerl
ausgegangen ist. Wenn man ihm nur die
Existenz synthetischer Urteile a priori
zugibt, ist man schon gefangen.
Einstein über Kant
Kant reagiert auf den Szientismus einerseits, den Dualismus Descartes’ andererseits,
in dem er eine Desubstantialisierung des Geistes vorschlägt. Statt aus dem Geist eine
Substanz zu machen, erklärt Kant den Geist zu einem Vermögen Regeln zu folgen.124
Diese Regeln können jedoch nicht aus dem empirischen Bereich der Wissenschaften
begründet werden. Sie sind a priori. Sie haben ihren Rechtsgrund nicht in der
Erfahrung. Erfahrung setzt sie immer schon voraus. Kant entdeckt der Raum des
Transzendentalen. Das Transzendentale ist Bedingung der Möglichkeit empirischer
Erkenntnis.
Erkennen
heißt
für
Kant
urteilen.
Urteile
sind,
wenn
sie
erkenntniserweiternd sind, synthetisch. Sie bringen das Vielfältige, das empirisch
unmittelbar Gegebene, unter einen Begriff. Erst der transzendentale Verstand sichert
die Objektivität als Herstellung des Gemeinsinns: was ich höre, ist dasselbe wie das,
was ich sehe; was du hörst, ist auch das, was ich höre; was ich morgens sehe, ist
dasselbe wie das, was ich abends sehe. Ebenso sichert erst er die geteilte Referenz
verschiedener Gegebenheitsweisen, den Glauben, dass immer dasselbe erkannt wird.
Die Aufrichtung der Gegenständlichkeit verdankt sich der synthetisierenden Leistungen
des transzendentalen Subjekts. Kein Objekt ohne ein Ich denke. „No entity without
subjectivity“, so Kants Slogan.
Nehmen wir als ein Beispiel die Umquerung eines Hauses. Die empirische
Mannigfaltigkeit wird durch die Einbildungskraft zu einer Vorstellung synthetisiert, die
beispielweise Empfindungen reproduziert, wenn sie schon vergangen sind. Wenn ich
ein Haus umquere, werden die verschiedenen Seiten an bestimmten Raum- und
Zeitstellen (Formen der reinen Anschauung) durch die Einbildungskraft reproduziert, so
dass in mir ein Gesamtbild entsteht, das ich jedoch nie in einem einzelnen Moment
sehen kann. Die Rückseite des Hauses ist nur dank der Einbildungskraft präsent. Die
Einbildungskraft reicht jedoch nicht aus. All die empirischen Eindrücke und ihre
124
Diese Kant-Darstellung verdankt sich sowohl Deleuzes Kants kritische Philosophie als
auch Robert Brandoms Kant-Darstellung in Making it explicit. Beide betonen den
Normativismus Kants. Der Geist wird zu einem normativen Phänomen, ein Vermögen
nach Regeln.
74
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Reproduktion an reinen Raum- und Zeitstellen, also das rezeptive Vermögen der
Sinnlichkeit und das aktive Vermögen der Einbildungskraft reichen nicht aus, um die
Einheit dieser Momente herzustellen. Diese Einheit verdankt sich dem Verstand. Der
Verstand synthetisiert die empirischen Momente zu einer Vorstellung. "Dies ist ein
Haus. Dies ist seine Vorderseite, jenes war seine Rückseite, alle Seiten bilden eine
Einheit.“ Die verschiedenen empirischen Momente kreisen um eine Einheit, die sich
der Synthese des Verstandes, dem Ich denke, verdankt. Würde „ich“ meine Identität
ändern, während ich das Haus umkreise, würde sich keine einheitliche Vorstellung
ergeben. Das „Ich denke“ sichert erst die Einheit der Vorstellung und somit die Einheit,
die im Begriff des Hauses steckt, seine Gegenständlichkeit oder Substantialität. Die
aristotelische Kategorie der Substanz wird von Kant auf subjektiver Basis aktualisiert.
Kant
denkt
damit
das
Substanzielle
vom
Subjekt
her.
Erfahrung
von
Gegenständlichkeit ist nur möglich, wenn man ein mit sich identisches Subjekt setzt.
Mit der Wende zur Sprachphilosophie, die das Phänomen der Sprache und der
Verständigung in den Mittelpunkt philosophischen Interesses gerückt hat, ist Kants
Subjekt-Objekt-Modell unter Kritik geraten. Diese Kritik kann jedoch prinzipiell an Kants
Erkenntniskonzeption festhalten, sie muss nur Kants Modell um die Figur des Anderen
erweitern. Mit Wittgenstein muss sie sagen, dass die prinzipielle Fehlbarkeit einer
Erfahrung, was ich denke, kann sich als falsch herausstellen, die Möglichkeit eines
anderen Ichs impliziert, das eine zu meiner Erfahrung sich kontradiktorisch verhaltene
Erfahrung macht. Das „Ich denke“ muss von einem „Du denkst“ begleitet sein. Die
virtuelle Anwesenheit dieses Anderen erklärt die Verständlichkeit des Gedankens, dass
das, was ich für wahr halte, vielleicht nicht wahr ist und ist somit die Bedingung der
Möglichkeit für Irrtümer.125 Objektivität wäre dann nicht mehr in einer transzendentalen
Subjektivität, sondern in einer transzendentalen Intersubjektivität gegründet. „No entity
without Intersubjectivity.”126 Das Transzendentale bleibt jedoch, wie immer man es
bestimmt, dasjenige, welches der möglichen Erfahrung das Gesetz gibt. Es bestimmt
nicht die wirkliche Erfahrung, sondern regelt die Form jeder möglichen Erfahrung. Kant
kann die Notwendigkeit und Ewigkeit der klassischen Metaphysik retten, indem er sie
nicht als ontologische Erkenntnis, sondern als Setzung des transzendentalen Subjekts
rekonstruiert. Er begründet damit den subjektiven Konstruktivismus. Die Kategorien der
125
Diese Position geht auf Wittgensteins Privatsprachenargument zurück und findet sich als
zentraler Gedanke in den Wahrheitstheorien von Donald Davidson und Robert Brandom.
Siehe Davidson "Denken und Reden", in: Davidson, Wahrheit und Interpretation, S.224,
sowie Brandom, Making it explicit, der sich auf Davidson beruft. Wie Brandom weiter
ausführt, kann man zentrale Gedanken des Kantianismus mit Wittgenstein vereinbaren.
126
Diese scheint mir der entscheidende Unterschied zwischen Kant und den modernen NeoKantianern wie Habermas oder Brandom zu sein.
75
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Ontologie werden zu Kategorien des Verstandes als eines konstitutiven Vermögens
der Subjektivität.
Hegels Kantkritik
Kants Antwort auf die Herausforderung einer objektivierten Natur kann auf zwei
Weisen bewertet werden. Einerseits segnet Kant den modernen Dualismus zwischen
entzauberter Natur und subjektivierten Werten ab. Andererseits blockiert Kant die
Möglichkeit einer Reduktion des Subjekts auf die objektivierte Natur, indem er die
Natur zur Erscheinung erklärt. Die Natur ist konstitutiv auf ein Subjekt bezogen, für das
sie ist. Ihr „An sich“ bleibt der empirischen Erkenntnis entzogen. Entsprechend gibt es
zwei konträre Kritiken des Kantianismus, die beide den Begriff des „Ding an sich“ zum
Ausgangspunkt haben. Beide wollen die Unerkennbarkeit des „Ding an sich“ nicht
akzeptieren und lösen es entweder zur Subjekt- oder Objektseite hin auf. (Siehe
Abbildung 1) Daraus ergeben sich eine idealistische und eine realistisch-szientistische
Reaktion auf Kant.
Die idealistische Kritik der Postkantianer, wie sie von Hegel auf die Spitze getrieben
wird, setzt das Ding an sich dem Subjekt gleich. Hegel kritisiert Kants Lehre vom Ding
an sich und entwirft eine Kritik der Kritik, die es ermöglichen soll, den klassischen
Anspruch der Philosophie als Ontologie unter modernen Bedingungen wieder
aufzunehmen.
Hegel
entwickelt
folgende
Idee.127
Das
ganze
Projekt
einer
Erkenntniskritik ist sinnlos, da es immer schon in Anspruch nimmt, was es doch einer
Prüfung unterziehen möchte: Erkenntnis, und sei es auch nur die Erkenntnis unserer
Erkenntnismittel. Das Wahre muss als das Absolute verstanden werden, denn eine
Spaltung der Wahrheit in Wahrheit bloß für uns und Wahrheit der Dinge, wie sie an
sich sind, führt zu der Schwierigkeit, dass man die Erkenntnis einschränkt mit Bezug
auf etwas, von dem man erklärtermaßen gar nichts wissen kann. Die Setzung dieser
Unbekannten ist für Hegel eine unverständliche Ängstlichkeit vor der Wahrheit. Damit
kehrt Hegel aber nicht einfach zu einem ontologischen Denken zurück, das die Welt als
völlig unabhängig von unserem Denken begreifen würde. Im Gegenteil, der Gegensatz
von Denken und Sein selbst wird von Hegel aufgehoben. Die Welt entpuppt sich als
Geist. Der Gegensatz von Geist und Welt ist eine immanente Eigenschaft des Geistes,
verstanden als ein Selbstverhältnis, das über eine Reflexion im Anderen zu sich selbst
kommt. Erkenntnis wird als Selbsterkenntnis gedacht. In ein sprachphilosophisches
127
Hegel, Vorwort zur Phänomenologie des Geistes.
76
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Paradigma übertragen, heißt dies, dass ein Satz nicht einfach etwas ihm wesentlich
Fremdes repräsentiert, einen Fakt oder eine Tatsache, deren Bestehen vom Satz, der
sie repräsentiert, unabhängig ist, sondern dass ein wahrer Satz mit dem, was man Fakt
oder Tatsache nennt, identisch ist.128 Die Welt, verstanden als Gesamtheit der
Tatsachen, ist nichts anderes als ein Ganzes aus wahren Sätzen. Die Erkennbarkeit
der Welt wird nach einem solchen sprachphilosophisch gewendeten Hegel durch ihre
Satzförmigkeit gewährleistet. Was erkannt wird und das Medium der Erkenntnis sind
eins. Das Medium tritt nicht zwischen Erkennenden und Erkanntes und verzerrt somit
das zu Erkennende, sondern es ist die Erkenntnis. Statt vom Medium spricht Hegel von
Vermittlung, jede Unmittelbarkeit, jeden wie auch immer ausgeführten Mythos des
Gegebenen, lehnt er ab. Ontologisch wirklich ist nur, was sich letztlich als Subjekt und
damit als ein über ein Außen vermitteltes Inneres enthüllt.
Dieses Projekt findet heute eine Wiederaufnahme von unerwarteter Seite. Die Kritik am
logischen Empirismus wie sie von Quine oder Sellars formuliert wurde, wird heute
offensiv von Brandom und McDowell als hegelianisch gedeutet und weitergetrieben.
Vor allem McDowell reaktualisiert Hegels Begriffsabsolutismus und dessen Kritik an
jeder Art von Unmittelbarkeit, an allem Denken, das sich der Vermittlung durch den
Begriff entziehen will.129
128
Eine solche Redundanztheorie der Tatsachen, Tatschen sind nichts weiter als wahre
Sätze, wird von Davidson und Brandom vertreten. Siehe Davidson, „Getreu den
Tatsachen", in: Wahrheit und Interpretation, S.68ff. und Brandom, Making it explicit.
129
McDowell, Geist und Welt, siehe das Kapitel “Die Ungebundenheit des Begrifflichen”,
S.49.
77
Abb.1: Who is Who der neuzeitlichen Philosophie
Dualisten
ontologischer Dualismus
Idealisten
Deontologen
Realisten
„Animisten“
reduktionistischer
Monismus:
Verabsolutierung der res
cogitans
Deontologisierung des
Geistes: Dualismus von Sein
und Sollen
reduktionistischer Monismus:
Verabsolutierung
der res extensa
Nicht-reduktionistischer
ontologischer Monismus
Descartes
Spinoza
Berkeley
Locke, Boyle
Leibniz
Kant
Hegel
Darwin
Britische Neo-Hegelianer
Nietzsche
Bergson
James
Whitehead
Dewey
Sellars, Wittgenstein
Behavioristen: Skinner, Quine
Popper/Eccles
McDowell
Habermas
Neo-Darwinianer
Dawkins, Deleuze/Guattari
Theologen
Brandom
Dennett
Serres Latour
Esoterik
Das Schaubild versucht die beiden Reaktionen auf Kant: reduktionistischer Monimus des Geistes (Spalte 2) versus reduktionistischer Monismus der Materie
(Spalte 4) samt der Kant’schen Ausgangsposition (Spalte 3) zu verzeichnen. Ganz links Descartes Position, die jedoch von fast allen Philosophen nur als
Problem, nicht als tragbare Lösung wahrgenommen wird. Dementsprechend wird ein Descartscher Dualismus nur von Nicht-Philosophen vertreten. Ganz
rechts (Spalte 5) die Helden dieser Arbeit.
78
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Die linke und die rechte Hand der Wissenschaft
Die andere, realistisch-szientistische Kritik am Kant’schen „Ding an sich“ versucht das
„Ding an sich“ der Objektseite zuzuschlagen. Der Szientist lehnt die kopernikanische
Wende Kants ab. Statt sie mit Hegel noch weiter zu treiben, versucht er die Kant’sche
Unterscheidung in Erscheinung und „Ding an sich“ als den Unterschied zwischen
sekundären und primären Eigenschaften zu deuten. Das „Ding an sich“ kann sehr wohl
erkannt werden. Es ist schlicht die Welt, wie sie die moderne Naturwissenschaft
beschreibt.130 Die Wissenschaft beschreibt die Welt, wie sie wirklich, unabhängig von
jeder subjektiven Perspektive ist. Das Subjekt ist dagegen der Ort von Erscheinungen,
d.h. von sekundären Qualitäten wie Farben, Gerüchen, Mode und Moral. Über primäre
Qualitäten kann man sich sogar mit schlecht gekleideten, asexuellen Außerirdischen
unterhalten, denn sekundäre Eigenschaften wie Schönheit oder Geilheit sind keine
Eigenschaften der Welt, wie sie primär ist.131
Kants kopernikanische Wende ist also für den Szientisten nicht akzeptabel. Für ihn
stellt Kant die Welt auf den Kopf. Der Szientist ist überzeugter Antikonstruktivist. Dass
das Subjekt der Welt ihre Gesetze gibt, ist ihm vollkommen unverständlich, wie das
obige Einstein-Zitat deutlich macht. Da Kant jedoch die Welt, wie sie erscheint, nach
Newton denkt, nimmt er eine zwiespältige Position ein. Kant versucht die moderne
Naturwissenschaft zu fundieren. Dies schmeichelt dem Szientisten. Andererseits ist die
Vorstellung, dass die Wissenschaft einer philosophischen Fundierung bedarf, eine
Degradierung der Wissenschaft im Verhältnis zur Philosophie. Ein Szientist wird daher
zu einer Naturalisierung Kants aufrufen. Auch das transzendentale Subjekt kann
naturwissenschaftlich erklärt werden. Eine Form dieses Naturalismus ist die
evolutionäre
Erkenntnistheorie,
die
das
Kant’sche
a
priori
als
genetische
Grundausstattung des Menschen deutet. Ein anderer Anhänger einer naturalistisierten
Erkenntnistheorie wäre beispielsweise Quine.132 Die Wissenschaft klärt uns über ihre
eigenen Bedingungen auf. Sie braucht dafür keine als Super-Wissenschaft
verstandene Philosophie.
130
Dies ist die Position von Wilfrid Sellars in "Phenomenalism", S. 97. Siehe auch Jasper
Liptow, The Scientific and the Manifest Image of Wilfrid Sellars, unv. Manuskript.
131
Die Außerirdischen sind eine immer wiederkehrende Phantasie szientistischer
Philosophen. Sie sind ein Symbol für die Unabhängigkeit der Naturwissenschaften von
jeder bloß historischen Kultur.
132
Siehe Quine, "Naturalisierte Erkenntnistheorie", in: Ontologische Relativität, S.97.
79
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Eine zweite Front der Naturalisierung wird von Geisteswissenschaftlern, Soziologen,
Historikern, Psychoanalytikern etc. aufgemacht. Nach ihnen wird das Kant’sche a priori
zu einer Weltauslegung unter anderen. Erkenntnis wird zwar mit Kant als subjektive
Konstruktion
verstanden,
aber
das
Subjekt
dieser
Konstruktion
ist
kein
transzendentales. Diese Naturalisierung sollte man aber besser eine Kulturalisierung
nennen, um sie klar von der Naturalisierung durch die harten Wissenschaften zu
trennen. Beide teilen jedoch die Detranszendentalisierung Kants und beide verstehen
sich als Wissenschaft. Naturalistische und kulturalistische Ansätze sind daher im
Gegensatz zur Hegelschen Kantkritik immer philosophiefeindlich. Für Naturalisierer
und Kulturalisierer bedarf es keiner Philosophie, die Welt ist mit Hilfe der
Wissenschaften vollständig erklärbar. Ähnlich wie Mythos und Religion ist die
Philosophie für sie der Versuch mit inadäquaten Mitteln das zu tun, was die
Wissenschaft endlich auf die einzig korrekte Weise betreibt. Ein Beispiel für eine
solche sich szientistisch verstehende Kulturalisierung ist die Philosophiekritik des
Soziologen Pierre Bourdieu, die ich unten genauer darstelle.
Diese zwei Fronten der Kulturalisierung und Naturalisierung, die linke und die rechte
Hand der Wissenschaft, sind also beide Formen des Szientismus. Sie sind allerdings
nur solange Alliierte im Kampf gegen die Philosophie, solange das Feld der
Wissenschaft in Ost und West, Kultur und Natur aufgeteilt und die Überlegenheit des
Westens
insgeheim
akzeptiert
wird.
Kultur
ist
eigentlich
auch
nur
Natur.
Kulturwissenschaften supervenieren auf Naturwissenschaften. Wird diese Aufteilung
von den weichen Wissenschaften nicht mehr respektiert, kommt es zum Krieg der
Wissenschaften. In diesem Augenblick versuchen Soziologen nicht nur Philosophie,
Mode und Moral zu soziologisieren, sondern auch die harten Wissenschaften der
Natur, allen voran die Physik. Am Beispiel der Wissenssoziologie kann dieses Problem
illustriert werden.
Die unmögliche Wissenssoziologie
Die klassische Wissenssoziologie, wie sie von Karl Mannheim repräsentiert wird,
behauptet die soziale Standortgebundenheit allen Wissens.133 Was gewusst wird, also
133
Für einen Überblick über die Debatte siehe: Meja/Stehr (Hg.), Der Streit um die
Wissenssoziologie.
80
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
mit Gründen für wahr gehalten wird, variiert mit sozialen Faktoren. Der Versuch einer
sozialen Erklärung für bestimmte Wissensformen ist von Soziologen und Historikern
nie wieder aufgegeben worden, obwohl die Kritik des Relativismus speziell von Seiten
der Philosophie von Anbeginn vernichtend war. Eine solche These, so lautete der
Haupteinwand, überstehe nicht die Probe der Selbstanwendung und verwickele sich
daher in Paradoxien. Wie erklären sich also die hartnäckige Ablehnung sowie die
gleichzeitige Beliebtheit der Wissenssoziologie? Ich denke, die Vorherrschaft des
modernen Szientismus liefert die Erklärung für sowohl die Ablehnung als auch die
Nachfrage nach einer Relativierung des Wissens. Die moderne Naturwissenschaft mit
ihrem Anspruch universales Wissen gerade dadurch zu gewinnen, dass sie auf alles
Subjektive, alle Werte, jegliche Rationalität in ihrem Objektbereich verzichtet,
hinterlässt eben diese Dinge als Abfallprodukt für die Kulturwissenschaften. Die
Relativierung des Kulturellen ist zwingend notwendig, gerade wenn man die
Naturwissenschaften als objektiv feiern will. Natur ist wirklich da draußen, Kultur
dagegen nur in deinem Kopf. Es ist gerade die spezifisch moderne Vorstellung von
Objektivität, welche die Relativierung auf den Plan ruft.
Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Ein Beispiel für das Genre der
Wissenssoziologie ist die Ideologiekritik. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie von
der Zuschreibung massiven Irrtums lebt. Habermas bringt den Ideologiebegriff auf die
treffende Formulierung von systematisch verzerrter Kommunikation.134 Eine bloße
Verzerrung entspricht dem, was man lokale Irrtümer nennen könnte, systematische
Verzerrung meint dagegen massiven Irrtum, der sich in einem regelmäßigen
Abweichen von Rationalitätsstandards manifestiert.
Habermas argumentiert in Auseinandersetzung mit Gadamer dafür, dass nur mit einem
solchen Begriff die Traditionskritik der Aufklärung und damit der moderne Anspruch auf
Selbstbegründung statt Unterwerfung unter eine Überlieferung gerettet werden kann.135
Gleichzeitig warnt er aber vor einer Radikalisierung der Ideologiekritik, mit der diese
sich in die Paradoxien der Selbstanwendung stürzen würde.136 Damit bestätigt er das
Dilemma, das ich als Unmöglichkeit der Wissenssoziologie unter modernen Prämissen
beschreiben möchte.
Danach wird die Wissenssoziologie einerseits dringend gebraucht, um den Anspruch
auf Wissen der Tradition im Verhältnis zur aufgeklärten Moderne, des Mannes auf der
134
Habermas, „Der Universalitätsanspruch
Sozialwissenschaften, S. 356ff.
der
Hermeneutik“,
in:
Zur
Logik
der
135
Habermas, „Der Universalitätsanspruch
Sozialwissenschaften, S. 359f.
der
Hermeneutik“,
in:
Zur
Logik
der
136
Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S.144.
81
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Straße im Gegensatz zum aufgeklärten Experten etc. zu relativieren. Sie ist zuständig
für das weiche Wissen, das nur unter der subjektiven Sonne des Kulturellen glänzt.
Daher ist die Wissenssoziologie solange akzeptabel, wie sie sich an Mode, Moral und
Mythen hält. Sie wird unerträglich, wenn sie sich den harten Tatsachen zuwendet und
behauptet, die Erkenntnisse der Physik, Chemie oder Medizin seien ebenfalls sozial
konstruiert. Kurzum, sie darf nicht möglich sein bei den Gegenständen, an die
Aufklärer oder Wissenschaftler selber glauben.137
Dieses Verbot haben die Wissenssoziologen der Edinburgher School als erste
hartnäckig überschritten. So formuliert David Bloor die Parole, wissenschaftliche
Wahrheiten ebenso zu erklären wie wissenschaftliche Irrtümer.138 Während die
traditionelle Soziologie der harten Wissenschaften lediglich Irrtümer aus sozialen
Faktoren erklären durfte und die Wahrheiten den Fakten überließ, behauptet Bloor eine
Symmetrie zwischen Wahrheit und Irrtum. Auch die Wahrheit ist aus sozialen Faktoren
erklärbar. Bloor will die sozialen Verfahren und Praktiken aufzeigen, die zur Produktion
von Wissen führen und damit den Mythos der ewigen, universalen Wahrheit
bekämpfen. H.M. Collins drückt dies so aus:
„Dieses Buch zeigt wie Schiffe in Flaschen kommen und wie sie wieder
herauskommen. Die Schiffe sind das Wissen und die Flaschen die Wahrheit.
Wissen ist wie ein Schiff, weil es, wenn es einmal in der Flasche der Wahrheit ist,
aussieht, als ob es immer dort gewesen sein muss und niemals wieder heraus
kann.“139
Die empirischen Untersuchungen der Edinburgh School konzentrieren sich unter
anderem auf die Beilegung wissenschaftlicher Kontroversen. Dabei lautet ein Prinzip,
dass die Natur selbst keine Rolle spielt bei der Erklärung der Urteile, die über sie
produziert werden. Dies lässt sich unter Berufung auf Sellars als Reformulierung der
These, dass wir zur Natur keine Rechtfertigungsbeziehungen unterhalten, deuten.
Ähnlich wie es in der Ideologiekritik üblich war zur Erklärung von Irrtümern,
Irrationalitäten oder Inkohärenzen psychologische oder soziale Erklärungen zu geben,
so versuchen Bloor und seine Mitstreiter, auch die als Wissen deklarierten Produkte
der Wissenschaft durch soziale Ursachen zu erklären. Die Gesellschaft blockiert nicht
137
Habermas ist natürlich kein Szientist, sondern versucht den Kantianismus zu
aktualisieren. Er glaubt daher zwar nicht an Moden und Mythen, aber an Moral, wenn sie
vom Begriff des Guten oder Nützlichen streng gereinigt und zu einem formalen Verfahren
wird.
138
Bloor, Knowledge and Social Imagery.
139
Collins, Changing Order, S.VII.
82
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
mehr nur den Gang der Erkenntnis, sondern sie wird jetzt zur erklärenden Kraft. Unter
Anwendung der Philosophie Wittgensteins versucht Bloor die Unterdeterminiertheit der
wissenschaftlichen Schlussregeln bei Anwendung auf neue Fälle zu belegen. Diese als
„finitism“ bekannte Position besagt, dass wir Begriffe immer nur durch eine Reihe
endlicher Anwendungen lernen. Jede neue Anwendung des Begriffs ist durch die
bisherigen unterdeterminiert.140
In der Philosophie ist diese Position durch Kripkes Wittgenstein-Interpretation
bekannt.141 Kripke fragt sich, wie überhaupt noch Begriffszuschreibungen zu
rechtfertigen sind, wenn wir, aufgrund Wittgensteinscher Argumente, den Glauben
aufgeben, dass es äußere (Verhaltensbelege) oder innere Tatsachen (psychische
Zustände) gibt, die determinieren, was als Anwendung desselben Begriffs gelten soll.
Kripkes Lösung besteht in der Auszeichnung der Gemeinschaft als normativer Instanz.
Von
einem
isoliert
betrachteten
Individuum,
sei
es
aus
der
Innen-
oder
Außenperspektive, lässt sich nicht sagen, wie es in seinen Begriffsanwendungen
fortzufahren hat. Wie immer es fortfährt, seine Urteile können immer als Anwendung
desselben Begriffs gedeutet werden. Erst wenn die Gemeinschaft mit ins Bild
genommen wird, macht es Sinn, bestimmte Urteile als richtig oder falsch zu
klassifizieren. Das heißt nicht, dass die Gemeinschaft darüber entscheidet, was richtig
oder falsch ist, sondern vielmehr, dass nur vor dem Hintergrund der Differenz
Individuum -Gemeinschaft die Rede von richtig und falsch ihren Sinn bekommt. Ein
Einzelner kann gegenüber der Gemeinschaft Recht behalten, aber nur weil er durch
eben diese Gemeinschaft zu einem solchen Verhalten autorisiert wurde.
Bloor interpretiert die Rolle der Gemeinschaft, für seine Zwecke die Gemeinschaft von
Wissenschaftlern, auf dieselbe Weise. Nichts in der Natur bestimmt die Anwendung
eines Begriffs. Ob Gegenstände oder Ereignisse unter denselben Begriff fallen, wird
durch die Gemeinschaft und ihre begriffliche Praxis bestimmt. Was als ähnlich oder
unterschiedlich klassifiziert wird, was als gutes oder schlechtes Experiment gilt, ja
selbst die raumzeitliche Kontinuität eines Gegenstandes, d.h. ab wann ein Gegenstand
beginnt oder aufhört zu existieren, wird durch die begriffliche Praxis bestimmt, die
wiederum von den Interessen der beteiligten Forscher und letztlich durch
wissenschaftsexterne gesellschaftliche Interessen determiniert wird. Vor allem H.M
Collins betont die Notwendigkeit wissenschaftsexterner Ursachen bei der Schließung
wissenschaftlicher Kontroversen.
140
Barnes, Bloor und Henry, Scientific Knowledge, S.53ff.
141
Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache.
83
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Knapp dargestellt entwerfen die Wissenssoziologen folgendes Bild: das empirisch
Gegebene spielt keine rechtfertigende Rolle im Forschungsprozess. Es kann auf
plurale Weise begrifflich konzeptualisiert werden. Welche Konzeptualisierungen in
Frage kommen, hängt von der Forschungstradition ab, in der die Wissenschaftler
eingebunden
sind.
Kommt
es
innerhalb
einer
Forschungsgemeinschaft
zu
unentscheidbaren Alternativen, greift schließlich die Gesellschaft in den Streit ein und
politische, technologische oder ökonomische Interessen entscheiden, welche Seite als
Sieger einer Debatte hervorgeht. Das Wissen der harten Wissenschaften ist letztlich
ein ebenso kulturrelatives Produkt, wie es Modernisten immer von ästhetischem oder
moralischem Wissen behauptet haben. Die Wissenssoziologen drehen den Spieß um.
Wirklich hart sind nicht mehr Gravitationswellen oder Bakterien, sondern die
gesellschaftlichen Interessen. Nicht mehr der Zeiger eines Messinstruments gibt den
Ausschlag in der Frage, ob ein Urteil wahr oder falsch ist, sondern das Aufstocken oder
Kürzen von Forschungsetats.
Der Krieg der Wissenschaften
Die soziologische Beschreibung der harten Wissenschaften hat zu einer erbitterten
Auseinandersetzung zwischen Realisten und Sozialkonstruktivisten geführt. Wenn die
oben gegebene Einteilung etwas taugt, ist der Kampf zwischen Realisten und
Sozialkonstruktivisten ein Kampf innerhalb des szientistischen Lagers. Die linke Hand
der Wissenschaft greift die Vormachtstellung der rechten Hand an, versucht die
Naturalisierer zu kulturalisieren.142 Dies kann sich die rechte Hand nicht gefallen
lassen. Sie wittert, nicht zu Unrecht, eine Schwächung der wissenschaftlichen
Autorität, wenn die Dominanz der Naturwissenschaften von den Kulturwissenschaften
in Frage gestellt wird. Der Kulturwissenschaftler sägt am Ast, auf dem er selber sitzt.
Ich werde an zwei Beispielen, dem Physiker Alan Sokal und dem Soziologen Pierre
Bourdieu,
die
Hilflosigkeit
beider
Seiten
schildern,
diesem
Problem
eine
wissenschaftliche Lösung zu geben. Weder der Physiker noch der Soziologe kann den
Anspruch auf Objektivität und Unparteilichkeit, auf den er sich beruft, plausibel
machen. Zunächst zu rechten Hand der Wissenschaft.
In seinem Buch Eleganter Unsinn wirft Sokal einer ganzen Reihe von Philosophen und
Soziologen vor, die Autorität der Wissenschaft zu untergraben, sei es, indem sie
142
An Versuchen die Kultur zu naturalisieren, war seit der Etablierung der modernen
Wissenschaft kein Mangel. Das Projekt einer Einheitswissenschaft, der es gelingt alle
Wissenschaften auf die Physik zu reduzieren, ist ein Beispiel für eine solches Vorhaben.
84
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Missbrauch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen treiben, sei es, dass sie einen
allgemeinen Relativismus predigen.143 Sokal kritisiert im Besonderen den Relativismus
der Soziologie und Philosophie der Wissenschaften von Kuhn, Feyerabend über die
Edinburgh School bis hin zu Deleuze/Guattari und Latour.144 Sokals Argumente sind
deshalb interessant, weil sie die Position des physikalistischen Szientisten deutlich
zum Ausdruck bringen. Er steht exemplarisch für die Haltung der rechten Hand der
Wissenschaft,
welche
die
Ergebnisse
der
modernen
Wissenschaft
für
eine
Beschreibung der Welt, wie sie an sich ist, nimmt. Damit steht er dem Kantianismus
ebenso wie einem universalen Soziologismus oder Historismus entgegen, wie er sich
durch die "Kulturalisierung" des kantischen Konstruktivismus ergeben hat.
Sokal verwendet ein Set von Unterscheidungen, von denen er glaubt, dass sie
selbstverständlich sind: Die Unterscheidung von Fakten und Werten, Dingen da
draußen und unseren Vorstellungen von den Dingen, die Unterscheidung von
Begründung und bloßer Rhetorik, buchstäblicher Bedeutung und Metaphorizität, diese
Dualismen sind für Sokal Commonsense. Die Wissenschaft baut auf diesem
Commonsense auf. Ebenso die Philosophie, die nach Sokal Teil der Wissenschaft ist.
Sie entwickelt wie der Alltagsverstand und die Wissenschaft Überzeugungen, die
entweder wahr oder falsch sind. Der Unsinns-Effekt, den Sokal zu erzeugen versucht,
ergibt sich vor allem aus dem Versuch, philosophische Texte wie wissenschaftliche zu
lesen. Sokal ist so etwas wie ein szientistischer Dekonstruktivist der Philosophie. Statt
einer literarischen Lektüre, schlägt er eine wissenschaftliche vor. Nach Sokal besteht
143
Das eigentliche Thema des Buches ist es jedoch, Unsinn in den Texten „postmoderner“,
französischer Denker nachzuweisen. Die Textpassagen, in denen Sokal Unsinn zu
entdecken glaubt, sind zum aller größten Teil vollkommen unabhängig von dem Thema
der Wahrheit, des Relativismus und der Objektivität. Sie beziehen sich auf die Versuche
"postmoderner" Philosophen mathematische und physikalische Begriffe in anderen
Kontexten zu verwenden. Es ist nicht klar, wie Sokal den Erfolg solcher Versuche
beurteilen kann, wenn er die Probleme, die die Autoren traktieren, überhaupt nicht
diskutiert. Sokal berichtet z.B. von einem Physikstudenten, der den Gebrauch
mathematischer Begriffe in Differenz und Wiederholung nicht versteht. Sokal bemerkt,
dass es vielleicht gar nichts zu verstehen gibt. Aber Differenz und Wiederholung ist vor
allem ein Philosophiebuch, das tatsächlich nicht verständlich ist, wenn man sich weder
mit Plato noch mit Leibniz noch mit Hegel, Hume oder Kant beschäftigt hat. Es ist absurd
zu glauben, ein Mathematiker könne dieses Buch oder auch nur bestimmte Absätze
allein aufgrund seiner mathematischen Ausbildung verstehen. Weite Teile von Sokals
Buch verdanken sich ungefähr folgender Operation: Man liest ein Gedicht, sagen wir von
Celan, und empört sich: „Milch ist aber nicht schwarz.“ Celan versündige sich an der
Milchwirtschaft. „Wenn die Leute das glauben, kauft keiner mehr Milch.“
Sokals Buch ist jedoch auch aus einer anti-elitären Grundhaltung motiviert, die man
verteidigen sollte. Siehe den Exkurs "Ist die Philosophie elitär?".
144
Sokal, Bricmont, Eleganter Unsinn, S.68ff.
85
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
die Welt aus Fakten, die vollkommen unabhängig von unserer Erkenntnis sind.
Ontologie und Epistemologie müssen strikt getrennt werden. Schon ein Kantianer
könnte dieser Position nicht zustimmen. Die Setzung von Kausalität ist nach Kant eine
transzendentale
Konstitutionsleistung.
Kausalzusammenhang
zu
postulieren,
Es
der
macht
völlig
keinen
ohne
Bezug
Sinn
einen
auf
unsere
Erkenntnisfähigkeit ist. Der empirische Realismus basiert auf einem transzendentalen
Idealismus. Es ist bezeichnend, dass für Sokal, wenn er sich auf Philosophen beruft,
weder Kant, Hegel, Nietzsche, Bergson, Heidegger oder Habermas eine Rolle spielen.
Es sind Russel, evolutionäre Erkenntnistheoretiker sowie der Wiener Kreis und Karl
Popper, auf deren Seite er diskutiert. Bis auf Russel, alles Philosophen, die man
ihrerseits als Szientisten bezeichnen muss. Sokal verfügt also über fast keine
Kenntnisse der Tradition, auf die sich die von ihm kritisierten Philosophen (Bergson,
Deleuze/Guattari, Latour) beziehen. Kant, Hegel, Bergson, Heidegger halten alle eine
nicht-empirische Erkenntnis für möglich. Philosophie wird als synthetisch a priori,
spekulativ, intuitiv oder als Hermeneutik des Seins verstanden, aber nicht als ein
Vorgehen, das Theorien aufstellt, die man über Experimente empirisch testen kann.
Selbst Habermas würde die Philosophie als eine zwar wissenschaftliche, aber
grammatische, reflexive Tätigkeit beschreiben, die unsere begriffliche Praxis mittels
Reflexion oder Sprachanalyse aufhellt.
Sokals Wissenschaftstheorie läuft auf einen naiven Realismus hinaus. Die Tatsachen
selbst machen die Theorien der Forscher wahr. Sokal schreibt, dass es absurd sei die
Existenz von Tatsachen zu leugnen.
"Um Annahmen - die Annahmen anderer wie auch der eigenen - auf den
Prüfstand zu stellen, muss man im Gedächtnis behalten, dass man sich täuschen
kann: dass Tatsachen unabhängig von unseren Behauptungen durch Vergleiche
mit diesen Tatsachen (soweit wir sie feststellen können) zu bewerten sind."145
Nicht wenige Philosophen bezweifeln allerdings die Existenz von Tatsachen. Wie wir
oben gezeigt haben, glauben sowohl Davidson als auch Brandom nicht an Tatsachen,
die auf kausale Weise unsere Überzeugungen wahr machen. Auch die Unterscheidung
von Überzeugungen und Tatsachen wird von ihnen geleugnet. Schließlich verweist
Davidson auch darauf, dass eine radikale Trennung zwischen dem, was wir glauben,
und dem, was wahr ist, nicht möglich ist. Davidson sagt ausdrücklich, dass Wahrheit
eine epistemische Komponente hat.146 Sokal hat für all diese Überlegungen kein Wort
145
Sokal, Bricmont, Eleganter Unsinn, S. 124.
146
Davidson, “The Structure and Content of Truth”, in: Journal of Philosophy , S. 279-328.
86
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
übrig. An einer Stelle gibt er folgendes Beispiel: Ein Mann behauptet, in einem Hörsaal
befände sich eine Elefantenherde.147 Nach Sokal gibt es genau zwei Möglichkeiten: der
Mann hat entweder recht oder er leidet an einer Psychose. Was Sokal nicht in den
Sinn kommt, ist zu fragen, wie wir darauf kommen, dass der Mann diese Überzeugung
hat. Sokal nimmt die Interpretation der Laute "Elefanten im Hörsaal" als einfache
Tatsachenfeststellung hin. Es ist für das ganze Buch Sokals charakteristisch, die
Bedeutungsfrage nicht zu stellen. Dass ein in den Augen des Interpreten offensichtlich
falscher Satz auf eine schlechte Lektüre zurückzuführen ist, diese hermeneutische
Maxime ist, wenn Denker wie Davidson recht haben, für das Phänomen der Bedeutung
konstitutiv. Das Thema der Bedeutung oder des Verstehens kommt jedoch bei Sokal
nicht vor. Man versteht jetzt, warum Sokal überall Unsinn entdecken kann. Er stellt sich
nie die Frage, ob der Unsinn, den er auszumachen glaubt, nicht einfach seine eigene
Unfähigkeit ist, die Texte, die er liest, zu verstehen.
Auch wie Sokal sich Erkenntnis vorstellt, wird nicht erläutert. Was heißt es, dass ein
Satz wahr ist, dass eine Tatsache besteht? Wie vergleicht man Behauptungen mit
Tatsachen? Sind Tatsachen physikalische Phänomene? Glaubt Sokal, dass das
Prädikat "ist wahr" eine physikalische Übersetzung hat? Sokal unterscheidet in Fakten
und Werte, wobei er Wertfragen aus dem Bereich der Wissenschaft ausschließt. Was
sind dann aber Werte? Sokal stellt all diese Fragen nicht, stattdessen bedient er sich
all dieser Begriffe auf naive Weise. Vor allem die Unterscheidung von Überzeugungen
und dem Gegenstand der Überzeugung wird uns noch beschäftigen. Nur wenn man
die Frage der Interpretation des Inhalts einer Überzeugung nicht unterschlägt, wird
beispielsweise die von Sokal heftig kritisierte These Latours, dass TuberkuloseBakterien nicht vor ihrer Entdeckung existierten, verständlich.148
Bourdieu über Relativismus und Objektivität
Pierre
Bourdieu
hat
in
seiner
149
letzten
Veröffentlichung
das
Thema
der
Wissenssoziologie aufgegriffen.
Er versucht dort eine Mittelstellung zwischen einer
philosophischen
von
"Begründung"
Objektivität
und
einem
verallgemeinerten
Relativismus zu beziehen. Bourdieu ist interessant, weil er in vielen seiner Arbeiten
direkt die philosophische Position angreift, die ich hier zu verteidigen versuche. Nach
147
Sokal, Bricmont, Eleganter Unsinn, S.111.
148
Siehe dazu das Kapitel VI dieser Arbeit.
149
Bourdieu, Science de la science et reflexivité.
87
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Bourdieu verharrt die Philosophie in einem nicht-durchschauten Subjektivismus, wenn
sie nicht auf die sozialen Bedingungen der Möglichkeit ihres Denkens reflektiert. Diese
soziologische Objektivierung enthüllt die Philosophie als Versuch, dem Sozialen zu
entfliehen und einen unparteiischen, interesselosen Standpunkt vorzugaukeln.
Bourdieu ist hier dem Pragmatismus eines Dewey sehr nahe. Auch Rorty greift das
Motiv der Flucht aus der Gesellschaft häufig auf. Die "theoria" wird als Ausdruck einer
aristokratischen Gesellschaftsschicht begriffen.150 Anders als die Pragmatisten zieht
Bourdieu jedoch daraus keine relativistischen Konsequenzen. Während Rorty sehr
richtig in der "postmodernen" französischen Philosophie ein Wiederaufleben des
Pragmatismus sieht, ist Bourdieu einer der stärksten französischen Kritiker der
„Postmoderne“. In seinem Buch Die politische Ontologie Martin Heideggers gibt
Bourdieu eine interessante Beschreibung der Philosophie im Anschluss an Heidegger.
Heidegger und seine Nachfolger (Foucault, Deleuze, Derrida) versuchen die
Philosophie, die vor allem unter Bedrängnis der Sozialwissenschaften gerückt ist, zu
verteidigen. Sie können und wollen dabei nicht die Idee der Philosophie als
Begründungswissenschaft
aufrechterhalten.
Diese
kantische
und
von
der
Phänomenologie erneuerte Idee ist unter dem historisierenden und relativierenden
Einfluss der historischen Sozialwissenschaften erdrückt wurden. Heidegger entwickelt
daher eine andere Strategie. Statt in die Defensive zu gehen, wird die Philosophie zur
Avantgarde der Kontingenz. Aus einer Begründungskraft wird eine Entgründungskraft.
Die historischen Wissenschaften erscheinen nun als Nachhut, welche kraft ihres
Anspruchs auf Objektivität immer noch an die Illusion der Wahrheit glaubt, eine Illusion,
die der Philosoph hinter sich gelassen hat. Damit, so Bourdieu, kann Heidegger sowohl
den alten privilegierten Blick des Philosophen aufrechterhalten als auch der Kritik der
Wissenschaften entgehen, ja sie sogar noch überbieten, indem er die Metaphysik samt
den Natur- und Sozialwissenschaften im selben seinsvergessenen Boot sitzen lässt.
Metaphysik und moderne Wissenschaft sind nur auf das Seiende aus, der Philosoph
dagegen denkt das Sein.
Es wird deutlich, dass Bourdieu sehr genau die Strategie beschreibt, die auch dieser
Arbeit zugrunde liegt.
Bourdieu
setzt
nun
dem
philosophischen
Universalismus
als
auch
jedem
relativistischem Ausstieg eine konsequente wissenschaftliche Relativierung des
150
Zu Dewey siehe Die Suche nach Gewissheit. Zu Rorty, siehe seine Heideggerkritik, in
der er den Philosophen pauschal den Vorwurf macht ihrem Volk zu entfliehen, um eine
fremde, reine Sprache zu sprechen. „Heidegger, Kundera und Dickens“, in: Eine Kultur
ohne Zentrum, S.83.
88
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Denkens entgegen, die den Anspruch auf Objektivität paradoxerweise erst wirklich
sichern kann. Bourdieu ist ein Objektivist in letzter Minute. Wie ist das möglich?
Einem
unreflektierten
Objektivismus
liegt
als
fundamentale
Illusion
aller
Wissenschaften das "scholastische" Denken zugrunde, dessen reinster Vertreter die
Philosophie sei. Scholastisches Denken beschreibt Bourdieu als ein Denken frei von
praktischen Zwängen.151 Scholastik setzt Muße voraus. Hier werden Dinge um ihrer
selbst willen getan und dienen nicht der Reproduktion des Lebens oder der Steigerung
von Profiten. Diese Freiheit ist jedoch eine, die selbst eine soziale Grundlage hat.
Keinesfalls will Bourdieu die naive Idee einer das Denken immer schon in Anspruch
nehmenden Verpflichtung zum Guten, Schönen und Wahren vertreten. Er kritisiert den
Neo-Kantianismus von Habermas auf scharfe Weise.152 Habermas übersieht die durch
und durch kontingenten Bedingungen, von denen aus universelle Geltungsansprüche
erhoben werden. Bourdieus ganzes Werk durchzieht der Kampf gegen die Prätention
derer, die, mit reichlich kulturellem Kapital versehen, dieses vor sich selber verbergen
und sich dem interesselosen Kult der Wahrheit, des Guten oder Schönen hingeben.
Bourdieu versucht deutlich zu machen, dass es einer sozialen Sezession bedarf um
ein Interesse an Wahrheit, Moral, Schönheit zu entwickeln.
Nun will Bourdieu aber keineswegs die Objektivität der Wissenschaft oder die
Überlegenheit einer reinen Ästhetik in Frage stellen. Er glaubt viel mehr, dass folgende
zwei Thesen keinen Widerspruch implizieren:
1. Das scholastische Denken ist durch und durch historisch, sozial, lokal.
2. Das scholastische Denken produziert tatsächlich universelles Wissen.
Ich habe oben die an Kripke orientierte Wittgenstein-Lektüre Bloors dargelegt.
Bourdieu erwähnt noch eine zweite "grammatikalische" Lektüre Wittgensteins.153 Nach
dieser degradiert Wittgenstein keineswegs die impliziten Regeln von Sprachspielen zu
empirisch studierbaren Fakten, sondern er erhält ihnen einen "grammatischen" Status.
Grammatische Sätze formulieren Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, sie
können nicht selbst Teil der Erfahrung sein. Diese Kant'sche Lesart Wittgensteins lehnt
Bourdieu ebenso ab. Er möchte vielmehr das bloß Empirische der Sprachspiele mit
151
Bourdieu, Pascalian Meditations, S.12ff.
152
Bourdieu, Pascalian Meditations, S.65ff.
153
Bourdieu, Science de la science et reflexivité, S.159f.
89
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
ihrem
objektiven
Organisationsform
Status
des
vereinbaren.
Denkens,
das
Eine
durch
und
wissenschaftliche
durch
historische
Denken,
produziert
Objektivität. Um diese Position plausibel zu machen, verweist Bourdieu ganz ähnlich
wie Habermas auf bestimmte soziologische Aspekte der Wissenschaftspraxis, allen
voran die Verpflichtung zur Argumentation, die gegenseitige Kontrolle, die Herstellung
eines herrschaftsfreien, vom Druck der Umwelt befreiten Raumes, kurz die Autonomie
der Wissenschaft. Während Habermas aber die Sprache von Haus aus die Normen
enthalten lässt, die in einer bestimmten Gesellschaftsform erst freigesetzt werden,
beschreibt Bourdieu die Entstehung eines intersubjektiven Feldes als rein historisches
Ereignis. Das Produkt dieser historischen Entwicklung ist dagegen universalisierbar.
Die Gründe für die Universalität liegen dabei in den sozialen Produktionsbedingungen.
Allerdings hat Bourdieu das Problem, dass gerade die Wissenssoziologie ein ganz
anderes Bild zeichnet. Bourdieu gerät daher in den Verdacht weniger die sozialen
Bedingungen von universalem Wissen empirisch zu beschreiben, als die altbekannten
Normen einer Forschung als Fakten zu setzen. Bourdieu würde damit einem noch viel
schlimmeren Idealismus als Habermas erliegen. Vernunft wäre nicht nur eine Norm,
sondern sie wäre bereits verwirklicht in den Prozeduren strenger Wissenschaften. Eine
Position, die dem Rechtspositivismus vergleichbar ist.154 Nimmt man die empirischen
Untersuchungen ernst, dann wird auch in harten Wissenschaften keinesfalls zwingend
argumentiert. Eine eindeutige Situation zu konstruieren, die eine Gruppe von Kollegen
von der Richtigkeit der eigenen Thesen überzeugen kann, ist selbst keine zwingende
Angelegenheit. Es ist eine kreative Angelegenheit, in der Kämpfe ausgetragen werden
müssen, in der man Glück braucht wie überall anders auch. Fasst man Argumentation
und intersubjektive Kontrolle schlicht als Zwang, einer bestimmten Gruppe ein
einstimmiges Ja abzunötigen, wird deutlich, dass Argumentation vor allem einem
154
Bourdieu gesteht nicht jedem Feld eine solche Autonomie zu wie der Wissenschaft.
Bezüglich des Rechtssystems schreibt er: "Das Feld der Rechtswissenschaft ist nicht,
was es zu sein glaubt, nämlich ein von allen Kompromissen mit den politischen oder
wirtschaftlichen Notwendigkeiten befreites Universum. Dass es ihm aber gelingt, als
solches anerkannt zu werden, trägt zur Produktion vollkommen realer sozialer Effekte
bei, und zwar zunächst einmal bei denen, deren Beruf es ist, Recht zu sprechen. Was
aber wird aus den Juristen, diese mehr oder weniger aufrechte Inkarnation der kollektiven
Heuchelei, wenn einmal allgemein bekannt wird, dass sie, weit davon entfernt,
transzendentalen und universellen Werten zu gehorchen, ganz wie alle anderen
gesellschaftlichen Akteure Zwängen ausgeliefert sind - Zwängen wie denen, die ohne
jeden Respekt vor Prozeduren oder Hierarchien der Druck ökonomischer
Notwendigkeiten oder die Versuchung durch journalistische Erfolge ausübt?" Bourdieu,
Über das Fernsehen, S.119f.
90
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
konservativen Zweck dient.155 Dass sich trotzdem neue Kräfte durchsetzen, verdankt
sich oft der Intervention externer Kräfte. Bourdieu tendiert dazu, solche Bewegungen
als Angriffe auf die Autonomie der Wissenschaft zu deuten. Die Frage wäre aber eher,
was die Autonomie der Wissenschaft eigentlich besagen soll. Auch hier zeigen
soziologische Untersuchungen, dass die freie Forschung ein Mythos ist. Der weit
größte Teil der Forschung findet heute in privaten Unternehmen unter hohen
Rentabilitätserwartungen statt.156
Wichtig an dieser Stelle ist, dass Bourdieu die philosophische Diskussion über die
Frage, was ein gutes Argument ist, was logische Folgerung im Gegensatz zu kausaler
Folge eigentlich ausmacht, vollkommen ausblendet. Obwohl Bourdieu sich in die
französische Tradition der Erkenntnistheorie stellt, die sich als streng und
wissenschaftlich versteht, diskutiert er erkenntnistheoretische Probleme kaum. Sein
"empirischer" Begründungsversuch der Universalität benutzt vollkommen unklare
Begriffe wie "rational", "streng", "Methode", so als ob Denker wie Feyerabend nie
existiert hätten. Das Problem ist dabei nicht das Verwenden von unscharfen Begriffen abgesehen von formalen Sprachen sind alle unsere Begriffe unscharf -, sondern dass
man mit unscharfen Begriffen für Strenge eintritt. Bourdieu gibt ein Beispiel für die
Strenge der Soziologie, dass ich kurz zitieren möchte:
"Als ich einmal mit einem Historikerkollegen im Radio diskutierte, sagte er mir
während der Sendung: ‚Lieber Kollege, ich habe Ihre Korrespondenzanalyse
(eine statistische Untersuchungsmethode) über die Unternehmer noch einmal
gemacht und komme durchaus nicht zu demselben Ergebnis.’ Ich dachte:
155
Argumentation wird erst dann zu einem progressiven Faktor, wenn die Beweislast auf
Seiten der Autorität liegt. D.h. solange alles erlaubt ist, was nicht zwingend, mit Konsens
des Betroffenen argumentativ widerlegt werden kann. Dies ist natürlich nirgendwo der
Fall, allein schon aus ökonomischen Gründen. In Auseinandersetzung mit Poppers
Behauptung in der Wissenschaft würde man jede Theorie prüfen, die falsifizierbar ist,
wurde folgende schöne Bemerkung gemacht: „Die Behauptung, dass ein Teufel
erscheint, wenn man 100mal mit dem Fuß auf den Boden stampft, ist falsifizierbar. Ich
werde es trotzdem nicht ausprobieren.“
156
Ich werde die für weite Teile der theoretischen Soziologie überaus entscheidende Idee
der
Ausdifferenzierung
und
Autonomisierung
von
Wertsphären
(Weber),
Expertenkulturen (Habermas), funktionaler Teilsysteme (Luhmann) oder eben auch
verschiedener Gesellschaftsfelder (Bourdieu) im letzten Teil dieser Arbeit kritisieren.
Bourdieus Feldbegriff und seine historischen und empirischen Arbeiten haben den Vorteil
die Fragilität von „Autonomiebewegungen“ herauszuarbeiten. Anders als Habermas, der
dieses Problem von Kant und Weber aus eher normativ angeht, und Luhmann, der sich
an Biologie und Kybernetik orientiert und reine Theorie produziert, hat Bourdieu sich
empirisch mit dem Phänomen beschäftigt. Aber auch er hält die Autonomie der
Wertsphären hoch und sieht sie heute durch den Neo-Liberalismus bedroht. Siehe das
Vorwort zu Bourdieu, Science de la science et reflexivité, S.5ff.
91
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
‚Wunderbar! Endlich jemand, der mich wirklich kritisiert.’ Es stellte sich heraus,
dass er eine andere Definition des Unternehmertums benutzt und die Bankiers
aus der untersuchten Population herausgenommen hatte. Man braucht sie bloß
wieder einzuführen (was allerdings weitreichende theoretische und historische
Entscheidungen einschloss), um zu übereinstimmenden Ergebnissen zu
gelangen. Erst eine hochgradige Übereinstimmung über das Gebiet, auf dem
man nicht übereinstimmt, und über die Mittel, mit denen ein Meinungsunterschied
beizulegen ist, macht eine echte wissenschaftliche Debatte möglich und kann zu
einer echten wissenschaftlichen Übereinstimmung führen."157
Es ist interessant, dass Bourdieu die Wissenschaftlichkeit der Soziologie am Beispiel
einer statistischen Untersuchungsmethode diskutiert. Hier hat das Wort Methode
wirklich einen guten Sinn, während es in anderen Kontexten bloße Rhetorik ist.
Allerdings erwähnt Bourdieu selbst, dass der eigentliche Streitpunkt, nämlich die Frage
wie man das Unternehmertum definieren soll, "weitreichende theoretische und
historische Entscheidungen" einschließt, für die es keineswegs strenge Methoden gibt.
Wenn also erst gemeinsame Methoden in der engen Bedeutung von algorithmischen
Verfahren, die in endlicher Zeit zu Ergebnissen führen, Wissenschaftlichkeit verbürgen,
sieht es für die meisten Wissenschaften schlecht aus. Bourdieu selbst ist in der
Soziologie heiß umstritten und keineswegs getragen von einem breiten Konsens unter
Kollegen. Mit solchen Bemerkungen soll nicht der Soziologie die Wissenschaftlichkeit
abgesprochen werden, es gibt eine „harte“ Soziologie, deren Härte ganz wie die der
Naturwissenschaften, allen voran der Physik, sich der Mathematisierung verdankt. In
Statistik trainierte Physiker und Soziologen sind oft austauschbar.158 Allerdings
müssen, bevor man mit rein quantitativen Methoden arbeitet, zunächst Qualitäten
bestimmt werden. Hier liegt auch in der Soziologie eine kreative Konstruktionsarbeit,
die keinesfalls strengen Methoden gehorcht.
Bourdieu gehört zur linken Hand der Wissenschaft, er versucht eine Kulturalisierung in
Form einer Soziologisierung des Denkens. Anders als die Einführung des Sozialen bei
Habermas oder Brandom verknüpft er diese Soziologisierung mit einem Positivismus.
Diesen versucht er durch eine Selbstreflexion, die er als Objektivierung begreift, vor
dem Vorwurf der Naivität zu retten. Während alle anderen sich nicht verorten können
und ihr Diskurs daher von der nicht durchschauten Partikularität ihres Standpunkts
verzerrt wird, ist Bourdieu in der Lage, zu einer vollkommen Selbsteinsicht zu kommen.
Er kann alle anderen verorten und dazu noch sich selbst, so dass sein Diskurs eine
157
Bourdieu, Über das Fernsehen, S. 88, 89.
158
Arbeitslose Physiker landen oft bei Versicherungen. Ob man mögliche Protonenzerfälle
oder Autounfälle berechnet, beides erfordert dieselben Fähigkeiten.
92
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
echte Universalität gewinnt. Relativierung ist für Bourdieu so gerade der Königsweg zur
Objektivität. Damit hängt er in letzter Minute immer noch der Idee der Unparteilichkeit
und Universalität an. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum das Wissen um die
Relativität des eigenen Standpunkts eben diese Relativität aufheben sollte.
Bourdieus Soziologie ist von einem Glauben an eine Zentralperspektive durchdrungen,
die sich am stärksten in der zentralen Stellung zeigt, die Bourdieu dem Staat einräumt.
Bourdieu präsentiert den Staat als höchsten Verteiler symbolischen Kapitals, und
damit, wie Bourdieu in einer Analyse Kafkas zeigt, des Existenzrechts selbst. Das
Recht zu existieren ist abhängig von der staatlichen Legitimation.159 Diese These
versteht Bourdieu nicht normativ, sondern als eine empirische Beschreibung unserer
Gesellschaft. Daher muss er sämtliche empirische Anzeichen für eine ablehnende oder
indifferente Haltung gegenüber dem Staat und seinen Repräsentanten als heimliche
Bestätigung interpretieren.160 Bourdieus Ablehnung des Relativismus ist letztlich an
den Glauben an einen Gottesstandpunkt gebunden. Dieser Gottesstandpunkt ist
allerdings nicht mehr außerhalb der Welt, sondern in der Welt, eine immanente
Transzendenz. Dieser Gott ist der Staat.
"And sociology thus leads to a kind of theology of the last instance: invested, like
Kafka's court, with an absolute power of truth-telling and creative perception, the
State, like divine intuitus originarus according to Kant, brings into existence by
naming and distinguishing. Durkheim was, it can be seen, not so naïve as is
claimed when he said, as Kafka might have, that ‘society is God.’"161
Die Stunde der Philosophie
Auch Bourdieus Versuch Soziologismus und Objektivität zu versöhnen, muss
scheitern. Ein reiner Wahrheitspositivismus führt zu nichts anderem als der
159
Bourdieu, Pascalian Meditations, S.237ff.
160
Dieselbe fragwürdige Interpretationspraxis findet sich auch in Die feinen Unterschiede, in
denen Bourdieu das Bild einer durch Geschmack sich klassifizierenden und
klassifizierten Gesellschaft entwirft. Auch hier ist es vor allem die Schule, die Universität
und spezifische Expertenkreise, die bestimmen, welchen Rang ein Geschmack einnimmt.
Man fragt sich jedoch, ob es nicht unversöhnliche Perspektivendifferenzen geben kann.
Die offene Ablehnung von deklassifizierenden Klassifizierungen, vor allem natürlich durch
die so Deklassifizierten, wird von Bourdieu jedoch immer als eine geheime Bestätigung
interpretiert. Man fragt sich hier, wie Bourdieu solche Interpretationen rechtfertigen kann.
Was könnten seine Untersuchungsobjekte tun, um anders interpretiert zu werden?
161
Bourdieu, Pascalien Meditations, S. 245.
93
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
Sakralisierung bestimmter Verfahrensformen. Bourdieu will nichts anderes als
Habermas
oder
Brandom,
wenn
sie
die
Objektivität
der
Wahrheit
mit
nachmetaphysischen Mitteln zu retten versuchen, nur dass Bourdieu sich wesentlich
weniger über die Probleme eines solchen Unterfangens im Klaren ist. Einen
Verfahrenspositivismus
zu
vertreten,
beraubt
die
Objektivität
gerade
ihres
transzendenten Status. Man kann nicht beides haben, Positivismus und Wahrheit.
Wenn die Pragmatisten, auf die sich Bourdieu beruft, Wahrheit auf Nützlichkeit
reduzieren, dann geben sie die Transzendenz der Wahrheit gerade auf. William James
ist ebenso wie Nietzsche ein Perspektivist. Eine Zentralperspektive lehnt er ab. Es gibt
keine göttliche Garantie mehr, dass Perspektiven konvergieren und auch die
Wissenschaft kann dies nicht leisten.
Sowohl die linke als auch die rechte Hand der Wissenschaft scheitern mit dem Versuch
ihren Anspruch auf universelle Geltung zu begründen. Während Bourdieu einem
Positivismus verfällt, nach dem wahr ist, was autonome Experten, die bestimmten
Verfahren folgen, herausfinden, glaubt Sokal, dass einzig und allein die Tatsachen
über die Wahrheit unserer Überzeugungen entscheiden. Dies führt zu einem
Objektivismus der rechten Hand, der dem sozialen Relativismus der linken Hand
diametral entgegensteht. Für die einen ist es zum Beispiel ein Fakt, dass das Gehirn
denkt. Das Denken ist ein Gehirnprozess, letztlich nichts anderes als ein physikalischer
Prozess. Für die anderen ist dieser Fakt ein weiteres, datierbares Denkprodukt,
produziert von einer Forschergemeinschaft. Der Repräsentation der Welt steht die Welt
als Repräsentation gegenüber. Ein Bild der Welt oder die Welt als Bild?
Wendet man sich der Philosophie zu, um diese Schwierigkeiten zu lösen, bieten sich
mehrere Möglichkeiten. Etwa eine Rückkehr zur Philosophie Kants, die jedoch nicht
vielversprechend erscheint, denn Kants Vokabular hat ja den Sozialkonstruktivismus
erst auf den Plan gerufen. Ebenso hat Kants „Ding an sich“ die rechte Hand der
Wissenschaft zum Widerspruch motiviert. Bleibt noch der Schritt nach vorn in einen
absoluten Idealismus, wie ihn heute McDowell als Reaktualisierung Hegels vorschlägt.
Im nächstem Kapitel wird ein anderer Weg vorgeschlagen. Der Philosoph Henri
Bergson plädiert dafür den Gegensatz von inneren Bildern, die einer subjektiven oder
intersubjektiven Innenwelt oder Lebenswelt zugeschrieben werden, und AußenweltObjekten, die abgebildet werden, ohne selbst Bilder zu sein, fallenzulassen. Der
Außenwelt eine subjektive Innenwelt gegenüberzustellen, dieser Dualismus ist
Ergebnis
der
von
Whitehead
in
der
Nachfolge
Bergsons
beschriebenen
Denaturalisierung des Geistes aufgrund der vom Szientismus postulierten Reduktion
der Natur auf das Bild, das die moderne Naturwissenschaft von ihr zeichnet. Das
Auseinanderfallen von Subjekt und Objekt entsteht durch das Heraussaugen der
Subjektivität aus der Welt. Die Welt wird zu einem Haufen mechanisierbarer Atome,
94
Szientismus, Subjektivismus und Philosophie
der Mensch zu einem selbstbewussten, sich selbst durchsichtigem Subjekt. Beide
Seiten sind jetzt nicht mehr vermittelbar. Leibniz’ Monaden oder Dennetts intentionale
Systeme wären solche Vermittler, die weder reine Subjekte oder Objekte sind. Sie
zuzulassen, würde jedoch eine Umverteilung von Fähigkeiten, die der moderne Dualist
nur dem Subjekt zugestehen will, auf die Dinge erfordern. Nach Leibniz oder Dennett
haben Monaden oder intentionale Systeme Überzeugungen und Wünsche. Sie
nehmen wahr und handeln, obwohl sie über kein Bewusstsein verfügen. Eine solche
Umverteilung wird jedoch sowohl von Physikalisten als auch von Sozialkonstruktivisten
abgelehnt. Das moderne Subjekt gebärdet sich wie ein liberaler Unternehmer, der sich
alle Handlungsfähigkeit selbst zurechnen möchte, um ja nichts von seinem Eigentum
abzugeben. Je mechanischer die Natur geschildert wird, desto selbstherrlicher kann
das Bild des Menschen sein. Mode und Moral, Gefühle und Werte sind von uns allein
entworfen. Im Bereich der Kultur ist jeder sein eigener kleiner Gott. Hier liegt das
heimliche Bündnis zwischen Physikalisten und Sozialkonstruktivisten, der rechten und
der linken Hand der Wissenschaft begründet. Je mechanischer und kälter die
Außenwelt, desto freier und heißer kann es in der Innenwelt zugehen. Eine Rückkehr
zur Philosophie schafft jedoch einen Temperaturausgleich. Philosophie braucht ein
mediterranes Klima.
95
Exkurs: Ist die Philosophie elitär?
Exkurs: Ist die Philosophie elitär?
Arme Menschen haben auch Langeweile.
Chance Boudreux (fiktionale Figur aus
John Woos « Hard Target »)
Das Aufgeben der Idee der Unparteilichkeit, der Nicht-Perspektivität und damit des
Anspruchs auf universelle Geltung ermöglicht es der Philosophie, eine weitere,
unliebsame Eigenschaft loszuwerden. Die Philosophie, aber auch die Wissenschaft
und die Kunst, gehen häufig mit einer für säkulare Gesellschaften unerträglichen
Prätention einher.162 Viele verschiedene Denker haben diese Prätention kritisiert.
Relativisten wie Feyerabend ebenso wie Szientisten wie Bourdieu. Eines der
Hauptmotive des Buches „Eleganter Unsinn“ von Alan Sokal scheint mir die Ablehnung
dieses elitären Gestus, der sich in weiten Teilen der Philosophie und ganz besonders
in der postmodernen französischen Philosophie findet.163
Um zu sehen, wie die Philosophie diesen elitären Gestus erzeugt, muss zunächst
geklärt werden, was es heißt, elitär zu sein. Keinesfalls alle "scholastischen"
Tätigkeiten - Bourdieu definiert sie als Muße voraussetzende, selbstzweckhafte
Tätigkeiten, die keinem praktischen Zweck dienen - gelten als elitäre. Die prägnanteste
nicht-elitäre, selbstzweckhafte Tätigkeit ist der Sport, man kann aber auch Kochkunst,
Erotik etc. hinzufügen.164 Auch ist nicht jede spezialisierte Tätigkeit automatisch elitär.
Techniker, Handwerker sind allesamt Spezialisten, die trotzdem oft untergeordnete
162
In der deutschen Philosophie wären Heidegger und Adorno als zwei prominente
Beispiele des letzten Jahrhunderts zu nennen. Die analytische Philosophie hat aufgrund
ihrer Abstinenz bezüglicher kulturkritischer Themen scheinbar weniger zu bieten. Man ist
auf randständige Texte angewiesen. So zum Beispiel Quines Text über das Elend der
Massenuniversität. Siehe Quine, „Paradoxien des Überflusses“, in: Theorien und Dinge,
S.235. Eine Ausnahme ist Putnam, der mit seiner Fiktion der „Schweinemenschen“, die
ein objektiv schlechtes Leben führen, weil sie sich nicht für Kunst, Wissenschaft und
Religion interessieren, eine hübsche Illustration einer „analytischen“ Variante des
Kulturelitismus liefert. Siehe Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, S.228ff.
163
Man kann hier Deleuze/Guattari, Virilio, Serres, Baudrillard, Derrida, Foucault u.a.
nennen. Elitär nicht aufgrund des Inhalts ihrer Texte, sondern durch Stil und Gestus.
Bourdieu versucht diesen Gestus aus der Verteidigung des Prestiges der Philosophie,
ihrer Vormachtsstellung gegenüber den Humanwissenschaften zu erklären. Siehe dazu
das deutsche Vorwort zu Bourdieu, Homo Academicus, S.9ff.
164
Es ist sicherlich die Körperlichkeit des Sportes, des Kochens, der Erotik, die diese vor
dem Vorwurf des Elitären schützt und sie aus Sicht der Elite minderwertig macht.
96
Exkurs: Ist die Philosophie elitär?
Positionen einnehmen.165 Philosophie, Wissenschaft und Kunst sind also nicht
aufgrund ihres selbstzweckhaften, d.h. der unmittelbaren Reproduktion des Lebens
enthobenen Charakters, noch aufgrund der Spezialisierung, die sie voraussetzen, als
elitär zu bezeichnen. Auch ergibt sich das Elitäre nicht aus der Aggressivität, die mit
diesen Disziplinen einhergeht. Aggressiv ist eine Existenzform, deren Vollzug die
Nicht-Existenz anderer Lebensformen mit sich bringt. Die aggressivste Form
menschlicher Auseinandersetzung ist der Kampf. Aber in der Regel wird die
gegnerische Partei nicht als elitär betrachtet, sondern nur als feindlich. Was also ist
elitär?
Das Elitäre steckt in der Prätention, etwas besseres zu sein: rein, edel, dem Ideal
näher. Der Edle ist derjenige, der ein bestimmtes Modell am reinsten verkörpert. Die
Begriffe der Bildung und der Aufklärung implizieren die Setzung eines solchen Ideals.
Diesem hat man zu entsprechen, wenn man in seiner Existenz gerechtfertigt sein will.
Der Grammatiker, der Ästhet, der Lehrer leben davon, Menschen nach solchen
Modellen abzurichten, zu normieren. Sie alle trifft deshalb der Vorwurf des Elitären.
Elitär sein heißt Ideale aufzustellen, Geltungsansprüche zu erheben, eine Auswahl in
Namen höherer Werte zu betreiben. Diese Ideale sollen gelten, auch wenn die, für die
sie gelten, sie ablehnen. Kunst, Wissenschaft und Philosophie arbeiten mit dieser Aura
der
Wahrheit,
der
Schönheit
und
Weisheit.166
Es
wäre
einfach,
zahllose
Wissenschaftler zu nennen, die nichts als Spott für die „unaufgeklärte“ Masse übrig
haben. Feyerabends Kritik an der Wissenschaft hatte vor allem diese Prätention zum
Gegenstand.167 Der Aufgeklärte und der Primitive, der Moderne und der Traditionalist,
der Experte und der Mann auf der Strasse sind die Gegensatzpaare, mit denen die
Idee der Wahrheit operiert. Es ist dieser Anspruch, der die Philosophie und ebenso die
Wissenschaft und die Kunst in einer egalitären Gesellschaft in Verruf bringt.
Wie oben beschrieben, analysiert Bourdieu die Szientismuskritik der „postmodernen“
Philosophie als eine Art Defensivstrategie der Philosophie. Dies mag historisch richtig
165
Siehe zur Degradierung des Techniker aufgrund der Hochschätzung der Theorie, John
Dewey, Die Suche nach Gewissheit, S.77ff.
166
Unter Philosophen wird häufig so getan, als ob nur der philosophische Anspruch auf
absolute Wahrheit oder Letztbegründung prätentiös sei und eine Selbstbeschränkung auf
einfache wissenschaftliche Wahrheit die Philosophie von dieser Prätention befreit. Aber
auch die Idee der wissenschaftlichen Wahrheit enthält ein elitäres Moment, wenn sie sich
als universal gültig setzt, obwohl sie de facto keine Anerkennung findet.
167
Feyerabend liefert reihenweise Beispiele von der Arroganz und Borniertheit in der
Wissenschaft und vor allem in der Wissenschaftstheorie. Siehe Against Method und
Erkenntnis für freie Menschen.
97
Exkurs: Ist die Philosophie elitär?
sein, jedoch wird und kann sie heute umfunktioniert werden, gerade gegen die
Prätentionen
der
Philosophie,
der
Wissenschaft
und
der
Kunst.
Seit
die
Wissenschaftsrhetorik in unserer Gesellschaft politische Legitimationsfunktionen
übernommen hat, gibt es auch einen Widerstand gegen die szientistische Form der
Herrschaft.
Bourdieu selbst hat sich gegen die „Think Tanks“ aus vor allem
wirtschaftswissenschaftlichen Experten gewandt, die es geschafft haben, den Kampf
gegen ökonomische Ausbeutung zu stoppen und rückgängig zu machen. Hier zeigt
sich jedoch seine Verteidigung von Wissenschaftlichkeit kontraproduktiv. Es ist gerade
der Witz von Foucaults Begriff des Macht-Wissens, darauf aufmerksam zu machen,
dass Wissen und Wahrheit selbst Mächte sind und nicht nur Pseudo-Wissenschaften
oder Ideologien eine Gefahr darstellen. Für eine Kritik der Expertenmacht ist es gerade
wichtig, auch „wahres“ Wissen kritisieren zu können. Das Problem der ökonomischen
Wissenschaften ist nicht, dass sie falsch sind. Der Reflex, von Wahrheit auf Akzeptanz
und Universalität zu schließen, ist falsch. Gegen diesen Reflex anzugehen, ist einer
der Vorteile der "postmodernen" Philosophie.168 Bourdieu glaubt hingegen, dass einzig
und allein die Berufung auf das Universelle die nötige Legitimation für einen Kampf für
oder gegen Dinge liefert. Dies ist jedoch ebenfalls nicht zwingend. Die Idee der
Legitimation ist selbst eine höchst fragwürdige. Zu glauben, dass Prozesse in der
Gesellschaft sich wissenschaftlich legitimieren müssen und können, ist das Übertragen
einer spezifisch akademischen Verhaltensweise auf die Gesamtgesellschaft. Bourdieu
selbst gibt das zu:
"Wir müssen heute wieder an eine Tradition anknüpfen, die sich im 19.
Jahrhundert im wissenschaftlichen Feld herausgebildet hat und die in ihrer
Weigerung, die Welt den blinden Kräften der Wirtschaft zu überlassen, die Werte
einer freilich idealisierten Wissenschaftswelt auf die gesamte Sozialwelt
übertragen wollte."169
Ich denke, dass ein solches Projekt genau die elitären Wissenseffekte stärkt, die
bereits jetzt von Expertenkulturen ausgehen. Ein solches Projekt ist das Gegenteil der
hier vertretenen Immanenzphilosophie, die vor allem eine anti-autoritäre Motivation hat.
168
Bourdieu
hat
jedoch
vollkommen
recht,
wenn
er
sich
über
die
Wissenschaftlichkeitsprätentionen bei Foucault, Derrida oder Deleuze lustig macht.
„Archäologie“, „Genealogie“, „Grammatologie“, „Schizoanalyse“, solche Begriffe gaukeln
eine wissenschaftliche Methodik vor, über die keiner der Denker verfügt. Zu den Gründen
dieser Pseudo-Anleihen bei der Wissenschaft siehe Bourdieu, Homo Academicus, S.9ff.
169
Bourdieu, „Vorwort", in : Bourdieu, Gegenfeuer 2, S.8
98
Exkurs: Ist die Philosophie elitär?
Nach ihr gibt es keinerlei Norm, Leitbild oder Urbild mehr. Man hat sich nicht zu
rechtfertigen.
Damit erledigt sich auch das Problem des Elitären. Der Philosoph und ebenso der
Wissenschaftler und Künstler kann nicht mehr beanspruchen, im Namen von
transzendenten Werten zu sprechen. Die Philosophie ist nicht mehr Teil einer
Bildungspflicht, sondern auf einer Ebene mit den anderen selbstzweckhaften
Tätigkeiten. Feyerabend macht in Erkenntnis für freie Menschen den Vorschlag,
Philosophie als eine Form der Unterhaltung zu begreifen.170 Unterhalten setzt ein
ungezwungenes Interesse bei den zu Unterhaltenden voraus. Man kann niemanden
zur Unterhaltung verpflichten. Diese Haltung muss auf Philosophie, Kunst und
Wissenschaft ausgedehnt werden. Wie Feyerabend sagt, "man entscheidet sich also
für oder gegen die Wissenschaft genauso, wie man sich für oder gegen punk rock
entscheidet…“171. Oder Deleuze:
"Heute richtig lesen heißt, dahin zu gelangen, mit einem Buch nicht anders
umzugehen als mit einer Schallplatte, die man sich anhört, mit einem Film oder
einer Fernsehsendung, die man sich anschaut, einem Chanson, das man
zuhörend zu verstehen sucht: Jede Einstellung zum Buch, die dem Leser einen
besonderen Respekt abverlangt, eine andersartige Aufmerksamkeit, ist obsolet.
Begriffe sind wie Töne, Farben oder Bilder - Intensitäten, die dir passen oder
nicht, die passieren oder nicht."172
Diese anti-elitäre Einstellung hat nun nichts mit einem Populismus, einer Common
Sense-Philosophie,
gesundem
Menschenverstand
oder
aber
einer
Konsensausrichtung zu tun. Ein aristokratischer Ausspruch wie Quines "... umso
170
Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, S. 239.
171
Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, S. 78.
172
Deleuze, Parnet, Dialoge, S.11 Dass Lernprozesse vollkommen unabhängig von
Schulen, also unabhängig von Pflichtveranstaltungen, stattfinden können, beweisen u.a.
neue Technologien wie der Computer, aber ebenso alte Technologien wie das Auto.
Hochkomplexes Wissen wurde hier mit Hilfe des Interesses am Massenabsatz ohne die
Hilfe von Bildungsanstalten vermittelt. Zur Veränderung der Weitergabe des Wissens
durch Dezentralisierung und Pluralismus unter Einsatz der neuen interaktiven Medien
siehe Seymour Papert, Revolution des Lernens, Kinder, Computer, Schule in einer
digitalen Welt. Papert, Erfinder der Programmiersprache Logo, greift pädagogische
Vorstellungen Deweys auf und versucht zu zeigen, dass der Computer ungeahnte
Möglichkeiten bietet neue Lernprozesse zu inaugurieren, die von den normierten und
standardisierten Formen der Schule abweichen. Siehe ebenfalls Dennetts Rezension zu
diesem Buch "Down with School, Up with Logoland!", in: New Scientist, November 6,
S.45-46.
99
Exkurs: Ist die Philosophie elitär?
schlimmer für den Mann auf der Straße", mit dem Quine sich gegen die Ordinary
Language Philosophen wendet, verliert seinen elitären Ton, wenn er ohne Anspruch
auf Geltung oder Wahrheit vorgebracht wird - die in ihm enthaltene Aggressivität kann
aber erhalten bleiben. Statt elitärer Prätention, offene Aggression.173 Das Gegenteil
einer elitären Gesellschaft ist eine Arena der Gleichen, in der mit allen gewaltlosen
Mitteln gekämpft werden kann. Niemand nimmt mehr eine überlegene Position ein,
jeder, auch der Experte, ist nur ein Mann auf der Straße, einer Straße, deren Gesetz
lautet: jeder gegen jeden. "Wer kämpft gegen wen? Wir kämpfen alle gegen alle. Und
es gibt immer irgendetwas in uns, das etwas anderes in uns bekämpft."174 Die Aufgabe
des Elitismus führt nicht zur Unterwerfung unter den Common Sense, sondern zur
Aggressivität. Die Philosophie als aggressive Unterhaltung.
Vor allem der französische Analytiker Jaques Bouveresse versucht den Eindruck zu
erwecken, die analytische Philosophie sei aufgrund ihrer argumentativen Ausrichtung
weniger elitär als die Philosophie seines Heimatlandes. Als einziger Analytiker in einem
Land, das sich nie der analytischen Philosophie geöffnet hat, preist er die egalitäre
Ausrichtung der analytischen Philosophie.175 Die Lektüre Quines, der in dieser Hinsicht
für die Haltung der analytischen Philosophie exemplarisch ist, beweist jedoch das
Gegenteil. In einem Aufsatz zur Frage "Hat sich die Philosophie von den Menschen
entfernt?" macht Quine deutlich, dass diese Entfernung zwar bestehe, aber eben ein
Ergebnis der Verwissenschaftlichung der Philosophie ist und daher auch nicht
bedauernswert sei. Es sei keineswegs klar, warum der Mann auf der Straße sich für
philosophische Probleme interessieren sollte.
"...nicht alles, was philosophisch wichtig ist, braucht für den Laien von Interesse
zu sein, selbst wenn es klar dargelegt und in Reih und Glied vorgetragen wird.
173
Aggressivität hat nicht per se etwas mit Gewalt oder Zwang zu tun. Kulturen haben
immer aggressive Formen der Unterhaltung hervorgebracht, denen sich die Menschen
„freiwillig“ aussetzen. Um nur in unseren Breitengeraden zu bleiben, denke man an die
Schockeffekte im Kino, an aggressive Videospiele, an „brutale“ Sportarten wie Boxen
oder Wrestling, an S/M-Sex etc. Mit sprachlichen Mitteln erzeugte Aggression findet man
in der Polemik, dem Witz, der Debatte. Auch die Argumentation kann man als eine stark
ritualisierte Form des Streits betrachten. Umgekehrt sind Prozeduren, die viel auf ihre
Unparteilichkeit und Legitimität wert legen, alles andere als gewaltlos. Man denke nur an
gerechtfertigte Kriege, legitime Gefängnisstrafen. Oder an alle mit Gewalt sanktionierten
Formen der Aussperrung. Aussperrung aus einem Land, einem Grundstück, einer
Institution. Man muss sehr dumm sein, wenn man ein Videospiel für gewalttätiger hält als
ein Schulzeugnis.
174
Foucault, "Ein Spiel um die Psychoanalyse", in: Dispositive der Macht, S. 141.
175
Bouveresse, Le philosophe chez les autophages, S. 58ff.
100
Exkurs: Ist die Philosophie elitär?
Ich denke da etwa an die organische Chemie: ihre Wichtigkeit will ich gar nicht
bestreiten, aber ich bin in dieser Beziehung nicht neugierig, und ich sehe auch
nicht ein, weshalb vieles von dem, was mich in der Philosophie beschäftigt, den
Laien bekümmern sollte. Hätte man mich, anstatt mich in der britischen
Fernsehserie "Men of Ideas" auftreten zu lassen, hinsichtlich ihrer
Durchführbarkeit um Rat gefragt, hätte ich Zweifel angemeldet."176
Dieses l'art pour l'art der Philosophie ist typisch für die Einstellung vieler analytischer
Philosophen. Doch Quines Argument hat ein Problem: Organische Chemie mag
uninteressant sein, aber sie hat einen praktischen Nutzen, den auch viele NichtChemiker nicht missen möchte. Quines Philosophie hat diesen Nutzen nicht. Wenn sie
zu dem nach Quines eigener Einschätzung noch nicht einmal interessant für NichtPhilosophen ist177, warum sollen Nicht-Philosophen sie dann finanzieren? Diese für
viele Akademiker vulgäre Frage stellt sich jedoch, sobald man die Idee der reinen
Theorie als Suche nach der Wahrheit aufgibt. Ein Grund für die Abneigung vieler
Experten gegenüber der Idee, dass die Wahrheit kein Ziel der Forschung ist, ist das
Wegfallen dieser Standard-Legitimation. Ich denke, diese Haltung ist u.a. schlicht eine
Folge der akademischen Verfestigung von Wissenschaft, Philosophie oder Kunst. Man
glaubt, sich des Laien, der einen schließlich finanziert, entledigen zu können.178
Dadurch entsteht ein esoterischer Zirkel, der sich nur noch selbst unterhält. Rorty
bringt dies auf den Punkt:
„Die analytische Philosophie zieht immer noch hervorragende Leute an, doch sie
bearbeiten meist Probleme, die für keinen Nichtphilosophen welche sind, die mit
nichts außerhalb des Faches etwas zu tun haben. Daher ist das, was in den
englischsprachigen Philosophiefachbereichen vorgeht, für die übrige Universität
und damit für die ganze Kultur aus dem Blick geraten.“179
Einer der Gründe, warum die Pragmatisten - allen voran Dewey - die Idee der reinen
Theorie abgelehnt haben, war ihr Versuch, die Philosophie wirklich zu demokratisieren.
176
Quine: „Hat die Philosophie den Kontakt zu den Menschen verloren?“, in: Quine:
Theorien und Dinge, S. 233.
177
Nebenbei bemerkt bin ich nicht der Ansicht von Quine. Denn ich halte Quines
Philosophie sehr wohl auch für Nicht-Philosophen von Interesse.
178
Die analytische Philosophie hatte in ihren Anfängen durchaus mehr im Sinn. Der Wiener
Kreis, vor allem Otto Neurath, hat sich noch gesellschaftliche Veränderungen vom
Szientismus erhofft. Bei Quine gibt es solche außerphilosophischen Beweggründe nicht
mehr.
179
Rorty, Richard: Stolz auf unser Land: die amerikanische Linke und der Patriotismus, S.
122f.
101
Exkurs: Ist die Philosophie elitär?
Auch Bourdieu will in diese Richtung, wird aber durch sein Festhalten am AutonomieGedanken daran gehindert. Dewey und James haben den Gedanken der reinen
Theorie aufgegeben. Wissenschaft oder Philosophie sind ebenso dem Nutzen der
Menschen verpflichtet wie alle anderen Tätigkeiten. Etwas Höheres als diesen Nutzen
anzustreben, ist wiederum der Schritt in eine Philosophie der Transzendenz.
102
Die Welt als Kino: Bergson
IV. Die Welt als Kino: Bergson
Pas une image juste, juste une image.
Jean Luc Godard
Bilder an sich
Wir hatten den Streit zwischen Konstruktivisten und Realisten, der linken und der
rechten Hand der Wissenschaft, auf die Formel gebracht: ein Bild der Welt oder die
Welt als Bild? Um aus dieser Fragestellung herauszukommen, muss ein Vokabular
entwickelt werden, dass es nicht mehr erlaubt, diese Frage aufzuwerfen. Dazu ist ein
Rückgang auf Bergson unerlässlich. Bergson ist es, der als Zeitgenosse Husserls auf
den Slogan „Jedes Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas“ kontert, dass jedes
Bewusstsein vor allem etwas ist.180 Während die Phänomenologie die Kluft zwischen
Geist und Welt mit Hilfe des Intentionalitätsbegriffs überbrücken wollen, greift Bergson
die Vorstellung an, nach der das Bewusstsein auf etwas von ihm Getrenntes gerichtet
ist. Bilder sind für Bergson nicht in einem Bewusstsein, sondern in der Welt. Wie die
Idealisten greift Bergson die Idee der Trennung von Begriff und Gegenstand an, aber
anders als Berkeley oder Hegel wendet er sich entschieden gegen einen
Subjektivismus oder Idealismus, nach der die Welt letztlich Innenwelt, Erkenntnis
letztlich Selbsterkenntnis ist. Bilder sind nicht im Kopf, die Materie selbst ist ein Bild.
„Für uns ist die Materie eine Gesamtheit von ‚Bildern’. Und unter ‚Bild’ verstehen
wir eine Art von Existenz, die mehr ist als was der Idealist ‚Vorstellung’ nennt,
aber weniger als was der Realist ‚Ding’ nennt – eine Existenz, die halbwegs
zwischen dem ‚Ding’ und der ‚Vorstellung’ liegt. Diese Auffassung der Materie ist
ganz einfach die des gesunden Menschenverstandes. Ein Mensch, dem
philosophische Spekulationen fremd sind, würde sehr erstaunt sein, wenn man
ihm sagte, dass der Gegenstand, den er vor sich hat, den er sieht und fühlt, nur
in seinem Geiste und nur für seinen Geist existiert oder gar, allgemeiner, nur für
einen Geist existiert wie Berkeley es wollte. Unser Mann würde immer
behaupten, dass der Gegenstand unabhängig von dem Bewusstsein existiert,
das ihn wahrnimmt. Aber andererseits würden wir ihn ebenso erstaunen, wenn
wir ihm sagten, dass der Gegenstand ganz verschieden ist von dem, was man an
ihm wahrnimmt, dass er weder die Farbe hat, die das Auge ihm verleiht, noch die
180
Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino 1, S.84.
103
Die Welt als Kino: Bergson
Festigkeit, die die Hand an ihm findet. Für ihn sind Farbe und Festigkeit am
Gegenstand: keine Zustände unseres Geistes, sondern die konstitutiven
Elemente einer von der unseren unabhängigen Existenz. Für den gesunden
Menschenverstand existiert also der Gegenstand an sich, und andererseits ist
der Gegenstand an sich farbig, wie wir ihn wahrnehmen: er ist ein Bild, aber ein
Bild, das an sich existiert.“181
Für Bergson ist die Welt ein Kino.182 Sie besteht aus bewegten Bildern oder besser
bildhaften Bewegungen. Diese Bilder sind jedoch nicht Bilder für jemanden, sondern
Bilder an sich. Wie William James postuliert Bergson ein Feld von gleichermaßen
präobjektiven wie präsubjektiven Entitäten. Diese Entitäten sind nicht als unbewegliche
Dinge zu denken, sondern nichts anderes als Aktionen und Reaktionen, Ursachen und
Wirkungen. Jede Ursache wird bewirkt und wirkt wiederum selbst. Sie wird individuiert
durch das Gesamt ihrer Ursachen und Wirkungen. Die Ursache ist Bewegung und Bild
zugleich, denn sie nimmt wie eine photographische Platte Wirkungen auf und gibt
gleichzeitig die empfangene Wirkung weiter. Was James Erfahrungen nennt, nämlich
Leitungen von einer Erfahrung zur nächsten, nennt Bergson Bilder. Bergson vergleicht
das Bild mit der Monade Leibniz’. In jedem Bild spiegeln sich alle anderen Bilder des
Universums. Damit sich die Bilder differenzieren lassen, muss wie bei Leibniz eine
Aktualisierung nur einiger und nicht aller Bilder stattfinden. Es muss eine Auswahl
getroffen werden. Leibniz’ Monaden differenzieren sich anhand der Perspektive, die sie
gegenüber allen anderen Monaden einnehmen. Auch Bergson lässt ein SubjektObjekt-Verhältnis zwischen Bildern dadurch entstehen, dass ein Bild zum Zentrum für
andere Bilder wird. Statt jede empfangene Wirkung weiterzugeben, leitet es nur einige
Wirkungen weiter. Es reagiert nur auf spezifische Aspekte der Bilder. Nur das
Relevante wird wahrgenommen. In Relation zu diesem Selektionsprozess wird ein Bild
zu einem Wahrnehmungsbild. Verschiedene Perspektiven konstituieren sich durch
unterschiedlich verteilte Relevanzen. Ein Subjekt ist nichts anderes als solche
Perspektiven. Das Subjekt bereichert also nicht das Bild an sich, sondern dimmt es ab.
Anders als in der philosophischen Tradition ist das Bewusstsein kein Licht, das die
Dinge erhellt, sondern im Gegenteil, die Dinge sind Licht, das Bewusstsein nur die
Projektionsfläche.183 Nicht das Subjekt projektiert subjektive Wahrnehmungen oder
Wertungen in die nackte Welt, sondern die Welt projektiert sich in das Subjekt. Die
Aufgabe des Subjekts ist eine negative. Es selektiert nur einige Wirkungen des Bildes.
181
Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 10f.
182
Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino 1, S.84ff.
183
Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino 1, S.90.
104
Die Welt als Kino: Bergson
Wahrnehmen heißt also zunächst auswählen, weglassen, subtrahieren. Das Subjekt ist
nicht etwas, was sich auf ein „Ding an sich“ richtet und es mit seinen Wahrnehmungen
und Empfindungen überdeckt, sondern die Wahrnehmungen und Empfindungen sind in
der Welt. Einer Welt jedoch, die um ein Subjekt herum zentriert wird, wodurch sich die
Bilder
an
sich
in
Wahrnehmungsbilder
verwandeln.
Eine
physikalische
Weltbeschreibung ist daher für Bergson nicht das Abstreifen der subjektiven Schicht,
um zur nackten Objektivität zu gelangen, sondern eine Selektion, ein Abdimmen des
Reichtums der Welt. Es ist für Bergson, wie später Whitehead sagen wird, ein
„Fehlschluß aufgrund unzutreffender Konkretheit“184, wenn man versucht, aus einer
physikalischen Weltbeschreibung alle anderen Wahrnehmungsbilder zu rekonstruieren.
Die Physik liefert eine hochabstrakte Weltbeschreibung, die wie keine andere
Wahrnehmung den Reichtum der Welt ausblendet. Nimmt man die Bilder der Physik
als Grundbestandteile der Welt, auf die alle anderen reduziert werden können, dann
versucht man, das Konkrete durch das Abstrakte zu erklären. Die Physik zeichnet sich
dadurch aus, dass sie geschlossene Systeme isoliert. In diesen herrscht ein strikter
Mechanismus, der präzise Voraussagen erlaubt. Die Welt nach Bergson ist jedoch kein
geschlossenes System. Geschlossenen Systemen stellt Bergson die Offenheit des
Ganzen gegenüber. Bergson ist Holist. Jedes Bild individuiert sich durch die Rolle, die
es in einem Ganzen spielt, es ist ein Knotenpunkt von Aktionen und Reaktionen. Aber
anders
als
der
Holismus
hegelschen
Ursprungs
oder
des
französischen
Strukturalismus setzt Bergson ein Ganzes, das gerade nicht gegeben ist. Dieses
Ganze nennt Bergson Dauer, es ist kontinuierliche Veränderung. Das Ganze verfügt
anders als seine Teile bei Bergson nicht über eine Aktualität, sondern es ist virtuell.
Was heißt das?
Das Virtuelle und das Mögliche
Der Bergsonianer Deleuze unterscheidet in der Logik des Sinns zwischen Bedeutung
und Sinn, in Differenz und Wiederholung zwischen Begriffen und Ideen, mit Guattari in
Was
ist
Philosophie?
zwischen
Propositionen
und
Begriffen.185
All
diese
Unterscheidungen versuchen die Differenz zwischen einem Denken der Möglichkeiten
und einem Denken des Virtuellen zu markieren. Das Virtuelle dem Möglichen
184
Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, S.72.
185
Logik des Sinns, S.36, Differenz und Wiederholung, S.267ff, Was ist Philosophie?, S.29f.
und S.157ff.
105
Die Welt als Kino: Bergson
entgegenzusetzen ist entscheidend für jede bergsonianische Philosophie. Die
Philosophie der Repräsentation beschäftigt sich mit dem Vermessen des Raumes der
Möglichkeiten. Propositionen sind Möglichkeiten. Eine Möglichkeit ist ein Modell der
Welt. Stimmt das Modell mit der Welt überein, ist die Proposition wahr. Das Modell
einer transzendenten Schöpfung und - in seiner säkularisierten Fassung - die Idee
eines nach einem Plan handelnden Menschen beinhaltet immer die Vorstellung, dass
eine Schöpfung bereits im Geiste des Schöpfers als Möglichkeit gedacht wurde, bevor
sie verwirklicht wird. Nach dieser Vorstellung müsste ein Maler sein Bild bereits im
Geiste vor sich haben. Die Schöpfung selbst ist nur eine Kopie dieser im Geiste
gedachten Vorstellung. Bergson weist dieses Denken zurück.
"The finished portrait is explained by the features of the model, by the nature of
the artist, by the colors spread out on the palette; but, even with the knowledge of
what explains it, no one, not even the artist, could have foreseen exactly what the
portrait would be, for to predict it would have been to produce it before it was
produced - an absurd hypothesis which is its own refutation."186
Auf die Frage, wie er sich die zukünftige Literatur vorstelle, bemerkt Bergson, wenn er
sich dies vorstellen könnte, wäre sie bereits da.187 Hier zu sagen, die Schreibweise
hätte als Möglichkeit bereits vor ihrer Verwirklichung bestanden, ist nur die
Rückprojektion einer heutigen Möglichkeit in die Vergangenheit. Bergson gesteht zu,
dass nach Erfindung der neuen Schreibweise, sagen wir der Romantik, die
Vorgängerliteratur romantische Züge tragen wird. Sie wird vor-romantisch gewesen
sein, aber sie war es nicht. Es wird möglich gewesen sein, aber es war nicht möglich.
Mit der Erfindung der Romantik wurde also nicht nur eine immer schon bestehende
Möglichkeit entdeckt und damit wirklich, sondern hat die Schöpfung einer neuen
Wirklichkeit stattgefunden, die nicht bereits als Möglichkeit bestand. Es ist ein Irrtum zu
glauben, die Möglichkeit gehe der Wirklichkeit voraus. Ebenso wie man in anderen
Kontexten den Begriff des Nichts für voraussetzungsärmer hält als den Begriff des
Seins, hält man auch den Begriff des Möglichen für ärmer als den des Wirklichen.
Sowohl die Negation als auch die Möglichkeit kommen jedoch nach Bergson an
zweiter Stelle. Eine Möglichkeit ist für Bergson nichts anderes als eine Wirklichkeit, von
der man sich die Existenz wegdenkt und die man dann in die Vergangenheit projiziert.
Die künftige Literatur ist gerade nicht möglich, solange sie nicht wirklich ist. Mit ihrer
Wirklichkeit kommt erst ihre Möglichkeit. Zu sagen, dass man auch schon vor ihrer
186
Bergson, Henry: Creative Evolution, S. 6f.
187
Bergson, „Das Wirkliche und das Mögliche“, in: Denken und schöpferisches Werden,
S.119f.
106
Die Welt als Kino: Bergson
Verwirklichung hätte so schreiben können, ist nichts weiter als eine Rückprojektion des
Heute ins Gestern. Die Vergangenheit wird mit Möglichkeiten ausgestattet, die zu ihrer
Zeit nie bestanden haben.
„So vollzieht sich nach rückwärts eine beständige Umbildung der Vergangenheit
durch die Gegenwart, der Ursache durch die Wirkung. Wir erkennen das nicht,
und zwar immer aus dem gleichen Grunde, immer im Banne der gleichen Illusion,
immer, weil wir für ein Mehr halten, was tatsächlich ein Weniger ist, und für ein
Weniger, was tatsächlich ein Mehr ist. Geben wir dem Möglichen wieder seinen
rechtmäßigen Platz: dann wird die Entwicklung etwas ganz anderes als die
Verwirklichung eines Programms; die Pforten der Zukunft öffnen sich ganz weit,
ein unbegrenztes Feld eröffnet sich der Freiheit.“188
Schöpfung ist nicht als ein Prozess der Verwirklichung von bestehenden Möglichkeiten
zu denken. Der Gegenbegriff zur Möglichkeit ist der des Virtuellen.
Pierre Levi greift im Anschluss an Bergson und Deleuze diese Unterscheidung auf und
gelangt zu vier Seinsformen: das Dingliche, das Mögliche, das Aktuelle, das
Virtuelle.189 Dinge sind raum-zeitlich lokalisierbare Gegenstände. Sie sind in ihren
Eigenschaften vollständig determiniert. Jede Eigenschaft trifft entweder auf sie zu oder
nicht. Möglichkeiten (oder Potentiale) sind durch und durch determinierte Dispositionen
von Dingen. Genau wie die Dinge vollständig determiniert sind, sind dies auch ihre
Möglichkeiten. Ein technisches Gerät, das tipptopp funktioniert, enthält genau
bestimmte Möglichkeiten, auch wenn sie nie verwirklicht werden oder, um im Jargon zu
bleiben, verdinglicht werden.190 Möglichkeiten sind genau wie die Dinge, es fehlt ihnen
nur an Existenz. Kants berühmtes Beispiel: hundert mögliche Taler haben genau
188
Bergson, „Das Wirkliche und das Mögliche“, in: Denken und schöpferisches Werden,
S.123f.
189
Pierre Lévy, Qu'est-ce que le virtuel?, S.135ff.
190
David Lewis’ mögliche Welten haben die Eigenschaft vollkommen bestimmt zu sein.
Lewis versucht damit der Kritik, wie sie von Quine an den fehlenden Identitätskriterien
von möglichen Gegenständen geübt wurde, zu entkommen. Dies gelingt ihm, indem er
Möglichkeit genau so behandelt wie Quine die Zeit. Wie die Vergangenheit und die
Zukunft nach Quine eine reale, ausgedehnte Existenz führen, siehe den nächsten
Abschnitt, sind Möglichkeiten für Lewis schlicht Wirklichkeiten, die uns räumlich jedoch
nicht zugänglich sind. Es gibt keine kausale Verbindung zu ihnen. Die Differenz zwischen
wirklich und möglich wird zu einem rein indexikalischen Phänomen. Aus einer anderen
Perspektive ist eine Möglichkeit genauso wirklich wie unsere Wirklichkeit, ebenso wie
unsere Wirklichkeit aus der Sicht einer anderen Wirklichkeit eine bloße Möglichkeit ist.
David Lewis behauptet deshalb, zum Schrecken vieler seiner Kollegen, dass es
unendlich viele Welten gibt, die ebenso real sind wie die unsere. Siehe Loux,
Metaphysics, S.180
107
Die Welt als Kino: Bergson
dieselben Eigenschaften wie hundert wirkliche Taler. Dinge und Möglichkeiten sind
Gegenstände der Wissenschaft.
Um die Begriffe des Virtuellen und des Aktuellen zu klären, muss man zwischen
Ereignissen
und
ihrer
Aktualisierung
einerseits,
Möglichkeiten
und
ihren
Verdinglichungen andererseits unterscheiden. Eine Möglichkeit verdinglicht sich, ohne
dass etwas passiert, was nicht schon im Voraus vollkommen bestimmbar gewesen
wäre. Eine Aktualisierung ist dagegen immer eine Kreation. Sie schafft etwas, was es
vorher nicht einmal als Möglichkeit gab.
Die Aktualisierung eines Virtuellen ist ein Ereignis. Eine Möglichkeit realisiert sich
durch Beschränkung, andere Möglichkeiten werden ausgeschlossen. Man denke an
die Wahl eines Menüs von der Speisekarte. Eine Virtualität aktualisiert sich nicht durch
eine Auswahl. Der Maler kann sein Bild nicht einfach durch Ausschluss anderer
Möglichkeiten realisieren. Er muss die Möglichkeit seines Bildes genauso schaffen wie
seine Wirklichkeit. Trotzdem hat der Maler eine Ahnung von seinem Bild. Diese
Ahnung, ohne die der Malprozess ohne Richtung wäre, klärt sich jedoch erst im
Prozess ihrer Aktualisierung, die eine Artikulation der Ahnung des Künstlers ist. Das
Virtuelle ist daher Tendenz, Problem, Spannung, die sich aber erst im Prozess ihrer
Aktualisierung löst und damit zugleich auch klärt. Das Virtuelle tilgt sich in seinem
Produkt. „Das also wollte ich“, kann man am Ende sagen, aber es wäre falsch, das
Produkt
in
einem
Möglichkeitshimmel
rückzuprojizieren,
um
dann
den
Schöpfungsprozess von seinem Produkt her zu erklären. Als Problem ist das Virtuelle
jedoch bestimmt. Es gleicht einer offenen Frage. Einer Frage, in welcher der Sinn der
Worte selbst in Frage steht.
Der Aktualisierung eines Virtuellen steht die Virtualisierung von Dingzuständen
gegenüber. Statt ein Problem zu lösen, bedeutet virtualisieren eine Lösung wieder zu
problematisieren. Man denke an die Virtualisierung eines Unternehmens.191 Ein
virtuelles
Unternehmen
problematisiert
wieder
die
Zustände,
die
in
einem
gewöhnlichen Unternehmen feste Lösungen gefunden habe. Wann arbeite ich? Mit
wem arbeite ich? Wo arbeite ich? Die Virtualisierung schafft keine vorgefertigten
Möglichkeiten, sondern Probleme, deren Lösung den Mitarbeitern übertragen ist. Diese
müssen sich selbst organisieren. Das Unternehmen schafft sich jeden Tag neu. Eine
solche Virtualisierung überführt die aktualen Zustände wieder in eine problematische
Form.192 Virtualisieren heißt daher Kräfte schaffen, die eine neue Existenz möglich
machen.
191
Das Beispiel entnehme ich Pierre Levi, Qu'est-ce que le virtuel?, S.16.
192
Deleuze spricht von Gegen-Verwirklichung. Deleuze, Logik des Sinns, S. 189.
108
Die Welt als Kino: Bergson
Die Fragen, welche die Philosophie stellt, haben diesen virtualvisierenden Effekt. Sie
sind daher nie Fragen, deren Antworten bereits in einem Möglichkeitshimmel
existieren. Die Philosophie fragt nie: Ist es so oder so? Sie fragt nicht, ob eine
Proposition wahr ist oder nicht. Die Frage „Ist die Philosophie elitär?“ ist beispielsweise
nicht die Frage, ob die Wahrheitsbedingungen einer Proposition erfüllt sind, ob eine
Möglichkeit wirklich der Fall ist. Vielmehr wird ein bestimmter Begriff des Elitismus
vorgeschlagen. Was impliziert eigentlich Elitärsein? Die Implikation wird jedoch
gemacht, sie ist eine Konstruktion. Man expliziert nicht einfach einen Begriff, sondern
man stellt ihn her. Da eine Implikation immer eine Virtualität ist und keine Möglichkeit,
kann man diese Konstruktion nicht als unwahr kritisieren, sondern nur als schlechte
Problemstellung ablehnen. Man kann diesen Begriff nicht widerlegen, aber man kann
versuchen, ihm zu widerstehen. Ein Begriff ist keine Proposition, sondern eine Kraft.
Aktualisieren heißt, eine neue Wirklichkeit zu produzieren, die als Lösung eines
Problems begriffen werden muss. Virtualisieren heißt umgekehrt, ein Problem
schaffen, in dem man eine Lösung, ein Aktuelles wieder problematisiert. Beide
Bewegungen gehören zusammen. Eine Aktualisierung virtueller Kräfte produziert
wiederum neue virtuelle Kräfte. Trotzdem gibt es Prozesse, die eher Virtualisierungen
sind als Aktualisierungen, je nachdem ob ein Ereignis viele neue Ereignisse ermöglicht
oder eher eine Sackgasse ist. Nach Bergson sind die einzelnen Arten von Lebewesen
Sackgassen. Der Lebensimpuls kommt in ihnen zum Stillstand. Nur im Menschen mit
seiner Fähigkeit zum Denken schafft sich der Lebensimpuls ein unerschöpfliches
Mittel, treibt sich die Virtualisierung auf die Spitze.193
Um diese Kreisläufe zwischen dem Virtuellen und dem Aktuellen zu beschreiben,
sprechen Deleuze/Guattari von Deterritorialisierung versus Reterritorialisierung.194 Ein
Territorium kann beispielsweise eine Wohnung sein. Eine Wohnung ist ein System von
Gewohnheiten. Jeden morgen greife ich nach der Zahnpasta ohne hinzugucken. Ich
laufe im Dunkel durch die Gänge ohne mich zu stoßen. Ein Raum wird eine Wohnung,
wenn ich in ihm Gewohnheiten ausbilde.195 Zieht nun eine zweite Person in meine
Wohnung, passieren die schlimmsten Dinge. Der Griff ins Leere. Meine Wohnung
deterritorialisiert sich. Je älter ein Mensch ist, desto weniger ist es ihm oft möglich,
solche Deterritorialisierungen noch mitzumachen. Nichts darf sich mehr ändern, weil
193
Deleuze, Henri Bergson, S.133f.
194
Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S.239ff., S.698ff.
195
In Polanskys Der Mieter wird eindrucksvoll beschrieben, was passiert, wenn es einem
nicht gelingt einen Raum zu bewohnen. Horrorfilme spielen häufig mit dem Aufstand der
alltäglichen Dinge, dem Einbruch des Unheimlichen ins Heim. Für die Philosophie hat
Heidegger dieses Phänomen beschrieben. Siehe Heidegger, Sein und Zeit, S.188f.
109
Die Welt als Kino: Bergson
die Kraft, neue Gewohnheiten auszubilden, nicht mehr gegeben ist. Das Ausbilden
einer neuen Gewohnheit ist eine Reterritorialisierung. Ein und dasselbe Ereignis kann
als eine Deterritorialisierung und eine Reterritorialisierung beschrieben werden. Der
Virtualisierungsgrad einer Deterritorialisierung hängt davon ab, ob sie in ein Territorium
führt, das noch mehr Deterritorialisierungen ermöglicht. Nach Bergson hat mit dem
Menschen eine Aktualisierung stattgefunden, die in höchsten Maße neue Virtualitäten
mit sich bringt. Das Virtuelle potenziert sich im Menschen. Durch den Menschen dringt
immer mehr Neues in die Welt ein.
Bergsons und Quines Zeitbegriff
Indem Bergson das Wirkliche dem Möglichen vorausgehen lässt, ist es ihm möglich,
den Ablauf der Zeit als Kreation, als Produktion von Neuem zu denken. Das Neue ist
bei ihm weder eine Kombination ewiger Elemente noch eine bloße Aktualisierung einer
ewigen Wesenheit. Weder Atomismus noch Substanzmetaphysik lässt Bergson zu.
Bergsons Philosophie ist eine Prozessphilosophie. Prozesse sind nicht Veränderungen
an einer mit sich identisch bleibenden Substanz, kein Wechsel von akzidentellen
Eigenschaften. Ein Ereignis ist aber auch nicht ein Gegenstand, den man wie ein Ding
in Raum und Zeit lokalisieren könnte. Ereignisse sind weder im Raum noch in der Zeit,
da sie Übergänge sind. Sie sind nur dann als räumliche denkbar, wenn man die Zeit
dem Raum angleicht. Die Zeit als vierte Dimension des Raumes aufzufassen, lässt
zeitliche Abschnitte eines Gegenstandes wie räumliche Abschnitte wirken. Nach
Bergson ist jedoch dies ein spezifisch wissenschaftlicher Zugang zur Welt. Die
Wissenschaft versucht, Dinge vorauszusagen, sie muss deshalb von dem Prinzip
ausgehen, dass die Zeit wie der Raum gegeben ist, d.h. der Ablauf der Zeit ist
keinesfalls Kreation von etwas Neuem, sondern nur das Abspulen einer vollständig
gegebenen Serie.
Exemplarisch findet sich eine solche Haltung bei Quine. Quine versucht Philosophie
als Wissenschaft zu betreiben. Die Frage nach dem, was es gibt, die Grundfrage der
Ontologie, beantwortet nach Quine die Wissenschaft, von der sich die Philosophie
nicht mehr kategorial unterscheidet. Das Ideal der Wissenschaft wird dabei für Quine
von der Physik verkörpert. Mit dieser behauptet Quine eine Metaphysik der Präsenz.
Vergangenheit und Zukunft sind ebenso gegeben wie die Gegenwart. Ein Ereignis in
der Zukunft ist so objektiv gegeben wie ein ferner Ort in der Gegenwart. Ich bin in
Hamburg, trotzdem ist Berlin objektiv gegeben. Ich lebe 2002, aber 2003 ist ebenfalls
objektiv gegeben, nur nicht für mich. Eine solche Verräumlichung der Zeit macht aus
110
Die Welt als Kino: Bergson
ihr ein subjektives Phänomen. Was nichts anderes heißt, als die Objektivität der Zeit zu
leugnen. Quine folgt hier der modernen Physik. Die grundlegenden physikalischen
Theorien leugnen die Zeit. Interpretiert man diese Theorien als Darstellung der Welt,
wie sie wirklich ist, ist die Welt zeitlos.196 Diese Verräumlichung der Zeit geht einher mit
einer Subjektivierung der Zeit, insofern Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nur
noch einen indexikalischen Stellenwert haben. Etwas als Gegenwart zu bestimmen,
gibt an, wo ich mich in einem vierdimensionalen Raum aufhalte. Physikalisten wie
Quine sind nur konsequent, wenn sie den Begriff des Ereignisses mit dem des
Gegenstandes gleichsetzen und den Begriff der Veränderung oder Bewegung
ablehnen.197 Statt Veränderungen einer Substanz, die über die Zeit hinweg mit sich
identisch bleibt, haben wir nach Quine und Lewis einen vierdimensionalen Raum-ZeitWurm. Meine Haut gestern und mein Sonnenbrand heute markieren nicht eine
Veränderung meines Körpers, sondern sind unterschiedliche Teile von mir, die zu
unterschiedlichen Klassen gehören. Ich bin nicht identisch mit der Person, die ich
gestern war, sondern meine Existenz zerfällt in zeitliche Scheiben. Eine Scheibe
meiner Existenz hat gesunde Haut, eine andere Scheibe meiner Existenz hat
Sonnenbrand. Die Welt besteht aus vierdimensionalen Objekten, die in einem
vierdimensionalen Raum liegen. Objekte an verschiedenen Stellen können nicht
identisch sein. „No entity without identity.”
Bergson lehnt diese Verräumlichung der Zeit zu einer vierten Dimension ab. Er will
jedoch auch keinesfalls zu einer klassischen Substanz-Metaphysik zurück, wie sie bei
Aristoteles formuliert ist. Aristoteles hatte Veränderungen immer an einen Träger
verwiesen, der die Veränderung durchmacht, ohne sich selbst dabei zu ändern.198
Dieselbe Person, die gestern blasse Haut hatte, hat heute Sonnebrand. Es muss
Träger der Veränderung geben, unveränderliche Gegenstände, welche die Substanz
der Welt bilden. Diese Substanzen sind die unveränderlichen Formen oder Essenzen,
in letzter Instanz Gott, der unbewegte Beweger, der Bewegung und damit Veränderung
allererst in die Welt bringt. Diese Substanzen, die das Wesen der Dinge ausmachen,
sind Aristoteles’ Version der platonischen Ideen. Obwohl Quine glühender AntiEssentialist ist, hat er mit Aristoteles gemeinsam, dass beide letztlich eine Ontologie
der Präsenz vertreten. Der eine setzt einen ewigen Träger der Veränderung, der
196
Genz, Wie die Zeit in die Welt kam.
197
Zum Eternalismus siehe Loux, Metaphysics, S.207ff, dem ich diese Darstellung von
Quines und Lewis’ Position entnehme.
198
Heute fällt eine solche Position unter das Etikett des Perdurantismus, siehe Loux,
S.207ff.
111
Die Welt als Kino: Bergson
andere leugnet die Zeit schlichtweg. Bergson dagegen greift auf heraklitische
Gedanken zurück. Heraklit hatte die Idee des Vorrangs des Seins vor dem Werden
geleugnet. Das Werden braucht keinen unbeweglichen Träger. Damit ist er der erste
Prozessphilosoph. Über die Stoiker, Leibniz, Nietzsche, Peirce, Bergson, James,
Dewey, Whitehead und Deleuze zieht sich die Tradition der Prozessphilosophie.
Bergson versucht zu zeigen, dass Ereignisse die fundamentalen ontologischen
Entitäten sind. Dinge, ob konkrete oder abstrakte, sind nur Momentschnitte dieses
Werdens. Damit dreht er die aristotelische Betrachtungsweise um. Die Metaphysik
enthüllt eine bewegliche, sich verändernde Welt. Der Alltagsverstand sowie die
Wissenschaft denken dagegen in Ding-Kategorien.199 Den eingefrorenen Zuständen
unter dem Schein des Aktuellen wieder ihre Bewegung zurückzuverleihen, ist nach
Bergson die Aufgabe der Philosophie. Das Denken der Zeit, der Dauer ist die Intuition.
"...intuitiv denken heißt in der Dauer denken. Der Verstand geht gewöhnlich aus
vom Unbewegten und rekonstruiert recht und schlecht die Bewegung durch
nebeneinander gesetzte unbewegliche Punkte. Die Intuition geht von der
Bewegung aus, setzt sie oder vielmehr erfasst sie als die Wirklichkeit selber und
sieht in der Unbeweglichkeit nur eine Abstraktion, gleichsam eine
Momentaufnahme unseres Geistes."200
Dispositionale Eigenschaften ohne substantielle Träger
Eigenschaften fehlt in Bergsons Ereignisphilosophie ihr substantieller Träger, das
ausgedehnte, immer aktuale Ding. Dieses wird von Substanzphilosophen mit
wesentlichen
Eigenschaften
ausgestattet,
die
nicht
dispositional
sind.
Diese
Eigenschaften gelten als primär. Sie sind nicht durch Relationierung aktualisiert,
sondern kommen dem Ding kontextlos zu. Spricht man beispielsweise einem Stück
Zucker Wasserlöslichkeit zu, so muss für den Eternalisten diese dispositionale
Eigenschaft eine aktuale Basis haben. Diese aktuale Basis kann in der Mikrostruktur
des Zuckers bestehen. Die dispositionalen Eigenschaften sind letztlich reduzierbar auf
diese aktualen Eigenschaften. Jeder Veränderung eines Dinges muss eine solche
aktuale Basis zugrunde liegen. Es gibt essentielle, aktuale Eigenschaften, die einem
Ding primär zukommen. Dispositionale Eigenschaften sind immer sekundär diesen
gegenüber. Letztlich ist alles in aktualen Eigenschaften ausdrückbar, d.h. es gibt,
199
Heidegger wird diese Bergson’schen Gedanken aufgreifen.
200
Bergson, “Einleitung (Zweiter Teil)“, Denken und schöpferisches Werden, S. 46.
112
Die Welt als Kino: Bergson
betrachtet man die letzten Bestandteile der Welt, so etwas wie Veränderungen gar
nicht. Für einen allwissenden Geist liegt die ganze Welt ausgebreitet vor, der Zucker
hat sich entweder aufgelöst oder nicht. Dispositionen, Möglichkeiten, Vergangenheit,
Zukunft, all dies existiert für ihn nicht wirklich. Eine Möglichkeit, eine Disposition
verdankt sich immer der Unwissenheit eines Beobachters. Fragen, Probleme,
Indeterminiertheiten sind immer nur subjektiv. Die Welt enthält keinerlei Ungewissheit,
keinerlei Unklarheiten, keinerlei Fragen. Bergson würde eine solche Position als
Produkt-, statt Prozessdenken klassifizieren. Der Eternalist setzt eine Ready-MadeWorld. Alles ist bereits geschehen. Es gibt keinerlei wirkliche Bewegung in der Welt.
Selbst wenn ein Possibilist wie Lewis mögliche Welten einführt, so sind diese ebenso
ready-made wie die wirkliche Welt. Bergson lässt dies nicht zu. Eine Eigenschaft wie
Ausdehnung ist für ihn genauso dispositional wie eine Farbeigenschaft. Auch die
Eigenschaft der Ausdehnung muss aktualisiert werden. Bergson versucht die
Aktualisierung der Ausdehnung als „Entspannung“ zu denken. Ein Problem ist virtuell,
geistig, es hat keine räumliche Ausdehnung, weil es gespannt ist, wie eine unendlich
zusammengedrückte Feder. Die Entspannung dieser Feder ist die Aktualisierung und
damit Verkörperung der Feder, sie dehnt sich in Raum und Zeit aus. Mechanisierte
Materie ist demnach der spannungsloseste Zustand des Geistes.201
Wenn eine Prozessphilosophie den immer aktualen Träger leugnet, ist sie gezwungen
alle Eigenschaften als dispositional und relational zu setzen. Sie muss daher den
Begriff einer reinen Disposition zulassen. Virtuelle Gegenstände sind diese reinen
Dispositionen.202 Es sind reine Kräfte, die keineswegs auf Dinge wirken, sondern sich
als Dinge aktualisieren. Dispositionen werden nicht von Dingen getragen, sondern
Dinge werden von ihren Dispositionen getragen. In jedem Ding ist so seine ganze
Zukunft als auch Vergangenheit virtuell enthalten. Damit ist nicht mehr gemeint, als
dass man ein Ding durch seine Ursachen und Wirkungen bestimmen muss. Ein
einfaches Beispiel: Welche Bedeutung hat ein Wort? Dies hängt entscheidend von der
vielfältigen Rezeption ab. Damit ändert sich auch die Bedeutung des Wortes. Der
Interpret macht das Wort ebenso wie der Sprecher. Was für Worte gilt, gilt für jedes
201
Bergson, Materie und Gedächtnis, S.175ff.
202
Es wäre interessant, Bergson mit Gilbert Ryle zu vergleichen, der eine
Dispositionstheorie des Geistes entworfen hat. Nach Ryle ist es falsch, Begriffe wie
Überzeugung und Wunsch als materielle Dinge aufzufassen. Sie sind bloße
Dispositionen und als solche nicht ausgedehnt. Auch das Planparadox und der Begriff
des Knowing How bei Ryle verweisen auf Bergsons Kritik am Möglichkeitsdenken. Siehe
Ryle, Der Begriff des Geistes.
113
Die Welt als Kino: Bergson
Phänomen. Jedes Ding ist, was es kann. Ein Vermögensgrad.203 Es hat keinerlei
intrinsische Eigenschaften, sondern alle Eigenschaften sind Dispositionen, die in
bestimmten Kontexten aktualisiert werden. Aktuale Eigenschaften sind also niemals
primär, sondern bloß Eigenschaften, die in einem bestimmten Kontext aktualisiert
werden. In einer solchen Denkweise geht der Unterschied zwischen primären und
sekundären Eigenschaften unter. Die sekundären Eigenschaften waren Eigenschaften,
die bloß im Kopf eines Subjekts aktualisiert werden (Empfindungen, Wahrnehmungen,
Werte), während primäre Eigenschaften dort draußen, unabhängig von einem Subjekt,
lokalisiert wurden. Erstere sollten auf letztere reduzierbar sein. Mit Bergson gibt es
jedoch keine Reduktionsbasis mehr. Alles steht zur Disposition. Eigenschaften wie
Ausdehnung müssen ebenso aktualisiert werden wie eine Farbeigenschaft. Schon
Leibniz hatte diese Kontextualität von Raum und Zeit Newtons absoluten Raum- und
Zeitbegriff entgegengesetzt. Raum und Zeit sind nicht denkbar, außer als Relationen
zwischen Dingen. Die Existenz eines leeren Raumes ist damit ausgeschlossen. Ohne
ausgedehnte Dinge gibt es keinen Raum. Diese Degradierung von primären
Eigenschaften läuft auf die Absetzung eines physikalistischen Weltbildes hinaus. Der
Physiker beschreibt ebenfalls nur dispositionale Eigenschaften. Die Dinge sind nicht in
einem primären Sinn ausgedehnt und nur in einem sekundären, relationalen Sinn
wertvoll, schmerzhaft oder interessant.204
Virtualität und Zeit
Wir hatten gesehen, dass die Zukunft für eine solche Prozessphilosophie prinzipiell
nicht vorhersagbar ist, weil die Bewegung der Zeit eine schöpferische ist. Nicht bereits
203
Deleuze nennt diese Denkweise, ein Ding nicht durch eine Wesensform, sondern durch
seine Kraft zu definieren, Manierismus und führt diese Position auf die Stoiker zurück. Ein
Ding durch seine Kraft zu definieren, diese Position findet sich wieder bei den Empiristen,
natürlich bei Spinoza und dann vor allem im Pragmatismus.
204
Richard Rorty erklärt im Anschluss an Peirce die Abschaffung des Unterschieds
zwischen primären und sekundären Qualitäten, wie er sie Berkeley zuschreibt, als
Gründungsstunde des Pragmatismus. Rorty, „Ist Naturwissenschaft eine natürliche Art?“,
in: Richard Rorty, Eine Kultur ohne Zentrum, S.41. Ich denke, Berkeley ist gerade ein
falsches Beispiel. Denn bei Berkeley geht die Aufhebung der Differenz mit einer
Subjektivierung einher, alles ist bloß im Kopf. Dewey oder James lehnen diesen
Subjektivismus ab. Sie sind Leibniz und seinen Nachfolgern wie Bergson und Whitehead
viel näher als Berkeley. Allgemein kann man den Pragmatismus als eine Philosophie
bestimmen, die den Begriff des Wesens durch den der Kraft ersetzt. Der Pragmatismus
ist also Teil des Manierismus, wie ihn Deleuze definiert. Siehe Fußnote 210.
114
Die Welt als Kino: Bergson
gegebene Möglichkeiten werden realisiert, sondern virtuelle Kräfte aktualisieren sich in
einem kreativen Prozess. Das Ganze ist nicht gegeben, sondern offen, eben weil es
weder aktual oder möglich, sondern virtuell ist. Das Aktuelle und das Mögliche sind
determiniert, das Virtuelle ist dagegen ein Prozess, eine kontinuierliche Variation. Das
Virtuelle hat keinerlei Extension weder zeitliche noch räumliche, aber es ist die
Aktualisierung einer Extension, sei es einer räumlichen oder einer zeitlichen. Jede
Gegenwart enthält eine virtuelle Vergangenheit und Zukunft, die sie überhaupt erst als
vergängliches Moment konstituiert. Sie ist ein Werden, ein Übergang von
Vergangenheit in Zukunft. Die Vergangenheit ist das Gesamt ihrer Ursachen, die
Zukunft das Gesamt ihrer Wirkungen.205 Ursachen und Wirkungen sind virtuell im
Ereignis enthalten. Dieses Enthaltensein ist ein alogisches. Zwei Möglichkeiten können
sich ausschließen, zwischen Virtualitäten gibt es jedoch keine negativen Beziehungen.
a sei eine Gegenwart, ag: das gestern von a, am: das morgen von a. b und c sind
Zeitpunkte nach a, die wiederum eine eigene Vergangenheit oder Zukunft haben.
Wenn wir diese Zeitpunkte anordnen, erhalten wir:
t0 t1 t2 t3 t4
a g a am
bg b bm
cg
c
cm
(t2 markiert beispielsweise denselben Zeitpunkt wie am, b, cg)
Ein Eternalist liest am, b und cg als morgen von a, heute von b und gestern von c, die
alle auf denselben Zeitpunkt verweisen. Was immer sich zum Zeitpunkt am abgespielt
hat, muss sich auch zum Zeitpunkt b und cg abgespielt haben. Dieselbe Gegenwart
kann nicht eine Eigenschaft haben und nicht haben.206 Wenn eine Person zum
205
Ursache und Wirkung sind dispositionale Begriffe, sie verweisen auf Virtualitäten. Ein
strenger Physikalist muss deshalb die Rede von Ursachen und Wirkungen ablehnen. Für
ihn ist die Rede von Ursache und Wirkung eine anthropomorphe oder animistische.
206
Hier liegt der Grund, warum der Eternalist die Zeit letztlich leugnen muss. Ein und
dasselbe Ding kann nicht eine Eigenschaft haben und nicht haben. Ein Zeitpunkt ist
einmal als morgen, einmal als gestern zu beschreiben. Beide Termini können jedoch
nicht auf denselben Zeitpunkt zu treffen, weil sie sich wechselseitig ausschließen.
McTaggart folgert daher die Unmöglichkeit der Zeit. Der Einwand, dass morgen und
gestern indexikalische Termini sind und daher auf denselben Zeitpunkt zutreffen können,
wenn man nur die Zeitpunkte der Prädikation differenziert, verschiebt nach McTaggart
nur das Problem. Man bringt damit nur eine zweite Ebene ins Spiel, auf die wiederum
sich ausschießende Prädikate zutreffen. Mit anderen Worten, die indexikalischen Termini
lassen sich nicht durch nicht-indexikalische Termini ersetzen. McTaggart spricht von B-
115
Die Welt als Kino: Bergson
Zeitpunkt b unschuldig ist, kann sie nicht zu Zeitpunkt cg schuldig werden. Sie kann
nicht durch ein späteres Ereignis also c im Nachhinein, also zu cg, schuldig werden. Da
b und cg denselben Zeitpunkt markieren, können diesem nicht zwei sich
ausschließende Eigenschaften zukommen. Wir müssen sagen, dass die Person nie
schuldig war oder immer schon schuldig war. Dieser Auffassung liegt die Intuition
zugrunde, dass die Wahrheit einer Proposition auf ewig zukommt. Jeder Zeitpunkt hat
eine Eigenschaft oder nicht. Entweder ein Ding hat eine Eigenschaft zu einem
bestimmten Zeitpunkt immer schon gehabt oder es wird sie nie haben. Eine
Möglichkeit ist entweder in dieser Welt wirklich oder sie konnte sich in dieser Welt nie
verwirklichen. Bergson lehnt die Ewigkeit der Wahrheit ab, er verzichtet darauf am, b
und cg gleichzusetzen. Das Gestern von morgen ist nicht das Morgen von gestern.
Der Bergsonianer Marcel Proust spielt mit diesem Phänomen in A la recherche du
temps perdu. Der unglücklich Verliebte stellt sich eine Zukunft vor, in der er das Objekt
seiner Begierde, das ihn verschmäht hat, mit Verachtung strafen kann, weil er seine
Liebe überwunden hat. Er versteht nicht, dass sein Wunsch nach Rache in einer nichtverliebten Gegenwart nicht mehr existieren wird. Die zukünftige Rache klebt an der
noch verliebten Gegenwart und wird, ist die Liebe erst überwunden, ebenfalls
überwunden sein.207 Das Morgen von heute wird nicht das Gestern von morgen sein.
Wir müssen jedoch nicht Proust bemühen. Dasselbe Phänomen macht den Erfolg
eines Selbsthilfe-Buches aus, mit dem man sich das Rauchen abgewöhnen kann.208
Dieses Buch schafft es mit sprachlichen Mitteln eine Zukunft zu vergegenwärtigen, die
der Raucher als Raucher gerade nicht imaginieren kann. Statt sich das Aufgeben der
Zigarette nach dem Essen oder zum Kaffee als einen Verzicht zu imaginieren, soll man
sich vergegenwärtigen, dass man als Nicht-Raucher bei gleicher Gelegenheit niemals
ein Verlangen verspürt hat. Selbst wenn der Raucher sich die Zukunft als Nichtraucher
- also ab - vorstellt, stellt er sich gemeinhin eben nicht b oder cg vor. Obwohl am und b
identisch scheinen, sind sie es nicht. Am ist noch von a aus betrachtet. Das Buch nun,
vermittelt b oder cg, nicht nur soll man sich das Nichtraucher-Sein vorstellen, man soll
es sich als Nichtraucher vorstellen. Das Buch gibt einem die Erinnerungen und Träume
und A-Reihen. Die erste Reihe wird durch starre Relationen wir "früher" oder "später"
gebildet, die zweite durch indexikalische Termini wie "heute" oder "morgen". Die B-Reihe
setzt nach McTaggart die A-Reihe voraus. Die A-Reihe ist aber inkonsistent. Unter der
Prämisse, dass eine Eigenschaft definitiv einem Gegenstand zukommt oder nicht
zukommt, kann es daher keine Zeit geben. Ich entnehme diese McTaggart-Darstellung
einem interessanten Text, der McTaggarts Leugnung der Zeit mit der Zeittheorie der
Zenphilosophie in Beziehung setzt. Siehe Vorenkamp: "B-Series Temporal Order in
Dogen's Theory of Time", in: Philosophy East and West, S. 387-408.
207
Siehe Genette, Die Erzählung, S. 24.
208
Carr, Endlich Nichtraucher.
116
Die Welt als Kino: Bergson
eines Nichtrauchers zurück. Man wird Nichtraucher durch semantische Injektionen
einer fremden Zukunft, die sich gerade dann erfüllt, wenn man sie für seine eigene
hält.209
In diesem Zeitverständnis erhält jeder einzelne Moment seine Eigenschaften durch
seine Position in einem sich ständig verändernden Geflecht. Jedes neue Ereignis kann
zur einer Neubeschreibung der Vergangenheit führen, die dann neue Eigenschaften
erhält. Dabei bildet jedes Ereignis eine Perspektive aus, die nicht mit den vergangenen
wie zukünftigen Perspektiven zur Deckung gebracht werden muss.
Virtualität und Holismus
Wir hatten oben gesagt, dass Bergson einen Holismus vertritt, der jedoch entgegen
dem Hegelschen oder dem Holismus des französischen Strukturalismus das Ganze als
nicht gegeben nimmt. Jetzt können wir sagen, dass das Ganze deshalb nicht gegeben
ist, weil es die Zeit selbst ist. Es ist kontinuierlicher Variation. Weil es ständige
Bewegung ist, und alle seine Teile sich verändern, ist eine abschließende Bestimmung
eines Teils nicht denkbar. Das Ganze ist nicht gegeben, d.h. es ist nicht aktual,
sondern virtuell.
Die Welt kann daher nach Bergson nicht durch allgemeine Kausalgesetze bestimmt
werden. Den Dingen liegt nicht eine Struktur zugrunde, die ihre Veränderung reguliert,
ohne sich selbst zu verändern. Es gibt nichts Universales, kein Eines, das sich den
Vielen entgegensetzt. So sind kausale Prozesse zunächst immer singulär. Das
Allgemeine muss vom Singulären aus erklärt werden.210 Allgemeine Gesetze entstehen
209
Ähnlich Borges Idee des Einbruchs der Fiktion in die Realität. Siehe "Tlön, Uqbar und
Orbis Tertius", in: Borges, Fiktionen, S. 15. Auf diese Weise denkt Latour, wie wir im
letzten Kapitel dieser Arbeit sehen werden, den Übergang von einem modernen zu einem
a-modernen Selbstverständnis. Wir hören auf modern zu sein, indem wir begreifen, dass
wir nie modern gewesen sind. Dieselbe Bewegung beschreibt Davidson in "Paradoxes of
Irrationality", in: Philosophical essays on Freud, S.289ff. Dort spricht er von
Selbstveränderungen, für die wir keine Gründe haben, die wir im Nachhinein aber als
begründet beschreiben. Diese Prozesse sind so etwas wie unbegründete Begründer oder
besser sich selbst begründende Prozesse. Sie schaffen ihre eigenen
Bewertungskriterien.
210
Peirce entwickelt eine Theorie der allgemeinen Gesetze als „habits“. Peirce, „Was ist ein
Naturgesetz?“ in: Naturordnung und Zeichenprozess, S.292. Gesetze sind für Peirce
nichts Fundamentales, sondern selbst zu erklären. Whitehead wird diese Theorie
aufgreifen. Gesetze sind Abstraktionen. Das Konkrete kann aber niemals durch
Abstraktionen erklärt werden. Ebenso Deleuze/Guattari: „Das erste Prinzip der
117
Die Welt als Kino: Bergson
erst auf der Basis von Gewohnheiten. Gesetze haben eine nicht-gesetzesartige
Genese.211 Fällt ein Ding unter ein Gesetz, wird seine Virtualität zu einer Potentialität
reduziert. Das Ding geht in einen Gesetzeszusammenhang ein. Man denke an
sprachliche Konventionen, die den Ausdruck einschränken, dafür aber verlässliche
Dispositionen schaffen. Dinge werden berechenbar. Deleuze zitiert immer wieder
Gabriel Tarde, einen französischen Soziologen und Zeitgenossen Bergsons, der
ebenso wie Bergson am Collège de France tätig war und eine an Leibniz orientierte
Soziologie entwickelt hat, jedoch dann von Durckheim verdrängt wurde. Der Streit
zwischen Tarde und Durckheim betraf die Frage, ob die Postulierung von Totalitäten,
etwa einer Gesellschaft, die mehr ist als ihre Mitglieder, irgendetwas erklärt. Tarde
meinte, dass Durckheim sich etwas vorgibt, was man zunächst erklären müsste,
nämlich die Ähnlichkeiten von Millionen von Menschen.212 Das Allgemeine ist immer
ärmer als das, was es erklären soll. Die Gesellschaft ist viel weniger komplex als die
Individuen, die sie bilden. Das Kleine ist immer komplexer als das Große, das
Singuläre ist vielfältiger als das Allgemeine. Es gibt eine Kausalität unabhängig von
Gesetzen. Ein Ereignis kann eine anderes verursachen, ohne dass beide unter ein
allgemeines Kausalgesetz fallen. Eine solche Verursachung ist nicht determiniert,
sondern kreativ. Anders als der klassische Holismus versucht Bergson nicht die
Pluralität der Welt durch ein Ganzes zu bändigen, in dem jedes Ding als Teil seinen
Platz findet. Ein solches Ganzes wäre geschlossen. Das offene Ganze Bergsons ist
dagegen das Gegenteil eines Bandes zwischen den Dingen. Es bindet nicht, sondern
entbindet. Es determiniert nicht, es normiert nicht, sondern es ist schöpferisch.
Deleuze/Guattari werden von Fluchtlinien sprechen. Mit Bergson wird die Philosophie
kein Begründungsunternehmen sein, sondern schöpferisch.
Philosophie ist, dass die Universalien nichts erklären, sondern selbst erklärt werden
müssen.“ Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S.11.
211
Für eine solche Position stellt sich daher nicht das Problem des Gesetzesregresses,
nach dem jedes Naturgesetz wiederum durch ein anderes Gesetz erklärt werden muss.
212
Davidson ist heute Tarde sehr nahe, wenn er in Kontext der Bedeutungstheorie die
These vertritt, dass die Postulierung von Konventionen, ja die Existenz einer Sprache
überhaupt, das Pferd von seinem Schwanz her aufzäume. Gelingende Verständigung
erklärt Konventionen und nicht umgekehrt. Siehe Davidson „Kommunikation und
Konvention“, in: Wahrheit und Interpretation, S. 372ff. sowie Davidson, „Eine hübsche
Unordnung von Epitaphen“, in: Picardi, Schulte(Hg.), Die Wahrheit der Interpretation,
S.203ff. Siehe auch Jasper Liptow, Verständigung ohne Sprache, unv. Manuskript.
118
Die Welt als Kino: Bergson
Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus
Einen Realisten muss dieses Denken abschrecken. Er macht den Versuch, die Welt
als vollkommen bestimmt zu denken und alle Unbestimmtheit zu subjektivieren. Die
Realität ist für ihn unabhängig von unserem Denken. Realisten machen daher eine
starke Unterscheidung zwischen dem Epistemischen und dem Ontologischen. Dass wir
etwas entdecken, heißt entweder, dass es die ganze Zeit über schon da war oder dass
es subjektiv, eine bloße Projektion, lediglich im Kopf des Betrachters, nur eine
sekundäre Eigenschaft ist. Zumindest die primären Eigenschaften, das Physikalische,
war immer schon da, immer aktuell.
Die Abweichler von einer solchen Position berufen sich meist auf Kant. Kant, als Vater
des subjektiven Konstruktivismus, sagt uns, dass das Ontologische im Sinne der
Realisten niemals zu erfassen ist. Epistemische Bedingungen sind die Bedingungen
der Möglichkeit des Erscheinens von Gegenständen. Erscheinungen sind alles, was
wir erkennen können. Kant rettet die Einheit und Bestimmtheit der Welt, indem er diese
Ideen deontologisiert. Mit subjektiven Mitteln versucht er die Objektivität der Erkenntnis
zu begründen. So geben wir als transzendentale Richter der empirischen Welt ihre
Gesetze vor. Die Kategorie der Kausalität ist sozusagen eine formale Prozedur im
kantischen Gerichtssaal. Aus Ontologie wird Erkenntnistheorie. Die Kant’sche Lösung
hielt jedoch nicht lange. Die Historisierung der Erkenntnis, die Naturalisierung wie
Kulturalisierung Kants führt in eine Pluralität von konstituierten Welten. Zu viele
Gerichte, zu viele abweichende Urteile. Die Relativierung des kantischen „A priori“
durch
die
Biologie,
Neurologie,
Psychologie,
Soziologie,
die
historischen
Wissenschaften, die Ethnologie beginnt. Die Welt ist bloß vom Gehirn konstruiert oder
bloß vom Unbewussten oder Ideologie einer sozialen Klasse oder Ausdruck einer
historischen Epoche. Jede Einzelwissenschaft kann sich der Kant'schen Vorstellungen
bedienen und ausrufen: „Ich bin das eigentliche transzendentale Subjekt.“ „Wir sind die
wahren Konstruktivisten.“ Je mehr es allerdings tun, umso unplausibler wird der ganze
Konstruktivismus.
Die Bergson’sche Alternative besteht darin, den Gegensatz von epistemischer und
ontologischer Denkweise, von ihm als Idealismus und Realismus bestimmt, zu
hintergehen. Bergson wählt als Ausgangspunkt eine weder idealistisch noch realistisch
zu denkende Basis. Die Realität wird von Bergson aus Bildern bestehend bestimmt.
Sie ist Vorstellung, aber nicht unsere Vorstellung, sondern Vorstellung an sich.
Bergson nimmt dem Konstruktivismus sein subjektives Element. Nicht unser Gehirn
erzeugt Farben oder Töne, die wir dann in die Welt projizieren, sondern die Welt ist
farbig und tönend und zwar genau dort, wo wir Farben und Töne wahrnehmen. Die
119
Die Welt als Kino: Bergson
Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten wird abgelehnt, alles was
angeblich bloß unsere Konstruktion ist, ist wirklich dort draußen. Allerdings ist dieses
„Draußen“ ein Prozess. Es ist nicht immer schon da, „ready made“, sondern „always in
the making“. Wie wir noch sehen werden, impliziert dies einen Perspektivismus, der die
eine Welt des Realisten durch eine Pluralität von Welten ersetzt. Aus dem Universum
des Realisten wird ein Multiversum. Ich werde diesen Punkt im sechsten Kapitel wieder
aufnehmen. Im folgenden Kapitel werde ich den Anti-Repräsentationalismus des
Bergsonianers Gilles Deleuze vorstellen. Der Bergson'sche Begriff des Bildes an sich,
der Bilder weder als Bilder von Objekten noch als Bilder für Subjekte deutet, wird von
Deleuze im Begriff des Trugbildes wieder aufgegriffen. Der Gedanke eines Universums
aus Trugbildern, die keine Abbilder eines Urbilds sind, ist nach Deleuze Ausdruck einer
Philosophie der Univozität, die jede Aufteilung des Seins in verschiedene ontologische
Kategorien verwirft. Eine Philosophie der Repräsentation ist mit der Univozität des
Seins nicht zu vereinbaren.
120
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
V. Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus
Rekognition
Das Trugbild ist nicht etwa ein Abbild, reißt
vielmehr alle Abbilder nieder, indem es
auch die Urbilder stürzt: Jeder Gedanke
wird zur Aggression.
Gilles Deleuze
Die Aufhebung des Gegensatzes von Subjektivität und Objektivität verlangt nach einer
Ontologie der Univozität. Alles was existiert, muss dieselbe ontologische Würde haben.
Es darf keine ontologischen Hierarchien mehr geben. Der Bergsonianer Gilles Deleuze
hat den Gedanken der Univozität des Seins zu einer Kritik der Philosophie der
Repräsentation ausgearbeitet. Anders als Richard Rorty in seiner Kritik an der
Metapher vom „Spiegel der Natur“ vermeidet Deleuze jeden Flirt mit dem
Sozialkonstruktivismus. Unter Rückgriff auf Spinozas Subjektkritik einerseits und die
Tradition der Prozessphilosophie andererseits kehrt Deleuze zu den Wurzeln des
Pragmatismus, wie er von Peirce, James und Dewey verstanden wurde, zurück.213
Vorspiel mit Quine: Zweimal Wüste
Um in den Anti-Repräsentationalismus von Deleuze einzuführen, möchte ich ihn mit
einem Philosophen vergleichen, der ihm vollkommen entgegengesetzt erscheint:
Quine.
213
Die folgende Deleuze-Darstellung verdankt viel dem Deleuze-Buch von Alain Badiou,
dem wohl besten Text über Deleuze. Siehe Badiou, The Clamor of Being. Badiou stellt
den Begriff der Univozität in den Mittelpunkt seiner Darstellung. Dies übernehme ich von
ihm. Trotzdem denke ich, dass Badiou den Pragmatismus und Empirismus in Deleuzes
Denken über Gebühr vernachlässigt. Badiou betont Deleuzes Monismus, schwächt aber
seinen Pluralismus ab. Das Interessante an Deleuzes Position ist gerade die These, dass
ein Denken, das von der Differenz ausgeht und jegliche notwendigen, d.h. internen
Beziehungen zwischen den Dingen leugnet, mit der Univozität des Seins zusammenfällt.
Pluralismus=Monismus, so die Zauberformel aus Tausend Plateaus, siehe
Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S.35.
121
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Quine ist der größte Anti-Philosoph des 20.Jahrhunderts, dem Jahrhundert der AntiPhilosophie.214 Deleuze dagegen ein durch und durch klassischer Philosoph, der von
sich sagt:
„Mich hat die Überwindung der Metaphysik oder der Tod der Philosophie nie
berührt, der Verzicht auf das Ganze, die Einheit, das Subjekt, ich habe nie ein
Drama daraus gemacht.“215
Quine und Deleuze, der Physiker und der Metaphysiker. Trotzdem gibt es einige
unerwartete Gemeinsamkeiten. Beide teilen eine aristokratische Grundeinstellung: die
Philosophie muss dem Mann auf der Straße nicht gerecht werden.216 Beide verstehen
Philosophie als Ontologie. Sie lehnen damit den kantischen Zugang zur Philosophie
ab. Beide lehnen das Konzept einer ersten Philosophie ab. Philosophie ist keine
Begründungswissenschaft. Ebenso lehnen beide Strawsons Konzept einer deskriptiven
Metaphysik ab oder auch die Wittgenstein’sche Idee, dass philosophische Wörter auf
ihren Alltagsgebrauch zurückgeführt werden müssten, wie es die Ordinary Language
Philosophie
versucht
hat.
Beide
sind
naturalistische
Monisten
und
lieben
Wüstenlandschaften. Beide sind Anti-Platonisten. Was trennt sie eigentlich? Quine hält
Philosophie für eine Wissenschaft, Deleuze nicht. Quine glaubt, dass es kein Seiendes
geben kann, das nicht über eine klare, raum-zeitlich individuierbare Identität verfügt,
Deleuze deutet das Sein als Differenz. „No entity without difference“. Quine glaubt,
dass alles Seiende raum-zeitlich lokalisierbare Gegenstände sind, diese Gegenstände
sind starr. Sie verändern sich nicht, es sind ewige Gegenstände. Deleuze dagegen
glaubt, dass es nur Ereignisse gibt, Schein ist dagegen das raum-zeitlich lokalisierbare
Ding sowie die Ewigkeit, über die es verfügen soll. Quines Wüste ist körnig. Sie ist aus
raum-zeitlich lokalisierbaren Dingen zusammengesetzt. Deleuzes Wüste ist faltig. Eine
214
Quine ist definitiv Philosoph und doch vertritt er den Abbau aller Unterscheidungen, die
der Philosophie im Verhältnis zur Wissenschaft eine Autonomie belassen könnten. Ob
Wesen, Möglichkeiten, a priori Wissen, Bedeutung, Intentionalität oder Intensionen Quine
versucht sämtliche ontologischen Dschungellandschaften zu verwüsten, er ist der Agent
Orange der Philosophie. Wo Quine zugelangt hat, wächst kein philosophisches Gras
mehr. Die Krone des größten Antimetaphysikers des 20. Jahrhunderts gebührt daher
weder Wittgenstein oder Carnap noch Heidegger, Derrida oder Rorty, sondern Quine.
215
Deleuze, „Die Dinge aufbrechen, die Worte aufbrechen.“, in: Unterhandlungen, S. 129.
216
Wie oben bereits erwähnt ist "Um so schlimmer für den Mann auf der Straße" Quines
Slogan. Quine glaubt nicht, dass man den Intuitionen des Common Sense Rechnung
tragen muss. „Science knows best“ ist sein Motto. Deleuze widmet ein ganzes Kapitel
dem langen Irrtum, die Philosophie würde dem gesunden Menschenverstand (bon sens)
oder dem Gemeinsinn (sens commune) dienen. Siehe Deleuze, Differenz und
Wiederholung, S.169ff.
122
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
glatte Oberfläche faltet und entfaltet sich. Einzelne raum-zeitliche Dinge sind nur die
Falten dieser Wüste. Quine unterscheidet ontologisch nicht zwischen Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft. Das Vergangene existiert im selben Sinne wie die
Gegenwart. Deleuze postuliert dagegen mit Bergson die Gegenwart als Übergang des
Virtuellen ins Aktuelle und umgekehrt. Die Gegenwart impliziert immer eine virtuelle
Vergangenheit und Zukunft. Die Bezugnahme auf Vergangenes oder Zukünftiges ist
daher immer die Bezugnahme auf etwas Virtuelles.
Quine und Deleuze stehen für zwei sehr unterschiedliche Versionen einer univoken
Ontologie.
Ihre
Ähnlichkeiten
ergeben
sich
aus
demselben
Sinn
für
Wüstenlandschaften, die Unterschiede durch eine vollkommen andere Vorstellung über
die Eigenschaften dieser Wüste. Ein physikalistischer Monismus steht einem
metaphysischen Monismus gegenüber.
Repräsentation und Differenz
Exister c’est différer...
Gabriel Tarde
Nur was abweicht, existiert. Dies ist der Grundgedanke von Deleuzes Philosophie.
Allerdings ist „Abweichung“ ein Begriff, der in die Irre führt. Denn er scheint zu
implizieren, dass es zunächst ein Modell geben muss, damit etwas davon abweichen
kann. Genau diesen Schluss zu bekämpfen, ist das Anliegen von Differenz und
Wiederholung. Das Paradox, die Kontra-Intuition, lautet: Zunächst die Abweichung,
dann das Modell. Nicht die gleichbleibende Identität, das, was subsistiert, sich erhält,
ist ontologisch privilegiert, sondern umgekehrt die Differenz, der Prozess, verstanden
als Veränderung ohne Träger, werden an erste Stelle gesetzt. "Gekrönte Anarchie".217
Deleuzes Philosophie ist damit ein extremer Antikonservatismus. In Differenz und
Wiederholung zeigt Deleuze, wie von Platon und Aristoteles bis zu Leibniz und Hegel
der Gedanke der Repräsentation und damit der Vorrang des Identischen die
Philosophie unter dem Joch der Transzendenz gehalten hat. Identität, Ähnlichkeit,
Begriff und Urteil sind die Grundbegriffe der repräsentationalistischen Philosophie.
Nach ihr besteht die Welt aus Dingen, die Eigenschaften haben. Dinge ähneln
einander, weil sie universelle Eigenschaften exemplifizieren. Urteilen heißt, einem Ding
eine Eigenschaft zuzusprechen, es einen Typ exemplifizieren zu lassen, es auf seinen
217
Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 61.
123
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Begriff zu bringen. Repräsentieren heißt, ein Modell aufzurichten, ein Muster
hochzuhalten, dem die Dinge entsprechen oder entsprechen sollen. Das einzelne Ding
kann immer nur als Exempel eines allgemeinen Typs von der Repräsentation erfasst
werden. Nur das, was den Dingen gemein ist, lässt sich repräsentieren.
Damit schafft sich die Repräsentation eine Welt nach ihrem Bilde. Die Differenz kann
für sie nur negativ, als Abweichung von einem Modell gedacht werden. Damit entgeht
ihr die ungebundene Differenz.
"Der Repräsentant sagt: "Alle Welt anerkennt, dass...", aber es gibt stets eine
nichtrepräsentierbare Singularität, die nicht anerkennt, eben weil sie nicht alle
Welt oder das Universale ist. "Alle Welt" anerkennt das Universale, da sie ja
selbst das Universale ist, das Singuläre aber erkennt es nicht an, das tiefe
sinnliche Bewusstsein nämlich, das jedoch dessen Unkosten tragen soll. Das
Unglück beim Sprechen besteht nicht im Sprechen, sondern darin, für die
anderen zu sprechen oder etwas zu repräsentieren." 218
Das einzelne Ding in seiner Singularität ist nicht repräsentierbar. Hegel macht sich am
Anfang der Phänomenologie über den Empirismus lustig, der eine unmittelbare
Erkenntnis postuliert.219 Das Einzelne ist immer nur durch Vermittlung eines
Allgemeinen erkennbar. Die Differenz zwischen zwei Aktualisierungen desselben
Typus kann daher nur unbegrifflich und nicht repräsentierbar sein. Nur Raum und Zeit
trennt zwei Exempel desselben Begriffs. Hier und nicht dort, jetzt und nicht später,
mehr kann die empirische Erkenntnis nicht stammeln. Alle Bestimmung kommt erst
durch den Begriff. Hier wird die Differenz zur begrifflichen Differenz, zum Unterschied
oder Gegensatz. Ein Begriff wird immer durch Ausschließungsverhältnisse und
hierarchische Implikationsverhältnisse bestimmt. Er steht in internen Relationen zu
anderen Begriffen. Der Begriff des Menschen impliziert den des Tieres und schließt
den des nicht-rationalen Tieres aus. Reine Differenzen dagegen sind ungebunden. Ihre
Beziehungen sind immer extern. Ihre Begegnung ist kontingent. Man kann ihr
Zusammentreffen nicht vorhersagen, da sie nicht unter Gesetze fallen, die immer nur
für das Allgemeine gelten. Sie sind so überraschend wie die Begegnung einer
Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Operationstisch.220
218
Deleuze, Differenz und Wiederholung, S.78.
219
Hegel, Phänomenologie des Geistes, S.82ff.
220
Heute müsste man sagen: die Begegnung einer Maus mit einem menschlichen Ohr in
einem Laboratorium.
124
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Deleuzes Philosophie ist eine Ereignisphilosophie. Deleuze übernimmt Bergsons
Zeitbegriff. Wie Bergson denkt er die Zeit als virtuell. Ein virtuelles Ereignis ist ebenso
real wie ein aktuelles Objekt, es hat jedoch keinerlei Extension. Virtuelle Ereignisse
sind nicht ausgedehnt, sondern Grenzen zwischen ausgedehnten Dingen.221 Grenzen
müssen dabei als körperlos gedacht werden. Sie sind nicht Teil der Dinge. Solange
jemand noch nicht tot ist, ist er noch lebendig. Sobald er tot ist, lebt er nicht mehr. Der
Zeitpunkt des Todes, das Sterben hat keine Ausdehnung. Es ist ein körperloser Schnitt
zwischen zwei zeitlich ausgedehnten Abschnitten. "Sterben" ist das Ereignis einer
Grenzziehung. Als unkörperliche Entitäten sind Grenzen, und damit das ganze Thema
der Individuation, das Thema der Metaphysik par excellence.222 Ein Ding kommt in die
Welt, indem sich eine Grenze durch das Sein zieht. Das Sein faltet sich. Eine Faltung
ist das Ereignis einer Grenzziehung, einer Differenzierung. Das Sein teilt sich in
unterschiedliche Körper. Körper sind im Raum, sie sind ausgedehnt und Aktualitäten.
Jede Aktualität muss jedoch als eine Aktualisierung, jeder Körper als Produkt eines
Prozesses gedacht werden. Während bei Quine alle Gegenstände, vergangene wie
gegenwärtige, über eine Extension verfügen, die Vergangenheit also ebenso körperlich
ist wie die Gegenwart, enthält bei Deleuze das Virtuelle alle Zeiten simultan. Alle Zeiten
sind real. Wie Quine lehnt Deleuze den Aktualismus ab, nachdem nur die Gegenwart
über Realität verfügt und Vergangenheit und Zukunft nur im Kopf sind. Anders als bei
Quine verfügen bei Deleuze Vergangenheit und Zukunft nicht über eine Ausdehnung.
Sie haben eine rein mentale Existenz, sie sind virtuell. Diese virtuelle Welt hat keine
Ausdehnung, ihre Elemente werden nicht raum-zeitlich individuiert, sondern durch
221
Der Ausdruck „Grenze“ ist vielleicht schlecht gewählt, denn Deleuze versucht gerade die
Differenz von jeglicher Negation zu lösen. Als Grenze erscheint die Differenz erst nach
ihrer Aktualisierung. Als virtuelle impliziert sie keinerlei Negativität. Deshalb kann Deleuze
mit Meinong die unmöglichen Objekte zulassen. Das Mögliche und das Wirkliche
unterliegen dem Gesetz des ausgeschlossenen Dritten, das Virtuelle nicht. Niemand
kann Mensch und Tier, Mann und Frau sein, nicht einmal die Möglichkeit ist gegeben. Ein
Mensch kann jedoch Tier werden, ein Mann kann Frau werden.
222
Deleuzes gesamte Arbeit durchzieht der Begriff der Linie und der Oberfläche. Zur
Oberfläche siehe Deleuze, Logik des Sinns, S.19ff, zur Linie Deleuze, Differenz und
Wiederholung, S.50, Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S.283, Deleuze/Parnet,
Dialoge, S.135ff. Linie wie Oberfläche sind Grenzen. Eine Linie ist die Grenze zwischen
zwei Oberflächen, eine Oberfläche die Grenze zwischen zwei Körpern. Die Formel n-1,
immer eine Dimension weniger, wie man sie in Tausend Plateaus (S.41) findet, meint das
Denken in Grenzbegriffen. Dabei darf man sich die Grenze nicht als etwas von dem
Begrenzten getrenntes vorstellen. Deleuze vermeidet eine Dualität zwischen Sein und
Grenze, indem er die Grenzziehung als Faltung des Seins denkt. Ein und dasselbe Ding
ist sowohl Grenze als auch die Materie, in die sich die Grenze einschreibt.
125
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
verschiedene Intensitätsstufen.223 Sie lässt sich daher nicht in Regionen aufteilen, sie
unterwirft sich keinen Eigenschaften oder auch nur Klassen. In ihr gibt es keine
ontologischen Kategorien oder Hierarchien. Diese Welt drückt sich in einer
transkategorialen Sprache, einer Sprache des Univoken aus.
Univozität und Metapher
Virtualisieren haben wir mit Bergson als die Intuition der Zeit definiert, das
Wiederflüssigmachen von einmal gegebenen Antworten. Man versucht, die Dinge von
ihren Grenzen her zu denken. Grenzen, die sie ebenso sehr konstituieren wie
aufheben. Virtualisieren heißt also nicht, das Existierende zu begründen, sondern zu
entgründen. Oder besser, eine Begründung ist immer auch eine Entgründung. Jeder
Grund ist ein kontingenter Grund, ein Abgrund. Die Dinge werden wieder
problematisiert, in Frage gestellt. Die Probleme sind aber nicht als in bloße Frageform
umgeschriebene Propositionen zu betrachten. Denkt man sich die Frage nach dem
Modell der Antwort, verfehlt man die Ebene, auf der sich die Fragen erst bilden. Oscar
Wilde wurde gefragt, ob er gesündigt hätte. Dies ist nicht einer meiner Begriffe, war
seine Antwort.224 Ebenso die Feministen Wittig auf die Frage, ob sie eine Vagina habe.
Nein, ihre Antwort.225 Solche Antworten weisen die von der Frage angebotenen
Möglichkeiten zurück. Sie stellen den Sinn einer Frage in Zweifel. Den Sinn einer
Frage in Zweifel zu ziehen, heißt die Frage zu problematisieren, etwas ganz anderes
als die Möglichkeit, nach der gefragt wurde, zu bejahen oder zu verneinen. Dazu muss
die Frage bewusst nicht verstanden werden. Der Philosoph weist deshalb sowohl
Common Sense als auch Wissenschaft zurück. Er wird Idiot, er ist immer ein Laie, ein
Amateur, inkompetent. Schlechte Laune und böser Wille sind die Grundtugenden des
Philosophen.226 Ein hartnäckiger Wille, das Selbstverständliche nicht zu verstehen. Der
223
Ein einfaches Beispiel für intensive Individuierungen sind die Quartett-Spiele der Kinder.
Ein Auto wird durch seine Höchstgeschwindigkeit, Beschleunigung und so weiter
individuiert. Nicht seine Lage in der Raum-Zeit, sondern seine Fähigkeiten machen es
unterscheidbar. Ein anderes Kinder-Beispiel wäre das Spiel Topfschlagen. Der Ort des
Topfes wird über Intensitäten angegeben. Kalt, warm, wärmer, heiß, ganz heiß... Das
Tasten nach erogenen Zonen wäre ein Erwachsenenspiel, das mittels intensiver
Individuierungen verfährt.
224
Brandom, Making it explicit, S.126.
225
Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S.226.
226
So Foucault in seiner Rezension zu Differenz und Wiederholung. Foucault, „Theatrum
philosophicum“, in: Foucault/Deleuze: Der Faden ist gerissen, S. 50.
126
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Philosoph muss begriffsstutzig, schlecht gelaunt, und contra-intuitiv, böswillig, sein. Der
Nonsens ist daher der ständige Begleiter der Philosophie. Der Philosoph operiert
immer an der Grenze zwischen dem, was gar keinen Sinn hat, dem Nicht-Sinn und
dem, was man allzu schnell versteht, dem Klischee, der Gewohnheit. Die Grenze
selbst jedoch ist der Übergang des einen ins andere.
Richard Rorty bestimmt die Metapher als ein solches Mittelglied zwischen Sinn und
Nicht-Sinn.227 Jeder neue Gedanke beginnt nach Rorty als Verstoß gegen die Regeln
der Sprache. Er ist nicht buchstäblich zu nehmen, sondern hat nur eine "übertragene"
Bedeutung. Ein solcher Verstoß ist keinesfalls ein einfacher falscher Satz. Der Satz ist
vielmehr paradox, unsinnig oder allzu offensichtlich falsch oder wahr.228 Ein Satz, der
deutlich macht, dass er nicht in der konventionellen Bedeutung genommen werden will.
Mit Davidson lehnt es Rorty jedoch ab, den Bedeutungsbegriff so weit auszudehnen,
dass er neben wörtlicher auch metaphorische Bedeutung umfasst. Metaphern sind für
Rorty bloße Geräusche. Auf eine Metapher kann man nur kausal reagieren. Sie ist
nicht Teil eines Rechtfertigungsvokabulars. Rorty verwendet hier wieder den
Gegensatz zwischen Rechtfertigung und Kausalität, Sprache und bloßer Natur, den er
von Sellars übernimmt. Streng genommen kann es für Rorty keine Metaphern geben,
sondern nur Geräusche oder eben buchstäblich zu nehmende Wörter. Damit versucht
Rorty, eine rationale Bewertung der metaphorischen Neubeschreibung unmöglich zu
machen. Es gibt keine Kriterien, die man an eine Metapher anlegen kann. Sobald man
Gründe für eine Metapher geben kann, stirbt die Metapher und wird zu einem
buchstäblich zu nehmenden Wort. Tote Metaphern sind für Rorty keine Metaphern
mehr. Ein metaphorischer Satz kann niemals wahr oder falsch, begründet oder
unbegründet sein, sondern nur in einem rein kausalen Sinn durchschlagen oder nicht.
„Man kann ihn nur schlucken oder ausspucken.“229
Auch Deleuze versteht den sinnverletzenden Satz, das Paradox, als eine Gewalt:
„Jedesmal, wenn man einen konkreten und gefährlichen Gedanken ersinnt, weiß
man wohl, daß er nicht von einer expliziten Entscheidung oder Methode abhängt,
227
Rorty, "Unfamiliar Noises: Hesse and Davidson on metaphor", in: Proceedings of the
Aristotelian Society, suppl. vol. 61, 1987, S. 283-96.
228
Verstöße gegen analytisch wahre Sätze haben einen solchen Unsinnseffekt. Im
Gegensatz zu einem synthetisch wahren Satz sind analytische Sätze wahr in allen
möglichen Welten, in denen die Entitäten, über die sie sprechen, existieren. Gegen einen
solchen Satz zu verstoßen, heißt die Grenzen des Möglichen zu verschieben.
229
Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S.45.
127
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
sondern von einer Gewalt, der wir begegnen, an der wir uns brechen, die uns
gegen unseren Willen bis zu den Essenzen führt.“ 230
Anders als Rorty lehnt er es jedoch ab, den Sinn als einen bloßen Kausalprozess zu
definieren, dessen Erklärung man den Wissenschaften überlassen kann. Rorty hält das
Entstehen eines neuen Vokabulars für etwas, das Kulturwissenschaftler oder
Neurologen erklären könnten. Deleuze hält den Sinn für ein Ereignis, das Neues in die
Welt bringt und weder über Gründe noch über Ursachen in der Vergangenheit erklärt
werden kann. Daher ist der Gegensatz zwischen Kausalerklärung und rationaler
Begründung, der Gegensatz von Überzeugen und Überreden, Rechtfertigung und
bloßer Verursachung, auf den Sinn nicht anwendbar.231 Der Sinn ist ein Prozess, der
seine eigenen Kriterien der Gültigkeit wie auch seine eigenen Ursachen hervorbringt,
er ist weder nach vorgängigen Normen zu beurteilen noch mit Hilfe mechanistischer
Kausalgesetze vorherzusagen.232 Was Bergson über die schöpferischen Prozesse
sagt, dass sie nicht als einem Modell folgend entstanden sein können, das sagt
Deleuze über den Sinn, dass er nicht unter die Begriffe wahr und falsch fallen kann, da
diese immer eine bereits etablierte Bedeutung voraussetzen. Wie Rorty wendet sich
auch Deleuze gegen den Begriff der Metapher in aller Schärfe. Er reserviert den Begriff
der Metapher jedoch für eine Metaphernauffassung, die im Gegensatz zu Rortys
Metaphernkonzept einen ontologischen Dualismus impliziert. Der Begriff der Metapher
setzt immer zwei Seinsbereiche voraus, von denen nur einer die zugesprochene
Eigenschaft buchstäblich besitzt. Die Metapher ist an die Voraussetzung einer
kategorialen Ontologie gebunden. Überträgt man Begriffe der einen Kategorie auf die
Gegenstände einer anderen Kategorie, entsteht eine Metapher. Metaphern sind nach
dieser Auffassung Kategorienfehler. Eine Metapher ist daher nicht einfach ein falscher
Satz oder ein unvertrautes Geräusch, sondern ein sinnloser Satz. Sinnvoll sind Sätze
230
Deleuze, Proust und die Zeichen, S. 82.
231
Ganz ähnlich jedoch auch Rorty in: Kontingenz, Ironie und Solidarität, S.90f. Dort erklärt
Rorty, dass die Rede von Ursachen versus Gründen nur innerhalb eines Vokabulars
sinnvoll ist. Rorty gerät jedoch in einen Widerspruch, wenn er zum einen die
Unterscheidung zwischen Gründen und Ursachen vokabularrelativ macht, zum anderen
dieselbe Unterscheidung verwendet, um aus einer Außenperspektive den Wechsel
zwischen Vokabularen als bloß verursacht zu beschreiben. Ganz abgesehen davon, dass
Rorty, wenn er von der Verursachung eines Vokabulars redet, genau denselben Fehlern
begeht, den Sellars den Empiristen vorwirft, wenn diese von der Verursachung von Ideen
sprechen. Siehe Kapitel 1 dieser Arbeit.
232
Rorty drückt sich häufig so aus, als ob er glaubte, dass ein neuer Gedanke
psychoanalytisch oder mit Hilfe von Neurowissenschaften „mechanisch“ erklärt werden
kann. Solche Redeweisen sind jedoch krude Reduktionismen, die Rorty kaum ernsthaft
verteidigen kann. Siehe Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S.43.
128
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
die bestimmte Eigenschaften nur einer bestimmten Kategorie von Dingen zusprechen.
Ein Satz wie "Gerhard Schröder ist 2 Meter lang" ist falsch, aber sinnvoll, ein Satz wie
"Der Gedanke ist 2 Meter lang" ist nicht einmal falsch, weil er sinnlos ist. Gedanken
können keine Länge haben. Ausgedehnte Dinge und geistige Dinge bilden zwei sich
ausschließende ontologische Kategorien, deren Übertretung einen sinnlosen Satz
erzeugt. Anders als Rortys Metaphernkonzept gesteht diese Auffassung der Metapher
eine „metaphorische“ Bedeutung, vielleicht sogar einen Erkenntniswert zu. Auch hört
nach dieser Konzeption eine Metapher dadurch, dass sie in den Sprachgebrauch
aufgenommen wird, nicht auf eine Metapher zu sein. Eine tote Metapher bleibt eine
Metapher, da Kategorienfehler notwendig falsche Sätze sind. Die Metapher kann daher
auch nur eine Art „Als ob“-Erkenntnis verschaffen. Buchstäblich ist die Metapher falsch,
aber als Analogie liefert sie Einsichten. Den Metaphernbegriff abzulehnen, heißt für
Deleuze diese kategoriale Ontologie und den Begriff der analogen Erkenntnis
abzulehnen und stattdessen eine univoke Ontologie zu vertreten. Geist und Natur sind
identisch.
Das
Sein
wird
univok
von
allem
Seienden
ausgesagt.
Eine
Immanenzphilosophie hat die Aufgabe, eine univoke Sprache zu entwickeln. Sie muss
daher das Denken in ontologischen Kategorien ablehnen und kann daher nicht in
Metaphern sprechen. Während Rorty die Metapher als sprachliche Neuerung
bestimmt, die streng genommen keine Bedeutung hat, weshalb Rorty das Konzept der
metaphorischen Bedeutung ablehnt, lehnt Deleuze die Metapher wegen ihrer
kategorialen Implikationen ab. Die Metapher steht nicht für das Neue, sondern für den
Versuch
unvergleichbare
Dinge
zu
vergleichen,
die
Differenz
der
Identität
unterzuordnen.
Univozität und Kategorien
Indem Rorty behauptet, dass Metaphern Geräusche sind, die Gedanken verursachen,
wirft er das Problem der kausalen Verknüpfung von Natur und Geist auf.
Kausalverhältnisse zwischen Geist und Körper, ein Geist bewegt einen Körper oder ein
Körper wirkt auf einen Geist ein, führen in das Problem, wie es möglich sein soll, dass
eine nicht-ausgedehnte Entität eine ausgedehnte bewirken kann und umgekehrt. Dies
ist das Problem aller Dualisten, das Descartes mit einer magischen Kausalität in der
Zirbeldrüse zu lösen versucht. Sind Geist und Körper jedoch identisch, dann träfen alle
Eigenschaften des Geistes auf dasselbe zu, auf das auch körperliche Eigenschaften
zutreffen. Ein Kausalverhältnis würde zwar auch weiterhin nicht zwischen Geist und
Körper bestehen, aber dies wäre jetzt nicht mehr mysteriös, denn zwischen ein und
129
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
demselben kann es keine Kausalität geben.233 Für eine kategoriale Sicht des Seins
kann es jedoch keine Identität zwischen Geist und Körper geben, denn was einer
Kategorie angehört, kann nicht auch einer anderen angehören. Kategorien sind
exklusiv. Ein monokategoriales System, eine Kategorie, die Körper und Geist als Arten
ein
und
desselben
enthält,
ist
durch
die
Logik
des
aristotelischen
Klassifikationssystems ausgeschlossen.234 Es kann keine oberste Kategorie geben,
weil die Eigenschaften, die spezifischen Differenzen, mit denen man Arten einer
Gattung unterscheidet (die Rationalität als spezifische Differenz der Art Mensch in der
Gattung Tier) selber ein Seiendes sind. Wäre das Sein eine oberste Gattung, dann
könnten die spezifischen Differenzen des Seins nicht selbst sein, weil sich die Gattung
von der spezifischen Differenz nicht prädizieren lässt. Man kann vom Menschen sagen,
dass er ein Tier ist und dass er über Rationalität verfügt, aber man kann nicht von der
Rationalität sagen, dass sie ein Mensch ist. Wäre das Sein eine oberste Gattung,
dürften man von den spezifischen Differenzen, die es in Arten unterteilen, nicht sagen,
dass sie sind. Das Sein muss deshalb für die obersten Gattungen, die Kategorien,
analog ausgesagt werden. Akzidenzien sind in einem anderen Sinne als Substanzen.
Zwischen ihnen besteht zudem noch eine Hierarchie. Akzidenzien sind nur in einem
sekundären Sinne seiend, nur insofern sie in Substanzen sind. Der Körper, das
Akzidentelle, Veränderliche und der Geist, die ewige Form, teilen nicht dieselbe
Kategorie des Seins, sondern das Sein kommt dem Körper nur analog zum Geist zu,
insofern er dem Geist entspricht, den ewigen Formen. Deleuze zeigt, dass der Begriff
des Urteils auf dieser analogen Konzeption des Seins beruht.235 Etwas muss Modell
sein, dem ein anderes zu entsprechen hat, in dessen Namen es beurteilt wird. Modell
und Kopie stehen dabei auf verschiedenen Seinsebenen. Das Modell ist in einem
buchstäblichen Sinne, während die Kopie nur als zweite, analoge ist. Das Modell für
die Kopie zu nehmen ist ein Kategorienfehler, eine Metapher, mit Wittgenstein könnte
man sagen, ein grammatisch, nicht ein empirisch falscher Satz. Etwa wenn man sagt,
das Urmeter in Paris sei nur einen halben Meter lang, oder die Druckvorlagen der
Staatsbanken seien gefälscht. Das Modell stimmt notwendig mit sich überein. Die
Kopie dagegen ist nur insofern als Kopie existent, wie sie mit dem Modell
233
Rorty möchte natürlich eine solche monistische Position vertreten. Er macht sich nur
nicht klar, dass ein solcher Monismus mit dem Dualismus von Sein und Sollen, Fakten
und Normen, wie er ihn von Sellars übernimmt, nicht zu vereinbaren ist. Siehe den
Exkurs zu Spinoza.
234
Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, S. 57.
235
Deleuze, Differenz und Wiederholung, S.51ff.
130
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
übereinstimmt. Was gar keinem Modell ähnelt, ist schlicht nicht existent, es ist ein
bloßes Trugbild, ein Phantasma.
Ein transkategoriales Vokabular arbeitet ohne die Begriffe von Modell und Kopie. Es
verteilt das Sein univok. Es muss dem Satz „Die Druckvorlagen der Staatsbanken sind
gefälscht“ einen nicht metaphorischen Sinn geben. Die Gegner der Univozität des
Seins müssen dagegen die Metaphorizität eines transkategorialen Vokabulars
behaupten, das Modell darf für sie niemals auf dieselbe Weise wie die Kopie behandelt
werden. Man kann jeden einzelnen Geldschein in seiner Echtheit anzweifeln, aber
niemals die Autorität der Staatsbanken. Das Sein analog zu deuten, ist nach Deleuze
ein theologisches Denken, man erschafft etwas Transzendentes, ein heiliges, sakrales
Element. Eine transkategoriale Sprache, eine Sprache der Univozität zu entwickeln,
heißt demnach die Dinge zu profanisieren, sie von jedem Bezug auf eine Norm zu
lösen. In Tausend Plateaus sprechen Deleuze/Guattari vom Konsistenzplan, um den
Gegenstand der Philosophie zu bezeichnen. Von diesem heißt es:
„Wenn man (...) die Konsistenzebene betrachtet, dann bemerkt man, dass sich
auf ihr die disparatesten Dinge und Zeichen bewegen: ein semiotisches
Fragment liegt neben einer chemischen Interaktion, ein Elektron stößt mit einer
Sprache zusammen, ein schwarzes Loch fängt eine genetische Botschaft ein,
eine Kristallisation erzeugt eine Leidenschaft, Wespe und Orchidee durchziehen
einen Brief... Dabei gibt es kein „wie“, es ist nicht „wie ein Elektron“, „wie eine
Interaktion“ etc. Die Konsistenzebene ist die Abschaffung aller Metaphern; alles,
was besteht, ist real.“236
Das Leben ist nur eine tote Metapher
Ein Beispiel für diese Problematik ist der Streit um Zuschreibung von "echter"
Intentionalität. Die Biologie ist eine Kandidatin für eine Sprache, die sich zwischen eine
mechanistische Physik und dem Vokabular, in dem wir selbstbewusste Subjekte
beschreiben, stellt. Wie ich am Beispiel Dennetts oder Leibniz’ erläutert habe, kann der
Dualismus von Bewusstsein und Materie überbrückt werden, wenn man bereit ist, ein
intentionales Vokabular auf nicht sprachbegabte, nicht selbstbewusste Gegenstände
anzuwenden. Dennett spricht von „frei schwebenden Gründen“, um die Entwicklung
von Lebewesen in intentionaler Begrifflichkeit darzustellen.237 Damit ist ausgedrückt,
236
Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 98.
237
Dennett, Ellenbogenfreiheit, S.38.
131
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
dass die Dinge die Gründe, die sie in die Existenz bringen, nicht kennen müssen.
Anders als bei Handlungen bewusster Subjekte, welche die Gründe aus denen sie
handeln kennen, kennen Lebewesen diese nicht.
Ein ganzer Chor von Philosophen antwortet ihm, dass Dennetts Intentionalität bloß „als
ob“, nur metaphorisch zu nehmen ist. Diese Auffassung findet sich an prominenter
Stelle bei Kant in der Kritik der Urteilskraft. Hier wendet Kant sich gegen die
Vorstellung von Zwecken ohne Zwecksetzer. Zwecke ohne Zwecksetzer meint dabei
nicht anderes als Intentionalität ohne Bewusstsein.238 Zwecke in der Natur, Leben als
sich selbsterzeugendes Phänomen ist für Kant nur im Modus des "Als ob", als
Metapher, als Analogie zuzulassen. Diese Metapher hat Erkenntniswert, bleibt aber
immer eine Metapher.239 Das gesamte Vokabular der Biologie ist metaphorisch. Leben
ist nur eine tote Metapher. Hier liegt der Grund für eine gemeinsame Abhandlung über
Ästhetik und Biologie in einem einzigen Buch. Gegen Kant wird von naturalistischen
Szientisten, der rechten Hand der Wissenschaft, behauptet, dass seit Darwin die
Biologie auf „teleologische“ Begrifflichkeit verzichten könne. Die Biologie sei vollständig
mechanisierbar und nur aus Zeitgründen oder zu pädagogischen Zwecken verwende
sie Begriffe wie Leben, Anpassung, „egoistische“ Gene etc. Wenn Philosophen wie
Dennett Recht haben, die Biologie als Technik zu verstehen, deren Grundbegriffe
Zwecke und Ziele implizieren, dann kann diese Position jedoch nicht mehr
aufrechterhalten werden. Eine begriffliche Reduktion des biologischen Vokabulars auf
ein rein physikalisches ist dann ausgeschlossen. Es bleibt dann bei Kant. Die Biologie
ist auf das Hineinlesen geistiger Phänomene in die Natur angewiesen. Sie kann ihr
Vokabular aber nicht wörtlich nehmen, sie ist eine metaphorische Disziplin, der
Ästhetik verwandt. Selbst Dennett zögert seiner Rede von intentionalen Systemen, die
volle ontologische Würde zu geben. Anders als Dennett zögern Kantianer jedoch nicht
aus szientistischen Gründen, sondern weil sie die Vorstellung von Zwecken ohne
Zwecksetzer nicht akzeptieren wollen. Ihr Denken steht letztlich in der Tradition einer
Philosophie der Transzendenz, die den Geist der Natur gegenüberstellt. Gott schafft
die Natur, aber er ist nicht identisch mit dem, was er schafft. Gott steht außerhalb
seiner Schöpfung, er ist ein transzendenter Gott. Was er schafft, ist zweckmäßig nur in
238
Kant, Kritik der Urteilskraft. Siehe die Kritik der teleologischen Urteilskraft.
239
Gert Keil vertritt heute eine solche Position. Siehe Keil, Kritik des Naturalismus. Keil
versucht dort zu zeigen, dass sich die Naturalisierung des Geistes einer
anthropomorphen Metaphorik verdankt. Man liest den Geist in die Natur hinein, um ihn
dann auf die so aufgeladene Natur zu reduzieren. Mit Kant glaubt Keil nicht an eine
Mechanisierung der Biologie, er geht sogar so weit den Kausalitätsbegriff oder den
Begriff der Bewegung als „intentional“ geladen zu denken. Die Biologie arbeitet mit toten
Metaphern. Tote Metaphern bleiben für Keil aber Metaphern und damit Kategorienfehler.
132
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Bezug auf einen vorhergehenden Plan, eine ursprüngliche Intention. Das Bild eines
intentional Handelnden ist dieser göttlichen Transzendenz abgeguckt.
In der Geschichte der Philosophie gibt es wohl keinen Philosophen, der diese
theologische Auffassung des Verhältnisses von Geist und Natur so vehement kritisiert
hat, wie Spinoza. Der Anti-Subjektivismus ist also nicht etwa eine „postmoderne“
Erfindung, wie uns einige kurzatmige Kommentatoren weismachen wollen. Deleuzes
Subjektkritik ist nichts anderes als eine Reaktualisierung Spinozas.240 Nach Spinoza
darf weder Gott noch der Mensch als ein nach Zwecken handelndes Wesen
verstanden werden. Gott bringt die Welt ebenso wenig hervor, wie ein Geist auf einen
Körper einwirken kann. Gott und die Welt sind vielmehr identisch. Gott bringt sich
selbst hervor, indem er die Welt hervorbringt. Spinozas Gott ist der Welt immanent.
Und auch jeder endliche Geist ist der Welt immanent.241
Sowohl eine Konzeption von Theorie als Abbild der Natur als auch von Praxis als
Verwirklichung eines idealen Modells ist daher für Deleuze im Anschluss an Spinoza
die Folgen einer analogen Konzeption des Seins. Stets wird der Geist oder die Natur
zum Modell erhoben, dem sein Gegenüber zu entsprechen hat. Repräsentation als
Spiegel der Natur entspricht der idealistischen Idee des Handelns als Verwirklichung
eines Plans. Repräsentationen und Intentionen haftet damit das Merkmal der
Negativität an. Es kann immer auch schief gehen. Der Gegensatz von logischer und
kausaler Verknüpfung, von Sollen und Sein, ist auf dieser Negativität begründet.
Intentionen haben Erfüllungsbedingungen, die sie verfehlen können: ein Plan scheitert.
Repräsentationen haben Wahrheitsbedingungen, die nicht erfüllt sein können: eine
Überzeugung ist falsch. Intentionen und Repräsentationen implizieren also den Begriff
von Modell und Kopie, den Gegensatz von Norm und Genormtem.
Der Normativismus der Repräsentation
Eine Bestätigung dafür, dass der Begriff der Repräsentation mit dem der Norm
einhergeht, bietet heute die Theorie der Repräsentation von Robert Brandom.
Brandom macht darauf aufmerksam, dass für das Merkmal der Objektivität ein Moment
240
Deleuze hat ein Buch über Spinoza geschrieben, in dem er vor allem den Gedanken der
Immanenz herausarbeitet. Siehe Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in
der Philosophie.
241
Siehe den Appendix zu Spinoza.
133
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
der Transzendenz gebraucht wird. Eine Aussage wahr zu nennen, ist nach Brandom
nichts anderes als die Affirmation eines sprachlichen Folgerungsverhaltens. Aussagen
sind Folgerungen, Übergänge. Eine korrekte Folgerung ist dabei nicht eine, die de
facto gefolgert wird, sondern eine Folgerung, die gefolgert werden sollte. Ein falscher
Satz ist einer, der nicht aus seinen Prämissen folgt, obwohl er de facto gefolgert wird.
Jemand folgert einen Satz, obwohl er ihn nicht folgern sollte.242 Er tut etwas Falsches,
weil er die objektiven, d.h. die normativen Implikationen des Satzes, den er gebraucht,
überschreitet. Sagen, dass es regnet, obwohl es nicht regnet, impliziert, dass der Satz,
den man äußert, die Bedeutung hat, es regnet. Er hat eine bestimmte inferentielle
Rolle, auch wenn der Sprecher dieser nicht gerecht wird, sozusagen aus der Rolle fällt.
Nur so kann man auf einen Fehler festgenagelt werden. Wenn sich die Bedeutung des
Satzes immer den faktischen Folgerungsverhältnissen anschmiegen würde, gäbe es
keinen Irrtum. Der Spalt zwischen Sollen und Sein begründet die Möglichkeit des
Fehlers und ist essentiell mit dem Begriff der Repräsentation und der Intention
verbunden. Logisch drückt sich dies in der Intensionalität von Sätzen aus, mit denen
man Überzeugungen und Absichten zuschreibt. Das Phänomen der Intensionalität
verweist auf eine Perspektive, von der aus die Welt beschrieben wird. Die
Nichtsubstituierbarkeit von Termini in intensionalen Kontexten wird von Robert
Brandom daher in der sozialen Perspektivität von Ich und Du fundiert.243 Diese
Perspektiven sind jedoch miteinander verzahnt. Sie teilen alle einen Wahrheitsbegriff,
der die verschiedenen Perspektiven auf die Vorstellung von einer Welt, einer Wahrheit
rezentriert. In Auseinandersetzung mit Rorty wird deutlich, dass Brandom keinesfalls
einen Perspektivismus, wie ihn James oder Nietzsche in Radikalisierung von Leibniz
entwickelt
haben,
vertreten
will.
Die
Perspektiven
laufen
in
einem
nicht-
perspektivischen Gehalt zusammen. Rorty sagt deutlich, dass er die Rede vom nichtperspektivischen Gehalt ablehnt.
„Brandom thinks that „thought and talk give us a perspectival grip on a
nonperspective world.” For Nietzsche, Dewey and Goodman there are
perspectives all the way down, but for Brandom there seems to be something
more.”244
242
Brandom, Making it explicit, S.3ff.
243
Brandom, Making it explicit, S.495ff.
244
Rorty, “Robert Brandom on Social Practices and Representations”, in: Truth and
Progress, S. 131. Zum Perspektivismus siehe auch das Kapitel VI dieser Arbeit.
134
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Brandom ist jedoch zuzugestehen, dass der Begriff der Objektivität die Konvergenz der
Perspektiven benötigt. Wie wir anhand von Kants transzendentaler Konstitution von
Erfahrung gesehen haben, kann Gegenstandserkenntnis nicht ohne ein Subjekt und
nach Wittgenstein nicht ohne den Begriff des Anderen gedacht werden. Identität von
Gegenständen und die Fähigkeit der Rekognition bedürfen der Vermittlung von
Perspektiven über die Zeit und über Personen hinweg. Die Frage ist vielmehr, welchen
Stellenwert die Fähigkeit der Rekognition im Denken einnimmt. Ist Denken primär
Wiedererkennen? Es ist alles andere als klar, ob die Fähigkeit der Rekognition auf alle
Denkprozesse ausgedehnt werden kann. Rekognition ist jedoch die einzige
Denkbewegung, die Brandom in seinem Buch zu erklären versucht. Wie wir schon
anhand von Rortys Unterscheidung zwischen "wahr in einem Vokabular" und "die
Wahrheit eines Vokabulars selbst" gesehen hatten, ist es möglich, dass es
Denkbewegungen gibt, die sich nicht in den Begriffen deuten lassen, die man
verwendet, um bereits etablierte Begriffe zu beschreiben. Brandoms Bild des Diskurses
arbeitet mit der Idee von normativen Implikationen. Woher kommen diese
Implikationen? Wer bestimmt den Inhalt eines Begriffs? Die Idee, dass Begriffe
vorgegeben sind und von uns nur expliziert werden, ist die alte platonische Idee. Der
Pragmatismus lehnt diese Vorstellung ab. Ein weiterer Grund, Brandom nicht unter die
Pragmatisten zu zählen.
Der lange Irrtum
Deleuze widmet in seinem Buch "Differenz und Wiederholung", das den Untertitel
"Making it implicit" tragen könnte, ein ganzes Kapitel dem "langen Irrtum", das Denken
als Organ des Wiedererkennens zu konzipieren.245 Das Wiedererkennen ist eher die
schwächste Form des Denkens.246 Die Logik, als Disziplin zur Erforschung der
wahrheitserhaltenden Schlüsse, ist nichts anderes als eine Rekognition des Wahren.
245
Deleuze, Differenz und Wiederholung, S.169ff.
246
Es ist für das Verständnis von Deleuzes Philosophie wichtig zu begreifen, dass Deleuze
keineswegs die Existenz dessen leugnet, was er kritisiert. Es geht nicht darum zu
leugnen, dass es Rekognitionen oder Repräsentationen oder Modelle und Kopien oder
das Handeln nach einem Plan gibt. All diese Dinge existieren und haben ihren
Stellenwert. Selbst Gott ist eine Realität. Es gibt Transzendentes. Deleuze Philosophie
behauptet nicht, dass ein anderes Denken falsch wiedergibt, was es selbst richtig
darstellt. Eine solche Vorstellung gehört ins Denken der Repräsentation. Philosophie
leugnet nichts, sondern sie bekämpft. Deleuze greift häufig Nietzsches Idee des
Philosophen als Arzt auf. Ein Arzt leugnet nicht, dass es Krebs gibt, er bekämpft ihn.
Ebenso bekämpft die Philosophie die Transzendenz.
135
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Das Denken mit Hilfe der Logik verstehen zu wollen, führt daher vollkommen in die Irre.
Deleuze lehnt damit die gesamte an Frege orientierte Philosophie ab. Ihr Fehler ist es,
die schwächste Form des Denkens zum Modell des Denkens zu erheben. Alle
Kreativität des Denkens soll als ein Wiedererkennen konzeptualisiert werden.247
„Von allen – selbst endlichen – Bewegungen des Denkens ist die Form der
Rekognition gewiss diejenige, die am wenigsten weit reicht, die armseligste und
kindischste. Zu allen Zeiten war die Philosophie jener Gefahr ausgesetzt: das
Denken an so uninteressanten Vorfällen zu messen wie demjenigen, „Guten Tag,
Theodoros“ zu sagen, wenn Theaitetes vorbeigeht; das klassische Bild des
Denkens war nicht gegen diese Abenteuer gefeit, die mit der Rekognition des
Wahren zusammenhängen. Mit Mühe wird man glauben, dass die Probleme des
Denkens – in der Wissenschaft ebenso wie in der Philosophie – von derartigen
Fällen betroffen sind: Ein Problem als gedankliche Schöpfung hat nichts mit
einem Abfragen zu tun, das nur eine aufgeschobene Proposition ist, der blutleere
Doppelgänger einer affirmativen Proposition, die der Frage als Antwort dienen
soll (‚wer ist der Autor von Waverly?’, ‚ist Scott der Autor von Waverly?’). Die
Logik wird stets von sich selbst besiegt, das heißt von der Bedeutungslosigkeit
247
Ein anderes verfehltes Projekt wäre nach Deleuze der Versuch eine an Tarski orientierte
Bedeutungstheorie für natürliche Sprachen aufzustellen, wie es Davidson unternimmt.
Siehe Davidson, „Bedeutungstheorien und lernbare Sprachen“, Wahrheit und
Interpretation, S.23ff. Ein solches Projekt geht von dem Problem aus, wie es uns gelingt
auf Basis eines endlichen Vokabulars und endlicher Regeln unendlich viele Sätze zu
verstehen. Diese Problembeschreibung impliziert einen Platonismus des Unendlichen.
Unendlich viele Sätze sind auf ein endliches Vokabular und endlich viele Regeln
zurückzuführen. Bedeutungstheorien aufzustellen heißt dann ein Modell zu entwickeln,
dass dieser Fähigkeit entspricht. Die Fähigkeit ist eine der Wiedererkennung. Ich höre
einen Satz, den ich noch nie gehört habe und bin in der Lage ihn auf Basiselemente und
Grundregeln zurückzuführen. Die Beherrschung dieser Regeln und Basiswörter würde
die Kompetenz des Sprechers ausmachen, sein Sprechen erklären. Die Unterscheidung
in Sprache und Sprechen, Kompetenz und Performanz ist für Deleuze jedoch Ausdruck
einer Philosophie der Transzendenz. Sie errichtet ein Modell und denkt die Aktualisierung
eines solchen Modells als Kopie. Ich spreche und verstehe, weil ich über ideale Muster
verfüge, die mein Sprechen und Verstehen leiten. Davidson hat jedoch noch eine andere,
anti-platonistische Seite. Siehe Davidson: „Eine hübsche Unordnung von Epitaphen“, in:
Picardi, Eva; Schulte, Joachim (Hg.): Die Wahrheit der Interpretation, S. 203-227. In
diesem zutiefst anti-platonistischen Aufsatz zeigt Davidson, dass er keinesfalls glaubt,
dass jeder Interpret eine Bedeutungstheorie mit sich herumträgt, die es ihm erlaubt jeden
noch nie gehörten Satz zu verstehen. Vielmehr muss man sich Sprechen und Verstehen
als einen kreativen Prozess denken, der als Erstellung solcher Theorien modelliert
werden kann. Für die Erstellung von Bedeutungstheorien gibt es jedoch keine
allgemeinen Regeln. Es stellt sich nun allerdings die Frage, warum man überhaupt eine
Tarski-Theorie auch nur als Übergangstheorie braucht? Wenn wir Übergangstheorien
erzeugen können, um noch nie gehörte Wörter zu verstehen, warum müssen es dann
Theorien sein, die auf unendliche Fälle anwendbar sind?
136
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
der Fälle, von denen sie sich nährt. (...) Man könnte sagen: weniger ein Schachoder Sprachspiel als ein Spiel für ein Fernsehquiz.“248
Der „lange Irrtum“, dass Denken auf sein Rekognitionsvermögen zu reduzieren,
beginnt nach Deleuze mit Platon und hat eine politische Funktion. Deleuze deutet den
Platonismus als Ursprung einer Philosophie des Urteils, einer Philosophie als
Begründungsunternehmen.249 Platon erfindet die Urbilder, damit sie ihm ermöglichen
zwischen Abbildern und Trugbildern zu unterscheiden. Das Abbild ähnelt dem Urbild.
Diese Ähnlichkeit, sein repräsentativer Wert, macht aus dem Abbild ein gut
begründetes Phänomen. Das Urbild begründet das Abbild. Der Platonismus ist der
Versuch in einer demokratischen Gesellschaft, in der jeder auf alles Anspruch erheben
kann, eine legitime Selektion zu ermöglichen. Unter verschiedenen Bewerbern,
Kandidaten, wird derjenige ausgewählt, der über die Qualitäten verfügt, die dem Urbild
am nächsten kommen. Ein einfaches Beispiel, das aus einer Fernsehshow sein
könnte: verschiedene Frauen erheben den Anspruch eine gute Mutter zu sein. Um die
berechtigten Ansprüche auszusondern, muss man über die Idee der Mutter in ihrer
Reinheit verfügen. Jede, in der Erscheinungswelt existierende Mutter ist auch eine
Tochter, vielleicht eine Schwester, nur die Idee der Mutter ist einzig und allein Mutter.
Sie drückt das Muttersein und sonst nichts aus. Indem der Philosoph diese Idee
schaut, verfügt er über ein Maß, Muster oder Modell, um die beste Mutter
auszuwählen. Ein gutes Abbild der Mutter, ein legitimer Geltungsanspruch konstituiert
sich durch die Ähnlichkeit mit dem Urbild. Das Trugbild steht für den falschen
Bewerber, der grundlos Anspruch erhebt und dessen Ähnlichkeit ein bloßer Schein ist.
Da jede in der Erscheinungswelt existierende Mutter Eigenschaften hat, die für ihr
Muttersein bloß akzidentiell sind, kann es dazu kommen, dass man eine solch
akzidentelle Eigenschaft als Indikator für eine gute Mutter nimmt. Ein solcher Anspruch
ist für Platon schlecht begründet, er gründet in einer bloß sinnlichen Ähnlichkeit. Alle
Mütter waren vielleicht zufällig auch gute Köchinnen, trotzdem ist diese Eigenschaft
eine unwesentliche. Die guten Köchinnen sind falsche Bewerberinnen, die aufgrund
eines Trugschlusses, eines unbegründeten Schlusses ihren Anspruch erheben. Sie
sind Trugbilder. Sie verleiten zu einem Fehlschluss. Man bemerkt sofort, was es
bedeuten würde, das Urbild abzuschaffen. Ohne Urbild wäre zwischen Abbild und
Trugbild nicht mehr zu unterscheiden.
248
Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie, S. 62f.
249
Deleuze, "Platon und das Trugbild", in: Logik des Sinns, S.311ff.
137
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Denken ohne Urbilder
Die Alternative, entweder mit Urbildern, Gründen, Identitäten zu denken oder gar nicht
zu denken, ist jedoch nach Deleuze abzulehnen. „No entity without identity“, diesem
Slogan Quines stimmt Deleuze nicht zu. Die Welt besteht nicht aus Dingen, sondern
Ereignissen. Ereignisse sind nicht mit sich selbst identisch, sondern sie differieren von
sich. Die Rede von reinen Differenzen, die nicht Differenzen zwischen unabhängig
existierenden Dingen sind, führt wieder auf den Begriff der Grenze. Eine Grenze
differenziert zwei Gebiete. Ohne eine Grenzlinie gäbe es diese Gebiete gar nicht.
Grenzen sind konstitutiv für Dinge, ohne selbst Dinge zu sein. Die Grenze hat keine
Ausdehnung, sie existiert nicht im Raum oder einer verräumlichten Zeit. Sie ist virtuell.
Ein reines Differential. Sie ist selbst kein Ding und doch ist sie für das Erscheinen von
Dingen konstitutiv. Die Dinge erscheinen und dauern durch das Aufrechterhalten ihrer
Grenzen. Die Grenzen sind nun nicht etwa Formen, die einem an sich formlosen
Material aufgedrückt werden. Dieser Dualismus von Form und Materie findet sich im
Hylemorphismus des Aristoteles. Eine Substanz wird von Aristoteles als eine geformte
Materie gedacht. Reine Materie ist ein formloses Potential. Die Materie Holz ist im
Verhältnis zur Substanz Tisch formlos. Erst die Form des Tisches macht aus der
Materie Holz einen Fall der Substanz Tisch. Die Form schneidet aus der Materie eine
bestimmte Figur und aktualisiert damit eine Möglichkeit, die in der Materie enthalten
war. Diesen Hylemorphismus lehnt Deleuze jedoch ebenso ab wie Platons
Ideenlehre.250 Die Materie differenziert sich selbst. Sie faltet und entfaltet sich. Für
diese Differenzierungen gibt es keine vorgegebene Form, kein Urbild, weder im
platonischen Sinne noch im aristotelischen. Individuierung wird nicht als Begrenzung
eines Möglichen anhand eines Modells, sondern als Differenzierung eines Virtuellen
gedacht. Die Auswahl der Mutter, das Herausarbeiten einer Figur oder die Entwicklung
einer Pflanze wird von Platon und Aristoteles als die Angleichung an ein legitimes
Modell (Urbild oder Form, arche oder telos) begriffen. Lehnt man das Modell-Denken
ab, so ist die Aktualisierung ein schöpferischer Prozess, der nicht ein bereits
bestehendes Modell kopiert.
Damit ändert sich auch der Begriff der Wiederholung. Die Wiederholung als Kopie
bleibt an das Begriffspaar von „type“ und „token“ gebunden. „Tokens“ unterscheiden
sich nur durch Ort und Zeit. Wenn man Ort und Zeit nicht als Begriffe fasst, muss man
sagen, dass Wiederholungen als Kopien, Wiederholungen des Selben, begriffslose
250
Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S.564ff.
138
Deleuze über das Trugbild: Kreativität versus Rekognition
Wiederholungen sind.251 Der Begriff als Allgemeines ist nicht in der Lage, das
Singuläre auszudrücken. Die Wiederholung bleibt begriffslos. Ebenso bleibt die
Differenz dem Begriff untergeordnet. Gibt man nun aber das Denken in Abhängigkeit
von „types“ auf und postuliert man eine reine Differenz, kann man die Wiederholung als
eine begriffliche denken. Sie ist nicht länger die begrifflose Differenz zwischen zwei
„tokens“ eines Begriffs, eine Wiederholung des Selben, eine nackte Wiederholung,
sondern eine differenzierende Wiederholung.252 Nicht ein Ding wird wiederholt, sondern
eine Differenz. Eine Differenz ist immer singulär. Sie ist nicht die Instantiierung eines
„types“, sondern eine Neuschöpfung. In der Zeit instantiieren sich nicht mehr ewige
Formen, sondern die Zeit ist der Prozess der Differenzierung, das Werden der
Differenzen. Wir erkennen Differenzen und nicht Identitäten. Dieses Erkennen ist kein
Wiedererkennen. Denn was sich ereignet, ist immer singulär, entspricht keinem bereits
etablierten Modell. Kein platonischer Bewerber kann Anspruch auf Ähnlichkeit mit
einem Modell erheben. Alle sind Fälscher, Betrüger, die jedoch niemals überführt
werden können. Das Trugbild wird befreit. Der philosophische Schluss ist ein
Trugschluss, weil er auf keinem Modell basiert, jedes Modell, jede Identität als
Mystifikation entlarvt. Ein Schluss ist deshalb nie in den Prämissen bereits impliziert,
sondern immer ein kreativer Schluss. Statt eines Urteils, das immer nur sagt, ob ein
Ding seinem Modell gerecht wird, haben wir die Kreation neuer Gedanken. Wie William
James es mit einer Wendung sagt, die den Grundgedanken von Differenz und
Wiederholung vorwegnimmt: "Das Selbe kehrt nicht zurück, außer um das Andere zu
bringen.“253
251
Deleuze, Differenz und Wiederholung, S.30f.
252
Deleuze, Differenz und Wiederholung, S.358f.
253
James, "Das Problem der Neuheit", in: Prozess, Gefühl und Raum-Zeit, S.207.
139
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
Die Philosophie hat bis vor kurzem
kaum auf der Höhe des Kapitals zu denken
vermocht, da sie bis ins Innerste ihrer
selbst, den vergeblichen Sehnsüchten
nach dem Heiligen, dem Spuk der
Präsenz, der dunklen Macht der Dichtung
und dem Zweifel über ihre Legitimität
Raum ließ.
Alain Badiou
Fluchtlinien
Deleuze/Guattari entwickeln eine Philosophie, die mit jeder Form von Transzendenz,
die immer einer religiösen Denkweise angehört, zu brechen versucht. Philosophie ist
für sie kein Begründungsunternehmen, sondern das genaue Gegenteil.254 Der
Philosoph entwirft eine Immanenzebene, auf der alle Dinge in ihrer Singularität
einzuzeichnen sind, ohne dass ein Ding für ein anderes als Grund, Legitimation oder
Modell fungiert. Nichts diese Ebene Transzendierende darf der Philosoph zulassen, will
er nicht aufhören, Philosophie zu betreiben. Diese Ebene ist virtuell. Philosophie nach
Deleuze/Guattari hat nicht das Wirkliche und auch nicht das Mögliche, sondern das
Virtuelle zum Gegenstand. Jede Tätigkeit, die zum Ziel hat, das Wirkliche zu
virtualisieren ist Philosophie. Die Philosophie kann, wie Wissenschaft oder Kunst, jedes
Thema aufgreifen. Ein Thema wie der Tod kann sowohl Gegenstand der Wissenschaft
oder Kunst oder der Philosophie sein. Jede dieser drei Disziplinen wird das Thema
jedoch anders behandeln. So entnimmt die Philosophie einem Thema einen
Gegenstand, welcher der Wissenschaft nicht zugänglich ist.255 Die Wissenschaft
konstruiert eine Referenzebene, auf der sie Gegenstände identifizieren und als
dieselben wiedererkennen kann, sie ist ebenso kreativ wie die Philosophie, aber ihre
Kreativität gilt der Gewinnung von Prognose- und Kontrollvermögen. Sie ist deshalb auf
254
Eine solche Konzeption von Philosophie findet sich bereits am Ende von John Deweys
Die Suche nach Gewissheit beschrieben, S. 310ff.
255
Die Kunst teilt mit der Philosophie die Virtualität ihres Gegenstandes, allerdings kümmert
sie sich um die virtuellen Wahrnehmungen und Affekte, während die Philosophie virtuelle
Ideen produziert.
140
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
Regularitäten angewiesen, sie wandelt Virtualitäten in Potentiale um, entdeckt
Konstanten, vor deren Hintergrund die Dinge auf geregelte Weise variieren.256 Die
Philosophie dagegen erschafft Begriffe, indem sie unter der Bedingung einer radikalen
Immanenz denkt. Auf dieser Ebene sind Denken und Sein eins. Hier gibt es nicht mehr
Repräsentationen und Repräsentiertes, Abbild und Urbild, sondern nur noch
Trugbilder. Ein transzendentes Denken urteilt über die Welt und impliziert damit eine
Hierarchie zwischen Denken und Sein. Diese Hierarchie kann in beide Richtungen
gehen. Determiniert das Sein das Denken, haben wir es mit Erkenntnis zu tun,
determiniert das Denken das Sein, haben wir es mit Normen oder Handlungsmaximen
zu tun. Philosophie erschafft dagegen ihren Gegenstand durch das Denken. Zwischen
Denken und Sein gibt es keinerlei Hierarchie mehr (weder Idealismus noch
Materialismus). Das Denken bildet weder ein Modell, wie die Welt zu sein hat, noch
steht die Welt als Modell, welches das Denken zu kopieren (repräsentieren) hätte. Es
ist weder normativ noch deskriptiv, sondern konstruktiv, schöpferisch.
Der Dualismus von Denken und Sein wird von Deleuze/Guattari mit dem religiösen
Denken identifiziert. Dieses Denken tritt immer dann auf, wenn Teile des Seins einen
transzendenten Status erhalten. Transzendentes Denken wählt Elemente des Seins
als höher stehend aus, es hierarchisiert. Deleuze spricht von einem Bildstopp.257 Ein
Bild wird herausgegriffen und zum Modell erhoben. Immanentes Denken wählt
dagegen die Elemente, die sich der Hierarchie entziehen. Es konstruiert Fluchtlinien.
Transzendente und immanente Philosophie sind also beide der Selektion verpflichtet.
Während jedoch erstere das Sein beurteilt im Namen eines transzendenten Ideals, und
sei es vom Menschen selbst errichtet, selektiert das immanente Denken, indem es die
Elemente auswählt, die sich am stärksten jeder Wiederholung, jeder Unterwerfung
unter ein Modell entziehen, deren schöpferisches Potential am größten ist. Diese sind
Fluchtlinien oder Deterritorialisierungsbewegungen. Die Philosophie ist daher das
Gegenteil eines Begründungsunternehmens, weil sie nicht begründet ohne zu
entgründen. Den Grund als Modell, nach dem eine Selektion legitimiert werden kann,
256
Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S.178ff.
257
Deleuze nimmt damit eine interessante Position in dem Streit zwischen Ikonoklasten und
Ikonophilen ein. Seine Kritik des Bildes ist keine, die sich aus einem Bilderverbot
begründet. Der Ikonoklast kritisiert das Bild als eine Verweltlichung des Transzendenten,
der Materialisierung und damit Herabminderung des Geistes. Noch der von Pädagogen
dem Lesen gegenüber dem Fernsehen gegebene Vorrang zeugt von diesem Denken.
Deleuze kritisiert nicht das Bild, sondern den Bildstopp. Das Urbild, das Modell entsteht,
wenn man aus dem Fluss der Bilder ein Bild heraushebt und zum Modell für alle anderen
erhebt. Erst dann werden die Trugbilder zu Abbildern. Während der Ikonoklast kritisiert,
dass man die Abbilder für das Urbild nimmt, befreit Deleuze sie von der Last des Urbilds.
Seine Kritik des Abbildes ist also eine extreme Ikonophilie.
141
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
stellt sie eine Selektion entgegen, die das auswählt, was sich dem Modell entzieht.
Begründungsphilosophien versuchen immer als Ersatz für Religion zu fungieren.
Religiöses Denken produziert Modelle, die einen heiligen, unantastbaren Status
besitzen. Diese Modelle haben eine magische Bindungskraft, wie Jürgen Habermas im
Anschluss an Durckheim aufgezeigt hat.258 Anders als Deleuze/Guattari glauben
Philosophen und Gesellschaftstheoretiker wie Durckheim, Habermas und Bourdieu,
dass man in der Moderne einen Ersatz für die religiöse Bindungskraft finden muss. Die
Transzendenz soll mit weltlichen, immanenten Mitteln wieder aufgerichtet werden.
Habermas ganze Modernekonzeption ist beherrscht von dem Problem des
Nachlassens der sakralen Bindungskräfte der Religion. Philosophie soll eine
Religionsprothese werden, indem sie in der Kommunikation eine neue Bindungskraft
ausmacht. Eine Philosophie der Immanenz entbindet jedoch das Seiende, indem sie
die Hybris besitzt, das Sakrale zu entweihen. Sie leugnet die Götter und seien sie auch
aus moderner Produktion, führt alles Sakrale, Tiefe auf die flache Oberfläche des Seins
zurück, auf eine Immanenzebene, auf der es keinerlei Vertikalität gibt. Sie ist Kritik aller
Mystifikation.259 Sie löst heilige Bindungen auf.260
Die Philosophie ist also nicht zu trennen von Gesellschaften, die sich säkularisieren.
Griechenlands Verbund von Stadtstaaten war eine solche Gesellschaft, in der die
Transzendenz zeitweise erfolgreich gebannt werden konnte. Die moderne Bedingung
der Philosophie ist der Kapitalismus. Philosophie und Kapitalismus stehen nach
Deleuze/Guattari in einem Steigerungsverhältnis. Wenn Deleuze und Guattari von
Schizophrenie sprechen, ist dies immer auch eine Chiffre für das philosophische
Denken. Der Kapitalismus produziert Schizophrenie, so die These des Anti-Ödipus.
Der Kapitalismus produziert Philosophie, kann man übersetzen.
Deleuze/Guattari – A Shoppers Guide
Bevor ich auf das Verhältnis von Philosophie und Kapitalismus eingehen kann, ist es
wichtig, einen Absatz zur richtigen Lektüre der zwei Bände Kapitalismus und
Schizophrenie einzufügen. Beide Bücher kann man als eine Art großangelegte
Sozialphilosophie oder gar Geschichtsphilosophie lesen. Versteht man Philosophie
dann noch als Wissenschaft, nimmt man die Bücher also als Beiträge zur Soziologie,
258
Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, S.69ff.
259
Deleuze, Lukrez und das Trugbild, in: Deleuze, Logik des Sinns, S.339f.
260
Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S.482f.
142
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
Ethnologie, Anthropologie, Psychopathologie und worüber Deleuze und Guattari sonst
noch so schreiben, kann man sich nur noch zwei Urteile bilden: Entweder hält man die
Bücher für Unsinn oder aber man hält aus Mangel an Kenntnis der oben genannten
Wissenschaften diese Bücher für gelungene Beiträge zu diesen Disziplinen. Hätte man
keine andere Wahl als diese beiden Reaktionen, wäre die erste vorzuziehen.
Tatsächlich sind aber beide Reaktionen nur das Produkt einer falschen Lektüre.
Kapitalismus und Schizophrenie ist weder Soziologie, Geschichte, Psychopathologie
noch Ökonomie, ist überhaupt keine Wissenschaft, sondern Philosophie. Wenn ein
Künstler, ein Maler oder ein Filmemacher die Wissenschaft zum Gegenstand eines
Werkes macht, hat niemand damit ein Problem. Das Bild wird nicht als Beitrag zur
Wissenschaft genommen, nur weil es eine Wissenschaft zum Gegenstand hat oder sie
sogar kritisiert. Ebenso kann der Wissenschaftler ein Kunstwerk zum Gegenstand
nehmen, ohne dass er damit seine Wissenschaftlichkeit verliert. Warum darf der
Philosoph
also
nicht
über
Wissenschaft
oder
Kunst
philosophieren?
Eine
philosophische Theorie des Kapitalismus ist keine wissenschaftliche Theorie wie sie
ein Ökonom entwerfen könnte. Natürlich kann ein Ökonom auch philosophieren. Milton
Friedmans Capitalism and Freedom und ebenso Marx' Das Kapital sind zum Teil auch
Philosophiebücher. Aber der Ökonom hört dann auf, Wissenschaftler zu sein. Es gibt
eine Philosophie der Ökonomie so wie es eine Philosophie der Physik, der Mathematik,
der Biologie, der Soziologie gibt. Der Philosoph kann schlicht jeden Gegenstand zum
Thema nehmen, genau wie ein Wissenschaftler jedes Thema wählen kann (es gibt
Sexualwissenschaftler, Kriminologen, Botaniker, Zoologen, sogar eine Wissenschaft
der Kochkunst etc.) oder ein Künstler, zum Beispiel ein Filmemacher, über jedes
Thema arbeiten kann, das interessant ist. In Auseinandersetzung mit dem Vorwurf
über Dinge zu schreiben, die er aus eigener Erfahrung gar nicht kennt und in denen er
nicht kompetent ist, schreibt Deleuze folgende Sätze:
"Mit welchem Recht sollte ich nicht von der Medizin sprechen, ohne Mediziner zu
sein, wenn ich darüber wie ein Hund spreche? Warum sollte ich nicht von der
Droge sprechen, ohne Drogen zu nehmen, wenn ich darüber wie ein kleiner
Vogel spreche? Und warum sollte ich nicht einen Diskurs über etwas erfinden,
auch wenn dieser Diskurs vollkommen irreal und artifiziell ist, ohne dass ich Titel
vorweisen muss, die mich dazu berechtigen? Die Droge lässt einen manchmal
delirieren, warum sollte ich nicht über die Droge delirieren? Was kommt ihr immer
mit Eurer "Realität" an? Platter Realismus. Und warum liest Du mich dann? Das
Argument der privilegierten Erfahrung ist ein schlechtes reaktionäres Argument.
143
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
Mein Lieblingssatz im Anti-Ödipus ist: nein, wir haben nie Schizophrene
gesehen."261
Kapitalismus und Philosophie
So etwas wie eine Gesellschaft gibt es
eigentlich gar nicht.
Margaret Thatcher
Der Kapitalismus produziert Philosophie, weil er auf die oben genannten heiligen
Bindungen wie eine auflösende Macht wirkt.262 Deleuze/Guattari entwerfen einen
Kapitalismusbegriff, der die Decodierungsmacht des Geldes hervorhebt. Sie folgen hier
Marx’ berühmten Worten im Kommunistischen Manifest:
"Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene
Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und
Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allem anderen aus. Alle festen,
261
Deleuze, „Brief an einen Kritiker“, in: Unterhandlungen, S. 24. Eine Selbstbeschreibung
aus Tausend Plateaus könnte die humoristische Seite von Deleuze und Guattaris
Philosophie ebenfalls illustrieren. Ihre Ausdruckstheorie, die Theorie der Schichten,
lassen Deleuze/Guattari durch die fiktive Figur des Professor Challenger, eine
Romanfigur von Conan Doyle, präsentieren. Challenger wird folgendermaßen
beschrieben: "Der Professor war im übrigen weder Geologe noch Biologe, noch nicht
einmal Linguist, Ethnologe oder Psychoanalytiker, und man hatte schon lange vergessen,
was sein Fachgebiet war. Tatsächlich war Professor Challenger doppelt, er war zweifach
gegliedert, und das machte die Sache nicht leichter, denn man wusste nie, welcher
gerade da war. Er (?) behauptete, er hätte eine Disziplin erfunden, für die er
verschiedene Namen hatte: Rhizomatik, Stratoanalyse, Schizoanalyse, Nomadologie,
Mikropolitik, Pragmatik, Wissenschaft von den Mannigfaltigkeiten, aber weder die Ziele
noch die Methode noch die Begründung für diese Wissenschaft waren klar erkennbar.
Der junge Professor Alasca, Challengers Lieblingsschüler, versuchte scheinheilig, ihn zu
verteidigen, indem er erklärte, dass der Übergang von einer Gliederung zur anderen
innerhalb einer bestimmten Schicht leicht zu verifizieren sei, weil dabei immer Wasser
verloren ginge, in der Genetik wie in der Geologie und sogar in der Linguistik, wo der
Umfang dieses Phänomens daran gemessen wurde, in welchem Maße "einem die
Spucke wegbleibt". Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 64
262
Ebenso könnte man sagen, das Kino produziert Philosophie. Deleuzes Kino-Buch ist ein
Philosophiebuch und kein Beitrag zu einer Wissenschaft des Films. Dies wird häufig nicht
gesehen. Das Kino entwickelt eine Praxis der Bilder und Zeichen, die den Philosophen
zur Produktion philosophischer Begriffe anregt. Die philosophischen Probleme des Kinos
sind natürlich nur Probleme in Relation zur Philosophie. Das Kino kann ebenso Anlass
geben zu einer Wissenschaft vom Kino oder einem Film über das Kino oder einfach zu
einem Kinobesuch.
144
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von alterwürdigen Vorstellungen
und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie
verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige
wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung,
ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."263
Der Kapitalismus decodiert jeden gesellschaftlichen Code und ersetzt ihn durch eine
reine Geldbeziehung. Man nehme ein beliebiges Beispiel aus dem Marketing. Ein
Drehbuch wird unter Marketing-Gesichtspunkten decodiert, d.h. etwaige ästhetischen
Regeln (les regles des arts) werden gebrochen, um den größtmöglichen Profit
rauszuschlagen. Es könnte als geschmacklos gelten, bestimmte Bilder zu produzieren.
Wenn man sich dagegen von dieser Geschmacklosigkeit Einnahmen erhofft, wird sie
umgesetzt. Der ästhetische Fehler ist ein ökonomischer Gewinn. Kommerzialisierung
führen
oft
dazu,
dass
Stilmischungen
Eigengesetzlichkeit
einer
Unternehmung
produziert
nicht
werden,
folgen
die
aus
der
würden.
Die
so
Kommerzialisierten sehen ihre Echtheit gefährdet. Auch wenn ihre "Tradition" vielleicht
erst ein paar Monate alt ist, benehmen sie sich schon wie mittelalterliche Stände, die
auf ein Reinheitsgebot pochen. Eine solche generelle Entregelung zu Gunsten des
Profits ist der Alptraum einer jeden vorkapitalistischen Gesellschaft. Der Kapitalismus
erscheint daher als die Anti-Gesellschaft par excellence.264 Diese Decodierung
gesellschaftlicher Ströme wird jedoch immer dann gestoppt, wenn sie die Axiome des
Kapitals selbst betrifft. Diese Blockade einer absoluten Decodierung zeigt sich in
artifiziellen Recodierungen. Was man Meinung nennt, ist nach Deleuze/Guattari die
privatisierte Form, in der jeder Glaube als bloß privater Glaube wieder aufleben kann.
Der Kapitalismus ist unter diesem Aspekt eine gewaltige Subjektivierungsmaschine.
Subjektive Identitäten werden zu kommerziellen Zwecken entworfen, vertrieben und
wieder einkassiert. Es ist kennzeichnend für unsere Gesellschaften, dass Sozialisation
und
Traditionsbildung
immer
mehr
von
den
profitorientierten
Unternehmen
übernommen werden können. Die Propagierung einer libertinären Sexualität, die dem
263
Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, S.49.
264
Deleuze/Guattari werden diese Darstellung in der Fortsetzung von Kapitalismus und
Schizophrenie „Tausend Plateaus“ modifizieren. Schon im Anti-Ödipus arbeiten sie mit
verschiedenen Gesellschaftsformen wie primitive Gesellschaften, despotische
Gesellschaften und kapitalistische Gesellschaften. Primitive Gesellschaften funktionieren
mit Heirats- und Verwandtschaftscodes. Despotische Gesellschaften übercodieren
diesen Code durch staatliche Codes. Sie errichten eine Hierarchie und lassen die
primitiven Codes zu ihren Gunsten funktionieren. Kapitalistische Gesellschaften dagegen
substituieren die Codes zugunsten einer abstrakten Axiomatik. In Tausend Plateaus
korrigieren Deleuze/Guattari den Evolutionismus dieser Darstellung. Alle drei
Gesellschaftsformen existieren immer auch simultan.
145
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
alten Familiendispositiv, wie es in vielen Gesellschaften immer noch besteht,
widerspricht, wird vor allem aus wirtschaftlichen Gründen betrieben. Die Produktion
des ständig konsumierenden Singles ist Ergebnis der unendlichen Suche nach neuen
Märkten. Dieselbe wirtschaftliche Bewegung treibt auch den ständigen Versuch einer
Restaurierung der Aura von Authentizität und Beständigkeit. Die Erfindung der
Markenware dient dazu durch Übernahme ganzer Philosophien den Kunden, der
jederzeit wechseln kann, in einen lebenslang Gläubigen zu transformieren. Es ist
gerade der Witz des Kapitalismus, dass er jede Idee kommerzialisieren kann. Alles
woran geglaubt und wofür bezahlt werden kann, wird auch produziert. Milton Friedman
hat diesen liberalen Aspekt des Kapitalismus immer gegen eine den Kapitalismus mit
Konservatismus gleichsetzende Kritik verteidigt.265 In Capitalism and Freedom macht
er deutlich, wie viel die emanzipatorischen Bewegungen, Frauen, Minderheiten gerade
dem Kapitalismus und seiner rein ökonomischen Vernunft zu verdanken haben. Geld
kennt kein Geschlecht, keine Rasse, keine Religion, sondern nur die abstrakte
Arbeitskraft, die sich in Preisen ausdrücken lässt. Wer eine Frau oder einen
Schwarzen nicht einstellt, bringt sich unter Umständen um seinen eigenen
ökonomischen Vorteil. Vor dem Kapital sind alle Menschen gleich.
Diese
Indifferenz
des
Kapitals
vor
den
gesellschaftlichen
Codes
und
den
transzendenten (Moral, Religion) Übercodierungen schafft eine Immanenzebene, die
Deleuze/Guattari als notwendig für die Philosophie beschreiben. So wie das univoke
Sein sich indifferent von allem Seienden aussagt, so ist auch das Kapital indifferent vor
jedem gesellschaftlichen Code. Philosophie entsteht dort, wo es solche immanenten
Deterritorialisierungsbewegungen gibt. Diese Bewegungen verändern ein Gefüge oder
Territorium
(einen
Raum
von
Gewohnheiten).
Eine
solche
Veränderung
ist
transzendent, wenn sie sich an einer der Menge von Entitäten höhergestellten Entität
reterritorialisiert. Der Staat wird von Deleuze/Guattari als eine solche transzendente
Entität
gedacht.
Der
Staat
kommt
immer
von
oben.266
Eine
265
Milton Friedman, Capitalism and Freedom. Der Liberalismus und die
Immanenzphilosophie teilen die Ablehnung jeder Art von Transzendenz, der Liberale
richtet jedoch eine neue Norm auf: das frei entscheidende Subjekt. Freiheit als
Wahlfreiheit ist das Ideal der Neo-Liberalen, nicht die ökonomische Produktivität.
Deleuze/Guattari lehnen diesen Freiheitsbegriff natürlich ab. Es gibt kein frei wählendes
Subjekt. Wenn man mit den Neoliberalen unter Staat, Gesellschaft, Nation eine Reihe
von Transzendenzen versteht, so muss mit Deleuze/Guattari der Reihe noch das freie
Subjekt hinzugefügt werden. So etwas wie ein Individuum gibt es eigentlich gar nicht, um
Margaret Thatcher zu vervollständigen. Der liberale Ökonom zwingt den Menschen in
das Korsett des Eigeninteresses. Interesse an sich selbst zu haben, ist aber keineswegs
selbstverständlich, insbesondere die Identität dieses Selbst steht in Frage.
266
Hier liegt die Skepsis von Deleuze/Guattari gegenüber der Idee eines demokratischen
Rechtsstaates begründet. Die Idee eines demokratisch legitimierten Staates, eines
146
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
Deterritorialisierungsbewegung ist dagegen immanent, wenn sie sich an horizontale
Elemente hält. Eine Stadt baut beispielsweise Handelsbeziehungen zu anderen
Städten aus. Das innere Gefüge der Stadt wird sich verändern, ohne dass sie sich
einer höheren Autorität unterworfen hätte. Die Globalisierung wäre ein aktuelles
Beispiel für eine immanente Deterritorialisierung. Durch Schaffung von internationalen
Freihandelszonen werden immer weitere Handelsnetze möglich. Dabei erscheint der
Prozess nicht als eine Zentralisierung, als ein Ordnen von Beziehungen durch ein
höheres Modell. Im Gegenteil, die Macht der Nationalstaaten wird im Verhältnis zu
global operierenden Bewegungen geschwächt. Sie werden immer mehr zum Zwecke
eines Weltmarktes umgebaut. Man entfernt die Elemente, die eine weitere
Deterritorialisierung des Kapitals blockieren. Der moderne Staat verliert damit die
transzendente Souveränität, die den vormodernen Staat ausgezeichnet hat, und sei es
eine demokratisch legitimierte Transzendenz.
Der Kapitalismus produziert Philosophie, indem er die heiligen Bande sakraler
Gesellschaften auflöst und damit die Heiligkeit des Staates angreift. Diese
Delegitimierung hat ihre Grenze jedoch in den Bedingungen des Eigentums selbst. Der
Eigentumsbegriff und damit der Staat als Garant des Eigentums werden beibehalten.
Die Philosophie geht deshalb weiter als der Kapitalismus. Sie virtualisiert auch noch
den Begriff des Eigentums, indem sie ein Denken ausbildet, in dem Eigentum und
Subjektivität keine konstitutiven Elemente sind.267 Im philosophischen Niemandsland,
dem Nicht-Ort der Utopie, verliert man seine Ansprüche, seinen Besitz. Hier herrscht
vollkommene Kontingenz, niemand kann Rechte geltend machend, hat Anspruch auf
irgendetwas. Deleuze/Guattari sehen die Idee des Kommunismus ebenso wie die Idee
Amerikas als Ausdruck einer solchen Utopie, in denen niemand mehr territoriale
Rechte
geltend
machen
kann.
Sie
sprechen
von
einem
universellen
Minderheitenwerden.268 Deleuze stimmt Whitman bei:
Staates, den die Bürger machen, versucht den Staat als durch seine Bürger konstituiert
zu denken. Historisch ist der Staat nicht als demokratischer entstanden und eine
Demokratisierung des Staates halten Deleuze/Guattari nicht für möglich. Demokratie
verstanden als nicht-hierarchische Gesellschaftsform gibt es nicht dank eines Staates,
sondern trotz eines Staates, was nicht heißt, dass man auf Staaten verzichten kann.
267
Die politische Philosophie von Deleuze/Guattari wird heute fortgesetzt von Antonio Negri
und Michael Hardt. Siehe Negri/Hardt, Empire.
268
Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S.33.
147
Exkurs: Kapitalismus und Philosophie
"...Amerika beansprucht, die unterschiedlichsten Minderheiten zu vereinigen,
‚eine Nation, die von Nationen wimmelt.’"269
Die Philosophie wendet sich an dieses Volk. Sie ist also keineswegs universal, sondern
einer Rasse zugehörig. Diese Rasse hat jedoch keine Identität, sie ist ein Werden, kein
Sein. Deleuze/Guattari beschreiben sie auf folgende Weise:
„... die Rasse, an die Kunst und Philosophie appellieren, ist nicht jene, die den
Anspruch erhebt rein zu sein, sondern eine unterdrückte, inferiore, anarchische,
nomadische, eine unwiderrufliche kleine, mindere Mischrasse – genau jene, die
Kant von den Wegen der Neuen Kritik ausschloss...“270
269
Deleuze, Gilles: „Whitman“, in: Deleuze, Gilles: Kritik und Klinik, S. 79.
270
Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie? S. 127 An andere Stelle zitieren sie Rimbaud: "Es
ist mir ganz klar, dass ich stets von minderwertiger Rasse gewesen bin. (...) Ich bin von
minderwertiger Rasse, von aller Ewigkeit her. Und nun finde ich mich an der
armorikanischen Küste. (...) Ich bin ein Tier, ein Neger. (...) Ich gehöre einer fernen
Rasse an: meine Vorfahren waren Skandinavier.“ Zitiert nach Deleuze/Guattari, Tausend
Plateaus, S.522.
148
Ein pluralistisches Universum
VI. Ein pluralistisches Universum
Was bisher geschah
Die Intuition, die zu Beginn dieser Arbeit in Frage gestellt wurde, subjektiviert den Geist
und damit auch die Philosophie im Namen eines Szientismus, der nur den Ergebnissen
der Naturwissenschaften wirkliche ontologische Würde zuteil werden lässt. Diesem
Denken liegt ein Bild des Geistes als Spiegel der Natur zu Grunde. Einige
Vorstellungen im Geist repräsentieren etwas außerhalb des Geistes, andere nicht. Die
einen sind objektiv, die anderen nur Ausdruck von Subjektivität.
Dieses Bild habe ich zunächst mit Hilfe des Neo-Pragmatismus Richard Rortys
kritisiert. Allerdings basiert die Philosophie Rortys auf einem Dualismus von
Rechtfertigung und Verursachung, der von Sellars stammt und gegenüber dem
klassischen Pragmatismus einen Rückschritt darstellt. Rorty verbleibt in einem
Sozialkonstruktivismus, der den Geist in Form von sozialen Rechtfertigungspraktiken
der Natur als bloßem Kausalzusammenhang gegenüberstellt. William James dagegen
konstruiert Begriffe, die es ermöglichen, den Gedanken einer nicht-repräsentationalen
Philosophie als radikalen Empirismus zu entwickeln. Das Subjekt wie das Objekt sind
nicht der Erfahrung transzendent, sondern Produkt eines vor-subjektiven Feldes
radikaler Erfahrung. Es gibt nach James Erfahrung ohne ein Subjekt oder ein Objekt
der Erfahrung.
Einen ähnlichen Ansatz zur Überwindung der Subjektphilosophie wählt Daniel Dennett,
wenn er versucht, bewusstes Denken in Begriffen unbewusster, intentionaler Systeme
zu erklären. Dennett reaktualisiert damit Leibniz’ Monadenlehre. Dennett wie Leibniz
ermöglichen ein Bild von Subjektivität, das diese nicht mehr als transzendent begreift,
sondern als Teil der Natur. Dadurch spiritualisieren sie jedoch den Naturbegriff.
Diese Spiritualisierung steht dem Naturbegriff der modernen Physik entgegen, auf den
sich die Objektivität der Naturwissenschaften beruft. Dennett springt daher im letzten
Moment in das Lager seiner Gegner und erklärt seine Philosophie zu einer bloßen Alsob Beschreibung, die nicht den Grad von Objektivität erreichen kann, den der Physiker
erreicht.
Dessen Naturbegriff bringt eine Spaltung in objektive, harte Naturwissenschaft und
weiche, subjektive Kulturwissenschaft mit sich, unter deren Opfer auch die Philosophie
fällt. Die Philosophie, deren Gegenstand immer der Geist war, sieht sich einer
Subjektivierung ausgesetzt. Die Ideen, welche die Philosophie artikuliert, sind nun nicht
mehr da draußen, sondern nur noch im Kopf. Kant antwortet auf diese
149
Ein pluralistisches Universum
Herausforderung mit der Transformation von Ontologie in Erkenntnistheorie. Der Kopf
ist in der sinnlich erfahrbaren Welt, aber die Welt ist im transzendentalen Kopf. Kants
Lösung
war
jedoch
nicht
stabil.
Die
zahlreichen
Versuche
einer
Detranszendentalisierung Kants zeugen davon. Kants Trennung von Erscheinungen
und „Dingen an sich“ wird von zwei Seiten unter Beschuss genommen. Es kommt zu
einer Naturalisierung und Kulturalisierung der Philosophie durch die rechte und die
linke Hand der Wissenschaft. Dieses Spiel geht jedoch in die Brüche, wenn die linke
und rechte Hand selbst in Streit geraten. Der Versuch von Wissenssoziologen, die
harten Wissenschaften anzugehen, führt in konzeptuelle Verwirrungen, die eine
Rückkehr der Philosophie ermöglichen. Wenn die rechte und die linke Hand der
Wissenschaft in Streit geraten, freut sich die Philosophie. Wenn die Naturwissenschaft
selbst relativiert wird, nur noch im Kopf ist, kann vielleicht die gesamte Subjektivierung
des Denkens rückgängig gemacht werden. Der Kopf muss platzen. Auch die
Sprachphilosophie, solange sie Sprache wie ein Medium und damit als Ersatz für das
Bewusstsein behandelt, kann nun überwunden werden.
Mit Bergson erlangt die Philosophie wieder ihre ontologische Würde zurück. Sie hat
nicht mehr die Innenwelt als ihr Territorium. Ihr Gegenstand ist das Virtuelle. Sie denkt
die schöpferische Kraft der Zeit. Deleuze haben wir als einen Philosophen vorgestellt,
der in Anschluss an Spinoza und Bergson die Philosophie als Projekt einer univoken
Sprache entwickelt, die den Dualismus von Modell und Kopie hinter sich lässt. Die
Philosophie denkt keine Urbilder, sondern erschafft Trugbilder. Sie normiert nicht,
sondern ist kreativ. Damit ist sie Kritik aller Transzendenz, jeder Form des
Konservatismus, der bestimmte Begriffe verewigen will, indem er sie dem Zugriff der
Zeit entzieht.
In diesem Kapitel möchte ich anhand der Problematik des relativistischen
Sozialkonstruktivismus die Fruchtbarkeit der vorgestellten Philosophie demonstrieren.
Wir hatten in Auseinandersetzung mit dem Neo-Pragmatismus Richard Rortys die
Kritik von John McDowell an diesem vorgestellt. Nach McDowell fällt Rorty immer
wieder in einen linguistischen Idealismus zurück. Vokabulare sind bei Rorty schlicht
kulturelle Sprachspiele, die in eine objektivierte Natur eingelassen sind. Immer wenn
Rorty versucht die Entstehung von Vokabularen naturalistisch, neo-darwinistisch zu
erklären, fällt er in eine Außenperspektive zurück, die er nicht mehr verständlich
machen kann.
McDowell plädiert deshalb für einen absoluten Idealismus, der die Rede vom
Verursachen von Überzeugungen, wie sie Rorty in seiner Metapherntheorie und in
seiner Beschreibung eines Vokabularwechsels immer wieder vorträgt, zurückweisen
muss. Das Reich des Begrifflichen ist unbegrenzt. Die Natur tritt hier nur als verkappter
150
Ein pluralistisches Universum
Begriff auf. Der Geist hat nur Selbstkontakt. Niemals begegnet ihm etwas wesentlich
Fremdes. Wahrnehmungen werden nicht bloß kausal verursacht, sondern sind
urteilsförmig organisierte Erfahrungen.
Ich denke, dass McDowell mit dieser Kritik richtig liegt. Rortys Dualismus von
Rechtfertigung
versus
Verursachung,
sein
Sozialkonstruktivismus,
sein
Anti-
Empirismus bringen ihn in Gegensatz zu den besseren Einsichten des Pragmatismus,
wie ihn James und Dewey vertreten haben. Andererseits macht eine Rückbesinnung
auf den Pragmatismus in seiner ursprünglichen Form eine Replik auf McDowell
möglich, die den Schritt in einen absoluten Idealismus Hegels vermeidet. Der
ursprüngliche
Pragmatismus
ist
ein
ontologischer
Konstruktivismus.
Eine
Prozessphilosophie, die den Dualismus von Subjet und Objekt durch eine univoke
Begrifflichkeit ersetzt, die sowohl Natur als auch Geist als Aspekte desselben Seins
versteht. Das Subjekt steht dem Objekt nicht mehr gegenüber, sondern ist in die Welt
eingelassen. Perspektiven richten sich nicht auf die Welt, sondern sind in der Welt.
Diese Perspektiven sind überdies radikal plural, sie vermitteln sich nicht mehr in einem
Zentrum. Um diesen Perspektivismus zu begreifen, muss man das Verhältnis von AntiRepräsentationalismus und Pluralismus, wie es von William James gedacht und von
Deleuze aktualisiert wurde, verstehen.
Univozität und Pluralismus
Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da.
Christoph Schlingensief
Das Sein muss univok ausgesagt werden. Geist und Natur sind zwei Formen ein und
desselben.
Wie
kann
ein
solcher
Monismus
mit
einem
Pluralismus
und
Perspektivismus einhergehen? Der Pluralist behauptet ja gerade die nicht-reduzierbare
Heterogenität der Welt. Die Dinge sind singulär und ungebunden, sie haben kein
Wesen, keine notwendigen Beziehungen zueinander. Jede Begegnung verdankt sich
nur dem Zufall und nicht einer internen Beziehung zwischen den Dingen. Wie Quine in
seiner
Zurückweisung
des
Gedankens
der
Analytizität
und
damit
des
sprachphilosophisch reformulierten Essentialismus sagt: „Ob die Aussage ‚Alles Grüne
151
Ein pluralistisches Universum
ist ausgedehnt’ analytisch ist, weiß ich nicht.“271 William James nennt seinen radikalen
Empirismus eine Philosophie des „und“. Er schreibt:
„Im Sinne des Pragmatismus bedeutet der Pluralismus oder die Lehre, dass das
Universum eine Vielheit darstellt, nur, dass die verschiedenen Teile der
Wirklichkeit in äußerlichen Beziehungen zu einander stehen können. Wie weit
und umfassend man auch ein Ding nehmen mag, immer gibt es nach
pluralistischer Anschauung, noch außerhalb seiner irgend etwas Fremdes, das
es umgibt. Die Dinge sind ‚mit’einander in vielen Weisen verknüpft, aber es gibt
keines, das alles umschlösse oder alle anderen vollkommen beherrschte. Das
Wort „und“ schleppt hinter jeden Satz her. Etwas bleibt immer draußen. ‚Immer
noch nicht ganz’ hat man von den besten Versuchen gesagt, im Universum zu
einer allumfassenden Einheit zu gelangen. Die pluralistische Welt gleicht so mehr
einer föderativen Republik als einem Imperium oder einem Königreich.“272
Wie kann man behaupten, dass gerade die Univozität des Seins einen Pluralismus
ergibt?
Ist der Monismus, wie James dachte, nicht der ärgste Feind des Pluralismus? Nach
Deleuze ergibt sich dieser Gegensatz von Monismus und Pluralismus, oder des Einen
und der Vielen, nur unter der Bedingung einer Philosophie der Repräsentation. Der
Repräsentationalist denkt in Begriffen der Identität. Bei ihm muss das Viele immer um
das Eine kreisen. Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist notwendig falsch,
denn dann wären sie nicht zwei. Also kann „x identisch mit y“ nur sinnvoll gebraucht
werden, wenn ein und dasselbe Ding unter zwei verschiedenen Beschreibungen
gegeben sein kann. Das identische Ding vermittelt Perspektiven, indem es sie um ein
Objekt zentriert. Drücken Sätze Perspektiven auf ein und dasselbe Ding aus, dann
müssen die singulären Termini der Sätze substituierbar sein, ein wechselseitiger
Tausch muss stattfinden können. Der Morgenstern wird zum Abendstern. Eine
Philosophie der Differenz bricht mit dem Primat der Identität. Es gibt keine vorgängige
Identität, die bloß unter verschiedenen Gesichtspunkten gegeben wird. Differierende
Gesichtpunkte können daher nicht mehr mit Verweis auf die Identität der Dinge durch
einen unabhängigen Schiedsrichter bewertet werden. Zwischen differierenden
Perspektiven herrscht kein logischer Widerspruch mehr, da sie nicht über die Setzung
eines gemeinsamen Dings, einer gemeinsamen Referenz vermittelt werden. Alle
Perspektiven drücken in einer Philosophie der Differenz das Sein unmittelbar aus,
während in der Philosophie der Repräsentation das Sein ungleich verteilt wird, je
271
Quine, “Zwei Dogmen des Empirismus”, in: Quine, Von einem logischen Standpunkt,
S.38.
272
James, Das pluralistische Universum, S. 208.
152
Ein pluralistisches Universum
nachdem ob eine Perspektive etwas repräsentiert oder nicht, ein Abbild oder ein
bloßes Trugbild ist. Rortys Kritik an Brandoms „pragmatischer“ Reformulierung des
Objektivitätsbegriffs macht dies deutlich.
„Brandom wants to get from the invidious comparison made in such de re
ascriptions as “She believes of a cow that it is a deer” to the traditional distinction
between subjective appearance and objective reality. (…) What Brandom calls
„the fundamental distinction of social perspectives between commitments one
attributes to another and those one undertakes oneself“ gives me a distinction
between your bad tools and my better ones. But I doubt that it gives us a
distinction between my representing reality accurately and your representing it
inaccurately.”273
Rorty ersetzt den Gedanken der Repräsentation durch den des Vermögens. Die eine
Repräsentation ist nicht falsch, weil sie die Realität verfehlt, sondern sie ist ein
schlechtes Werkzeug, sie schwächt ihren Träger. Brandom möchte dagegen den
Gedanken der Repräsentation mit inferentialistischen Mitteln retten. Brandom vertritt
eine Philosophie des Urteils, richtig oder falsch, Rorty eine des Vermögens, stark oder
schwach, nützlich oder nicht.274 Der Urteilsbegriff impliziert eine transzendente Norm,
an der die Perspektiven gemessen werden. Der Begriff des Vermögens verfährt
dagegen immanent. Dem Recht setzt es die nackte Existenz entgegen. Es gibt nur
Perspektiven in einem a-zentrischen Kosmos. Der Gerichtshof der Vernunft wird durch
die Arena der Gleichen ersetzt. Was existiert, muss sich nicht rechtfertigen für seine
Existenz, sondern es muss versuchen zu überleben. Das Existierende wird von seinem
Bezug auf ein Modell, dem es zu entsprechen hat, gelöst. Man sieht jetzt wie Univozität
und Pluralismus zusammenhängen. Um Dinge auszuschließen, bedarf es der Setzung
eines Modells, dem sie nicht gerecht werden. Ein Modell muss über den Dingen
stehen. Es kann nicht einfach ein Ding unter anderen Dingen sein. Das Modell schließt
damit die Univozität des Seins aus. Das Modell muss darauf bestehen, dass der Kopie
das Sein nur als zweites, höchstens analog zukommt. Auch sind Modell und Kopie
intern miteinander verknüpft. Eine Kopie kann niemals autark sein, sie lebt von ihrer
Ähnlichkeit in bezug auf ein Modell. Damit etwas eine Kopie sein kann, muss es
notwendig ein Original geben. Der Pluralismus als These, dass alle Dinge extern
verknüpft sind, wird damit ausgeschlossen.
273
Rorty, “Robert Brandom on Social Practices and Representations”, in: Rorty, Truth and
Progress, S. 134
274
Der Leitspruch der Normativisten ist "Ihr (zum Beispiel die Nazis) könnt zwar gewinnen,
aber ihr habt noch lange nicht Recht." Der Leitspruch des Anti-Normativisten ist dagegen:
"Von mir aus könnt ihr Recht haben, solange ihr nur verliert."
153
Ein pluralistisches Universum
Mit der Univozität setzt man dagegen den Pluralismus. Jedes Seiende ist im selben
Sinne. Gerade deshalb ist das Seiende different und gleicht keines dem anderen.
Jedes steht für sich. Es ist genauso, wie es sein soll, sein eigenes Original, es gleicht
nichts und niemandem.
Ontologischer Perspektivismus ohne Harmonie
„Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht
gegen die Fenster.“ Es war nicht
Mitternacht. Es regnete nicht.
Samuel Beckett
Eine Ontologie der Univozität impliziert einen radikaler Pluralismus. Eine solche
Philosophie muss behaupten, dass alle Dinge Perspektiven, Bilder, sind, die jedoch
nichts zum Modell haben. Der Gegensatz von Vorstellung und Vorgestelltem ist ja
selbst nichts anderes als die Rede von Kopie und Original. Solange dieser Gegensatz
aufrechterhalten wird, kann man kein univokes Vokabular entwickeln. Aber selbst ein
radikaler Perspektivismus muss noch nicht mit dem Gedanken der Repräsentation
brechen, wie man es bei Leibniz sehen kann.
Ein ontologischer Perspektivismus nimmt die Leibniz’sche Lehre von den Perspektiven
in der Welt statt auf die Welt ernst. Für Leibniz besteht die Welt nicht aus Dingen,
sondern aus Monaden.275 Monaden sind Perspektiven, sie sind Bündel aus
Überzeugungen und Wünschen, die eine individuelle Perspektive ausdrücken. Leibniz’
Monaden haben bekanntlich kein Fenster. Die Wahrnehmungen einer Monade sind
nicht über etwas.276 Jede Wahrnehmung bei Leibniz ist halluzinatorisch. Es gibt kein
Ding, das Gegenstand der Wahrnehmung wäre. Trotzdem gibt es in Leibniz’ System
einen Ersatz für die klassische Objektivität: die Harmonie.277 Die Welt ist eine Vielzahl
von
Perspektiven.
Diese
Perspektiven
harmonieren
jedoch
dank
Gottes
275
Ein anderer Leibnizianer, Alfred North Whitehead, spricht von Prozessen, actual entities,
die von ihren Prehensionen aus konstituiert werden. Siehe Whitehead, Prozess und
Realität.
276
Man denke an Roberto Benignis Witz in Jim Jarmuschs Down by law: Bezüglich eines
auf eine Gefängniswand gemalten Fensters fragt der Italiener seinen amerikanischen
Zellengenossen: “Do you say: ‚looking through the window’ or ‚looking at the window’?“
Der Amerikaner: “In this particular case, it’s looking at the window.”
277
Zum Begriff der Harmonie und der Konvergenz siehe, Deleuze, Logik des Sinns, S.144f.
154
Ein pluralistisches Universum
Kreationsgeschick. Wenn ich eine Wahrnehmung habe, hat mein Gegenüber eine
ähnliche Wahrnehmung. Wenn ich jemanden sprechen höre, dann sehe ich auch
jemanden sprechen. Meine Sinne und die Sinne der anderen sowie meine Sinne
untereinander sind perfekt aufeinander abgestimmt, weil Gott die Wahrnehmungen wie
die Instrumente eines Orchester dirigiert oder besser (denn das Bild vom Dirigenten
verweist auf ein kontinuierliches Eingreifen Gottes, was Leibniz gerade ausschließt)
Gott ist ein Filmemacher, der Tonspur und die Bildspur perfekt synchronisiert hat. Der
Ablauf der Welt ist eine perfekte Filmvorführung.
William James und Nietzsche werden Leibniz’ Perspektivismus aufgreifen und
radikalisieren. Die Harmonie-Vorstellung werden sie jedoch aufgeben. Rorty und
ebenso Deleuze stehen in dieser Tradition.278 Die Welt wird zu einem Multiversum, in
dem die Perspektiven divergieren können. „Ich sehe nicht das, was Du siehst, ich höre
nicht, was ich sehe, der Morgenstern kehrt am Abend nicht wieder.“ "Das Fabriktor ist
nicht dasselbe, wenn ich hineingehe und wenn ich hinauskomme oder wenn ich als
Arbeitsloser daran vorbeigehe."279 Die Objektivität, die bei Leibniz über die Hypothese
Gottes
gesichert
bleibt,
ist
nicht
mehr
sichergestellt.
Die
Monaden
haben
Wahrnehmungen, aber diese Wahrnehmungen konvergieren nicht notwendigerweise.
Die Konvergenz sicherte bei Leibniz die gemeinsame Welt, die alle Monaden mehr
oder weniger klar ausdrücken. Divergenzen, Wahrnehmungen einer Monade, die keine
Resonanz in einer anderen haben, konnten bei Leibniz nur verschiedenen Welten
angehören. Nach Leibniz schafft Gott die Welt, indem er unter unendlich vielen
möglichen Welten wählt. Seine Kriterien sind Ordnung und Vielfalt. Die größtmögliche
Vielfalt, die sich noch mit der Harmonie vereinbaren lässt, soll realisiert werden. Eine
Divergenz kann sich daher nicht in ein und derselben Welt realisieren, da sie die
Harmonie stört. Wenn eine Monade akustische Wahrnehmungen hätte, die ich nicht
höre, dann verteilt Gott diese Monade in eine andere Welt, die er nicht realisiert. Die
Divergenz markiert die Grenze zwischen Welten. Damit ist nichts anderes gemeint, als
dass alle trügerischen Wahrnehmungen, also der gesamte Bereich des Fiktionalen,
aus gutem Grund bloß fiktional sind. Gott hat die Welt als Beste aller möglichen Welten
geschaffen. Jede andere mögliche Welt muss schlechter sein. Eine Täuschung ist
damit aus gutem Grund eine Täuschung. Wenn jemand glaubt, Stimmen zu hören, wo
keine sind, dann kann diese Wahrnehmung als Ausdruck einer möglichen Welt
278
Wenn Rorty den amerikanischen Pragmatismus im französischen Denken wiederfindet,
so deshalb, weil dieses Denken von Bergson aus in die angelsächsische Welt exportiert
wurde. Umgekehrt rezipiert Deleuze nicht nur Bergson, sondern, vermittelt über Jean
Wahl, den angelsächsischen Pragmatismus und Empirismus.
279
Deleuze, „Drei Fragen zu six fois deux“, in: Deleuze, Unterhandlungen, S. 68.
155
Ein pluralistisches Universum
gedeutet werden, in der zu der Stimme noch ein Körper gehören würde und auch
andere Personen, die ebenfalls Stimmen hören könnten. Diese Welt ist jedoch zu recht
ausgeschlossen. Jede Wahrnehmung ist gut begründet, denn sie aktualisiert die Beste
aller möglichen Welten. Es ist klar, dass die These der besten aller möglichen Welten
ein spekulatives Prinzip ist, das eine rationale Rekonstruktion der Welt, in der wir
leben, ermöglichen soll. Es ist ein "Principle of Charity" in der Interpretation Gottes.
Die moderne Philosophie kann diesem Prinzip jedoch nicht mehr zustimmen. Sie ist
dem Trugbild verpflichtet und damit dem Zusammenbruch der Differenz zwischen
Urbild und Abbild, dem Glauben an die Kopiertheorie der Wahrheit, wie William James
sich ausgedrückt haben soll. Alle möglichen Wahrnehmungen gehören derselben Welt
an, weil die Moderne das Harmonie-Prinzip aufgegeben hat.280 Eine divergente
Wahrnehmung fällt nicht mehr in eine andere Welt, ist nicht mehr eine bloße Fiktion,
sondern drängt mit aller Macht in diese Welt. Deleuze zitiert immer wieder Borges’ Der
Garten der Pfade, die sich verzweigen. Borges’ Werk zeugt von der Unmöglichkeit, den
Fiktionen einen minderen Seinsstatus zuzuordnen.
„Die Erklärung liegt auf der Hand: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, ist
ein zwar unvollständiges, aber kein falsches Bild des Universums, so wie Ts’ui
Pen es auffasste. Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer hat Ihr Ahne
nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit geglaubt. Er glaubte an unendliche
Zeitreihen, an eine wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und
zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Diese Webmuster aus Zeiten, die
sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander
jahrhundertelang ignorieren, umfaßt alle Möglichkeiten; in einigen existieren Sie,
nicht jedoch ich; in anderen ich, aber nicht Sie; in wieder anderen wir beide. In
dieser Zeit nun, die mir ein günstiger Zufall beschert, sind Sie in mein Haus
gekommen. In einer anderen haben Sie mich, da Sie den Garten durchschritten,
tot angetroffen; in wieder einer anderen sage ich dieselben Worte, aber ich bin
ein Trug, ein Phantasma.“281
Die moderne Philosophie führt die Divergenz in ein und dieselbe Welt ein. Es gibt
alternative Entwicklungen, die alle derselben Welt angehören. Diese Philosophie kann
Fiktionen, Träume, Halluzinationen nicht mehr als Ausdruck schlechterer Welten
ausschließen. Ein Traum, der für Leibniz immer in eine schlechtere Welt führte, hat nun
dasselbe Recht wie eine Tatsache. Die Kunst kann nicht einfach als Bereich des „Als
280
Deleuze, Logik des Sinns, S.214f.
281
Borges, „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“, in: Borges, Fiktionen, S.88.
156
Ein pluralistisches Universum
ob“ abgetan werden.282 Sie realisiert Wahrnehmungen mit uns simultaner Welten. Es
gibt kein Ausschlussprinzip mehr, dass Inkompossibilitäten auf verschiedene, bloß
mögliche Welten verteilt.283 Da jede Monade eine Perspektive ist, die Welt aus
Perspektiven besteht und diese nicht mehr konvergieren, erhält man ein pluralistisches
Universum, ein Multiversum, wie William James es nennt. Deleuze spricht von
Chaosmos statt Kosmos. Die Teleologie, mit der Leibniz noch operiert, wird damit
aufgegeben. Die Welt strebt nicht mehr auf eine Einheit zu. Die Einheit der Welt ist ihre
Disjunktion. Disjunktive Synthese nennt Deleuze eine Relation, die zwei inkompossible
Ereignisse affirmiert. Damit wird die Welt als Zufall denkbar. Was sich ereignet, ist
kontingent. Was sich aktualisiert, aktualisiert sich immer vor einem virtuellen
Hintergrund, der es als kontingent enthüllt.
Rortys Ethnozentrismus
I'm just an American.
Richard Rorty
Oben hatten wir mit McDowell festgestellt, dass Rorty immer wieder in einen
linguistischen
Idealismus
abzurutschen
droht.
Oft
scheint
er
einen
Sozialkonstruktivismus zu vertreten, nach dem jede Kultur ihre eigenen lokalen
Sprachspiele hervorbringt. Indem er Rechtfertigung und Kausalität unterscheidet,
evoziert er das Bild einer vom Naturwissenschaftler zu beschreibenden Außenwelt, die
282
Es ist wichtig sich daran zu erinnern, dass Trugbilder keine Abbilder sind. Es gibt heute
eine Medien"philosophie", die diesen Unterschied vergisst und das blödsinnige Bild
evoziert, jeder Unsinn oder besser jede Lüge, die sich Werbeagenturen, Spindoctors
oder Sensationsjournalisten ausdenken, sei "wahr". Es ist ein Unterschied, ob man die
Differenz von Urbild-Abbild zugunsten des Trugbildes überwindet oder ob man das Urbild
leugnet, um jedes Abbild als Abbild mit demselben Recht auszustatten. Eine solche
Haltung wäre eine extreme Form von Transzendenzphilosophie, denn sie muss ja am
Urbild festhalten, nur dass sie jedem Abbild die Ähnlichkeit mit einem Urbild attestiert. Im
Grunde ist eine solche Philosophie die Absolution der Meinung. Jedem seine Meinung.
Was immer jemand meint, ist für ihn auch wahr. Jedes Subjekt wird zu einem kleinen
Gott erklärt, dem seine ganz private Welt zugestanden wird. Diese Welten unterscheiden
sich je nach Zielgruppe, aber in ihr gehen alle Träume in Erfüllung, entspricht jedem
Abbild ein Urbild. Zu diesem postmodernem Pazifismus siehe den Abschnitt "Die Kritik
der Moderne" in Kapitel VII dieser Arbeit.
283
Inkompossibel sind zwei Dinge, die für sich zwar möglich wären, jedoch nicht zusammen
möglich sein können. Sie müssen daher auf verschiedene mögliche Welten verteilt
werden.
157
Ein pluralistisches Universum
von Teilnehmern der verschiedenen Kulturen mit ihren Projektionen bedeckt wird. Die
Rede von Vokabularen, in denen man die Welt beschreibt, ist immer noch an der
kantischen Schema-Inhalt Metaphorik orientiert. Dieser Drift in einen linguistischen
Idealismus kann durch einen Pragmatismus verhindert werden, der keinerlei Kluft
zwischen Geist und Natur mehr impliziert.
Rorty selbst macht jedoch manchmal einen Vorstoß in das, was ich ontologischen
Konstruktivismus nenne. An zwei vereinzelten Stellen macht er Andeutungen, die in die
richtige Richtung weisen.284 Rortys positive Vorstöße verweisen auf den Holismus. Ein
Holist, so Rorty, kann nicht mehr zwischen essentiellen, internen und akzidentiellen,
externen Relationen unterscheiden.285 Daher macht es keinen Sinn für ihn zu
behaupten, dass es einen Kern von wesentlichen Eigenschaften beispielsweise eines
Dinosauriers gibt, die man trennen könnte von unwesentlichen Eigenschaften wie "von
uns als Vorbild für Kinofilme genommen" oder "verdammt süße Viecher". Wenn diese
Eigenschaften ebenso konstitutiv für den Dinosaurier sind wie jede andere Eigenschaft,
wenn keine dieser beiden Beschreibungen "wahrer" ist, dann ist "ausgestorbenes
Reptil" nur eine von uns zu bestimmten Zwecken favorisierte Beschreibung. Die
"wissenschaftlichen" Beschreibungen treffen die Dinosaurier da draußen nicht besser
als die Beschreibungen, in denen sie mit Kinofilmen und Gefühlen in Verbindung
gebracht werden. Welche Beschreibung wir favorisieren, hängt vom Kontext ab. Keine
Eigenschaft ist per se interner als eine andere. Von einem holistischen Standpunkt
aus, verändert jeder neue Film oder jeder neue Artikel eines Dinosaurierforschers
unseren Dinosaurier-Begriff und die Dinosaurier selbst. Die Geschichte der Dinosaurier
ist also noch lange nicht zu Ende. Sie sind nicht "ready-made", sondern "still in the
making". In diesem Sinne machen wir, wir Menschen unter anderen Dingen, die
Dinosaurier wirklich.286
284
Rorty "Daniel Dennett on Intrinsicality", in: Rorty, Truth and Progress, S. 108, sowie
Rorty "Charles Taylor on Truth", in: Rorty, Truth and Progress, S. 87.
285
Rorty vereinfacht hier die Diskussion. Holismus wird üblicherweise als die These
verstanden, dass die Terme einer Relation intern, voneinander abhängig sind. D.h.
zwischen ihnen bestehen analytische, notwendige statt bloß kontingente, externe
Beziehungen. Seit Quine gilt Holismus als Aufhebung dieser Differenz und damit für
Rorty als Anti-Essentialismus. Diese Interpretation ist jedoch alles andere als klar, denn
wenn es sich um eine Aufhebung handelt, warum ist Quine dann nicht auch AntiAkzidentalist? Rorty tendiert dazu, die Aufhebung in Richtung "alles ist extern,
akzidentiell und damit kontingent" zu lesen. Quine kann dem aber schon deshalb nicht
zustimmen, weil er für Modalbegriffe nicht viel übrig hat. Der Begriff der Kontingenz hat in
Quines Philosophie ebenso wenig Platz wie der Begriff der Notwendigkeit.
286
Um dies sagen zu können, plädiert Rorty dafür, den Gegensatz zwischen intentionalen
und physikalischen Objekten selbst aufzugeben. Eine neue Beschreibung verändert den
Gegenstand, der beschrieben wurde, denn unsere Beschreibungen oder Gedanken sind
158
Ein pluralistisches Universum
Ein anderes Beispiel macht dies vielleicht deutlicher. Neo-Nazis aller Länder arbeiten
an der Rehabilitierung des Rassismus. Nehmen wir an, ihnen gelingt dies. Ein neuer
Faschismus überzieht Europa, unterstützt durch einen faschistischen Putsch in den
USA. Im Zuge dieser Entwicklungen gibt es eine groß angelegte Kampagne zur
Rehabilitierung des Nationalsozialismus. "Mein Kampf" wird neu herausgebracht als
CD-Rom Edition. All der Schund, der über Hitler geschrieben wurde, wird verboten.
Besonders die Jugend, die von neo-faschistischen Marketingexperten umworben wird,
ist von der Entwicklung begeistert. Eine Nazi-Boygroup namens "The Hitlers" (weil sie
immer Hits haben) stürmen die Charts.
Würde eine solche Entwicklung nicht Hitler selbst verändern, ohne dass er sich im
Grabe umdrehen müsste? Millionen Menschen kennen Hitler nur unter der
Beschreibung "meistgehasster Mann der Vergangenheit". Diese Menschen hätten nicht
mehr dasselbe Hitlerbild nach einer erfolgreichen Rehabilitierungskampagne. Und
damit würde Hitler selbst in eine neue Beziehung zu Millionen Menschen treten, ein
gewaltiger posthumer Erfolg. Dieser Hitler wäre nicht mehr derselbe Hitler wie vor der
Rehabilitierungskampagne (außer natürlich für die Widerstandskämpfer, die tapfer das
alte Hitlerbild aufrechterhalten.) Er wäre kein Monster mehr, sondern vielleicht doch der
Begründer des tausendjährigen Reiches.287
Rortys Schwierigkeiten in Solidarität, Kontingenz und Ironie lassen sich nun lösen.
Rorty plädiert dort dafür, die Unterscheidung von Gründen und Ursachen und damit
auch von Überredung und Manipulation auf ein bestimmtes Vokabular zu relativieren.
Auf den Übergang von einem Vokabular zu einem anderen (also von Demokratie in
Neo-Faschismus) ist die Unterscheidung nicht anwendbar. Wie soll ein solcher
Übergang
aber
dann
beschrieben
werden?
Diese
Frage
bringt
Rorty
in
Schwierigkeiten, weil er, obwohl er die Anwendbarkeit der Gründe-UrsachenUnterscheidung auf einen Vokabularwechsel ablehnt, schließlich doch den Prozess
des Vokabularwechsels als das Eindringen und Durchsetzen von Metaphern
ebenfalls physikalische Ereignisse, mit denen die beschriebenen Objekte interagieren.
Dazu Rorty "Daniel Dennett on Intrinsicality", in: Truth and Progress, S. 108. Mit Sellars’
Deontologie des Geistigen wäre ein solcher Zug jedoch nicht zu vereinbaren. McDowell
hat daher nur Spott für diesen Vorschlag übrig, siehe McDowell, Geist und Welt, S.184.
Er deutet ihn als Plädoyer für einen Physikalismus in der Tradition Quines.
287
Andere Beispiele liefert Bruno Latour, der darauf hinweist, dass Begriffe wie
„Tuberkulose“ oder „Milchsäurebakterium“ ohne die Forscher und ihre Fertigkeiten keinen
Sinn hätten. Was soll es also heißen, dass Tuberkulose oder Milchsäurebakterien vor
dem Auftauchen dieser Forscher existiert haben? Allenfalls kann man sagen, dass es
nach dem Wirken von Pasteur Milchsäurebakterien gegeben haben wird. Siehe Latour,
Die Hoffnung der Pandora, S.175ff.
159
Ein pluralistisches Universum
beschreibt, die bloße Ursachen für den Wandel eines Vokabulars sein sollen. Damit
erweckt er den Eindruck, ein Demokrat oder ein Faschist müsse seine Überzeugungen
aus einem irrationalen Sprachgeschehen heraus erklären.
Besser wäre es, und Rorty tut dies auch an anderen Stellen, eine solche Frage
zurückzuweisen,
da
sie
genau
den
Außenstandpunkt
voraussetzt,
den
der
Ethnozentrist gerade überwunden hatte. Der Neo-Faschist aus unserem obigen
Beispiel braucht nicht in einen Relativismus zu verfallen, nachdem Hitler bloß für ihn
ein Held ist und für Demokraten ein Ungeheuer, während der Hitler-an-sich für immer
unerkennbar bleibt (für Kant). Hitler wird wieder ein Held geworden sein, wenn die
Neofaschisten sich durchsetzen. Und zwar der wirkliche Hitler und nicht bloß die
Konstruktion der Neo-Faschisten. Ebenso wird Hitler nie ein Held gewesen sein,
solange die Demokraten das Aufkommen der Neo-Faschisten erfolgreich verhindern.
Ein solches prozessuales wie perspektivisches Verständnis von Realität - basierend
auf
der
relationalistischen
Aufhebung
von
essentiellen
und
akzidentiellen
Eigenschaften gepaart mit einem Begriff von rückwirkenden Neubeschreibungen - führt
nicht in einen schlechten Relativismus, der immer noch einen neutralen Beobachter
voraussetzt, einen absolutistischen Relativismus also, sondern ergibt einen durch und
durch relativistischen Relativismus, einen immer situierten Relativismus. Genau dies
versteht Rorty unter dem - meiner Meinung nach - schlecht gewählten Etikett des
Ethnozentrismus.
"Isn't this like the homeric heroes (Nietzsche's "brave, strong and happy ones")
denying truth to the Christians whom they might, in their nightmares, see
inheriting the Mediterranean World? Isn't it like some imaginary language-using
and prescient dinosaurs denying beauty to their foreseen successors, the
mammals? Yes, it's exactly like that. The only difference is that we are right about
charity being a virtue and Achilles was wrong, and we are right about our own
beauty and my imaginary Dinosaur wrong. Once God and his view goes, there is
just us and our views."288
Es gibt für den Ethnozentristen keine neutrale, unparteiische Schilderung der
menschlichen Geschichte. Es gibt für ihn, wenn er konsequent ist, aber auch keine
unparteiische Schilderung der Naturgeschichte. Damit entfällt die Möglichkeit einer
Relativierung aus der Beobachterperspektive. Niemand kann aus seiner Haut oder
seiner Zeit schlüpfen und eine neutrale unparteiische Haltung einnehmen. Aber es ist
auch niemand in seiner Zeit gefangen, weil die Zeit jeden Abschluss verhindert. Die
288
Rorty, "Hilary Putnam and the Relativist Menace", in: Rorty, Truth and Progress, S.54.
160
Ein pluralistisches Universum
Zeit ist, wie Bergson sagt, das Offene. Wenn Rorty sich in Diskussionen mit seinen
Fachkollegen weigert, eine Rechtfertigung für seine Positionen zu geben und einfach
mit den Worten "I'm just an American" antwortet, dann ist dies keineswegs eine Bitte
um diplomatische Immunität oder multikulturelle Toleranz, sondern eine Einladung an
seine
Gesprächspartner,
ebenfalls
Amerikaner
zu
werden.
Amerika
ist
ein
Einwanderungsland.289
Jenseits von Innen- und Außenwelt
Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der
Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas
zeigen.
Ludwig Wittgenstein
Abschließend ist zu sagen, dass Rorty nicht nur in seiner politischen Philosophie oft
Dinge geschrieben hat, die auf einen kulturellen oder sozialen Konstruktivismus
hinauslaufen. Sein von Sellars übernommenes Plädoyer, die Beschreibungen der Welt
als Elemente eines "game of giving und asking for reasons" zu fassen, das nur unter
Menschen gespielt wird, und dem eine bloß kausale Dingwelt gegenübersteht, die
keinerlei Mitspracherecht hat, da nur über sie und nicht mit ihr gesprochen wird,
erweckt den Eindruck, als hätte der Wechsel von einer Dinosaurier-Beschreibung zu
einer nächsten nur kulturelle Gründe, die nichts mit den Dinosauriern selbst zu tun
haben. Rorty reduziert damit unter dem Einfluss des Linguistic Turns und der
Hermeneutik den Pragmatismus auf einen Kulturalismus.
In seinen besseren Momenten gibt er jedoch diesen Natur-Kultur-Dualismus zugunsten
eines radikalen Holismus auf, für den auch Dinosaurier genauso wie Nazis kein
abgeschlossenes Wesen haben, das ein für allemal erkannt werden kann. Nicht nur die
menschliche Geschichte kennt rückwirkende Neubeschreibungen, sondern auch die
Natur verändert sich, wenn sich neue Naturbegriffe entwickeln. Statt der einen Natur
289
Rorty politische Philosophie gibt diese Idee von Amerika allerdings auf. Siehe Rorty: Stolz
auf unser Land: die amerikanische Linke und der Patriotismus. Während Rorty lange Zeit,
zum Beispiel in Auseinandersetzung mit Lyotard, die Beschreibung von Diskursen oder
Kulturen als miteinander unvermittelbar abgelehnt hat, plädiert er nun für eine
Abschottung Amerikas und die Rückkehr zu einem nationalistischen Selbstverständnis.
Seine richtige Kritik an der Identitätspolitik der kulturellen Linken, die Amerika in
multikulturelle Ghettos spaltet, statt die Klassenfrage zu stellen, fällt jedoch auf ihn selbst
zurück, wenn er versucht den Nationalismus zu reaktivieren. Was ist ein Plädoyer für
Nationalstolz anderes als Identitätspolitik?
161
Ein pluralistisches Universum
und den vielen Kulturen, Mononaturalismus und Multikulturalismus haben wir, um mit
Bruno Latour zu sprechen, jetzt ein gemeinsames Kollektiv aus Mensch und Natur.290
Dinosaurier und Menschen haben eine gemeinsame Geschichte, sie verändern sich
gegenseitig, und nicht nur der Begriff von ihnen, sondern die Dinosaurier da draußen.
Oder besser, der Innen-Außen-Gegensatz muss selbst revidiert werden. Vorstellungen
sind genauso wenig im Kopf, wie Gegenstände da draußen sind.
Ein ontologischer Perspektivismus zieht den Unterschied von Vorstellung und
Gegenstand ein. Es gibt nur Perspektiven, die sich alle dasselbe Sein teilen. Ein
ontologischer Perspektivismus führt so nicht in noch mehr subjektive Konstruktionen,
sondern zu viel mehr Realität. Nicht nur Dinosaurier, sondern süße Dinosaurier mit
Kulleraugen, nicht nur Hitler, sondern das Ungeheuer Hitler oder auch Hitler der
Volksheld. Um ein martialisches Bild für diesen Antisubjektivismus anzubieten: durch
eine Überdosis subjektiven Konstruktivismus sind unsere Köpfe so angeschwollen, so
viele Dinge wurden aus der Welt hinaus in unsere Köpfe hineingepumpt (Götter, Engel,
moralische Werte, Mode, Personen, Sex, neuerdings auch noch Gene und Quarks),
dass unser Kopf einfach geplatzt ist. Alle Dinge liegen jetzt wieder in der Außenwelt
verstreut. Allerdings nicht mehr in der alten sauberen, neutralen, objektiven Außenwelt
der harten Fakten, die nur das Komplement der weichen Innenwelt war. In der neuen
schmutzigen Außenwelt kleben an jedem Ding noch kleine Fetzen von Gehirn.291
Oder mit Bergson: Bilder sind nicht im Kopf, sondern in der Welt, es bleiben aber
trotzdem Bilder.
290
Siehe Latour, Wir sind nie modern gewesen.
291
Das Phantasma vom platzenden Schädel findet sich bei Kleist in einem ähnlichen
Gebrauch. Auch hier dient es der Überwindung der romantischen Verinnerlichung von
allem und jedem. Siehe M. Carrière: Für eine Literatur des Krieges, Kleist. Im Film ist an
David Cronenberg zu denken, der immer wieder das Motiv des nach Außen gestülpten
Inneren in Szene gesetzt hat und den platzenden Schädeln mit Scanners ein Denkmal
setzte. In einem Interview plädiert Cronenberg dafür, eine Ästhetik der Innerlichkeit zu
entwickeln. Es müsste Preise geben für das schönste Herz, die hübscheste Leber, die
wohlgeformteste Niere...
162
Der Universalismus der Moderne
VII. Der Universalismus der Moderne
Gewiss kann der Abendländer glauben,
dass die Schwerkraft selbst in Abwesenheit
jeglichen
Instruments,
jeglicher
Berechnung, jeglichen Labors universell
ist, aber darin gleicht er den BiminKuskumin in Neuguinea, die glauben, dass
sie die gesamte Menschheit sind; dies sind
zwar achtbare Glaubensüberzeugungen,
die vergleichende Anthropologie braucht
sie jedoch nicht mehr zu teilen.
Bruno Latour
Nur der Relativismus ist universal
Der Zusammenbruch des Dualismus zwischen Außen- und Innenwelt, objektivierter
Natur und subjektivierter Kultur ermöglicht eine neue Perspektive auf die Problematik
des universellen Selbstverständnisses der Moderne. Nach Bruno Latour können wir
dieses Selbstverständnis sogar ganz aufgeben. Latour entwickelt in seinem Essay Wir
sind nie modern gewesen ein a-modernes Selbstverständnis, das als Grundlage einer
symmetrischen Anthropologie dienen kann.292 Die Sonderstellung des okzidentalen
Rationalismus, wie sie von Philosophen und Soziologen behauptet wurde, wird von
Latour bestritten. Wir sind nicht durch Aufklärung und „harte“ Wissenschaft wie durch
eine Kluft von anderen Kulturen getrennt, sondern nur ein weiteres Kollektiv unter
anderen. Latour versucht gegen Modernisten wie Postmodernisten zu zeigen, dass
gerade die Aufgabe des modernen Universalismus, der auf dem Anspruch auf
Objektivität gründet, uns wieder in Verbindung bringen kann mit dem Rest der Welt, die
nicht modern ist. Das Paradox, die Kontra-Intuition lautet: nur die Aufgabe unseres
Universalismus kann einen wirklichen Universalismus möglich machen. Wir sind alle
Relativisten. Nur der Relativismus ist universal. Der transzendente Universalismus der
Moderne, der ihre Überheblichkeit und ihren Eliteanspruch begründet, muss ersetzt
werden durch einen immanenten Universalismus, wie er sich in einem Denken der
Univozität zeigt. Kein Seiendes steht höher als ein anderes, hat einen privilegierten
Zugang zur Realität. Der Moderne mit seiner Wissenschaft ist nicht objektiver als ein
292
Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen.
163
Der Universalismus der Moderne
Primitiver mit seinem Orakel. Schon Wittgenstein hat versucht zwischen aufgeklärtem
und primitivem Denken eine Symmetrie herzustellen.
"Angenommen wir treffen Leute, die das (den Glauben an die moderne Physik,
A.F.) nicht als triftigen Grund betrachten. Nun, wie stellen wir uns das vor? Sie
befragen statt des Physikers etwa ein Orakel. (Und wir halten sie darum für
primitiv.) Ist es falsch, dass sie ein Orakel befragen und sich nach ihm richten? Wenn wir dies "falsch" nennen, gehen wir nicht schon von unserem Sprachspiel
aus und bekämpften das ihre?"293
Wittgenstein bleibt jedoch noch in den Schwächen eines bloßen Kulturrelativismus
hängen. Latour versucht zu zeigen, dass die Natur selbst eine andere wird, je nachdem
ob sie in einem Labor oder durch ein Orakel befragt wird. Die Natur artikuliert sich
durch unsere Befragungspraktiken. Sie selbst ist ebenso pluralistisch wie die Kulturen.
Latours Hauptkritik am modernistischen Selbstverständnis ist der Glaube an die
Ausdifferenzierung von Wertsphären. Hier das Wahre, dort das Gute, Gerechte oder
Schöne. Hier Fakten, dort Werte.
„Man braucht bloß irgendeine Spraydose zu drücken, und schon ist man
unterwegs zur Antarktis, von dort zur University of California in Irvine, zu den
Fließbändern in Lyon, zur Chemie der Edelgase und dann vielleicht zur UNO.
Doch dieser fragile Faden wird in ebenso viele Teile zerstückelt, wie es reine
Fachgebiete gibt. Bringen wir bloß nicht Erkenntnis, Interesse, Justiz und Macht
durcheinander! ... Mit einem scharfen Schwert haben sie den gordischen Knoten
zerschlagen. Die Deichsel ist entzweigebrochen: links die Erkenntnis der Dinge,
rechts Interesse, Macht und Politik der Menschen.“294
Es ist dieser Aspekt der Ausdifferenzierung der von Moderne-Theoretikern wie Jürgen
Habermas in den Vordergrund gestellt wird. Wie im Vorwort dieser Arbeit zitiert, soll
sich die überlegene Rationalität der Moderne der Ausdifferenzierung in Geltung und
Faktizität - und innerhalb der Geltungssphäre in Wahrheit, Richtigkeit und
Wahrhaftigkeit oder Schönheit - verdanken. Das moderne Selbstverständnis
aufzugeben, heißt daher für Latour, dieses Ausdifferenzierungstheorem – Latour
spricht von der Verfassung der Moderne – in Frage zu stellen. Ich werde zunächst die
philosophischen Aspekte von Habermas’ Moderne-Theorie vorstellen und dann
anschließend Latours Gegenvorschlag präsentieren.
293
Wittgenstein, Über Gewissheit, S. 157
294
Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 9.
164
Der Universalismus der Moderne
Habermas’ kritische Theorie der Moderne
Die Moderne definiert Habermas durch die strikte Trennung zweier Bereiche, die John
McDowell in Anlehnung an Sellars als den „space of reason“ und den „realm of law“
bezeichnet und deren Trennung er als Ergebnis, der erst mit der modernen
Naturwissenschaft erreichten vollständigen Entzauberung der Welt gleichsetzt.295
Entzauberung ist nichts anderes als das Entfernen jeder Art von Rationalität aus der
Betrachtung der Natur, die Austreibung des Geistes aus dem Naturbegriff. Ist
Entzauberung das Ideal, ergibt sich das Problem, wie man den Geist in ein solches
Bild
integriert.
Dieses
Problem
und
die
Kritik
an
einer
vollständigen
naturwissenschaftlichen Selbstobjektivierung ist eines der Hauptmotive im Deutschen
Idealismus und ist von Habermas für die zeitgenössische Philosophie reaktualisiert
worden.
Habermas hat immer wieder dafür argumentiert, dass sowohl erkenntnistheoretisch als
auch praktisch eine Selbstobjektivierung (Selbstverdinglichung) des Geistes fehlgehen
muss.296 Müsste man Habermas’ Modernekritik in einem Satz zusammenfassen, so
könnte man sagen: Die Moderne schöpft ihr Rationalitätspotential nur zur Hälfte aus,
indem sie Menschen mit Dingen verwechselt, das Subjekt mit dem Objekt. Aufgabe
einer theoretischen wie praktischen Kritik der Moderne ist daher die Unterscheidung
von Mensch und Ding. Habermas aktualisiert damit ein Grundmotiv des Deutschen
Idealismus: die Kritik der Verdinglichung, die seit der Aufklärung in Form des
naturwissenschaftlichen
Reduktionismus
immer
wieder
speziell
die
deutsche
Philosophie zum Widerspruch gereizt hat. Statt jedoch, angesichts dieser Bedrohung
die idealistischen Höhen eines Hegels zu reformulieren, entscheidet sich Habermas für
die defensive Strategie Kants. Subjekt und Objekt sollen nicht zugunsten des ersteren
vereint, sondern streng unterschieden bleiben. Weder absoluter Idealismus noch
naturwissenschaftlicher Objektivismus, vielmehr wird dem Subjekt Platz geschaffen,
indem das Objekt begrenzt wird. Erkenntnis geht nicht in wissenschaftlicher Erkenntnis
auf. Diese selbst ist auf die konstituierenden Leistungen der Subjektivität angewiesen.
Begriffe wie Erkenntnis, Wahrheit, Richtigkeit etc. sind mit objektivistischen Mitteln
nicht zu erklären. Habermas plädiert für eine Resubjektivierung der Erkenntnistheorie,
die, so Habermas’ Diagnose in den 60ern, zur Wissenschaftstheorie verkommen ist.297
295
McDowell, Geist und Welt, S.14f.
296
So in Habermas, Erkenntnis und Interesse und dann vor allem in Auseinandersetzung mit
objektivistischen Methoden in der Soziologie. Siehe Habermas, Zur Logik der
Sozialwissenschaften.
297
Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, S.11ff.
165
Der Universalismus der Moderne
Habermas gegen McDowell
Damit steht Habermas auch dem Neo-Hegelianismus von Brandom und McDowell
ablehnend gegenüber. Besonders McDowell erschließt der analytischen Philosophie
die vom Deutschen Idealismus ausgehende Linie kontinentaler Philosophie. Er lehnt in
einer für die szientistisch geprägte analytische Philosophie schockierend direkten Art
jede Art von naturwissenschaftlichen Reduktionismus ab.298 Wenn man bedenkt, wie
viel Physikalismus und Behaviorismus noch in den Philosophien von Sellars und Quine
steckt, begreift man den Weg, der zurückgelegt wurde. McDowells Lösung zur
Überwindung des Subjekt-Objekt-Dualismus besteht in nicht weniger als der Aufgabe
des von der modernen Wissenschaft dominierten Naturbegriffs. Eine partielle
Wiederverzauberung der Welt ist es, die McDowell als einzig brauchbare Auflösung
des modernen Dualismus akzeptieren kann.
Dies ist schon ein wenig mehr Hegel als Habermas, der als Soziologe das Weber’sche
Konzept der Entzauberung in Ehren hält, zulassen würde. McDowells Schlüsselwort
dabei heißt „second nature“ und ist Hegels Begriff der Verkörperung entlehnt.
Habermas hat speziell im Kontext der Moralphilosophie immer wieder gegen den
Hegel’schen Sittenbegriff Stellung bezogen, welcher der Überwindung der SeinSollens-Differenz bei Kant dient.299 Habermas wehrt sich gegen den von McDowell
propagierten Realismus in der Ethik und setzt hier einen Konstruktivismus entgegen.
Auch in der Erkenntnistheorie darf das empirische Moment, das Habermas unter
Rücknahme seiner Konsenstheorie jetzt hochhält, nicht begrifflich vereinnahmt werden,
wie es McDowell tut. Habermas möchte in gewisser Weise etwas zwischen Davidsons
Aufgabe des
Empirismus und McDowells Wiederverzauberung der Erfahrung. Der
Wahrheit in der Naturwissenschaft kommt eine Transzendenz zu, die es in der Moral
nicht gibt.300 Hier zeigt sich bei einem Denker wie Habermas eine erstaunliche
Hinwendung zum Szientismus, der allerdings in der rein defensiven, an Kant
orientierten Strategie gegenüber dem modernen Naturverständnis schon angelegt war.
298
McDowell, Geist und Welt.
299
Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, S.112ff.
300
In seiner Auseinandersetzung mit Robert Brandom macht Habermas deutlich, dass er
strikt zwischen der Begründung von Fakten und der Begründung von Normen
unterscheiden will. Normen werden nicht unter Berücksichtigung von Fakten begründet.
Habermas hält hier Kants Unterscheidung zwischen Klugheit und Moral hoch. Habermas,
Von Kant zu Hegel. Zu Robert Brandoms Sprachpragmatik, S.182ff. Brandom hat jedoch
keine Schwierigkeit diese Differenz zu beachten. Was Habermas übersieht, ist, dass
Erkennen für Brandom ein ebenso normatives Phänomen ist wie moralisches Handeln.
Kants Differenzierung zwischen Theorie und Praxis wäre mit Brandom als eine
Binnendifferenzierung innerhalb des Reichs des Normativen zu reformulieren.
166
Der Universalismus der Moderne
Immer schon war Habermas’ Botschaft an den Positivismus ein bis hierher und nicht
weiter, halbierter Hegel könnte man es nennen. Die Naturwissenschaft muss begrenzt
werden, um der Moral Platz zu geben. Anders als Hegel wollte, entpuppt sich für
Habermas nur die Hälfte der Natur als entfremdeter Geist. Nur den Menschen kann
man verstehen, der nicht-menschlichen Natur muss man rein instrumentell begegnen.
Geist und Natur: der neue Intersubjekt-Objekt-Dualismus
Was ist nun das Kriterium, um wirkliche Natur von wirklichem Geist zu unterscheiden?
Hier bietet Habermas im Verhältnis zu Kant und Hegel etwas Neues. Es ist die in
Kommunikation fundierte Intersubjektivität, die wirklichen Geist konstituiert. Kant und
Hegel fehlt dieses intersubjektive Modell, um Geist von bloßer Natur abzugrenzen.
Beide denken in Subjekt-Objekt-Kategorien und können daher das zu erkennende
Subjekt nur in Objektkategorien erfassen.301 Eine bloß halbe Modernisierung bekommt
man, wenn man ausgehend von diesem Modell zwar die Natur objektiviert, aber den
Geist nicht intersubjektivviert. Im Subjekt-Objekt-Modell kann der Andere jedoch nur
als Subjekt oder Objekt, aber nicht als Intersubjekt auftauchen. Der Andere ist
entweder ein Objekt, dem ich mich rein instrumentell nähere oder ein Subjekt, das sich
ebenso egozentrisch wie ich verhält und nur strategische Beziehungen aufbauen kann.
Nach Habermas muss Selbsterkenntnis mit Fremderkenntnis verwoben werden. Der
Geist erkennt sich in der Kommunikation mit anderen Geistern über die nichtgeistige
Natur. Nur über den Anderen komme ich zu mir selbst. Die für die Zuschreibung von
Intentionen konstitutiven Begriffe haben ihr Fundament in der Kommunikation. Nach
Habermas war es ein Fehler Kants und auch des späten Hegels, der Natur ein
„einsames“ Subjekt gegenüberzustellen. Ein Subjekt allein macht noch keinen Geist,
erst eine Gesellschaft von Geistern lässt sich nicht mehr naturalisieren. Gegen die
Verdinglichung muss die ganze Gesellschaft mobilisiert werden. Habermas teilt mit
Davidson und Brandom die Überzeugung, dass die Begriffe der Wahrheit, des
Glaubens, der Absicht etc. letztlich soziale Begriffe sind.302 Davidson und Brandom
301
Intersubjektivität statt Subjekt-Objekt-Dualismus ist Habermas’ Slogan, den er vor allem
im Philosophischen Diskurs der Moderne testet. Siehe Habermas, Der philosophische
Diskurs der Moderne, S.344ff.
302
Brandom sagt explizit, dass die wechselseitige Perspektivität des Sozialen notwendig für
wirkliche Intentionalität ist. Er kritisiert Dennett für sein Konzept des intentionalen
Systems. Nur ein Wesen, das selbst den „intentional stance“ einnehmen kann (nicht nur
von einem intentionalen Standpunkt aus beschrieben wird), ist ein wirklich geistiges
167
Der Universalismus der Moderne
führen aber im Detail und wesentlich überzeugender als Habermas diese Intuitionen
aus. Habermas hatte sich an Searles Sprechakttheorie gehängt und damit einen
absoluten Anti-Intersubjektivisten zum Kronzeugen seiner Theorie des kommunikativen
Handelns gemacht.303
Die Kluft zwischen Natur und Geist kann also eine neue Begründung erhalten. Die
Moderne verstand sich falsch, als sie das Subjekt dem Objekt gegenüberstellte, sie
muss vielmehr das Soziale der Natur gegenüberstellen. Descartes lag also nicht
aufgrund seines Dualismus zwischen Geist und Natur falsch, sondern nur in Bezug auf
seinen Solipsismus. Das einsame Subjekt kann sich selbst und andere Subjekte nur
verdinglichen. Bezogen auf die Natur hat es mit dieser Haltung durchaus recht, aber
gegenüber seinen Mitmenschen und sich selbst ist sie fehl am Platze. Vollständige
Modernisierung würde also der radikalen Objektivierung und Entzauberung der Natur
die radikale Intersubjektivierung des Sozialen hinzufügen. Vormodern ist es, die Natur
zu vergeistigen sowie den Geist zu naturalisieren, oder besser eine Begrifflichkeit zu
verwenden, die diese beiden Momente noch nicht klar trennt. Zur halbherzigen
Modernisierung kam es, weil ein falsches subjektivistisches Verständnis von Geist zu
einer Über-Objektivierung geführt hat. Das soziale Verhältnis wird dann nicht als
intersubjektives Verhältnis erkannt, sondern bleibt Schicksal, entfremdeter Geist.
Systemtheorie als Theorie verdinglichten Geistes
In der Auseinandersetzung mit der Systemtheorie zollt Habermas diesem Schicksal
durchaus Tribut. Er erkennt an, dass die Moderne aus „technischen“ Gründen
Menschen verdinglichen muss. Nicht nur kann die Natur nicht, wie Hegel es wollte,
vergeistigt werden, sondern auch das Soziale kann nur wiederum zur Hälfte
rationalisiert werden.304 Nur die symbolische Reproduktion der Lebenswelt ist auf
Kommunikation angewiesen, die materielle muss in komplexen Gesellschaften wie der
Wesen. Dennetts intentionale Systeme verfügen daher für Brandom nur über eine
derivative Intentionalität. Siehe Brandom Making it explicit, S.55ff.
303
Dies führt Apel soweit, einen Searle I und II zu erfinden. Siehe Apel, „Ist Intentionalität
fundamentaler als sprachliche Bedeutung?“, in: Intentionalität und Verstehen, S.13ff.
Searle I ist aber nichts anderes als die eigenwillige Rezeption von Searles Philosophie
durch Apel und Habermas.
304
Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, S. 229ff.
168
Der Universalismus der Moderne
modernen auf entsprachlichte Kommunikationsmedien umgeschaltet werden.305 Damit
akzeptiert Habermas ein Stück entfremdeten Geist allerdings nur in Bezug auf die
materielle Basis einer Gesellschaft. Der Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaft
wiederholt sich in der Gesellschaft noch einmal im Gegensatz von System und
Lebenswelt. In systemisch integrierten Bereichen der Gesellschaft wie der Wirtschaft,
die über Geld Beziehungen herstellt, ist und bleibt der Mensch nur eine Ware. Erst
wenn die aus der Lebenswelt ausgelagerten Systeme versuchen, die symbolische
Infrastruktur der Lebenswelt zu übernehmen, überschreiten sie die ihnen gezogene
Linie. Kurz, die symbolische Reproduktion der Lebenswelt ist auf Kommunikation
angewiesen, die materielle kann unter streng geregelten Bedingungen mit dem Ziel der
Beschleunigung darauf verzichten.
Damit stößt Habermas zumindest einmal auf einen Zwitter aus Natur und Geist: die
Systeme. Sie sind, als über entsprachlichte Kommunikationsmedien wie Geld oder
Macht integrierte, verdinglichter Geist. Diesem verdinglichten Sozialem gegenüber
empfiehlt Habermas wiederum die defensive Einstellung des „bis hierher und nicht
weiter“. Geld ist gut zur Organisation der materiellen Reproduktion, aber nicht für die
Erhaltung der symbolischen Ressourcen einer Lebenswelt. Personen, Normen und
Traditionen können sich nur durch Gründe reproduzieren. Geld begründet jedoch
nichts. Es ist ein rein empirischer Anreiz zur Übernahme von Überzeugungen. An
dieser Stelle ist der Unterschied zwischen Überzeugen und Überreden für Habermas
fundamental. Die starke Trennung zwischen kommunikativem und strategischem
Handeln lebt davon, dass man scharf zwischen Überzeugen und Überreden
unterscheiden kann. Überreden ist für Habermas ein empirischer Prozess, der sich als
rationaler ausgibt. Ursachen, die sich als Gründe maskieren. Das Konzept der
Ideologiekritik lebt von diesem Unterschied. Nur der Irrtum kann empirische Ursachen
haben, die Wahrheit ist immer begründet in Fakten oder Normen. Dass Geld zum
Beispiel eine wichtige Rolle in der Forschung spielt, und zwar nicht nur eine bloß
empirische, dies kann Habermas nicht akzeptieren. Geld kann niemals Wahrheit
hervorbringen. Die Finanzierung von Ideen und die Wahrheit von Ideen haben nichts
gemein. Wenn man dagegen die Idee ernst nimmt, dass es Prozesse gibt, die ihre
eignen Kriterien der Gültigkeit schaffen, wird deutlich, dass Geld eine wichtige interne
Rolle spielt. Geld ist Kredit, ein Ausdruck des Vertrauens, des Glaubens. Geld geben
ist ein spekulativer Akt. Man produziert Wissenschaft oder Philosophie genauso wie
man einen Film oder einen Schokoriegel produziert. Man kann vorher nie wissen, ob
das Produkt funktioniert. Es gibt keinerlei strikte Kriterien in der Vergabe von
Forschungsgeldern. Gründe sind, wenn alles gut geht, das Ergebnis eines
305
Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, S. 391ff.
169
Der Universalismus der Moderne
Experiments. Im nachhinein wird man sich rechtfertigen können. Aber der Prozess des
Entwickelns von Gründen kommt ohne Geld gar nicht erst in Gang. Es besteht sogar
ein Steigerungsverhältnis zwischen Geld und Gründen. Je mehr neue Gründe man
fabrizieren will, desto mehr Zeit, also Geld braucht man. Latour macht dies in einer
sehr schönen Beschreibung deutlich. Er zeigt wie die „rein“ wissenschaftliche Arbeit
einer Laborwissenschafterin von der weltlichen Arbeit ihres Chefs abhängt. Er
schlussfolgert:
„To sum up, she is able to be deeply involved in her bench work because the
boss is constantly outside bringing in new resources and supports. The more she
wants to do “just science”, the costlier and the longer are her experiments, the
more the boss has to wheel around the world explaining to everyone that the
most important thing on earth is her work.”306
Eine solche Beschreibung kann von Habermas natürlich nicht akzeptiert werden, weil
er keinen Platz hat für Prozesse, die ihre eigenen Kriterien der Gültigkeit erst schaffen.
In diesen Prozess kann Geld als ein interner und nicht bloß externer Faktor eingehen.
In solchen Prozessen verliert die Idee der Wahrheit, die Idee des Grundes ihre
kritische Kraft. Der Gegensatz von Überreden und Überzeugen, Ursachen und
Gründen, funktioniert hier nicht mehr. In seiner Auseinandersetzung mit Heidegger wird
deutlich, dass Habermas die Idee eines Prozesses, der die Kriterien seiner Gültigkeit
selbst erst generiert, die heideggerische Idee eines Wahrheitsgeschehens, ablehnt. Er
schreibt:
„Die Leuchtkraft der welterschließenden Sprache wird hypostasiert. Sie braucht
sich nicht mehr daran zu bewähren, ob sie das Seiende in der Welt faktisch
erhellen kann. Heidegger geht davon aus, dass sich das Seiende in seinem Sein
von beliebigen Zugriffen gleichermaßen widerstandslos öffnen lässt. Er verkennt,
dass der ans Seiende herangetragene Horizont des Sinnverstehens der
Wahrheitsfrage nicht vorausliegt, sondern seinerseits untersteht. Gewiss ändern
sich mit dem Regelsystem einer Sprache auch die Gültigkeitsbedingungen der in
der Sprache formulierten Sätze. Ob aber die Gültigkeitsbedingungen faktisch so
weit erfüllt werden, dass die Sätze auch funktionieren können, hängt nicht von
der welterschließenden Kraft der Sprache ab, sondern vom innerweltlichen Erfolg
der Praxis, den diese ermöglichen.“307
306
Latour, Science in Action, S.156.
307
Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S.183.
170
Der Universalismus der Moderne
Habermas entwirft hier folgendes Bild. Man erfindet Wörter, Sätze oder ganze
Sprachspiele. Daraufhin schaut man nach, ob die Wahrheitsbedingungen all der
erfundenen Sätze auch erfüllt sind. Statt von „faktisch erfüllt“, könnte Habermas auch
von „korrespondieren“ oder „widerspiegeln“ reden. Habermas evoziert das Bild einer
Ready-Made-World, die vollkommen determiniert auf die Leuchtkraft neuer Sprachen
wartet, die entweder auf sie passen oder nicht. Neue Sätze erschließen Möglichkeiten,
die entweder bestehen oder nicht. Wie wir jedoch mit Bergson und Deleuze gesehen
haben, ist der Prozess der Kreation die Aktualisierung eines Virtuellen. Das Mögliche
geht dem Wirklichen nicht voraus. Man erschafft nicht erst Möglichkeiten und schaut
dann nach, ob ihnen etwas entspricht. Eine neue Bedeutung schafft ihre Wirklichkeit
vor ihrer Möglichkeit. Habermas übersieht die virtuelle Dimension der Moderne, ihr
Werden, das noch nicht in festen, determinierten Möglichkeiten oder Wirklichkeiten
gefangen ist. Bei allen Zugeständnissen an Kreativität und Welterschließung, letztlich
sind für Habermas die Würfel immer schon gefallen. Es passiert nicht wirklich etwas
und vor allem es darf auch nichts passieren, weil es dann keine neutrale
Kontrollmöglichkeit mehr gäbe. Die Idee der Kritik ist für Habermas gefährdet, wenn es
kreative Prozesse gäbe, die ihre eignen Kriterien der Richtigkeit mit sich bringen.
Die wunderbare Welt des Bruno Latour
Diese kreative Dimension wird von Latour hervorgezerrt. Unterhalb der modernen
Verfassung brodelt eine nicht-moderne Dimension. 308 Die Ontologie der Moderne kann
diese jedoch nicht anerkennen. Sie verleugnet die Wesen, die in dieser Zone ihr
Unwesen treiben und die Latour mal Hybriden, mal mit Michel Serres Quasi-Objekte
nennt.309 Sie sind weder Subjekte noch Objekte. Weder Vorstellungen im Kopf, noch
Dinge da draußen. Die Moderne kann sie nicht zulassen. Sie erklärt Subjekt und
Objekt, Kultur und Natur für zwei reine Bereiche, die vollkommen getrennt sind. Diese
Spaltung in Natur und Geist, der moderne Dualismus, ist ein Effekt der
Metaphorisierung eines Vokabulars, das Geist und Natur noch nicht trennt. Ähnlich wie
McDowell glaubt Latour daher, dass nur eine Wiederverzauberung dem Verhältnis von
Natur und Geist gerecht werden kann. McDowell operiert jedoch weiterhin mit der
strikten Unterscheidung zwischen Geist und Natur. Sein „second nature“-Konzept dient
308
Latour, Wir sind nie modern gewesen, S.115ff.
309
Serres führt den Begriff des Quasi-Objekts in seinem Buch Der Parasit ein. Siehe Serres,
Der Parasit, S.344ff.
171
Der Universalismus der Moderne
dem Zweck einer Verbegrifflichung der Natur, mit der er wie Hegel den modernen
Dualismus überwinden möchte, ohne auch nur einen Deut von der Autonomie des
Geistigen zu verlieren, im Gegenteil, der Geist ruht vollkommen in sich selbst, Natur ist
nur entfremdeter Geist. Latour dagegen steht in der Tradition von Leibniz, die er von
Michel Serres, Gilles Deleuze und Isabelle Stengers übernimmt. Er möchte die
Autonomie des Geistigen aufgeben, indem er zeigt, wie sehr reine Subjekte und reine
Objekte die komplementären Produkte einer verfehlten Philosophie sind. Die von
Modernen als bloße „Als-Ob“-Intentionalität gescholtene Intentionalität von Lebewesen
und Artefakten ist das vermittelnde Zwischenglied zwischen dem stummen Objekt der
Wissenschaft, über das nur gesprochen wird, und der miteinander kommunizierenden
Gemeinschaft aus Subjekten, die sich einer vollkommenen Autonomie erfreuen. Ohne
die Quasi-Objekte kann weder die nicht-intentionale Natur noch die vollausgereifte
Intentionalität des Sozialen verstanden werden. Man muss in der Mitte anfangen.
Quasi-Objekte oder Hybride sind unverzichtbare Agenten im Leben eines Kollektivs.
Latour spricht nicht von Gesellschaft, da diese üblicherweise nur aus Menschen
zusammengesetzt verstanden wird. Man kann Quasi-Objekte weder in rein kausalen
Begriffen als Objekte denken noch sind sie Subjekte oder Intersubjekte, die mit
bewussten Denk- und Handlungsfähigkeiten ausgestattet sind. Ein Quasi-Objekt ist ein
Akteur. Er kann wahrnehmen und handeln, allerdings nicht bewusst wahrnehmen oder
mit Absicht handeln. Bewusstsein bekommt ein Quasi-Objekt erst durch sich in
Sprache artikulierende Akteure. Diese sprechenden Akteure, Menschen genannt,
können aber nur sprechen, weil sie von Quasi-Objekten umgeben sind, ja aus QuasiObjekten bestehen. Akteure bilden Netzwerke. Sie sind durch und durch relational. Wie
William James denkt sich Latour die Welt als ein gewaltiges Netzwerk, in dem
menschliche und nicht-menschliche Akteure zusammenwirken, in dem sie als Mittler
fungieren. Latour spricht von Delegierten. Er gibt das Beispiel einer Betonschwelle, die
der Verkehrberuhigung dienen soll.310 Für Modernisten kann diese nur eine Mischung
aus reinem Material und reinem Geist sein. Die Betonschwelle wird so zu einem
bloßen Mittel, das nur die Dinge ausführt, die wir es ausführen lassen. Unser Verhältnis
zur Betonschwelle ist ein rein instrumentelles. Nach Latour ist die Betonschwelle ein
Akteur, der Menschen zu einem Verhalten führt, zu dem nur Worte niemals geführt
hätten. Sie ist daher nicht nur die Materialisierung einer Idee, denn die Idee der
Betonschwelle ist vom Material nicht ablösbar. Ein anderes Hybrid ist das, was man
310
Latour, Die Hoffnung der Pandora, S.226ff.
172
Der Universalismus der Moderne
Fakten nennt. Fakten sind für Latour Erzeugnissen der modernen Wissenschaft, die
der Moderne als reine Objekte, deren Existenz auf keinen Fall einem Subjekt
geschuldet sein darf, konzipiert. Ihre Anwendung, so die Modernen, ist von uns
abhängig, aber nicht ihre Existenz. Auch Fakten kann die Moderne höchsten als eine
Mischung von Realität und Konstruktion denken. Man spaltet dann die Fakten, in einen
empirischen Anteil, das nackte Material, das uns die Sinne liefern, und die begriffliche
Formung, die wir an dieses Material herantragen. Grundsätzlich gilt: Zwischen Subjekt
und Objekt herrscht im modernen Paradigma ein Nullsummenspiel, je realer etwas ist,
desto weniger konstruiert darf es sein oder je konstruierter etwas ist, desto weniger
Realität hat es.311
Dieses Paradigma hat nun einen vorteilhaften politischen Effekt. Weil die Modernen die
Hybriden nicht denken, können sie diese in Unmengen produzieren.312 Gesellschaften,
die zwischen Natur und Kultur nicht trennen, tendieren dazu jede Veränderung des
Wissens als Veränderung der Gesellschaft zu denken. Deshalb verbieten sie die
Produktion von Quasi-Objekten. Die Modernen dagegen halten ihre Gesellschaft für
das Ergebnis einer Gemeinschaft von Geistern und ihre Wissenschaften für Kopisten
einer Ready-Made-World. Reine Freiheit steht absoluter Notwendigkeit gegenüber.
Dies ermöglicht ihnen eine enorme Freiheit im Umbau ihres Kollektivs. Kein Kollektiv in
der Menschheitsgeschichte war so produktiv wie die Modernen. Sie produzieren
Fakten, nennen ihre Gesellschaft Wissensgesellschaft, bringen immer mehr Technik in
das Kollektiv, das den Menschen substituieren soll, gerade weil sie die Produktion der
Fakten als Produktion unkenntlich und damit der politischen Kontrolle unzugänglich
machen. Die Modernen sind fest davon überzeugt, dass ein Kollektiv, das darüber
berät, was wahr sein soll, unaufgeklärt, ideologisch, entfremdet, Opfer seiner eigenen
Projektionen ist. Wahrheit ist nicht eine Frage der Beratung, sondern objektiv
vorgegeben und somit von wertfreien Wissenschaftlern entdeckt. Konform dazu ist die
Gesellschaft ein reines Produkt der Menschen. Selbstbestimmung im Sozialen ist für
die Modernen die größte Frucht des Entzauberungsprozesses. Die Modernen nehmen
ihr Schicksal in die eigenen Hände, statt sich durch eine verzauberte Natur in die
eigenen Angelegenheiten reden zu lassen. Je mehr sie die Natur objektivieren,
subjektivieren die Modernen den Geist. Die gesteigerte Produktivkraft der Modernen ist
die Folge dieser Trennung. Die Produktion von Fakten ist nicht selbst demokratisierbar,
da jede Vermischung von Politik und Wissen nur als Ideologie gedacht werden kann.
Ebenso darf die freie Entscheidung niemals durch träge Objekte erschwert werden.
311
Latour, Die Hoffnung der Pandora, S.151ff.
312
Latour, Wir sind nie modern gewesen, S.58f.
173
Der Universalismus der Moderne
Niemand darf sich auf Traditionen oder gar Gott oder auch nur auf Betonschwellen
berufen, sondern nur auf seinen eigenen kleinen oder den großen, allgemeinen Willen.
Die Subjektivierung des Geistes äußert sich darum in einer Privatisierung.
Öffentlichkeit reduziert sich auf den verallgemeinerbaren Willen, d.h. den kleinsten
gemeinsamen Nenner und gerät damit selbst tendenziell ins Abseits. Freiheit wird zur
Wahlfreiheit unter Alternativen, die von den Experten entdeckt werden. Das Ergebnis
ist eine Beschleunigung im Umbau der Gesellschaft. Freie Subjekte stehen objektiven
Fakten gegenüber. Diese sind nicht diskutierbar und müssen daher hingenommen
werden. Die Subjekte wiederum können alles tun, was sie wollen, solange sie sich
nicht ins Gehege kommen. Die Erkenntnis der Natur ist damit von jedem sozialen
Zwang entbunden. Ebenso ist die Gesellschaft von jedem Verweis auf objektive Werte
befreit. Aus dem Sein folgt kein Sollen. Was sein soll, entscheidet einzig der Einzeloder der Allgemeinwille. Dieses Setting ermöglicht der freien Wissenschaft und dem
freien Unternehmertum sich in technologischen Revolutionen zu überstürzen,
Revolutionen, die immer mehr Hybride hervorbringen, die immer schwerer im
modernen Setting einer entweder vorgegebenen Natur oder einer freien Subjektivität
unterzubringen sind.
Die Kritik der Moderne
Die Kritik der Moderne reagiert auf die Probleme der Technisierung mit Slogans wie
Ideologie oder Manipulation. Globalisierung ist bloß eine Ideologie der Kapitalisten
oder das Fernsehen manipuliert die freie Meinungsbildung. Eine solche Kritik
behauptet, dass die Fakten gar keine wirklichen Fakten sind oder dass der Wähler
oder Konsument gar nicht wirklich frei entschieden hat. Sie operiert mit denselben
Begriffen von Subjekt und Objekt, behauptet allerdings, dass Subjekt und Objekt immer
noch vermischt sind, dass wir immer noch nicht modern, aufgeklärt sind. Wieder hat
man entweder ein Subjekt mit einem Objekt verwechselt, ist also einer Ideologie statt
einem Fakt gefolgt, oder man hat ein Objekt für ein Subjekt gehalten, statt frei
gehandelt zu haben, ist man manipuliert worden. Die Forderung der Kritik ist also,
endlich wirkliche Fakten, endlich wirklich freie Menschen, eine von Ideologie freie
Wissenschaft, eine wirklich wertfreie Wissenschaft und noch mehr emanzipierte
Subjekte, noch mehr Kinder der Freiheit. Damit kurbelt die Kritik der Moderne, die
diese als noch nicht genug modernisiert beschreibt, die Moderne noch weiter an.313
313
Latour, Wir sind nie modern gewesen, S.50ff.
174
Der Universalismus der Moderne
Eine Moderne reicht noch nicht, eine zweite Moderne wird uns erst wirklich modern
machen. Habermas glaubt, dass eine saubere Trennung zwischen Natur und Kultur,
sowie innerhalb der letzteren zwischen dem technisierten, verdinglichten, zur zweiten
Natur gewordenen materiellen Reproduktionsprozesses der Lebenswelt und dem auf
Kommunikation angewiesenen symbolischen Teil der Lebenswelt, das analytische
Instrumentarium liefert, um die Pathologien der Moderne zu begreifen. Immer dann
wenn Prozesse der symbolischen Produktion, wie Ich-Identitäten, Tradierung von
Wissen sowie die Herstellung interpersoneller Beziehungen mit technischen Mitteln,
die nur bloßen Dingen angemessen sind, hergestellt werden sollen, kommt es zu
Krisen, die sich in Motivationsstörungen, sozialen Konflikten und Verarmung der Kultur
zeigen. Der Übergriff der Systeme Markt und Staat auf die Lebenswelt muss daher
abgewehrt werden, indem die Entsprachlichung der symbolischen Reproduktion der
Lebenswelt bekämpft wird.314
Die Idee, auf der solche Diagnosen beruhen, und ohne die vor allem die
Sozialphilosophie nicht auszukommen scheint - weder Luhmann noch Habermas noch
Bourdieu - ist die der Ausdifferenzierung. Die Moderne differenziert sich in funktional
differenzierte Teilsysteme (Luhmann)315, System und Lebenswelt (Habermas), wobei
314
Der Zugriff der Systeme auf die Lebenswelt findet sich beispielsweise in der
Kommerzialisierung des Fernsehens als dem Massenmedium der öffentlichen Meinung.
Rationale Kommunikation erfordert nach Habermas nicht nur ein Zurückweisen der
entsprachlichten Kommunikationsmedien, sondern auch das Herausstreichen der
Differenz zwischen rationaler Verständigung und strategischer Beeinflussung. Diese
letztere deckt den Bereich der Rhetorik ab. Rhetorik wird dabei definiert als eine
Vermischung von Geltung und Faktizität. Zu glauben, dass ein erfolgreiches Argument
auch ein gutes Argument ist, ist Ausdruck dieser vormodernen Haltung. Der optimale
Diskurs findet sich daher in den Expertenkulturen, diese sind die Rationalisierer der
Lebenswelt, indem sie zwischen Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit unterscheiden.
Sie sind vom Handlungsdruck entlastet und können sich daher ganz der Wahrheit,
Richtigkeit und Wahrhaftigkeit hingeben, ohne sich um die raue Wirklichkeit der
Lebenswelt und ihrem Handlungsbedarf zu scheren. Eine Lebenswelt, die statt unter dem
Einfluss von Expertenkulturen rationalisiert zu werden, durch eine strategische
Kommunikation manipuliert wird, muss auf eine fragmentierte Form von traditioneller
Gesellschaft zurückfallen. Mit Latour kann man jedoch zeigen, dass die Entgegensetzung
von aufgeklärten Expertenkulturen und traditionalistischen oder massenmedial
geschädigten Lebenswelten verfehlt ist.
315
Luhmann wäre ein eigener Abschnitt zu widmen. Philosophisch ist der hier entwickelte
Ansatz Luhmann nahe: autopoetische Systeme sind Hybride aus Subjekt und Objekt. Die
Ablehnung des Ausdifferenzierungskonzepts bringt Latour und alle, die ihm folgen,
jedoch in absolute Gegnerschaft zu Luhmann. Luhmann ist der Modernste der
Modernisten, insofern er das Ausdifferenzierungstheorem wie kein anderer auf die Spitze
treibt. Dabei ist dies, wie Habermas richtig feststellt, eine konzeptionelle Entscheidung
und keineswegs ein empirischer Befund. Luhmanns These der funktionalen
175
Der Universalismus der Moderne
die Lebenswelt sich zusätzlich in Expertenkulturen ausdifferenziert (Autonomie der
Wissenschaft, der Moral, der Kunst) oder sie differenziert sich in relativ autonome
Felder, wie sie Bourdieu beschreibt.316 Von diesen drei Theoretikern ist Bourdieu
derjenige,
der
das
Ausdifferenzierungstheorem
am
schwächsten
handhabt.317
Gleichzeitig ist er derjenige, der am stärksten eine empirische Soziologie betreibt.
Empirisch meint hier vor allem, dass Bourdieu auf Statistiken, Interviews und Umfragen
zurückgreift und sich vor allem nicht nur mit der „Hochkultur“ beschäftigt. Habermas
wie Luhmann betreiben eine theoretische Soziologie, ihre "empirische" Ausgangsbasis
sind vor allem theoretische Texte, seien es Klassiker der Philosophie und Soziologie
bei Habermas oder aber allgemein die semantischen Produkte von Gesellschaften bei
Luhmann. Diese Texte stehen zu den empirischen Analysen Latours nicht im
Widerspruch. Latour behauptet, dass wir nie modern gewesen sind. Er leugnet nicht,
dass sich gewisse Leute für modern gehalten haben. Auf dem Papier gibt es eine
Moderne.
Das
Ausdifferenzierungstheorem
wird
jedoch
umso
schwächer,
je
empirischer man wird. Ein kritischer Modernist wie Wellmer gibt dies in einer Passage
unfreiwillig zu:
"Mit anderen Worten: die sprachphilosophische Kritik des Rationalismus und
Subjektivismus bietet zwar einen Anlass, über Wahrheit, Gerechtigkeit oder
Selbstbestimmung in neuer Weise nachzudenken; zugleich aber wird sie uns
misstrauisch machen gegen jene, die die psychologische Kritik des Subjekts
nietzscheanisch ins Affirmative wenden wollen - also gegen die Propagandisten
eines neuen Zeitalters, das die Last des Platonischen Erbes von sich geworfen
hätte, in dem die Rhetorik an die Stelle der Argumentation, der Wille zur Macht
an die Stelle des Willens zur Wahrheit, die Kunst der Worte an die Stelle der
Differenzierung ist zutiefst essentialistisch. Nach Latour fällt Luhmann auf die
Reinheitsrhetorik der Moderne herein.
316
Auch Martin Seel kritisiert die strikte Trennung von Wertsphären. Er macht deutlich, dass
Sphären sich nur durch einen relativen Vorrang eines Geltungsaspektes differenzieren.
Siehe Seel, „Kunst, Wahrheit, Welterschließung“, in: Koppe (Hg.), Perspektiven der
Kunstphilosophie, S.57f. Aber auch dieses Zugeständnis hält an der Trennung der
Geltungsaspekte fest. Was man gar nicht erst trennen sollte, wird von Seel gekittet.
Richard Shusterman zeigt, wie eine pragmatische, anti-kantianische Position in der
Ästhetik aussehen könnte. In diesem Kontext kritisiert Shusterman nicht ohne Grund
Bourdieu. Er sieht sehr genau das Bourdieu bei aller Kritik der kantianischen Ästhetik
letztlich an der Autonomie der Kunst festhält. Siehe Shusterman, Kunst leben, Die
Ästhetik des Pragmatismus.
317
Wie wir oben gesehen haben, leugnet Bourdieu oft die Autonomie eines Feldes. So
leugnet er beispielsweise die Autonomie des juristischen Feldes, dessen Anspruch auf
Autonomie er als Heuchelei bezeichnet.
176
Der Universalismus der Moderne
Theorie und die Ökonomie des Begehrens an die Stelle der Moral getreten wäre.
Das, so möchte man sagen, haben wir doch schon weitgehend."318
Genau, mit dem letzten Satz hat Wellmer recht, Argumentation und Rhetorik, Wahrheit
und Macht zu trennen, ist eine typische Kritikerauffassung, die keinerlei Mehrheit in
unseren Gesellschaften hat. Wir sind immer schon Nietzscheaner gewesen.
Das Konzept der Ausdifferenzierung ist ein normatives. Es ist ein platonisches
Reinheitsideal. Es dient als Modell zur Kritik an der Realität. Der Kritiker lebt davon,
dass die Realität dieser Form nicht gerecht wird. In der Moderne wimmelt es von
Autonomie- und Reinheitsmanifesten. Endlich die reine Wahrheit, endlich die reine
Kunst, endliche das reine Recht, endlich die reine Ökonomie... In der Moderne sollen
alle diese Unternehmungen in ihr Wesen kommen, sie reinigen sich von allen
akzidentiellen Beimischungen. Dieser Essentialismus der Moderne hält dabei einer
empirischen Überprüfung nicht stand. Also muss die Moderne die ständige Kritik
erfinden. Das Ermüden dieser Kritik hat die Postmoderne hervorgebracht. Die
Postmoderne glaubt nicht mehr an die Kritik. Sie beginnt eine Kritik der Kritik. Die Kritik
wird verabschiedet und durch ein "pazifistisches" Denken ersetzt. Postmoderne kann
viel heißen, auch die hier vertretene Position. Ich möchte als postmodern die Politik der
schönen Seele bezeichnen. Die Idee einer friedlichen Koexistenz aller Differenzen.
Diese Politik der schönen Seele, alles ist gleich gut, jeder hat sein Recht, jede Kultur
oder Natur muss bewahrt werden, alles muss bejaht werden, ist jedoch negativ immer
noch dem Urbild-Denken verhaftet. Die postmoderne Verzweiflung oder auch die
blinde Affirmation des Bestehenden ist nur eine Folge des Glaubens an die
Transzendenz von Wahrheit und Moral. Deleuze macht deutlich, dass immer die
Gefahr besteht, die Ablehnung des Urbildes als Abschaffung der Selektion
mißzuverstehen. Diese undifferenzierte Bejahung ist jedoch schon von Nietzsche als
falsche Form der Affirmation kritisiert worden. Das Ja der Affirmation wird durch das Ia
des Esels parodiert. Der Esel ist es, der verkündet, man müsse alles hinnehmen, alles
auf sich nehmen, affirmieren, die Kritik sei tot. Die Ablehnung des Urbildes
depotenziert jedoch keinesfalls die Kritik, sondern macht eine neue Kritik möglich. Alles
was versucht, als Urbild oder Kopie aufzutreten, ist nun der Gegenstand der Kritik.
Dies ist nicht weniger als ein neues Kriterium, eine neue Form der Selektion. Nur das,
was abweicht, das Extreme, das Differente wird selektiert.319
318
Wellmer, "Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno", in:
Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, S.84.
319
Siehe Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S.190ff.
177
Der Universalismus der Moderne
Ausdifferenzierung und Produktivität
Einer
Verabschiedung
von
einem
modernen
Selbstverständnis
wird
oft
die
Leistungsfähigkeit der Modernen entgegengehalten. Deren Produktivität beruhe auf der
Ausdifferenzierung. Habermas beschreibt die Ausdifferenzierung von Systemen wie
das der Wirtschaft als Geschwindigkeitssteigerung. Das Medium Geld entlastet vom
langsamen Koordinationsprozess des kommunikativen Handelns. Sobald es jedoch zu
einem Übergriff auf die symbolische Reproduktion der Lebenswelt kommt, zu einer
Technisierung der Lebenswelt, entstehen pathologische Prozesse. Hier muss es eine
Verlangsamung
geben,
hier
kann
Handeln
nicht
auf
entsprachlichte
Kommunikationsmedien umgestellt werden.
Latour schlägt nun eine ganz andere Diagnose vor. Die viel beschworene
Ausdifferenzierung findet gar nicht statt. Untersucht man die Realität empirisch,
bemerkt man Kausalitäten, die quer zu den offiziell Anerkannten liegen. Es gibt
Kausalitäten zwischen Recht und Macht, Macht und Wissenschaft, Kunst und
Wirtschaft, die alle nach modernen Standards gar nicht sein dürften.320 Unter der
polierten Oberfläche der Moderne ist nichts Reines, sondern findet sich eine
schmutzige Grauzone. Ihre Geschwindigkeit verdankt die Moderne der Leugnung
dieser Grauzone. Latour spricht von Reinigungsarbeit versus Vermittlungsarbeit.
Vermitteln heißt, Hybriden aus Natur und Kultur zu bilden. Reinigen heißt, die Produkte
der Vermittlungsarbeit auf Natur und Kultur zu verteilen, indem man sowohl Fakten als
auch Rechte als permanente Entitäten institutionalisiert. Ein Lehrsatz in einem
Schulbuch, ein Rechtsanspruch in einem Gesetzbuch. Reine Fakten und reines Recht,
die nun nicht mehr auf die Vermittlungsarbeit verweisen, die sie hervorgebracht hat.
Die Modernen können stärker als jede andere Gesellschaft Neues produzieren, gerade
weil sie offiziell Wissen, Macht, Recht, Kunst radikal trennen. Es ist wie in der
Prohibition. Das
Alkoholverbot
in
den Vereinigten Staaten multiplizierte die
Alkoholproduktion, denn es trieb die Produktion ins Verborgene, wo sie unkontrolliert
wachsen konnte. Natürlich entgeht den Modernen diese unkontrollierte Produktion
nicht, genauso wenig wie den Amerikanern der Alkoholkonsum entgangen ist, aber
wenn die Verquickung von Macht und Wissen ans Licht gebracht wird, dann nur in der
Form der Kritik. Das implizite Ideal dieser Kritik ist eine noch strengere Trennung von
Macht und Wissen. Ähnlich der moralischen Kritik am Alkoholkonsum führt sie zu einer
noch härteren Prohibition und damit treibt sie die Alkoholproduktion weiter ins
Verborgene, wo sie nun noch stärker wachsen kann. Die Moderne ist kein Irrtum oder
320
Empirie alleine reicht natürlich nicht aus. Auch die Modernisten nehmen diese
Vermischungen wahr, sie reagieren jedoch auf diese Phänomene mit Kritik.
178
Der Universalismus der Moderne
eine Ideologie, sondern eine Verfassung, die sehr reale Konsequenzen hat. Anders als
vormoderne Gesellschaften, welche die Produktion von Wissen unter gesellschaftliche
Kontrolle stellen und damit offiziell praktizieren, was die Modernen unkontrolliert,
inoffiziell machen, verbietet die Moderne die Repräsentation der Vermittlungsarbeit, der
Vermischung der Bereiche, die ihrer offiziellen Verfassung heilig sind.
Wenn Habermas glaubt, dass eine noch striktere Trennung von Subjekten und
Objekten, eine vollständige Apartheid zwischen den sich über kommunikatives
Handeln vernetzenden Subjekten auf der einen Seite und der bloß kausal verknüpfte
Gegenstände auf der anderen Seite zu einer Verlangsamung der modernen
Entwicklung beitragen würde, dann beschleunigt er gegen seinen Willen die weitere
Produktion von Quasi-Objekten. Nach Latour hat sich niemand so sehr in seinen
Feinden geirrt wie Habermas.321 Gerade die Trennung in Fakten und Werte ist es, die
eine unkontrollierte Produktion von Fakten ermöglicht. Eine bloß auf das Soziale
beschränkte Demokratie, verhindert eine Regulierung und damit Verlangsamung der
Faktenproduktion. Ebenso ist eine Gesellschaft ohne Dinge nicht stabil genug, keine
Gesellschaft kann nur aus Freiheit heraus bestehen. Technisierung der Lebenswelt ist
also nicht als Verdinglichung oder Manipulation zu kritisieren, sondern als
Routinisierung
und
Stabilisierung
des
Kollektivs
zu
begreifen.
Statt
eines
Nullsummenspiels von Subjekt und Objekt müssen die „Verdinglichungen“ und die
„Manipulationen“ ausgesucht werden, die ein Zusammenleben aller gewährleisten.
Sowohl Wahrheiten als auch Freiheiten brauchen nicht akzeptiert zu werden, wenn sie
das Kollektiv zu zerstören drohen. Sowohl Szientismus als auch Liberalismus müssen
aufgegeben werden, wenn man ein gemeinsames Kollektiv schaffen will. Die
Pathologien der Moderne erklären sich nicht aus einem Übergriff des Systems auf die
Lebenswelt, sondern durch die Beschränkung des Konsensgebots auf die symbolische
Reproduktion der Lebenswelt aufgrund der sozialen Deutung dieses Konsenses. Eine
Gesellschaft wird nicht durch Gespräche zusammengehalten und von stummen Dingen
umgeben. Dinge und Menschen bilden ein gemeinsames Kollektiv, dessen Existenz
von den Beziehungen zwischen Menschen und Dingen abhängt. Um das Überleben
dieses Kollektivs zu sichern, muss ein Parlament der Dinge einberufen werden. Statt
Fakten und Werte, Wissenschaft und Politik zu trennen, müssen die Wissenschaften
selbst Teil einer ökologischen Politik werden.322
321
Latour: Wir sind nie modern gewesen, S.82.
322
Latour: Politiques de la nature : comment faire entrer les science en démocratie.
179
Der Universalismus der Moderne
An dieser Stelle könnte eine Kritik an Latour ansetzen. Latour möchte die Vorteile der
Moderne ohne ihre Nachteile, die Vorteile der Vormoderne ohne deren Nachteile. Die
Moderne verleugnet die Existenz von Quasi-Objekten und kann sie deshalb
unkontrolliert produzieren. Die Vormodernen kennen nur Quasi-Objekte, jeder neue
Fakt wird auch als Eingriff in die Gesellschaft betrachtet. Daher verbieten die
Vormodernen die Produktion von Quasi-Objekten weitgehend. Latour möchte die
Produktion von Quasi-Objekten öffentlich und kontrolliert durchgeführt sehen, ohne
jedoch ein völliges Verbot herbeizuführen. Er möchte die Aufklärung ohne Moderne.
Das Öffentlichmachen der hybriden Produktion, ihre Demokratisierung soll zwar eine
Verlangsamung bringen - und dies wird als Moral der Mäßigung und Vorsicht auch
begrüßt - sie darf aber nicht zur Rückkehr in ein völliges Verbot von Hybriden führen.
Es ist jedoch nicht einzusehen, wie man eine demokratische Kontrolle der Produktion
von Quasi-Objekten denken soll, wenn diese gerade den Objekten und Subjekten
vorausgehen. Der Begriff der Kontrolle ist an den Begriff des Subjektes und der
Repräsentation gebunden. Ich denke, dass die Nichtrepräsentierbarkeit essentiell für
ein experimentelles Handeln ist. Dieses unterläuft eine öffentliche Kontrolle. Je mehr
Kontrolle eingeführt wird, desto stärker wird die Innovationskraft blockiert. Ganz
allgemein muss die Frage gestellt werden, ob die Ausgangsbeschreibung Latours
akzeptabel ist. Leiden wir unter einer Beschleunigung?
Latour zeigt überzeugend, dass die große Trennung zwischen modernen und
vormodernen Gesellschaften aufgegeben werden kann. Die Sonderrolle des
okzidentalen Rationalismus basierte auf dem Glauben, die Modernen hätten als erste
die Natur so erkannt wie sie an sich ist, statt sie wie der Primitive mit seinen
subjektiven Phantasmen zu bedecken. Latour akzeptiert nicht die von Max Weber oder
Durkheim ausgehenden Beschreibungen, nach der wir einen Rohstoff gefunden hätten,
Fakten genannt, der uns für immer von den in ihren eigenen Phantasmen hängenden
Vormodernen trennt. Die Produktion von Fakten geschieht auch bei uns in Kollektiven
aus Menschen und Dingen und hat auch nur in diesen Netzen ihre relative Gültigkeit.
Wissenschaftler sind vielleicht schlechter gekleidet als andere Menschen und vielleicht
beschäftigen sie sich auch weniger mit Sex, aber sie sind keine Außerirdischen. Statt
also zu glauben, wir könnten nur dann Kontakt mit den Anderen aufnehmen, indem wir
immer objektiver werden, müssen wir erkennen, dass es gerade die Aufgabe des
Universalismus ist, die uns in Kontakt mit den Anderen bringen wird. Wir müssen den
Glauben an Objektivität, Neutralität, Ausdifferenzierung von Wertsphären nur
aufgeben, um zu sehen, was wir insgeheim schon immer waren: a-modern.
180
Der Universalismus der Moderne
An dieser Stelle, denke ich, kann man auch eine andere Rhetorik anstimmen. Latours
Ausstieg aus dem Universalismus ist nur zuzustimmen. Auch das Ende der großen
Kluft zwischen Aufgeklärten und Primitiven ist ganz auf der Linie dieser Arbeit. Aber
warum löst Latour die Differenz Moderne und A-Moderne zur a-modernen Seite hin
auf?
Wir sind immer schon modern gewesen
Latour definiert die Moderne als Ausdifferenzierung von Wertsphären. Ich halte Latours
Definition hier für einseitig. Ausdifferenzierung ist ein essentialistisches Modell zur
Kontrolle der Kreativität der Moderne. Es geht darum, Politk und Wissen auseinander
zu halten, um sowohl den Fakten als auch den Normen einen transzendenten Status
zu geben. Der Naturwissenschaftler entdeckt eine Ready-Made-World, die der Mensch
mit seinen subjektiven Phantasmen bedecken darf, vorausgesetzt, er tut es in seinen
vier Wänden. Aus der Natur folgt nichts mehr, der Mensch entscheidet alles selbst.
Diese Selbstermächtigung setzt den Menschen an die Stelle Gottes, belässt ihm aber
denselben transzendenten Standpunkt. Wenn wir dieses Setting, statt es mit Latour als
modern zu bezeichnen, schlicht als eine säkularisierte Form des Christentums
bestimmen, dann können wir eine weitere Diagnose, ein weiteres Selbstverständnis ins
Rennen werfen.323
Es wurde behauptet, dass wir aufgehört haben, modern zu sein. (Lyotard) Es wurde
behauptet, dass wir immer noch in der Moderne sind. (Habermas) Einige qualifizieren
dies und behaupten, dass wir zwar nicht mehr in der ersten, dafür aber in der zweiten
Moderne sind. Schließlich wurde behauptet, dass wir nie modern gewesen sind.
(Latour) Es gab nie einen Bruch zwischen Moderne und Vormoderne und folglich
können wir auch nicht fortsetzten oder aufhören zu sein, was wir nie waren. Ist damit
der dialektische Spielraum des Moderne-Themas erschöpft? Ich denke, man kann eine
weitere Behauptung hinzufügen: Wir sind immer schon modern gewesen. Nach ihr ist
das Problem nicht, warum wir uns für modern halten konnten, sondern wie wir auf die
Idee kamen, andere für nicht modern zu halten. Wer hat den Begriff der traditionellen
Gesellschaft erfunden? Wie konnten wir glauben, dass die Modernität unser exklusives
Schicksal ist?
323
Auch Negri und Hardt unterscheiden zwei Konzepte der Moderne. Der Moderne als
Aufrichtung einer Souveränität stellen sie die Moderne als Konstruktion eines
Immanenzplans entgegen. Siehe Negri/Hardt, Empire, S.69ff.
181
Der Universalismus der Moderne
Latour verwendet für seine Thesen philosophische Theorien, die in vielerlei Hinsicht
typisch modern sind, wenn man unter „modern“ ein anderes Denken der Zeit versteht.
Keine Zeit, die das Abspulen eines Programms ist, sondern die Hinwendung zum
Neuen. Die Idee, dass die Zukunft anders sein wird als die Vergangenheit. Die
Prozessphilosophie von Bergson, Nietzsche, Whitehead, James, Dewey ist Ausdruck
dieses Moderne-Verständnisses. Das Neue wird dem Ewigen entgegengesetzt. Die
Fortschrittstheorie der Zeit, die Latour als modern bezeichnet, wird von dem
Bergsonianer Peguy als eine konservierende beschrieben.324 Die Vergangenheit ist
nach ihr ein riesiges Museum, das mit jedem vergangenen Augenblick weiter wächst
und für jeden Zugriff gesperrt ist. Die Vergangenheit ist absolut unveränderbar und
irreversibel. Deleuze setzt, Bergson und Peguy folgend, diesem Zeitverständnis das
Werden gegenüber. Werden ist zwischen chronologischer Zeit und Ewigkeit angelegt.
Die chronologische Zeit der aneinandergereihten Momente lässt keinen Platz für eine
Gleichzeitigkeit der Zeiten, in denen es zu einer virtuellen Begegnung zwischen
verschiedenen Zeiträumen kommt. Wenn Latour sagt, dass wir nie modern gewesen
sind, ist dies nicht einfach eine Konstatierung einer Vergangenheit, eines historischen
Faktums, sondern eine rückwirkende Neubeschreibung. So wie ein Richter ein
vergangenes Ereignis für illegal erklären könnte, mit handfesten Folgen für die
Verursacher jenes Ereignisses, so erklärt Latour, dass wir nie modern gewesen sein
werden, wenn wir seine Beschreibung der Vergangenheit akzeptieren. Diese
Rückwirkung der Zukunft auf die Vergangenheit hat nichts Magisches. Es bedeutet
aber auch, dass sich die Aussagen "Wir sind modern gewesen" und "Wir sind nicht
modern gewesen" nicht widersprechen, sondern sich bekämpfen. Was wir gewesen
sein werden, hängt von der Zukunft ab, die unbestimmt ist. Dass die Zukunft ebenso
bestimmt ist wie die Vergangenheit, ist die Überzeugung des Szientismus, der den
Traum der objektiven Voraussagbarkeit der Welt träumt. Dieser Szientismus impliziert
eine Leugnung der Offenheit der Zeit. Er treibt mit „wissenschaftlichen“ Mitteln eine
Ontologie des Ewigen weiter, wie sie die klassische griechische Philosophie gedacht
hat.
Dieser
Eternalismus
ist
der
Hintergrund
für
den
Fortschrittsbegriff.
Erkenntnisfortschritt setzt einen Fixpunkt voraus. Wir schreiten voran, indem wir uns
immer mehr der Wahrheit nähern, die als das Ende der Forschung gedacht wird. Der
Ablauf der Zeit ist nur das Abarbeiten eines Projekts, das mit der vollständigen
Erkenntnis endet. Die Ewigkeit der Griechen, die Zwei-Welten-Lehre der Christen wird
zur Idee eines Endpunkts der Geschichte säkularisiert, der mit der Erkenntnis der
Wahrheit zusammenfällt.
324
Latour, Wir sind nie modern gewesen, S.93.
182
Der Universalismus der Moderne
Die Moderne wäre durch Abwendung von der Ewigkeit und Hinwendung zum Neuen zu
definieren. Der Glaube an eine Ready-Made-World, deren Erkenntnis der Endpunkt der
Geschichte wäre, ist daher unmodern. Es gibt weder ein Jenseits der Moderne noch
ein Ende der Moderne und auch keinen Anfang der Moderne. Wir sind immer schon
modern gewesen, weil die Welt ein Prozess und kein Produkt ist. Eine Moderne, die
sich durch Ausdifferenzierung, Fortschreiten und Objektivität definiert, bringt uns in
Gegensatz zu anderen Kulturen. Eine Moderne, die sich jedoch als Prozess, als
Affirmation des Neuen bestimmt, schreitet nicht voran und lässt auch niemanden hinter
sich. Ein Universalismus ist daher ohne weiteres denkbar, denn wir sind von den
anderen niemals getrennt gewesen. Traditionelle Gesellschaften sind niemals primär.
Das „Altehrwürdige“ ist immer aus moderner Produktion, kommt immer an zweiter
Stelle. Jede Kultur/Natur ist primär kreativ, weil Existieren selbst ein kreativer Akt ist.
Gefährlich sind die Verkrustungen und Stillstände, die Konservatismen, die
Naturen/Kulturen befallen können. Das Ausdifferenzierungstheorem ist eine solche
Verkrustung, mit der sich Expertenkulturen zu Kontrollorganen der Lebenswelt
machen, um über diese ihre Urteile zu fällen, ihre Modelle zu errichten.
Latour wählt diese Beschreibung nicht. Er reserviert den Begriff der Moderne für die
Idee der Ausdifferenzierung. Was ich als Säkularisation der christlichen Zwei-WeltenLehre bezeichne, nennt er modern. Ich denke, dies ist nicht nur ein Streit um Worte.
Den Grund dafür sehe ich in einer Problembeschreibung, die er mit Habermas teilt.
Wie Habermas möchte er eine Verlangsamung von gesellschaftlicher Entwicklung. Die
Moderne ist zu schnell. Anders als Habermas glaubt er, die Verlangsamung gerade
durch Aufgabe der modernen Verfassung zu erreichen. Habermas hingegen glaubt, die
Moderne muss vollständig ausgeschöpft werden, man muss noch stärker zwischen
Dingen und sprechenden Wesen trennen. Beide haben dasselbe Ziel, plädieren aber
für andere Mittel. Die Frage ist jedoch, ob man die Problembeschreibung akzeptieren
sollte? Ist dieses Problem nicht ein zutiefst konservatives? Wie scheinbar alle
Soziologen teilen Latour und Habermas vor allem die Sorge, wie man eine
Gesellschaft
zusammenhalten
kann.
Koordination
von
Handlungen
oder
die
Herstellung eines Kollektivs aus Menschen und Nicht-Menschen sind ihre Anliegen.
Die Philosophie hat jedoch die Auflösung, die Virtualisierung zum Ziel. Die Philosophie
ist agonal. Ihr Ziel ist nicht der Konsens. Die Philosophie enthält daher immer auch ein
a-soziales Moment. Die Adressaten der Philosophie sind nicht die Repräsentanten
einer Gesellschaft und ihre Probleme, sondern diejenigen, die sich nicht repräsentieren
lassen wollen. Wie Foucault sagt:
183
Der Universalismus der Moderne
„Die „Gesamtgesellschaft“ ist dasjenige, dem nur insoweit Rechnung zu tragen
ist, als es zerstört werden soll. Es ist zu hoffen, dass es nichts mehr geben wird,
was der Gesamtgesellschaft gleicht.“325
Eine Gesellschaft ohne Transzendenz ist eine plurale Gesellschaft, die sich nie zu
einer Einheit rundet und niemals angemessen repräsentiert werden kann. Eine
Förderation, eine Assoziation, die nach William James das „und“ immer mit sich
schleppt. Deleuze kommentiert dies so:
„Unablässig wird der Pragmatismus an zwei Fronten streiten, (...): gegen die
Besonderheiten, die Mensch und Mensch entgegensetzen und ein unheilbares
Misstrauen nähren; aber auch gegen das Universale oder das Ganze, die
Verschmelzung der Seelen im Namen der großen Liebe oder der Barmherzigkeit.
Was bleibt indes den Seelen, wenn sie sich nicht mehr an Besonderheiten heften
können, was hindert sie dann, in einem Ganzen aufzugehen? Es bleibt ihnen
genau ihre „Originalität“,..“326
Diese Originalität ist aber auf die Möglichkeit der Kommunikationslosigkeit, des
Taubstellens angewiesen. Die Philosophie versucht die Kreativität eines Kollektivs zu
steigern, in dem sie kontra-intuitiv ist, neue Ideen zu produzieren versucht. Die
Differenz ewig-zeitlich durch die Differenz Zukunft-Vergangenheit, die Differenz wahrfalsch durch die Differenz kreativ-konservativ zu ersetzen, ist die Aufgabe einer
Philosophie, die den Glauben an Transzendenz - in welcher Gestalt auch immer aufgegeben
hat.
Diese
Philosophie
unterbricht
Denkgewohnheiten,
Selbstverständlichkeiten, den Common Sense, indem sie sämtliche Modelle, die
vorgeben die Realität zu repräsentieren, zugunsten einer radikalen Immanenz aufhebt.
Langsamkeit, Vorsicht, Moral sind allesamt wichtig, aber es sind nur SekundärTugenden, Stimmen der Vergangenheit, die sich zu verewigen trachten, statt uns zu
einer besseren Zukunft zu verhelfen.
„David Lewis once said that philosophy is a matter of collating our intuitions and
then finding a way to keep as many as them as possible. I think that it is a matter
of treating both intuitions and accusations of paradox as the voice of the past,
and as possible impediments to the creation of a better future. Of course the
voice of the past must always be heeded, since rhetorical effectiveness depends
upon decent respect for the opinions of mankind. But intellectual and moral
325
Foucault, „Jenseits von Gut und Böse“, in: Von der Subversion des Wissens, S. 105.
326
Deleuze, „Bartleby oder die Formel“, in: Deleuze, Kritik und Klinik, S. 119.
184
Der Universalismus der Moderne
progress would be impossible unless people can sometimes, in exceptional
cases, be persuaded to turn a deaf ear to that voice.”327
327
Rorty, “Robert Brandom on Social Practices and Representations”, in: Truth and
Progress, S. 137.
185
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
Die Suche nach einer absoluten und
unwandelbaren
Realität
und
nach
absoluten und unwandelbaren Werten
aufzugeben mag wie ein Opfer erscheinen.
Aber dieser Verzicht ist die Vorbedingung
für eine Aufgabe von größerer Vitalität.
John Dewey
Whitehead schreibt:
"Es gibt eine Einsicht, die jedem theoretischen Verständnis der menschlichen
Gesellschaft - und das heißt letzten Endes: jedem Verständnis des menschlichen
Lebens überhaupt – zugrunde gelegt werden muss, nämlich die Einsicht, dass
die statische Erhaltung eines Zustandes der Vollkommenheit nicht möglich ist.
Fortschritt oder Niedergang sind die einzigen Möglichkeiten, die der Menschheit
offen stehen, weshalb übrigens der echte Konservative gegen die Natur des
Universums selbst angeht."328
Whitehead räumt in der Nachfolge von Bergson und James mit dem Dualismus von
primären und sekundären Qualitäten auf, den er als Bifurkation der Natur kritisiert. Die
Welt zerfällt nicht in objektive Fakten einerseits, subjektive Gefühle andererseits. In
Whiteheads Ontologie sind Ereignisse die keinesfalls einfachen Grundelemente der
Welt. Diese Ereignisse sind sowohl objektiv wie subjektiv, je nachdem welche
Perspektive gewählt wird. Sie nehmen andere Ereignisse als ihre Data wahr, sie sind
Wahrnehmungen. Andererseits sind sie selbst Data für andere Ereignisse. Wir haben
nicht mehr Wahrnehmungen auf der einen Seite, Gegenstände, die wahrgenommen
werden, auf der anderen, sondern der Gegenstand einer Wahrnehmung ist selbst eine
Wahrnehmung. Whitehead reaktualisiert Leibniz’ Monadenlehre. Jedes Ereignis ist
dabei schöpferisch. Die Welt ist ein Prozess, der ständig Neues hervorbringt.
Whitehead sieht die Philosophie daher nicht als Hüter von ewigen Werten und
universalen Geltungsansprüchen. Eine solche Philosophie ist in ihrem Wesen
konservativ und damit unmodern. Die Moderne als zielorientiertes oder unter Normen
operierendes Unternehmen (Teleologie oder Deontologie) zu verstehen, ist eine
konservative Denkweise. Philosophie ist nichts von alledem. Sie ist, mit Whitehead
328
Whitehead, Abenteuer der Ideen, S. 477.
186
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
gesprochen, der Sinn für das Abenteuer. Philosophie ist spekulativ und visionär. Sie ist
Teil der phantastischen Literatur, der Science-Fiction näher als einem Fakten- oder
Normendogmatismus. Philosophie ist immer jenseits von Faktizität und Geltung. Sie
hat keine Referenzen und keine Verpflichtungen. Sie hat mit der Wahrheit als
Verifizierung einer Möglichkeit oder der Moral als der Einforderung eines Modells
nichts zu tun. Die einen tragen die Schleppe der Wissenschaft, die anderen die der
Gesellschaft. Die Philosophie muss sich vom Szientismus ebenso lossagen wie von
einem Sozialkonstruktivismus, der jedem Subjekt, jeder Kultur, jeder Tradition ihr
privates Territorium verspricht. Mononaturalismus und Multikulturalismus, FaktenDogmatismus und kulturelle Toleranz sind zwei komplementäre Irrtümer, die sich aus
der Objektivierung der Natur und der Subjektivierung des Geistes ergeben. Schluss mit
der Neutralität, Schluss mit der Toleranz.329
Ein Fehlen von transzendenten Werten bedeutet vor allem nicht ein Verzicht auf
Selektion, wie es die pazifistische Postmoderne glauben machen will. Sie ersetzt die
Affirmation, das Ja zum Werden durch das Ia des Esels, der jede Last zu schleppen
bereit ist. Whitehead macht deutlich, dass es ein Streben nach Kontrasten, Spannung,
nach Neuem gibt, dass niemals zugunsten des bloßen Weiterlebens unterdrückt
werden darf, will eine Natur/Kultur auf lange Sicht nicht untergehen. Aufgrund seiner
Ablehnung des Unterschieds in primäre und sekundäre Qualitäten, des Innen im
Gegensatz
zum
Außen,
kann
Whitehead
ästhetische
Gesichtspunkte
als
Selektionskriterien postulieren, ohne in einen Subjektivismus zu verfallen. Die Natur
selbst strebt nach dem Abenteuer. Spannung, Kontraste, Differenzen sind nicht
subjektive Bewertungen einer objektiven Natur, sondern der Naturprozess selbst
wertet. Wie Nietzsche sagt, richtet das Leben, kann aber nicht selbst gerichtet werden.
Es gibt keine Transzendenz, keinen Richter, der von außerhalb ein Urteil fällen könnte.
Die Selektionskriterien sind immanente.
Auch der Gegensatz von Schole und Praxis, den Bourdieu hervorhebt, wird dabei von
Whitehead im Begriff des Abenteuers überwunden. Ein Abenteuer ist kein Spiel, es
findet nicht in einem von den praktischen Zwängen befreiten Raum statt. Andererseits
ist ein Abenteuer auch keine zielorientierte im Gegensatz zu einer selbstzweckhaften
Praxis. Es ist jenseits dieses Gegensatzes. Es hat weder ein Ziel noch eine Form, die
es zum Selbstzweck erheben könnte. Es ist das Gegenteil einer Institution mit ihren
Reinheitsgeboten. Es ist Experiment. Dieses Experiment ist nach Whitehead die
schöpferische Evolution des Universums selbst. Die Realität ist nicht ready-made,
sondern ein Prozess. Nach Whitehead sind wir immer schon modern gewesen, weil
329
Isabelle Stengers, Cosmopolitiques, Tome7, Pour en finir avec la tolérance.
187
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
„wir“ Teil der Wirklichkeit sind, und diese Wirklichkeit ist ein Prozess.330 Was sich nicht
ständig erneuert, hört schlicht auf zu existieren. Die Welt ist nicht, sie wird. Und der
Morgenstern kehrt am Abend nicht wieder.
Hören wir auf Frank Sinatra, der Platons Höhlengleichnis aufgreift:
„The best is yet to come, and won’t that be fine. You think, you’ve seen the sun,
but you ain’t seen it shine.“
Der Primitive klappte das Buch zu und lächelte. Er hatte er sich verändert, aus seinen
Lumpen war ein modischer Anzug geworden. Der Aufgeklärte dagegen trug nun einen
langen Bart. Während der Lesung war er immer blasser geworden. „Rationalität,
Objektivität, Wahrheit, Neutralität, Nnn..Nnn..Normen... „ stammelte er immer wieder
vor sich hin, während ihm Tränen über sein Gesicht liefen. Nachdem er sich
gesammelt hatte, sagte er:
Du hast mir jetzt ein ganzes Buch vorgelesen, das vor Fehlern nur so
strotzt. Es muss gestattet sein, am Ende noch ein paar kritische Fragen zu
stellen.
Der Primitive:
Ich bin einverstanden.
Der Aufgeklärte:
Zunächst einmal, ich werde versuchen, ganz sachlich zu sein.
Der Primitive:
Ich glaube nicht an Sachlichkeit. Damit machst du dir keine Freunde.
Der Aufgeklärte:
Aber ich glaube an Sachlichkeit und ich werde dir demonstrieren, dass
auch ein Primitiver sich nicht der Forderung nach Vernunft und Methode
entziehen kann.
330
Whitehead verweist auf die indische und chinesische Philosophie, um Vorgänger einer
Prozessmetaphysik zu nennen. Siehe Whitehead, Prozess und Realität, S. 38. Eine
schöne Einführung in die chinesische Philosophie, vor allem in die Handlungstheorie,
bietet Francois Jullien, Über die Wirksamkeit.
188
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
Der Primitive:
Was heißt Vernunft? Was Methode?
Der Aufgeklärte:
Da sind wir schon mitten im Thema. Es gibt Standards der Rationalität,
denen wir alle unterliegen.
Der Primitive:
Welcher Wissenschaftler kann auch nur den Verlauf eines normalen
Gesprächs voraussagen und welcher Normativist kann den Gang eines
Gesprächs ohne Lücken rational rekonstruieren? Es gibt strikte Logiken,
aber welches philosophische oder wissenschaftliche oder alltägliche
Problem lässt sich mit Hilfe von Logiken entscheiden?
Der Aufgeklärte:
Mir scheint, du orientierst dich an vollkommen überzogenen Forderungen,
um dann ein „Anything Goes“ zu verkünden.
Der Primitive:
Ich verlange nur, dass man, wenn man von zwingenden Argumenten und
Standard der Rationalität redet, diese auch vorweisen kann. Kann man es
nicht, ist es bloße Rhetorik, plumpe Angeberei.
Der Aufgeklärte:
Kommen wir zur Univozität. Das ist schon ein starkes Stück. Das Buch, aus
dem du gelesen hast, versucht die Ontologie aufzupeppen, indem es die
Ontologie von allen wissenschaftlichen Zwängen befreit und aus ihr eine
Art Haltungsfrage machen.
Der Primitive:
"Haltungsfrage". Das Wort gefällt mir. Allerdings scheint für dich dieses
Wort einen Subjektivismus zu implizieren, was man an deiner verächtlichen
Intonation des Wortes spürt.
Der Aufgeklärte:
Nichts anderes ist es ja auch. Extremster Subjektivismus. Deine Ontologie
ist nichts anderes als eine verkappte Ethik, ein Kryptonormativismus.
189
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
Der Primitive:
Es ist leider nicht so einfach. Die Univozität ist vor allem deshalb keine
Haltungsfrage in einem subjektivistischen Sinne, weil ich das Subjekt
ontologisch nicht zulasse. Das Sein univok zu denken, ist nicht der Denkakt
eines Subjekts. Nicht ich denke, dass das Sein univok ist.
Der Aufgeklärte:
Wer denn dann?
Der Primitive:
Das Denken entwickelt sich subjektlos. Es ist nicht zurechenbar. Wer lässt
es regnen?
Der Aufgeklärte:
Das ist Irrationalismus. Du vermischst Natur- und Denkprozesse. Das ist
wirklich primitiv. So geht das aber nicht!
Der Primitive:
Ja, das ist Spinoza oder Bergson oder Nietzsche oder Deleuze. Denken
und Sein sind eins. Aber nicht im Hegel’schen Sinne, der das Sein als
Subjekt deutet. Ein Denken der Univozität kommt erst dort auf, wo es kein
Subjekt
und
damit
auch
keine
Zurechnung,
folglich
auch
keine
Verantwortung gibt. Es ist also gerade keine Ethik, vielmehr schließt
Univozität jede Ethik aus, wenn man unter Ethik die Entwicklung,
Begründung und Einforderung von Normen versteht.
Der Aufgeklärte:
Ja, aber was machst du anderes, als etwas auszusagen und dann zu
behaupten, du hättest es gar nicht getan?
Der Primitive:
Was passiert hier anderes, als dass sich in dir ein Denken bildet, das alles
einem Subjekt zuzurechnen versucht, ein Subjekt, das alles getan haben
will? Ähnlich wie die Tirade der Selbstständigen: Ich habe meine Firma
ganz allein aufgebaut, das ist alles meins. Dieser Vergleich ist nicht reine
Willkür. Alles auf Personen zuzurechnen ist Ausdruck einer spezifischen
Organisation von Kollektiven. Es ist keinesfalls selbstverständlich im
190
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
Namen des Egos zu sprechen statt im Namen einer anderen Einheit wie
Gott, der Familie, dem Staat. Die Person ist ebenso fragwürdig wie alle
anderen Identitäten.
Der Aufgeklärte:
Gibt es also keine Subjekte?
Der Primitive:
Es gibt Prozesse der Subjektivierung, diese sind aber subjektlose. Das
Subjekt ist ein Produkt, kein Prozess.
Der Aufgeklärte:
Was ist ein Subjektivierungsprozess?
Der Primitive:
Lies Daniel Dennett oder Whitehead oder Tarde. Dem bewussten Subjekt
liegen subjektähnliche Prozesse zu Grunde. Nach Dennett wird bei jedem
Sprechakt eine ganze Horde von Proto-Subjekten mobilisiert. Ebenso
Whitehead und Tarde, die im Anschluss an Leibniz kausale Verursachung
als einen unbewussten Wahrnehmungsakt auffassen, in dem die Wirkung
ihre Ursache wahrnimmt. Jeder Kausalprozess wird somit zu einer
Erfahrung.
Der Aufgeklärte:
Du predigst die Rückkehr zu einem animistischen Weltverständnis.
Der Primitive:
Ich bin primitiv! Was erwartest du? Allerdings ist der Animismus nur
solange „spooky“, wie man ihn sich dualistisch denkt. Spinozas Animismus
setzt die strikte Identität von Geist und Körper. Für Spinoza gibt es keinen
Geist in der Maschine und auch keine Waldgeister. Außerdem ist Spinoza
ein vehementer Gegner des Anthropomorphismus.
Der Aufgeklärte:
Das überzeugt mich nicht. Die größte Frechheit ist allerdings, dass du
versuchst dein primitives Denken als modern auszugeben. Bemerkst du
nicht, wie absurd deine Position ist?
191
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
Der Primitive:
Wenn man unter Moderne die Betonung des Neuen, der Kreativität
versteht, dann sind die Positionen von Prozessphilosophen wie James,
Bergson, Dewey oder Whitehead ultra-modern. Gleichzeitig sind sie alle
Naturalisten und lehnen die christliche Zwei-Welten-Lehre samt ihrer
weltlichen Versionen ab. Hierin ist ihr Panpsychismus begründet, der heute
von
Dennett
aus
denselben
naturalistischen
Gründen
als
Panintentionalismus wiederbelebt wird. Man kann Moderne als Affirmation
von Souveränität und Autonomie verstehen oder als Säkularisierung. Ich
plädiere für den zweiten Begriff.
Der Aufgeklärte:
Dieser Modernebegriff ist von deinem Philosophieverständnis nicht zu
unterscheiden.
Der Primitive:
Ja, der Moderne-Diskurs ist ein philosophischer Diskurs. Die Frage der
Philosophie ist die nach der Bedeutung, nach dem Sinn von Sein. Und die
Antwort ist die Univozität. Das Sein wird im selben Sinne von allem
ausgesagt, was existiert. Denke so, dass alle Dinge denselben Status
haben, dasselbe Sein teilen. Es wird deutlich, dass die Philosophie vor
allem ein Gegner der Religion ist. Die Philosophie säkularisiert. Sie ist
fröhlicher Atheismus. Selbst eine Philosophie der Transzendenz ist insofern
als wirkliche Philosophie und damit als Gegner der Religion zu bezeichnen,
als sie versucht die Transzendenz mit immanenten Mitteln zu retten.
Der Aufgeklärte:
Über das Verhältnis von Religion und Philosophie habe ich noch nie
nachgedacht. Religion wurde aus gutem Grund in der Moderne privatisiert.
Auch Philosophie, wenn sie nicht wissenschaftlich ist, sollte ebenfalls
privatisiert werden.
Der Primitive:
Wissenschaft soll nicht privatisiert werden?
Der Aufgeklärte:
Ich stelle hier die Fragen. Kommen wir zur Szientismus-Kritik. Szientismus
ist für dich der Versuch, die Wissenschaft an die Stelle der Religion zu
192
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
setzen. Aber niemand tut das! Wir haben nun schon seit den 70er Jahren
eine extreme Wissenschafts- und Technik-Kritik. Wir haben ökologische
Bewegungen, Esoterik und nicht zu vergessen eine Weltbevölkerung, die
alles andere als ein Zuviel an Wissenschaft und Technik hat.
Der Primitive:
Das stimmt. Der Akzent der Arbeit liegt auch stärker auf der Kritik des
Subjektivismus. Wie bereits erwähnt, als Primitiver, d.h. Naturalist,
sympathisiere ich mehr mit Szientisten und Positivisten als mit den Rettern
der Subjektivität. Nichts ist schlimmer als die deutsche Ökologiebewegung,
die übrigens noch viel älter ist und schon im 19.Jahrhundert ihre
lächerlichen Vorläufer hatte. Nichts liegt mir ferner als Wissenschaft und
Technik zu kritisieren. Ich glaube nicht, dass Philosophie und Wissenschaft
Gegner sind. Es kann gar nicht genug Technik geben. Je artifizieller, umso
besser. Der beste Kommentar zur Gentechnik-Debatte stammt aus der
amerikanischen Zeichentrickserie "South Park": "Die Gentechnik ist eine
tolle Sache. Mit ihr kann man Gottes schlimme Fehler korrigieren, zum
Beispiel die Nazis."
Der Aufgeklärte:
Was soll dann die Kritik am Szientismus?
Der Primitive:
Ganz einfach. Der Szientismus ist keine Wissenschaft. Er ist eine
Philosophie der Transzendenz, welche die Wissenschaft selbst in Grenzen
hält. Die wissenschaftsfeindlichen Auswirkungen des Szientismus sieht
man an Büchern wie An den Grenzen des Wissens von John Horgan. Hier
behauptet ein Szientist, dass die Wissenschaft am Ende ist. Sie ist schlicht
fertig. Alles Wichtige wurde im Großen und Ganzen erkannt. Der Rest ist
Detailkram und Praxis. Newton, Darwin, Einstein und die Quantentheorie,
diese vier Ergebnisse sind das letzte Wort. An diesem Buch bemerkt man
wie konservativ die Idee eines Endpunkts der Forschung, der Wahrheit,
des Konsenses etc. ist. Denkt man wissenschaftliche Entwicklung auf diese
Weise, dann ist sie irgendwann zu Ende. Man hat dann alles erkannt und
muss nur noch die Bestände wahren. Man kann seine eigene
Phantasielosigkeit als Wahrheitsliebe maskieren. Die Motivation von
Szientisten ist dieselbe wie die von Normativisten. Es geht darum, Gesetze
193
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
zu erlassen, das Denken zu begrenzen. Deleuze/Guattari sprechen von
Königswissenschaft,
entgegenstellen.
der
Beispiele
sie
für
eine
nomadische
wissenschaftliches
Wissenschaft
Wissen,
das
als
Königswissenschaft funktioniert, könnte man heute zuhauf aus der
Ökonomie nehmen oder auch aus dem ökologischen Denken. Ich verweise
auf Latours Kritik an der Ökologie-Bewegung.
Der Aufgeklärte:
Aber du stellst doch die Objektivität des wissenschaftlichen Wissens in
Frage. Du vertrittst einen allgemeinen Perspektivismus.
Der Primitive:
Aber die Leugnung von Objektivität und Unparteilichkeit schließt nicht aus,
dass man Perspektiven bewerten kann. Nietzsche ist Perspektivist und
trotzdem hat er sich nicht gerade mit Wertungen zurückgehalten. Es gibt
gute und schlechte Perspektiven. Es gibt gute und schlechte Wissenschaft
und Technik. Man kann sich für Wissenschaft und Technik begeistern,
ohne Szientist zu sein.
Der Aufgeklärte:
Reicht es nicht aus, die klassische Unterscheidung zwischen Werten und
Fakten zu betonen, um den Szientismus in Schach zu halten?
Der Primitive:
Nein, denn diese führt zu einer Ungleichbehandlung zwischen der
Wissenschaft und dem Rest der Kultur. Die Wissenschaft als wertfrei zu
betrachten, heißt ihr einen Vorrang vor anderen Praktiken zu geben.
Diesem Vorrang ist zudem scheinheilig, denn ihm korrespondiert eine
Schwächung ihres gesellschaftlichen Einflusses. Forscht so viel ihr wollt,
unsere Werte werdet ihr nicht verändern. Ich folge hier Latour oder
Feyerabend, die beide ein Bild von Wissenschaft zeichnen, das vermeidet
die Wissenschaft mit den Attributen der Religion auszustatten. Es muss
einen ebenso freien Umgang mit Wissenschaft geben wie mit Rockmusik.
Ein Wissenschaftler sollte ebenso behandelt werden wie ein Techniker
oder Künstler. Anders als Feyerabend muss man aber auch das Recht der
Wissenschaft betonen, denselben gesellschaftlichen Einfluss auszuüben.
Wenn der Darwinismus religiöse Dogmen auflösen kann, dann darf er das
auch. Der Wissenschaftler muss keinerlei Toleranz üben.
194
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
Der Aufgeklärte:
Aber wie soll zwischen Perspektiven gewählt werden?
Der Primitive:
Das Wissen, das wir gewinnen, ist danach zu beurteilen, ob es unsere
Macht steigert, ob es uns nützt. Hier bin ich Spinozist oder Pragmatist.
Der Aufgeklärte:
Was heißt das?
Der Primitive:
Spinoza ist Egoist. Gut ist, was ein Ding in seiner Selbsterhaltung stärkt.
Nietzsche geht noch weiter. Gut ist, was ein Ding stärker macht. Spinoza
kritisiert Tyranneien nicht etwa, weil sie gegen die Rechte der Menschen
verstoßen, sondern weil sie die Menschen schwächen. Eine liberale
Gesellschaft ist stärker, weil sie die Intelligenz des Einzelnen nutzt und
Win-Win Situationen schafft. Der Tyrann oder Priester trennt die Menschen
von dem, was sie können. Ein Kapitalismus oder Sozialismus, der Teile der
Bevölkerung verarmen lässt, ihre Lebensbedingungen verschlechtert, seine
Berechtigung aber aus kleinen Zirkeln von Experten bezieht, ist das beste
Beispiel für eine Schwächung des Vermögens der Menschen.
Der Aufgeklärte:
Es ist mir nicht entgangen, dass du eine Verbindung zwischen Kapitalismus
und Philosophie herstellst. Was ist damit gemeint?
Der Primitive:
Der Kapitalismus hat einen säkularisierenden Effekt. Wie Simmel
beschreibt, verändert eine Gesellschaft, die Beziehungen über Geld
vermittelt, ihre Kultur. Sie wandelt objektive Werte in bloß subjektive
Meinungen um. Im Grenzfall wird alles käuflich, jede Tradition veränderbar,
wenn es Geld bringt. Der Kapitalismus hat eine Gesellschaftsstrukturen, ja
selbst Naturstrukturen, auflösende Macht. Darauf reagieren viele mit dem
Schrei nach Werten, normativen Fundamenten. Verändert den Menschen
nicht,
verändert
die Tradition nicht,
verändert
die Umwelt
nicht.
Deleuze/Guattari sagen dagegen, dass man noch nicht weit genug
gegangen ist. Indem die Philosophie auch noch das Subjekt, in all seinen
Formen - Individualismus, Multikulturalismus, Nationalismus, jede Form des
195
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
subjektiven Relativismus - angreift, wendet sie sich auch gegen die
Herrschaft der bloßen Meinung. Die Meinung ist das Klischee, der
Gemeinplatz.
Konventionen,
Selbst
wenn
kraftloses
sie
individuell
Denken,
sind,
berechenbares
sind
Meinungen
Denken.
Diese
Berechenbarkeit macht sie so beliebt, wenn es darum geht, Ideen zu
verkaufen. Die Ideen der Philosophie dagegen sind schlicht zu riskant. Die
Philosophie experimentiert. Ihre Ideen erfordern viel mehr Kredit als stabile,
altbewährte Klischees. Sie ist ein Abenteuer, mit Betonung auf „teuer“. Die
Philosophie ist daher seit Platos Kritik der Doxa der Feind der Meinung. Sie
ist nicht am Kunden orientiert und gerade deshalb für den Kunden nützlich.
Sie ist eine aggressive Veranstaltung. Die Philosophie steht unter dem
Zwang, die Erwartungen ihrer Leser zu verletzen. Das erwartet man von
ihr.
Dieser
Zwang
unterscheidet
nach
Rorty
Klischees
von
Neubeschreibungen. In der Philosophie geht es darum, Knochen im Kopf
zu brechen, um neue Ideen zu generieren. Eine Philosophie, die
niemandem schadet, ist ihr Geld nicht wert.
Der Aufgeklärte:
Ich habe keine Kraft mehr, Fragen zu stellen. Wir sind beide nur Fiktionen
und unser Erfinder ist auf deiner Seite. Das ist kein faires Spiel. Und indem
er mir diese Worte in den Mund legt, versucht er auch noch, sich beim
Leser sympathisch zu machen.
Der Primitive:
Du
hast
recht.
Die
Philosophie
ist
nicht
dialogisch.
Geben
wir
Deleuze/Guattari das Schlusswort:
„Diskussionen sind der Philosophie ein Greuel. Sie hat stets anderes zu
tun. Die Debatte ist ihr unerträglich, nicht weil sie ihrer selbst allzu sicher
wäre: im Gegenteil, es sind gerade ihre Ungewißheiten, die sie auf andere,
einsamere Wege treibt. Machte jedoch nicht Sokrates aus der Philosophie
ein freies Gespräch unter Freunden? Ist das nicht der Gipfel der
griechischen Gemeinschaftlichkeit als Gespräch unter freien Männern? In
Wirklichkeit hat Sokrates unverzüglich jede Diskussion unmöglich gemacht,
sowohl in der gedrängten Form eines Agons von Fragen und Antworten als
auch in der gedehnten Form einer Rivalität zwischen Reden. Er hat aus
196
Schluss: Philosophie und der Sinn für das Abenteuer
dem Freund einzig den Freund des Begriffs gemacht, und aus dem Begriff
den unerbittlichen Monolog, der Zug um Zug den Rivalen ausschaltet.“331
331
Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S. 36f.
197
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz332
Den Dualismus, der im Cartesianischen
System vorhanden ist, hob Benedikt
Spinoza vollends auf, - als ein Jude. Diese
tiefe Einheit seiner Philosophie, wie sie in
Europa sich ausgesprochen, der Geist,
Unendliches und Endliches identisch in
Gott, nicht als einem Dritten, ist ein
Nachklang
des
Morgenlandes.
Die
morgenländische
Anschauung
der
absoluten Identität ist der europäischen
Denkweise und näher dem europäischen,
Cartesianischen
Philosophieren
unmittelbar
nähergebracht,
darein
eingeführt worden.
G.W.F Hegel
Repräsentation versus Ausdruck
Das Denken als Repräsentation zu deuten, diesem Modell steht ein anderes
gegenüber, das Denken als Ausdruck versteht. Gedanken repräsentieren nichts,
sondern sie drücken aus. Ausdrücken heißt dabei nichts anderes als explizieren. Das
Ausgedrückte ist die Explikation des im Ausdruck Implizierten. Ausdrücken steht für
folgern, auswickeln, entfalten. Klassische Vertreter des Repräsentationsmodells sind
Descartes oder Locke. Hegel ist dagegen ein Vertreter des Ausdrucksmodells. Wie
Charles Taylor in seinem Hegel-Buch darlegt, führt Hegel die Ausdruckstradition gegen
Kants Subjekt-Objekt-Modell ins Feld.333 Zur Ausdruckstradition rechnet Taylor auch
Herder, Humboldt und Hamann. So habe Herder mit seinen Überlegungen zur
Sprachtheorie und seiner Kritik an einer konventionalistischen Auffassung, wie sie
exemplarisch Condillac vertreten hat, den Gedanken des Ausdrucks eingeführt und
damit das Stichwort für die Romantik gegeben. Deleuze zeigt jedoch, dass diese
Genealogie des Ausdrucksbegriffs verkürzt ist.334 Die Romantiker leisten eine
Verinnerlichung des Ausdrucksbegriffs. Der Ausdruck wird zum Ausdruck eines
332
Dieser Appendix zu Spinoza folgt den Auslegungen von Deleuzes Spinoza Buch. Der
Appendix vermittelt also vor allem einen durch Deleuze gefilterten Spinoza.
333
Taylor, Hegel, S.28ff.
334
Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, S.151ff.
198
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
Subjekts. Der Begriff des Ausdrucks hat jedoch einen weiter zurückliegenden
Ursprung. Deleuze zeigt, dass Spinoza und Leibniz die großen Philosophen des
Ausdrucks sind. Beide geben dem Ausdrucksbegriff in ihrer Reaktion auf Descartes
Repräsentationalismus eine zentrale Rolle. Auch Robert Brandom hat den Gegensatz
zwischen Repräsentationalisten und Inferentialisten, Brandoms Wort für die Bewegung
des Ausdrückens, neuerlich ins Bewusstsein gehoben.335 In seinem Buch Making it
explicit hebt er den Unterschied zwischen Descartes einerseits und Spinoza/Leibniz
andererseits hervor. Er spricht sehr richtig von einer großen Kluft, die innerhalb der
Epistemologie der Aufklärungstradition herrscht. Deleuze führt den Begriff des
Ausdrucks jedoch noch weiter zurück. Nikolaus von Kues ist ein Philosoph des
ausgehenden
Mittelalters,
der
den
Begriff
der
„Explicatio“
sowie
den
Komplementärbegriff der „Implicatio“ in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellt.
Deleuze glaubt, dass man die Idee des Ausdrückens mit dem Problem des Einen und
der Vielen, des Urbilds und der Abbilder, zusammenbringen muss. Je mehr das Eine
den Vielen immanent wird, kristallisiert sich aus den Begriffen der Partizipation bei
Platon und der Emanation der Neu-Platoniker der Begriff des Ausdrucks heraus.
Kern von Deleuzes Spinoza-Buch ist jedoch der Versuch zu zeigen, wie der Begriff des
Ausdrucks mit dem der Immanenz sowie der Univozität des Seins zusammenhängt.
Während das Verhältnis Vorstellung-Vorgestelltes einen realen Unterschied evoziert,
liegt im Begriff des Ausdrucks die Immanenz des Ausgedrückten. Das Vorgestellte
transzendiert die Vorstellung, die Vorstellung richtet sich auf das Vorgestellte wie auf
etwas
anderes.
Der
Ausdruck
dagegen
ist
nicht
real
unterschieden
vom
Ausgedrückten. Real unterschieden meint hier die Verneinung einer substantiellen
Identität. Substanz ist das, was durch sich selbst existieren kann. Nach Spinoza kann
es nur eine Substanz geben. Verschiedene Ausdrücke sind daher nur Modi dieser
Substanz. Sie können nicht selbstständig existieren. Spinozas Ontologie verpflichtet
ihn zum Holismus. Der Ausdruck kann demnach nicht abgetrennt werden vom
Ausgedrückten,
er
ist
mit
ihm
substantiell
identisch.
Ein
Kriterium
des
Vorstellungsbegriffs ist dagegen, dass das Vorgestellte auch nicht existieren kann.
Vorstellung und Vorgestelltes können divergieren. Die Idee des radikalen Irrtums hat
hier ihre Wurzel. Der Skeptizist wohnt in diesem Spalt zwischen Vorstellung und
Vorgestellten. Nach Descartes kann ich lauter Vorstellungen haben, denen im
schlimmsten Fall nichts entspricht. Der Ausdruck ist dagegen nicht denkbar ohne ein
Ausgedrücktes. Jede Idee drückt etwas aus. Da Spinoza, wie wir noch sehen werden,
Denken und Ausdehnung als zwei Attribute derselben Substanz denkt, entspricht auch
335
Brandom, Making it explicit, S.93.
199
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
jeder Idee ein Körper. Jede Idee ist ein Körper. Deshalb kann Spinoza sagen, dass
jede Idee wahr ist.
„Alle Ideen sind in Gott (...), und sofern sie auf Gott bezogen werden, sind sie
wahr(...) und vollentsprechend...“336
Eine falsche Idee ist immer nur eine mangelhaft explizierte. Ihre Implikationen, ihre
Ursachen, können nicht hinreichend entfaltet werden. Da für Spinoza jede Explikation
Kausalerklärung ist, kann ein Irrtum nicht das Verfehlen einer Tatsache oder das
Verfehlen einer Norm sein, sondern nur Schwäche, die Ursache eines Phänomens
auszudrücken. Selbst die Halluzination hat ihre Ursachen, deren Erkenntnis sie zu
einer wahren Idee machen würde, die beispielsweise eine Stoffwechselstörung des
Gehirns anzeigt. In Gott sind jedoch alle Ideen sowohl expliziert als auch impliziert, hier
gibt es keinen Irrtum.337
Immanenz und “causa sui”
Spinoza verwendet den Begriff der „causa sui“ um eine immanente Ursache zu
bezeichnen, eine Ursache, die nicht nur in sich selbst, sondern auch in ihrer Wirkung
bleibt.
„Unter Ursache seiner selbst verstehe ich dasjenige, dessen Wesen die Existenz
notwendig einschließt.“338
Diese Ursache existiert notwendig, weil sie nicht in einem externen Verhältnis zu ihrer
Wirkung steht. Sie ist nicht auf eine von ihr real unterschiedene Wirkung gerichtet,
vielmehr ist sie in ihrer Wirkung. Das was verursacht, ist in dem, was bewirkt wird.
Umgekehrt transzendiert die Wirkung nicht die Ursache, sondern bleibt in ihr. Die
immanente Ursache bringt sich selbst hervor, indem sie ihre Wirkungen hervorbringt.
336
Spinoza, Die Ethik, S. 86.
337
Della Rocca zeigt, dass Spinoza den Gehalt von Ideen perspektivenabhängig macht. Ein
endlicher Modus ist nicht in der Lage, die Ideen, aus denen er besteht, hinreichend zu
explizieren. Seine Ideen können daher in die Irre führen. Dieselbe Idee ist in Gott jedoch
wahr, es gibt aus Gottes Perspektive keine falschen Ideen. Der Irrtum entsteht aus der
Endlichkeit, aus dem Unvermögen eine Idee vollständig zu explizieren. Della Rocca,
Representation and the Mind-Body Problem in Spinoza, S.44ff.
338
Spinoza, Die Ethik, S. 1.
200
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
Spinoza wendet diesen Begriff gegen die Idee eines transzendenten Schöpfers, der
außerhalb dessen steht, was er schafft. Aber auch jede Theorie der Intentionalität, die
den Geist als Ursache für materielle Veränderungen versteht, verfällt der Kritik
Spinozas. Geist und Körper stehen in keinem kausalen Verhältnis zueinander. Weder
verursacht das Materielle eine Änderung im Geist noch wirkt der Geist auf den Körper.
Geist und Körper sind nur zwei Ausdrucksweisen der einen Substanz. Die Substanz
muss als selbsthervorbringend gedacht werden. Teile dieser Substanz, die Modi, sind
nur in einem eingeschränkten Sinne zur Selbstproduktion fähig. Ihre Produktion ist zu
einem mehr oder weniger großen Teil durch andere endliche Modi der Substanz
verursacht. Ein Modus erhebt sich zu einem höheren Machtgrad je mehr er nur von
sich selbst abhängt, je mehr er „causa sui“ wird. Jeder Modus hat ein individuelles
Wesen, das diesen autonomen, selbstproduzierten Teil ausdrückt, sein Streben nach
höheren Machtgraden. Spinoza spricht vom „conatus“, Deleuze/Guattari sprechen vom
„Begehren“.339 „Begehren“ ist kein intentionales Phänomen. Es ist nicht auf etwas
gerichtet, das als Ziel repräsentiert werden kann. Es ist auch nicht mechanisierbar, weil
es nicht mit linearen Ursache-Wirkungsketten arbeitet, sondern seine eigene Ursache
ist. Der „conatus“ eines Modus ist gerade der Teil eines Modus, der selbstproduziert
ist, der nicht durch andere endliche Modi verursacht wird. Deleuze/Guattaris
Maschinenbegriff hat daher nichts mit einem Mechanismus gemein. „Begehren“ ist
immer auch eine Selbsterschaffung, ein kreativer Prozess. Spinoza ersetzt also das
Modell „Geist wirkt auf die Natur, Natur wirkt auf den Geist“ durch „Geist/Natur erzeugt
sich selbst“. Aufeinander wirken können nur endliche Modi der Substanz. Aber auch
diese wirken nur einerseits als geistige Modi aufeinander, andererseits als materielle
Modi.340
Spinoza gegen Kant und Hegel
Wie ich am Fall Richard Rortys gezeigt habe, ist die These, dass das Reich des
Geistigen nicht mit dem Reich der von der modernen Physik beschriebenen Natur
kausal interagiert, ein Hauptpunkt von McDowells Kritik an Sellars und seinen
Nachfolgern.341 McDowell vertritt mit Sellars die These, dass bloße Verursachung
339
Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus.
340
Della Rocca spricht von der “explanatory barrier between thought and extension”,
Michael Della Rocca, Representation and the Mind-Body Problem in Spinoza, S.9ff.
341
McDowell, Geist und Welt. Siehe vor allem die 2. Vorlesung: „Die Ungebundenheit des
Begrifflichen“, S.49ff.
201
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
niemals Rechtfertigung ist. Diese anti-empiristische These versucht er jedoch noch
weiter zu treiben und jegliche bloß kausale Interaktion zwischen Geist und Natur zu
verwerfen. Sellars, Davidson, Rorty und Brandom halten die Rede von kausaler
Interaktion zwischen Nicht-Geistigem und Geistigem für unproblematisch, solange
diese Relation nicht als Rechtfertigungsrelation ausgegeben wird. McDowell hält dies
für unbefriedigend. Empirische Erkenntnis wird durch die radikale Trennung von
Rechtfertigung und Verursachung zu einem Rätsel. Mit Hegel behauptet McDowell
daher einen Begriffsobjektivismus. Das Begriffliche kann Teil der Natur sein, einer
zweiten Natur.
Wie Sellars, Davidson und Brandom hält auch McDowell das Normative für das
Kriterium des Geistigen. Nur gibt es für ihn natürliche Normen. In der Ethik ist diese
These unter dem Stichwort „Moralität versus Sittlichkeit“ bekannt. Zwischen Brandom
und McDowell herrscht damit ungefähr dasselbe Verhältnis wie zwischen Kant und
Hegel. Brandom setzt in der Nachfolge Sellars’ das Normative dem Nicht-Normativen
deontologisch gegenüber. McDowell versucht dagegen eine Vermittlung zwischen Sein
und Sollen, indem er wie Hegel aristotelische Denkfiguren wiederbelebt. Bei Hegel
fallen Sein und Sollen in der absoluten Erkenntnis, dem Endpunkt der Geschichte,
zusammen. Kant und Hegel ist jedoch gemein, Geist und Natur zunächst
entgegenzusetzen. Deontologen wie Kant dogmatisieren diesen Gegensatz, während
Hegelianer die Einheit von Sein und Sollen als Ziel eines teleologischen Prozesses
setzen, der die Spannung zwischen Geist und Natur aufhebt. Bei Hegel verkörpert sich
der Geist und vergeistigt sich die Natur in einem teleologischen Prozess. Genau diesen
Vorgang der Humanisierung der Natur nennt McDowell Bildung, das Erschaffen einer
zweiten Natur.342 In diesem Club der Normativisten plädiert McDowell für die Aufnahme
der Natur, während aus seiner Sicht Sellars, Brandom, Rorty und auch Davidson
einem Dualismus von Geist und Natur vertreten, wenn auch gegen ihren Willen. Sie
sind jedoch nach McDowell nicht bereit den Spalt zwischen Sollen und Sein durch den
Begriff einer zweiten Natur zu mildern.
Ich denke, dass einige Aspekte Davidsons ihn aus diesem Club der Normativisten
herausfallen lassen. Davidson tendiert am stärksten zu einer spinozistischen Position
und Spinozas Ontologie ist mit einem Normativismus nicht zu vereinbaren. Wie
Spinoza postuliert Davidson die Identität von Geist und Natur. Weder Kant noch Hegel
können sich auf eine solche These einlassen. Kant nicht, weil er Sollen und Sein für
irreduzibel hält, Hegel nicht, weil er jede unmittelbare Identität zwischen Geist und
342
McDowell zitiert Marx’ Version einer humanen Gesellschaft, in der die ganze Natur der
anorganische Körper des Menschen ist. Siehe McDowell, Geist und Welt, S.145.
202
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
Natur leugnet.343 Die Identität von Geist und Natur ist bei Hegel der Endpunkt eines
langen Vermittlungsprozesses. Das Endliche bei Hegel ist gerade endlich, weil es
unfähig ist, den Geist zu verkörpern.344 Physiker, die das Endliche erforschen, sind wie
Sozialarbeiter, die sich mit arbeitslosen Schauspielern rumschlagen, die alle in
unsicheren Dienstleistungsjobs ihr Dasein fristen. Obwohl sie den Stars mengenmäßig
haushoch überlegen sind, kommt ihnen weniger Realität zu, weil sie ihr Ziel, ihre
Bestimmung verfehlt haben. Sie haben es nie nach oben geschafft. Philosophen, die
den absoluten Geist denken, sind dagegen wie Starreporter, die live aus den obersten
Etagen des Seins berichten. Hegel, der Teleologe, vertritt eine Bildungs- oder um im
Bild zu bleiben, Karriere-Philosophie, welche die Univozität des Seins zugunsten eines
Primats des Geistes verrät.
Spinoza behauptet dagegen die unmittelbare Identität von Geist und Natur. Es kann
niemals ein normatives oder auch dialektisches Verhältnis zwischen Geist und Natur
geben. Jedes Seiende ist immer auf dem Platz, wo es hingehört. Es gibt keine Normen
oder Ziele. Ein Modus unter dem Attribut des Denkens wirkt weder auf einen Modus
unter dem Attribut der Ausdehnung ein, noch normiert er ihn. Er ist mit einem Modus
unter dem Attribut der Ausdehnung identisch. Kausalrelationen gibt es nur innerhalb
eines Attributes. Ideen wirken auf Ideen ein, Körper wirken auf Körper. Begriffliche
Relationen sind für Spinoza kausale Relationen, aber sie sind nicht bloß kausale
Relationen, die einer normativen Regulierung bedürfen, einer Humanisierung oder
Vergeistigung. Ideen denken, heißt, das, was eine Idee ist, kausal zu erklären. Jede
Idee ist identisch mit einem Körper. Eine Idee explizieren, heißt, ihre Ursachen, die
Ideen der Körper kennen, die für den Körper dieser Idee kausal verantwortlich sind.
Explikation ist dabei ein geistiger wie körperlicher Vorgang, je nachdem unter welchem
Attribut er betrachtet wird. Eine Idee gewinnen, heißt, dass die Idee, die man ist, sich
mit anderen Ideen verbindet. Und dies ist nichts anderes als eine Verbindung von
Körpern, denn jede Idee ist ein Körper. Der unmittelbare Effekt von adäquaten Ideen ist
eine Machtsteigerung des Modus. Er wird aktiv, insofern er Dinge bewirken kann, statt
von ihnen bewirkt zu werden. Wahre Ideen führen nach Spinoza zu der Erlangung von
Handlungswissen und damit zu einer Machtsteigerung. Das Streben nach wahren
Ideen ist das Streben nach Macht. Dieses Streben ist jedoch nicht intentional und auch
kein Ausrichten an einer Norm, sondern das Wirken einer Kraft. Niemand will Macht.
343
Zum Verhältnis Spinoza-Hegel siehe den Klassiker von Pierre Macherey, Hegel ou
Spinoza.
344
Taylor, Hegel, S.457ff.
203
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
Es gibt kein Subjekt, das begehrt, sondern „es begehrt“. So wie man sagt, dass „es
regnet“.
Spinoza würde also von McDowells Kritik am Dualismus von Verursachung und
Rechtfertigung nicht getroffen werden. McDowell würde vermutlich Spinoza zusammen
mit Dennett in die Kategorie der „bald naturalist“ einordnen. Dies wäre jedoch verkehrt,
denn Spinoza ist im Gegensatz zu Dennett kein Physikalist. Denken und Materie sind
identisch, ohne dass eine Reduktion oder irgendeine Form der Asymmetrie zwischen
diesen Attributen herrschen würde. Spinoza ist damit weder Idealist noch Physikalist,
sondern plädiert für eine strikte Univozität des Seins. Sein bloß analog auszusagen,
heißt immer eine ontologische Hierarchie einzuführen. Einigen kommt das Sein
buchstäblich zu, anderen dagegen nur analog. Entweder herrscht die Idee oder der
Körper, Idealismus oder Materialismus. Spinozas Sein ist dagegen durch und durch
egalitär verteilt, es wird im selben Sinn vom Denken wie von der Materie ausgesagt.
Unterschiede zwischen Spinoza und Davidson
Ich bin beim Anomalen Monismus an eine
Position
gelangt,
die
nicht
allzu
verschieden von der Spinozas ist. Es bringt
Spaß, herauszufinden, dass man mit
jemand Besserem einer Meinung ist.
Donald Davidson
Innerhalb der analytischen Philosophie ist der stärkste Vertreter Spinozas Donald
Davidson. Davidson ist Spinozist, wenn er dafür plädiert, geistige und physikalische
Ereignisse als zwei verschiedene Beschreibungen desselben Ereignisses zu
denken.345 Auch lehnt er wie Spinoza den Begriff der Repräsentation ab. Er analysiert
Überzeugung nicht als Repräsentationen, sondern als Elemente in der Kausalerklärung
345
Davidson, „Geistige Ereignisse“, in: Davidson, Handlung und Ereignis, S. 291ff. Im selben
Aufsatz zitiert Davidson Kant, um die Idee der Freiheit hochzuhalten. Spinoza und Kant
sind jedoch nicht zu vereinbaren. Brandom wird auf diesen Zwiespalt zwischen
Normativismus und Prognostizismus bei Davidson hinweisen. Davidson ebenso wie
Dennett konzipiert Gründe als Elemente zur Voraussage von Handlungen. Nach
Brandom erklären Beschreibungen in einem geistigen Vokabular keine Ereignisse,
sondern normieren sie. Siehe Brandom, Making it explicit, S.15ff. Brandom versteht Kant
besser als Davidson. Davidson wendet sich jedoch in seinen späteren Schriften immer
mehr dem Normativismus zu. Siehe Davidson, „Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv“, in:
Davidson/Fulda, Dialektik und Dialog, S.85ff.
204
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
von Handlungen. Ohne handelnde Subjekte hätte der Begriff der Überzeugung keine
Rolle. Doch anders als Spinoza grenzt Davidson das, was man ein Handlungssubjekt
nennen kann, stark ein. Für Spinoza ist jeder Modus ein Handlungssubjekt. Ein Modus
ist ein Vermögensgrad. Ein Ding ist, was es kann. Seine Existenz zu erhalten, heißt für
ihn sein Vermögen zu erhalten und zu steigern. Jedes Ereignis kann als die Steigerung
oder Minderung eines Vermögensgrads beschrieben werden. Eine solche Steigerung
oder Verminderung nennt Spinoza eine Affektion. Ein Modus definiert sich durch sein
Affektionsvermögen, sein Vermögen affiziert zu werden und zu affizieren. Spinoza
unterscheidet zwischen passiven und aktiven Affektionen. Passive Affektionen gehen
von anderen Modi aus. Sie wirken auf uns, ohne dass wir ihre Ursache erkennen
können. Aktive Affektionen sind dagegen Handlungen. Hier sind wir selbst die Ursache
von Veränderungen. Jede aktive Affektion setzt daher adäquate Ideen voraus, Ideen,
deren Ursache wir kennen, weil wir selbst die Ursache sind. Aktive Affektionen sind
selbsterzeugte Wirkungen, mit denen der Modus sich in der Existenz zu halten
versucht. Er erhält und steigert sein Vermögen selbst, statt durch andere Modi
fremdbestimmt zu werden. Auch Davidson definiert eine Handlung durch die
Möglichkeit, diese über Wünsche und Überzeugungen zu rationalisieren. Die Handlung
muss für das Subjekt rational sein. Die Zuschreibung von Überzeugungen und
Wünschen bindet Davidson jedoch, wie wir oben gesehen haben, an die
Sprachfähigkeit und an die Bedingung des Selbstbewusstseins. Nicht so Spinoza, für
ihn ist auch eine Seifenblase ein Akteur, ein Modus, ein Vermögensgrad.346
Dies folgt aus dem konsequenten Parallelismus, den Spinoza zwischen den Attributen
Denken und Ausdehnung behauptet. Jeder Idee entspricht ein Körper, jedem Körper
eine Idee. Davidson dagegen übernimmt nur die physikalistische Seite dieses
Parallelismus. Nichts Geistiges, dem nicht etwas Materielles korreliert. Umgekehrt
jedoch behauptet Davidson keinesfalls, dass jedem physikalischen Ereignis ein
geistiges entspricht. Es gibt für Davidson eine Asymmetrie zwischen dem Physischen
und dem Geistigen.347 Jedes geistige Ereignis ist ein physikalisches, aber nicht jedes
physikalische Ereignis ist auch ein geistiges. Dieses Zugeständnis an den
Physikalismus wird bei Davidson noch durch seine Auffassung der Kausalität als
gesetzesartig und seiner These von der Extensionalität dieser Kausalrelation
unterstützt. Geistige Verursachung ist für Davidson intensional, nur unter einer
346
Das Beispiel entnehme ich Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der
Philosophie, S.182.
347
Davidson, „Geistige Ereignisse“, in: Davidson, Handlung und Ereignis, S. 300.
205
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
Beschreibung, das Physikalische wird dagegen als extensional verkauft.348 Spinoza
macht diese Ungleichbehandlung nicht mit, physikalische Verursachung ist genauso
unter einer Beschreibung wie geistige Verursachung. Ausdehnung und Denken sind
Attribute der Substanz, deren Modi sich in diesen Attributen ausdrücken. Dieselbe
Substanz wird unter dem Attribut des Denkens und dem Attribut der Ausdehnung
beschrieben. Aber jedes Attribut genügt sich selbst, wird nur durch sich selbst
begriffen. Nur Geist kann Geist erklären, nur Physisches kann Physisches bewirken.
Wie für Davidson sind Gründe bei Spinoza Ursachen. Erklärung aus Gründen ist immer
auch Kausalerklärung. Jede Erklärung verbleibt jedoch unter einer Beschreibung,
entweder im Attribut Denken oder im Attribut Ausdehnung.
Dies hat einen weiteren Unterschied zur Folge. Davidson erlaubt eine anomale
Verursachung des Physischen durch das Geistige. Ein unter einer physikalischen
Beschreibung stehendes Ereignis kann durch ein intentional beschriebenes Ereignis
ausgelöst werden. Ebenso kann ein als physikalisch beschriebenes Ereignis ein
intentional beschriebenes Ereignis auslösen, wie es bei einer Wahrnehmung der Fall
ist. Genau diese Kausalrelation zwischen Geist und Nicht-Geist wird ihn McDowell
vorwerfen. Spinoza schließt eine solche Relation kategorisch aus. Das Geistige ist
autonom, ebenso das Materielle. Wahrnehmungen sind Wahrnehmungen von Ideen.
Die Ursache einer Wahrnehmung ist nicht ein Körper, sondern die Idee dieses Körpers.
Davidson kann dies nicht zulassen, weil er dann seinen Physikalismus aufgeben
müsste: die Asymmetrie zwischen Geistigem und Materiellem. Davidson hält an dem
Bild fest, dass intentional Handelnde kleine Inseln der Rationalität in einem Meer des
bloß Materiellen sind. Überzeugungen und Wünsche, Intentionen und Bedeutungen
sind letztlich an sprechende Subjekte gebunden. Es gibt nichts Geistiges jenseits des
Menschen. Davidson verharrt in der Subjektphilosophie. Spinoza vertritt einen
universellen Animismus.349 Jedem Körper entspricht eine Idee, sowie jede Idee einem
Körper entspricht.
„Denn was wir bisher gezeigt haben, ist durchaus allgemein gehalten und gilt von
den Menschen nicht mehr als von den übrigen Individuen, die alle – wenn auch
in verschiedenen Graden – beseelt sind. Denn von einem jeden Dinge gibt es
notwendig in Gott eine Idee, deren Ursache Gott ist, ganz ebenso wie es die Idee
des menschlichen Körpers gibt: und daher muss alles, was wir von der Idee des
348
Zur Kritik an dieser Auffassung Davidsons siehe Rorty, „Davidson’s mental-physical
distinctions“, in: Hahn (Hg.), The Philosophy of Donald Davidson, S.475ff.
349
Renée Bouveresse, Spinoza et Leibniz. L’idée d’animisme universel.
206
Appendix: Spinoza über Ausdruck und Immanenz
menschlichen Körpers gesagt haben, notwendig von der Idee eines jeden Dinges
ausgesagt werden.“350
Auch der Mensch ist unter dem Attribut Denken eine Idee. Diese Idee ist zunächst
unbewusst. Es gibt niemanden, der sie hat. Ein Modus unter dem Attribut Denken
besteht nur aus Ideen.351 Erst wenn sich Ideen von Ideen bilden, kann man von
Bewusstsein sprechen. Spinoza behauptet also nicht, dass alles Bewusstsein hat,
denn Geist setzt nicht Bewusstsein voraus, vielmehr setzt Bewusstsein Geist voraus.
Diese Denkprozesse verarbeiten nicht etwas ihnen Fremdes, sondern die ganze Natur
ist ein unbewusster Denkprozess, der einzelne Geister und in einigen Fällen bewusste
Geister als endliche Modifikation dieses Denkens hervorbringt.352
350
Spinoza, Die Ethik, S. 63.
351
Gabriel Tarde drückt diesen Gedanken besser aus. Das Subjekt ist nur, was es hat. Es
geht restlos in seinem Haben auf. Tarde stellt der Philosophie des Seins eine Philosophie
des Habens gegenüber. Man ist, was man hat. Siehe Tarde, Monadologie et Sociologie,
S85ff. Deleuze/Guattari werden den Begriff des Gefüges bilden, um den Gedanken einer
Verkettung von Ideen ohne ein „Ich denke“ Ausdruck zu verleihen. Siehe
Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S.698ff.
352
Das Konzept von subjektlosen Ideen hat heute eine Wiederbelebung in dem Versuch
gefunden, den Darwinismus auf die Kultur zu übertragen. Richard Dawkins, ein
Evolutionsbiologe, entwickelt in seinem Buch Das egoistische Gen die Idee eines zweiten
Replikators, dem Mem. Das Mem ist eine Selbstreplikator, ein Modus in Spinozas Sinne
oder auch eine Monade im Sinne Leibniz’. Dennett verwendet die Idee des Mems um
eine Theorie des Bewusstseins zu konstruieren, in der Meme, zum Beispiel Wörter, dem
bewussten Handeln eines Subjekts vorausgehen und es erst ermöglichen. Siehe
Dawkins, Das egoistische Gen, S.304ff, Dennett, Conciousness explained, S.199ff, sowie
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Ich erkläre: Ich habe die vorgelegte Dissertation selbständig und nur mit
den Hilfen angefertigt, die ich in der Dissertation angegeben habe. Alle
Textstellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten oder nicht
veröffentlichten Schriften entnommen sind, und alle Angaben, die auf
mündlichen Auskünften beruhen, sind als solche kenntlich gemacht.
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