Alle Fachgebiete sind gefordert

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THEMEN DER ZEIT
PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN
Alle Fachgebiete
sind gefordert
Bidirektionale Zusammenhänge zwischen psychischen
und den häufigsten körperlichen Erkrankungen sind
vielfach belegt.
Astrid Bühren, Ulrich Voderholzer, Michael SchulteMarkwort, Thomas H. Loew, Friedrich Neitscher,
Fritz Hohagen, Mathias Berger
Dr. med. Bühren,
Fachärztin für
Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Murnau
Prof. Dr. med.
Voderholzer,
Universitätsklinikum
Freiburg
Prof. Dr. med.
Schulte-Markwort,
Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf
Prof. Dr. med. Loew,
Universitätsklinikum
Regensburg
Dr. med. Neitscher,
Facharzt für Psychiatrie,
Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Euskirchen
Prof. Dr. med. Hohagen,
Universität Lübeck
Prof. Dr. med. Berger,
Universitätsklinikum
Freiburg
E
pidemiologische Untersuchungen sowie Daten der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger weisen darauf hin, dass psychische Erkrankungen in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zugenommen haben. Dies gilt insbesondere
für depressive Störungen. Dass diese
Entwicklung nicht nur für die psychosozialen medizinischen Fachgebiete
– das heißt Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie, Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie für die Psychologischen
Psychotherapeuten und Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeuten –
* Der Beitrag fasst einige der Hauptgedanken des Vortrags „Stärkung und Förderung der psychiatrischen,
psychosomatischen und psychotherapeutischen Kompetenz im ärztlichen Handeln“ vom Deutschen Ärztetag in Magdeburg 2006 zusammen.
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Deutsches Ärzteblatt⏐
von großer Bedeutung ist, sondern
für die gesamte Medizin, soll im
Folgenden erläutert werden*.
Psychische Erkrankungen zählen
weltweit zu den Hauptgründen für
eine langfristige Behinderung. Nach
dem Bericht der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2005 tragen
neuropsychiatrische Erkrankungen
zu 31,7 Prozent aller Lebensjahre
bei, die mit einer Behinderung verbracht werden (1). Die fünf vorrangigen Ursachen waren davon
die unipolare Depression, Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit,
Schizophrenie, bipolare Depression
und Demenz. Vergleiche zwischen
Ländern mit hohem, mittlerem und
niedrigem durchschnittlichem Einkommen zeigen eindrucksvoll, dass
die Bedeutung neuropsychiatrischer
Erkrankungen in den modernen
Industriegesellschaften mit einem
hohen mittleren Einkommen deutlich höher ist als in Ländern mit
einem mittleren niedrigeren Einkommen, bei denen Infektionskrankheiten und durch Fehlernährung bedingte Störungen weiterhin
eine sehr große Rolle spielen.
Nach Hochrechnungen der Weltbank und der US-amerikanischen
Harvard University zum „global
burden of disease“ (2, 3) werden depressive Erkrankungen im Jahr 2020
an zweiter Stelle aller Erkrankungen
stehen, wenn man deren sozioökonomische Bedeutung für die Gesellschaft betrachtet. Epidemiologische Querschnittsuntersuchungen in
Deutschland wie auch weltweit haben wiederholt sehr hohe Prävalenzraten psychischer Störungen nicht
nur im Erwachsenenalter, sondern
auch im Kindes- und Jugendalter
gezeigt (4, 5). Nach den Daten des
Bundesgesundheitssurveys lagen die
Zwölfmonatsprävalenzen psychischer Störungen bei Erwachsenen bei
37 Prozent für Frauen und bei 25,3
Prozent für Männer (4). Am häufigsten sind dabei die affektiven und
Angststörungen, gefolgt von den somatoformen Störungen und Suchterkrankungen (4). Dementsprechend
hoch ist auch der Anteil von Patienten
mit psychischen Erkrankungen innerhalb der gesamten medizinischen
Versorgungssysteme, das heißt zum
Beispiel in der hausärztlichen Praxis,
in internistischen oder Allgemeinkrankenhäusern (5, 6) und in der
Notfallmedizin (7). Auch weisen
Patienten in internistischen Krankenhäusern mit zusätzlicher Depression
eine höhere Liegedauer auf (8). Bei
Kindern und Jugendlichen liegen die
Zwölfmonatsprävalenzraten für psychische Erkrankungen entsprechend
einer Analyse von 19 Studien etwa
zwischen 15 und 22 Prozent (9).
Ob allerdings seelische Erkrankungen zunehmen oder nur verstärkt
wahrgenommen und diagnostiziert
werden, lässt sich mit epidemiologischen Untersuchungen nicht eindeutig belegen. Unterschiede bei den
diagnostischen Kriterien und der
Sensitivität der Messinstrumente
schränken die Aussagen über Veränderungen in der Epidemiologie ein.
Angaben der Rentenversicherungs-
207
THEMEN DER ZEIT
SOZIOKULTURELLE GRÜNDE . . .
. . . für die Zunahme psychischer Erkrankungen
> Kleinere Familien, geringerer familiärer Zusammenhalt
> Erhöhte geografische Mobilität mit Abnahme dauerhafter
sozialer Bindungen
> Veränderte Rollenerwartungen an Frauen und Männer
> Deutlich gestiegene berufliche Anforderungen oder
Arbeitslosigkeit
> Zunehmende Orientierungslosigkeit und Werteverlust
> Mangel an körperlicher Aktivität, Übergewicht, Alkoholund Drogenkonsum
träger (10, Grafik 1) zeigen eine starke Zunahme der Frühberentungen
infolge psychischer Erkrankungen.
Im Jahr 2005 erfolgten bei den
Frauen bereits 39,6 Prozent der Berentungen aufgrund psychischer Erkrankungen, bei den Männern waren es 28,5 Prozent. Bei der Krankmeldungsstatistik haben als einzige
Gruppe die psychischen Erkrankungen zugenommen (11, Grafik 2),
während insgesamt der Krankenstand im Jahr 2007 so niedrig war,
wie schon lange nicht mehr.
Epidemiologische Belege für
den Anstieg von Depressionen
Entwicklung der
Frühberentungsursachen zwischen
1983 und 2005 für
die alten Bundesländer nach Krankheitsgruppen, insgesamt
(Frauen und Männer,
jeweils in Prozent
aller Berentungsursachen)
Auch diese Statistiken belegen nicht
mit letzter Sicherheit, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen
tatsächlich zugenommen hat. Doch
dürften gestiegener schulischer und
beruflicher Leistungsdruck neben einem offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen und eine verbesserte diagnostische Erkennungsrate gemeinsam zu einem Anstieg
der Arbeitsunfähigkeitsfälle und
Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen beigetragen haben. Alles in allem muss man davon
ausgehen, dass zumindest einige
psychische Erkrankungen, wie zum
Beispiel affektive Störungen und
Suchterkrankungen sowie zweifellos
Demenzerkrankungen, in den letzten
Jahrzehnten zugenommen haben und
vermutlich noch weiter zunehmen
werden. Zumindest für eine der häufigsten seelischen Störungen, und
zwar der Depression, gibt es mittlerweile auch eindeutige epidemiologische Belege für einen Anstieg der
Prävalenzraten (12, 13, 14).
Welche gesellschaftlichen Veränderungen könnten zu dieser Entwicklung beigetragen haben? Die
Ursachen seelischer Erkrankungen
sind oft vielfältig und eher selten
monokausal. Genetische Faktoren,
körperliche Erkrankungen und eine
Reihe psychosozialer Faktoren bedingen in unterschiedlichem Ausmaß, je nach Art der Störung, das individuelle Erkrankungsrisiko. Verschiedene Faktoren (siehe Kasten)
könnten dazu beigetragen haben,
dass die Vulnerabilität für seelische
Erkrankungen insgesamt, besonders
aber für depressive Störungen, Persönlichkeitsstörungen, neurotische
Störungen sowie Suchterkrankungen heute erhöht ist.
Die Zunahme psychischer Erkrankungen bedeutet eine Herausforderung für die Gesellschaft, auf
die die Ärzte in den kommenden
Jahren reagieren müssen. Dies gilt
nicht nur für die „Psycho“-fächer,
sondern für die gesamte Medizin.
Dass der Mensch ganzheitlich betrachtet und in der medizinischen
Versorgung sowohl körperliche als
auch seelische und soziale Faktoren
berücksichtigt und in ihrem Zusammenspiel gesehen werden sollten,
wird niemand ernsthaft bezweifeln
wollen, wenngleich die Praxis oft
weit davon entfernt sein dürfte. In
den letzten Jahren mehren sich Veröffentlichungen über methodisch
hochwertige empirische Untersuchungen, die auf eindrucksvolle Weise den Zusammenhang zwischen
psychischen und körperlichen Erkrankungen belegen und gleichzeitig
auch die künftigen Herausforderungen für die Forschung aufzeigen.
Psychische und körperliche
Erkrankungen bedingen sich
Bidirektionale Zusammenhänge
zwischen psychischen und körperlichen Erkrankungen konnten durch
epidemiologische Querschnittsuntersuchungen und Langzeitverlaufsuntersuchungen für mehrere der
häufigsten Erkrankungen belegt
werden. Beispielsweise erhöhen
psychische Erkrankungen das Risiko für koronare Herzerkrankung,
Schlaganfall und Diabetes (15, 16,
17). Osborn und Mitarbeiter (18)
untersuchten den Einfluss schwerer
psychischer Störungen auf das Risiko, später an einer kardiovaskulären
Erkrankung zu sterben, und stellten
ein um mehr als dreifach erhöhtes
kardiovaskuläres Mortalitätsrisiko
für Personen zwischen 18 und 49
Jahren fest, wenn diese an einer
schweren psychischen Erkrankung
litten. In der Framingham-Studie
GRAFIK 1
Prozent der Erwerbsunfähigkeitsrenten aufgrund psychosomatischer Erkrankungen
Psychische
Erkrankungen
40
Herz-KreislaufErkrankungen
20
Neubildungen
10
Atmung
0
1983
208
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
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2003
2005
Stoffwechsel/
Verdauung
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Quelle: Daten der Rentenversicherungsträger www.vdr.de
Bewegungsorgane
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GRAFIK 2
Arbeitsunfähigkeits(AU)-Fälle aufgrund psychischer Erkrankungen
200
In Prozent (Indexdarstellung: 1994 = 100 %)
AU-Fälle
180
160
140
Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK, 2005
(15) konnte gezeigt werden, dass
Personen mit depressiven Symptomen verglichen mit Personen ohne
depressive Symptome ein deutlich
erhöhtes Risiko hatten, in den acht
Jahren nach der Index-Untersuchung einen Schlaganfall zu erleiden.
Mehrfach wurde gezeigt, dass das
Reinfarktrisiko und die Überlebensrate nach Herzinfarkt signifikant
davon beeinflusst werden, ob die
Patienten an einer zusätzlichen Depression leiden oder nicht (19, 20).
Mehrere Faktoren könnten hier
eine Rolle spielen, zum Beispiel der
Einfluss psychischer Störungen auf
die Compliance bei der internistischen Therapie. Im Rahmen der
„heart and soul study“ wurden Patienten mit koronarer Herzerkrankung
gefragt, ob sie ihre Medikamente
eingenommen hatten oder nicht
(21). Von den Patienten, die gleichzeitig an einer Depression litten, hatten 14 Prozent ihre Medikamente
nach eigenen Angaben nicht eingenommen, in der Gruppe ohne Depression dagegen nur fünf Prozent.
Wenn man die Haupt- und Nebensymptome einer depressiven Episode betrachtet, zu denen unter anderem Hoffnungslosigkeit, Antriebsstörungen oder Konzentrationsstörungen zählen, ist es nicht verwunderlich, dass die Compliance bei
der Medikamenteneinnahme sowie
bei der Nachsorge insgesamt durch
eine depressive Störung ungünstig
beeinflusst wird – ein möglicher
Grund für die geringere Langzeitüberlebensrate. Auf der anderen Seite
sind depressive Erkrankungen mit
erhöhtem Stress und dessen körperlichen Folgen wie erhöhter CortisolAusschüttung, Inaktivität und Bewegungsmangel verbunden (20) –
Faktoren, die wiederum ungünstige
Wirkungen auf zum Beispiel kardiovaskuläre Erkrankungen oder Diabetes mellitus haben.
Umgekehrt sind schwere körperliche Erkrankungen wie zum Beispiel
ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall
mit einer hohen Rate sekundärer
psychischer Störungen, vor allem
Depression verbunden (15, 20). Das
Auftreten einer schweren körperlichen Erkrankung ist häufig mit
Ängsten, tief greifender Verunsicherung und gravierenden Folgen für
120
100
80
1994
1995
1996
1997
die Lebensqualität verbunden, die
das Risiko einer über das übliche
normale Ausmaß einer seelischen
Reaktion hinausgehenden psychischen Störung deutlich erhöhen. So
ist zum Beispiel ein Herzinfarkt ein
häufiger und typischer Auslöser für
eine erstmalig auftretende schwere
depressive Episode.
Dabei muss betont werden, dass
solche empirisch gesicherten bidirektionalen Zusammenhänge nicht
für alle Erkrankungen gleichermaßen gesichert sind. Beispielsweise konnte – anders als bei koronarer
Herzerkrankung – bislang kein Einfluss psychischer Erkrankungen auf
das krebsbedingte Mortalitätsrisiko
beziehungsweise auf den Langzeitverlauf von Tumorerkrankungen
empirisch belegt werden (18). Allerdings ist die Lebensqualität von
Tumorpatienten stark davon beeinflusst, ob eine depressive Störung
vorliegt oder nicht (22).
Die unmittelbare Schlussfolgerung aus diesen Daten ist, dass die
Therapie psychischer Erkrankungen
eine wichtige Präventionsmaßnahme
auch für die körperliche Gesundheit
darstellt und die Therapie sekundärer
psychischer Erkrankungen im Gefolge schwerer körperlicher Erkrankungen von großer Bedeutung für deren
langfristigen Therapieverlauf ist.
Leider liegen bislang noch zu wenige
kontrollierte Studien vor, die sich mit
den Effekten psychiatrisch-psychotherapeutischer beziehungsweise
psychosomatisch-psychotherapeuti-
1998
1999
2000
2001
2002
scher Behandlung seelischer Erkrankungen, die im Rahmen körperlicher
Erkrankungen aufgetreten sind, befasst haben. Hier müsste dringend
untersucht werden, ob und welche
Therapieformen psychischer Störungen bei körperlichen Erkrankungen
effektiv sind und günstige Auswirkungen auf den Verlauf der körperlichen Erkrankung haben. Am Beispiel des Diabetes zeigte ein Review
bisheriger kontrollierter Studien, die
die Effekte psychologischer Therapien auf den Diabetes untersucht haben, dass hierdurch bei Kindern und
Jugendlichen die Blutzuckereinstellung verbessert werden konnte, nicht
aber bei Erwachsenen (23). Insgesamt gibt es aber noch zu wenige Studien, um klare Aussagen über den
Nutzen solcher Therapien und auch
deren erforderliche Intensität machen zu können. Diese Forschungslücke sollte in den kommenden Jahren geschlossen werden.
2003
2004
Im selben Zeitraum ist eine
Abnahme von
AU-Fällen bei
Erkrankungen des
Atmungssystems,
Verdauungssystems, Muskel-,
Skelett- und Bindegewebes zu verzeichnen. Ähnliche
Entwicklungen
konnten auch
anhand der Daten
der DAK und der TK
gezeigt werden.
Probleme in der Versorgung
Zahlreiche Faktoren tragen dazu bei,
dass psychische Erkrankungen vielfach noch zu selten und zu spät erkannt und nicht ausreichend behandelt werden. Untersuchungen in der
primärärztlichen Versorgung haben
gezeigt, dass ein relevanter Anteil
körperlicher Beschwerden, wie etwa
Schmerzen, Müdigkeit und Schwindel, medizinisch nicht erklärt werden
kann (24). Medizinisch nicht erklärbare körperliche Symptome und Syndrome (25, 26) weisen eine hohe As-
209
THEMEN DER ZEIT
soziation mit psychischen Erkrankungen auf, wenngleich bei einem
Teil der Betroffenen auch keine psychische Erkrankung vorliegt. Einer
der Gründe für die zu seltene und späte Diagnostik einer psychischen
Störung ist die Stigmatisierung seelischer Erkrankungen, die für Betroffene oft mit Scham und dem Gefühl der
Minderwertigkeit verbunden sind
und dazu führen können, dass Symptome verschwiegen oder verheimlicht werden und eine Behandlung
abgelehnt wird (27, 28). Aber auch
die geringe Honorierung eines ausführlichen Gesprächs, welches nachgewiesenermaßen die Erkennungsrate psychischer Störungen in der
Primärversorgung erhöht (29), verglichen mit apparativen Leistungen,
trägt dazu bei, dass viele psychische
Störungen unerkannt bleiben. Viele
in der Primärversorgung tätigen Ärzte haben außerdem zu wenig Zeit,
sich ausführlich mit dem Patienten zu
unterhalten und zum Beispiel eine
psychosoziale Anamnese zu erheben.
Dabei hat eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im
Dezember 2005 gezeigt, dass Patienten es bei Ärzten am allerwichtigsten empfinden, dass sie menschlich
sind und auf ihre Patienten eingehen,
noch wichtiger, als auf dem neuesten
wissenschaftlichen Stand zu sein.
Der enorme Kostendruck der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und
die vergleichsweise geringe Honorierung von Gesprächsleistungen
sind vielleicht Gründe dafür, dass in
Deutschland die Inanspruchnahme
komplementärer/alternativmedizinischer Maßnahmen (zum Beispiel
von Heilpraktikern) deutlich höher
ist als in anderen Ländern (30).
Kampf dem Ärztemangel
Die psychosozialen Fächer selbst
werden in den nächsten Jahren mit
dem Ärztemangel zu kämpfen haben,
der in allen Fachgebieten droht und
sich auch auf diese Fächer auswirken
wird. Nach gegenwärtigen Hochrechnungen wird zum Beispiel die
Zahl niedergelassener Nervenärzte
im Laufe der nächsten zehn Jahre bedrohlich abnehmen. In einigen Regionen, wie zum Beispiel in ländlichen Regionen der neuen Bundesländer, ist die Relation von Nervenärzten
beziehungsweise ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten und
der zu versorgenden Bevölkerung bereits jetzt deutlich zu niedrig.
Die wichtigsten Konsequenzen
für die Zukunft, die von der gesamten Ärzteschaft als Aufgabe gesehen
werden müssen, sind daher:
> Maßnahmen zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen
in der Bevölkerung und innerhalb
der Versorgungssysteme
> Maßnahmen zur Verbesserung
der Aus-, Weiter- und Fortbildung
im Bereich der psychiatrischen und
psychosomatischen Erkrankungen
auch in allen somatischen Fachgebieten. Zum Beispiel durch eine verbesserte Ausbildung in der Diagnostik
sowie in kommunikativen Kompetenzen, Förderung der Weiterbildung
in fachgebundener Psychotherapie
für Ärzte aller Fachgebiete
> stärkere finanzielle Förderung
der sprechenden Medizin, das heißt
von Gesprächsleistungen im Rahmen der GKV-Versorgung
> verstärkte Forschungsförderung für Diagnostik und Epidemiologie psychischer Erkrankungen im
Zusammenhang mit körperlichen
Erkrankungen sowie gezielte Therapieforschung.
Schließlich ist von der Politik
und den Krankenkassen zu fordern,
die finanziellen Verpflichtungen für
den – wesentlich auch demografisch
und gesellschaftlich bedingten –
Morbiditätsanstieg psychischer Erkrankungen zu übernehmen.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2008; 105(17): A 880–4
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Astrid Bühren
Hagenerstraße 31
82418 Murnau
E-Mail: [email protected]
@
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit0508
REFERIERT
THERAPIEERFOLG
Bereitschaft zur Verhaltensänderung Voraussetzung
Der Therapieerfolg wird von der Änderungsbereitschaft der Patienten beeinflusst. Zu
diesem Ergebnis kamen jetzt australische
Psychologen, die 248 Patienten nach den
Vor- und Nachteilen von Verhaltensänderungen infolge einer Psychotherapie befragten.
Die Patienten litten an Angststörungen und
Depressionen und wurden ambulant mit
Gruppen- oder Einzeltherapie behandelt.
Durch die Befragung konnten vier Patiententypen ermittelt werden: Typ 1 („Optimisten“)
versprach sich nur Vorteile von Verhaltensänderungen und glaubte fest an die eigene
210
Wandlungsfähigkeit. Patienten vom Typ 2
(„Ambivalente“) waren sich der Vor- und
Nachteile gleichermaßen bewusst. Typ 3
(„Indifferente“) erwarteten weder Vor- noch
Nachteile, und Typ 4 („Pessimisten“) sahen
für sich nur Nachteile durch Verhaltensänderungen. „Die größten Behandlungserfolge erzielten die Ambivalenten“, so die Wissenschaftler. Die Ambivalenten hatten die differenziertesten Sichtweisen von Erkrankung
und Therapie, sie akzeptierten ihre Selbstverantwortlichkeit und rechneten auch mit
Rückschlägen. Daher konnten sie mit
Schwierigkeiten in der Therapie besser umgehen und langfristig größere Erfolge erzielen. Im Gegensatz dazu machten Optimisten
den Fehler, dass sie zu hohe, unrealistische
Erwartungen hegten, sich selbst überschätzten und angesichts von Schwierigkeiten zu
schnell aufgaben. Indifferenten und Pessimisten fehlte es hingegen hauptsächlich an
der Motivation, sich zu ändern.
ms
McEvoy P, Nathan P: Reconsidering the value of ambivalence for psychotherapy outcomes. Journal of Clinical
Psychology 2007; 12: 1217–29.
Peter McEvoy, Clinical Research Unit for Anxiety and Depression, St. Vincent’s Hospital, 299 Forbes Street, Darlinghurst, Sydney, NSW 2010 Australia. E-Mail: p.mcevoy
@unsw.edu.au
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THEMEN DER ZEIT
LITERATURVERZEICHNIS PP 5/2008, ZU:
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Alle Fachgebiete sind gefordert
Bidirektionale Zusammenhänge zwischen psychischen und den häufigsten
körperlichen Erkrankungen sind vielfach belegt.
Astrid Bühren, Ulrich Voderholzer, Michael Schulte-Markwort, Thomas H. Loew,
Friedrich Neitscher, Fritz Hohagen, Mathias Berger
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