SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst Großes Genie, kleine Welt: Søren Kierkegaard Autorin: Barbara Zillmann Redaktion: Ralf Kölbel Regie: Tobias Krebs Erst-Sendung: Freitag, 3. Mai 2013, 8:30 Uhr, SWR2 Wissen Wiederholung: Freitag, 25. Juli 2014, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Manuskripte für E-Book-Reader E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. 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Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 MANUSKRIPT Musikklänge Zitator: In unserer Zeit glaubt man, das Wissen gebe den Ausschlag, und wenn man nur die Wahrheit zu wissen bekomme, je kürzer und geschwinder, je besser, so sei einem geholfen. Aber Existenz ist etwas ganz anderes als Wissen. Ansage: „Großes Genie, kleine Welt: Søren Kierkegaard“. Eine Sendung von Barbara Zillmann. O-Ton – Michael Bongardt: Also ich habe sehr bald, als ich Kierkegaard zunächst eher zufällig begegnet bin, gemerkt, dass mich seine Art zu denken, sehr anspricht, dass er ein unglaublich guter Menschenkenner ist. O-Ton – Robert Zimmer: Für mich ist Kierkegaard vor allem eben der Philosoph der Individualität, er sagt dazu Subjektivität, also der Philosoph der individuellen Selbstverwirklichung. O-Ton – Christian Wiebe: Bei mir ging das Interesse einerseits stark von der Sprache aus, eine Faszination, das andere, was mich immer noch fasziniert, ist das enorme Einfühlungsvermögen in psychische Vorgänge, die ungewöhnlich präzise Darstellung solcher Situationen. Autorin: Ein Theologe, ein Philosoph und ein Literaturwissenschaftler über den dänischen Denker Søren Kierkegaard, der hierzulande wenig bekannt ist, aber viele Wissenschaften inspiriert hat. Am 5. Mai 1813 kam er als siebtes und jüngstes Kind eines frommen Kaufmanns zu Welt. Der Vater war mit der Herstellung von Wollwaren, mit Strümpfen, Handschuhen, Mützen zu Wohlstand gelangt; Søren ist ein zartes, weinerliches Kind und wird doch die meisten seiner Geschwister überleben. Als Student der Philosophie und Theologie lebt er vom Geld des Vaters, nach dessen Tod von seinem Erbe. Der Philosoph Robert Zimmer: O-Ton – Robert Zimmer: Søren Kierkegaard wird ja auch bezeichnet als der Sokrates von Kopenhagen, weil er sein ganzes Leben in dieser Kleinstadt verbrachte – Kopenhagen war damals eine Stadt von 40.000 Einwohnern, in der die Bildungseliten und die höheren Stände, zu denen er ja auch zählte, sich alle gegenseitig kannten. O-Ton – Michael Bongardt: Kierkegaard hat zunächst mal ein Leben als stadtbekannter Dandy in Kopenhagen geführt. Es gab Kneipen – heute würde man sagen Clubs – in denen man sich traf, junge Erwachsene, die ihre Freude daran hatten, sich über alles und jedes zu erheben, indem sie es lächerlich machten, Kierkegaard war ein Meister des 2 Sarkasmus und des zynischen Spotts über alles und jeden – hat sich feiern lassen als hochintelligenten Menschen, der alles sofort durchschaut und niedermachen kann. Autorin: Und das tut er auch, weiß der Theologe und Ethikprofessor Michael Bongardt. Kierkegaard legte sich mit der Staatskirche an, mit selbstgefälligen, saturierten Bürgern, aber auch mit seiner eigenen Zunft, den Philosophen. O-Ton – Robert Zimmer: Ich denke, für die Kopenhagener Bildungselite war er am Schluss so etwas wie der verlorene Sohn, aber er war natürlich nicht jemand, der von außen kam, sondern der von innen kam, der alle Leute gut kannte, teilweise mit Namen nannte in seinen Schriften, teilweise auch mit Anspielungen, die natürlich jeder verstand. Musikklänge Zitator: Dieses Galerie-Publikum sucht nun den Zeitvertreib. Vornehm sitzt die Trägheit mit übergeschlagenen Beinen da, und jeder, der arbeiten will, der König und der Lehrer des Volkes, der Dichter und der Künstler, alle werden gleichsam vorgespannt, um diese Trägheit vorwärts zu schleppen, die vornehm glaubt, die anderen wären die Pferde. Autorin: Früh schlägt Kierkegaard in kleinen "literarischen Anzeigen" sein Grundthema an: die Rolle des Einzelnen im Verhältnis zur Masse, in der sich viele auch gern verstecken. Im Kulturbetrieb werde das "Publikum" zu einem solchen Versteck und zu einer nivellierenden Macht – und sei doch eigentlich nur ein Phantom. In einer hellsichtigen Satire schreibt er 1846: Musikklänge Zitator: Publikum ist alles oder nichts. Man kann in Publikums Namen zu einer ganzen Nation sprechen, und doch ist Publikum weniger als ein einziger noch so geringer wirklicher Mensch. Publikum ist das Märchen des Zeitalters des Verstandes, welches die einzelnen dazu erhebt, noch mehr zu sein als König eines Volkes. Indes je weniger Idee in einer Zeit ist, je mehr eine Zeit, von aufflackernder Begeisterung ermattend, sich in Indolenz, in Unempfindlichkeit ausruht, desto leichter wird die Nivellierung zur verderblichen Lust werden, zu einem Sinnenreiz, der einen Augenblick lang kitzelt und das Böse nur schlimmer macht. Autorin: Lust, Sinnenreiz, Gut und Böse. Auch über Liebe und Erotik schreibt Kierkegaard eine freche Schrift. Sie ist Teil seines Hauptwerkes "Entweder – Oder", wird aber auch separat veröffentlicht. Michael Bongardt: O-Ton – Michael Bongardt: Das einzige Buch, mit dem Kierkegaard Zeit seines Lebens Geld verdient hat, alles andere musste er bezahlen, weil es sich nicht verkaufte: das "Tagebuch des 3 Verführers". Ein kleines Buch, in dem ein Mann beschreibt, wie er es genießt, eine Frau Schritt für Schritt zu verführen und wie er dann in dem Moment, wo ihm das dann gelungen ist, er sie also ins Bett bekommen hat, sie fallenlässt, weil sein Genuss die Verführung ist und gar nicht so sehr die Sexualität und nicht das Zusammensein mit einer Frau, sondern er genießt sich als Verführer. Musikklänge Autorin: Jemand auf der Pirsch, der nicht anders kann als schöne junge Frauen zu beobachten. Zu umwerben. Und abzuwerben. Zitator: Recht so, entschlossen und machtvoll, das rechte Bein vor das linke. Wie sieht sie sich kühn und keck um in der Welt. Sehe ich recht, sie hat ja einen am Arm, also verlobt. Lass sehen mein Kind, welch ein Präsent für dich an des Lebens Weihnachtsbaum gehangen hat. Das sieht nach einem soliden Bräutigam aus. Sie liebt ihn – schon möglich. Jedoch ihre Liebe umflattert ihn weit und geräumig, lose, sie besitzt noch jenen Mantel der Liebe, der viele decken kann. Autorin: Die flotte Beschreibung eines erotischen Draufgängers täuscht nicht darüber hinweg, dass Kierkegaard selbst in Liebesdingen unter Skrupeln litt. Die Verlobung mit einer zehn Jahre jüngeren Frau, Regine Olsen, löste er nach nur einem Jahr – er scheue sich vor einer festen Bindung und fürchte, die Geliebte unglücklich zu machen. Den tragischen Verlauf erlebt Kierkegaard als persönliches Scheitern. Nun beginnt er, die schweren Seiten seiner Existenz zu erforschen. Etwa in der Kindheit. Zitator: Hier liegt meines Lebens Schwierigkeit. Ich bin von einem Greis ungeheuer streng im Christentum erzogen worden, deshalb ist mein Leben mir furchtbar verwirrt worden. Deshalb bin ich in Kämpfe gestoßen worden, an die niemand denkt, geschweige denn darüber spricht. Autorin: Der Greis ist sein Vater Michael Pedersen Kierkegaard. Als kleiner Junge wird Søren streng religiös erzogen und erlebt, wie sein Vater unter zerstörerischen Schuldgefühlen leidet. Er habe vor Gott gesündigt, einmal zum Beispiel verfluchte er als kleiner Hüte-Junge Gott mitten auf dem Feld und später begann er ein Verhältnis mit einer Magd. Sie wurde zwar seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder, aber so etwas wie Glück kann der schwermütige Mann nicht annehmen. 1819, da ist Søren 6 Jahre alt, beginnt eine tragische Phase im Leben der Familie: Bis auf einen Bruder sterben alle Geschwister und die Mutter. Der Vater weiht Søren in seine düsteren Fantasien ein: Dies sei ein Fluch Gottes, keins seiner Kinder könne älter als 34 Jahre werden – wie Jesus. Zitator: Bereits in der frühesten Kindheit hatte ich mich an Eindrücken überhoben, unter denen der schwermütige Greis, der sie mir auferlegt hatte, selbst zusammenbrach. 4 Autorin: … schreibt Kierkegaard in seiner posthum erschienenen Schrift "Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller". Erst nach dem Tod des Vaters kann er dem religiösen Wahn entkommen. Und hat bis dahin einen hohen Preis gezahlt: Musikklänge Zitator: Ich habe keine Unmittelbarkeit gehabt und habe daher, ganz menschlich betrachtet, nicht gelebt. Ich habe sofort mit der Reflexion begonnen, ich habe, als ich älter wurde, nicht "ein wenig Reflexion gesammelt", sondern eigentlich bin ich Reflexion von Anfang an. O-Ton – Robert Zimmer: Kierkegaards Philosophie ist eine radikale Philosophie des Einzelnen. Søren Kierkegaard ist ein großer Wachrufer innerhalb der Philosophiegeschichte, der uns klarmacht, dass es nicht nur darum geht zu denken, sondern leben zu lernen und eine eigene Existenz zu führen. Er ist der erste große Philosoph der Existenz der Moderne. Autorin: Abstrakte Theorien, sagt der Philosoph Robert Zimmer, seien für Kierkegaard immer unwichtiger geworden; er setzte sich ab von der Geschichtsphilosophie Friedrich Hegels, die damals im Bildungsbürgertum Allgemeingut war: Hegel glaubte an einen "Weltgeist", der sich im Laufe der Geschichte durchsetzen würde, hin zu einer besseren Zukunft. O-Ton – Robert Zimmer: Für Kierkegaard war immer die Frage, die er an Hegel richtete: Ja, was passiert denn mit dem Einzelnen? Ist das nur ein Opfer, ist das nur ein Zahnrädchen, ein Mitläufer in dieser sogenannten notwendigen geschichtlichen Entwicklung, wo kommt der Einzelne bei dir vor, der verschwindet in diesem pompösen Gebäude des Geschichtsoptimismus, in dieser Entwicklung – wo ist der? O-Ton – Michael Bongardt: Er möchte zunächst verstehen, worin eigentlich die Existenz des Menschen – und das ist für ihn immer auch die Not des Menschen – besteht und will dann aufzeigen, wo er Möglichkeiten sieht, für diese Not Hilfe zu bekommen. Und das sind nie die großen philosophischen Systeme. O-Ton – Robert Zimmer: Das Thema ist eigentlich Verwirklichung des Selbst, Selbstverwirklichung des Einzelnen. In Freiheit, Freiheit ist ein ganz zentraler Begriff der Existenzphilosophie – Freiheit von Bindungen und Freiheit für eine neue Bindung, die man eingeht, und zwar auf Grund eigener Entscheidung, durch die eigenständige Wahl einer Lebensform. Das Gefühl sozusagen, in die Welt geworfen zu sein und etwas machen zu müssen aus seinem eigenen Leben. 5 O-Ton – Michael Bongardt: Für ihn ein ganz zentraler Begriff ist der Begriff der Selbstwahl. Ich wähle mich selbst, das heißt für ihn, ich erkenne, dass ich ein Mensch bin, der die Freiheit hat, darüber zu bestimmen, was im eigenen Leben wichtig ist, was nicht wichtig ist. Dass ich das kann, ist das eine. Was wichtig ist: dass ich mich auch entscheide, diese Aufgabe zu übernehmen. Autorin: Das ist der Kern von Kierkegaards Hauptwerk "Entweder-Oder". Darin entfaltet er – unter zwei verschiedenen Pseudonymen – zwei unterschiedliche Lebensmodelle. Der Mensch könne sich entscheiden zwischen einer, wie Kierkegaard es nennt, ästhetischen Lebensweise, die nach Genuss und Schönheit des Augenblicks strebt, sich aber im Möglichen einrichtet und treiben lässt, und auf der andern Seite einer ethischen Lebensweise, in der es um Nachhaltigkeit und Verantwortung geht. Nachdem der Mensch sein innerstes Bedürfnis, seine Talente und Bestimmung erkannt hat, ganz für sich allein. Diesen Augenblick der Selbsterkenntnis stilisiert Kierkegaard zu einem mystischen Moment, einer Begegnung mit dem Göttlichen: Musikklänge Zitator: Wenn da um einen her alles still geworden ist, feierlich gleich einer sternenklaren Nacht, wenn die Seele allein ist in der ganzen Welt, da zeigt sich vor ihr nicht ein hervorragender Mensch, sondern die ewige Macht selbst, da tut sich der Himmel gleichsam auf, und das Ich wählt sich selbst, oder richtiger, es empfängt sich selbst. Da hat die Seele das Höchste geschaut, da empfängt die Persönlichkeit den Ritterschlag, der sie für eine Ewigkeit adelt. Denn das Große ist nicht, dies oder das zu sein, sondern man selbst zu sein. Und das vermag ein jeder Mensch, so er will. Autorin: Søren Kierkegaard entwirft zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine subjektive Religiosität, die viel Philosophie enthält und auch für Atheisten bekömmlich ist. Er grenzt sich ab von der Glaubenspraxis und den Autoritätsverhältnissen bei Protestanten wie Katholiken. Die dänische Staatskirche sei zu sehr mit den Interessen des Königshauses und der reichen Bürger verwoben, die wirklich Bedürftigen gingen leer aus. Zitator: Der Unterschied zwischen dem Theater und der Kirche ist, dass sich das Theater ehrlich und redlich zu dem bekennt, was es ist. Die Kirche dagegen ist ein Theater, das unredlich in jeder Weise zu verbergen sucht, was es ist. Autorin: Kierkegaard definiert seinen Glauben, der ihm im Elternhaus verleidet wurde, noch einmal neu. Den Schuldgefühlen und der Sündenangst setzt er Gottvertrauen entgegen; Angst sei eine Grundbefindlichkeit des Menschen, die mit der Freiheit zusammenhänge: 6 O-Ton – Michael Bongardt: Und für dieses Vertrauen ist dann für ihn wieder der christliche Hintergrund wichtig. Ein glaubender Mensch braucht deshalb keine Angst zu haben, weil diese Möglichkeiten, die vor ihm liegen, Möglichkeiten sind, die Gott ihm geschenkt hat, und er sicher sein darf, dass er aus dieser Beziehung nicht herausfallen wird. Zitator: Jede tiefe und innerliche Selbsterkenntnis geschieht unter göttlicher Leitung. O-Ton – Robert Zimmer: Dieser Gott ist eigentlich nur noch ein Name für die selbstbestimmte Lebensform des Individuums. Musikklänge Autorin: Wie konnte der "Dichterphilosoph", wie er gern genannt wird, den Facettenreichtum seiner Gedanken den Lesern vermitteln? Søren Kierkegaard hat eine Fülle kleiner und größerer Schriften verfasst, die – mit Ausnahme seiner Predigten – alle die gleiche Methode haben. O-Ton – Christian Wiebe: Die meisten ästhetisch-philosophischen Schriften sind ja gar nicht unter dem Namen Søren Kierkegaard erschienen, sondern unter Namen von Pseudonymen, die Kierkegaard gewählt hat, und ein anderes Pseudonym könnte etwas ganz anderes dazu sagen. Darauf muss man immer gefasst sein, dass ein anderer Blick möglich wird und das bisher Gedachte unterläuft. O-Ton – Robert Zimmer: Kierkegaard war der Meinung, dass man die Lebensprobleme nicht theoretisch lösen kann, sondern dass man sie sozusagen vorführen muss wie ein Theaterstück auf der Bühne. Er entwirft wie ein Dramendichter seine Verfasser, die etwas vorführen, Wahlmöglichkeiten lassen sich anbieten. Und daher rührt diese eigenartige Weise des Schreibens, dass Søren Kierkegaard keine philosophischen Traktate schreibt, sondern dass er quasi dichterisch die Werke schreibt und pseudonyme Verfasser kreiert. Musikklänge Autorin: Da schreiben etwa Johannes de Silentio oder Constantin Constantius. Johannes Climacus verfasste die "Philosophischen Brocken". Das Hauptwerk "Entweder-Oder" entwarf ein Victor Eremita – und lässt zugleich noch weitere fiktive Autoren zu Wort kommen. Über den "Begriff der Angst" schrieb Vigilius Haufniensis, und die autobiografischen "Stadien auf des Lebens Weg" ein sogenannter Hilarius Buchbinder. Ein Spiel mit witzigen Pseudonymen, das es Kierkegaard erlaubt, wenig fassbar zu bleiben. Und dennoch sehr intime Regungen auszudrücken. Er legt Wert darauf, keine Helden zu kreieren und keine Rezepte zu geben. 7 Ironie und Verfremdung sind beliebte Stilmittel, die ihn auch isolieren. Am Ende seines Lebens steht Søren Kierkegaard alleine da. Er trauert seiner ersten Liebe Regine Olsen nach, die inzwischen geheiratet hat. Das abgeschlossene Studium der Theologie führte ihn nicht ins Pfarramt, seine philosophische Promotion nicht in eine akademische Karriere. Er schrieb seine Werke wie ein Besessener in wenigen Jahren und zog sich dazu immer wieder nach Berlin zurück, in ein kleines Zimmer nahe dem Gendarmenmarkt und der Humboldt-Universität. Wenn er zurückkam, begegnete ihm Spott. O-Ton – Michael Bongardt: Es gab damals die Zeitschrift, den Korsaren, den man vielleicht bisschen mit dem heutigen Titanic vergleichen kann, also so eine Satirezeitung, in der er anfangs als Autor mitgearbeitet hat, und nach einem Streit mit dem Herausgeber des Korsaren wurde er dann selbst zum Lieblingsspottobjekt in dieser Zeitung. Es gibt eine Reihe Karikaturen, die besonders herausheben, dass er einen kleinen Buckel hat, dass seine Beine nicht gleich lang waren, und das wird natürlich genüsslich ausgeschlachtet. O-Ton – Robert Zimmer: Er wusste, dass er nicht nur für die Kopenhagener der 40er- und 50er-Jahre des 19. Jahrhunderts schrieb, sondern für die Nachwelt schrieb, und er hatte ja Recht, 70 Jahre später wurde er vor allem in Deutschland entdeckt, und da begann seine große Karriere in der Philosophiegeschichte. O-Ton – Michael Bongardt: Er hat also mit einer unglaublichen Anspannung gelebt, gearbeitet, es gibt Zeichnungen von ihm, die wohl die Realität durchaus treffen, dass er nachts beim Kerzenschein am Schreibtisch sitzt und seine Füße in eine Wanne mit kaltem Wasser hat, um nicht einzuschlafen, und so Geschichten, also da steckt eine Wahnsinnsenergie drin, er ist ja in dem Moment als 42-Jähriger gestorben, indem gleichzeitig sein Körper nicht mehr konnte, er, ich würde sagen das, was er philosophisch und theologisch zu sagen hatte, gesagt hat, und das Vermögen seines Vaters aufgebraucht war. Also für die Beerdigungskosten musste schon sein Bruder aufkommen, weil von dem Vermögen nichts mehr da war. Musikklänge Autorin: Das war im November 1855. Mit 42 Jahren erlag der dänische Dichter einem Nervenleiden. In seiner posthum erschienenen Schrift "Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller" schreibt er: Zitator: Das Märtyrium, das dieser Schriftsteller litt, lässt sich kurz folgendermaßen beschreiben: Er litt daran, ein Genie in einer Kleinstadt zu sein. O-Ton – Robert Zimmer: Søren Kierkegaard war nach seinem Tod zunächst einmal für Jahrzehnte vergessen. Erst zu Beginn es 20. Jahrhunderts hat man ihn dann wiederentdeckt. Und zunächst haben ihn die deutschen Existenzphilosophen wiederentdeckt, vor allem eben Martin 8 Heidegger, der ihn gelesen hat zu einer Zeit, als Kierkegaard sonst nicht gelesen wurde. Auch Jaspers hat Kierkegaard schon sehr früh gelesen, über die deutschen Existenzphilosophen kam er dann nach Frankreich. Und dort war es vor allem natürlich Jean-Paul Sarte und Albert Camus, die Kierkegaard gelesen haben und von ihm beeinflusst wurden. Autorin: Christian Wiebe hat die frühe Rezeption im deutschsprachigen Raum untersucht. "Der leidenschaftliche, tiefe, witzige Kierkegaard" heißt sein gerade erschienenes Buch, das zeigen will, wie unterschiedlich der Däne mehr als 50 Jahre nach seinem Tod in Deutschland gelesen wurde. O-Ton – Christian Wiebe: Das wäre auch eine alte These der Kierkegaard-Forschung, Kierkegaard ist ein Autor für Krisenzeiten – das können persönliche oder gesellschaftliche sein, so dass Kierkegaard während der Zeit des Ersten Weltkriegs für viele Menschen interessant wurde. Autorin: Aber auch der Philosoph Ernst Bloch bezieht sich in seinem Werk "Geist der Utopie" auf Kierkegaard. Weniger inhaltlich, eher methodisch. O-Ton – Christian Wiebe: Der entscheidende Impuls ist, wenn ich als Mensch zur Wahrheit kommen will, dann ist das etwas, was mich angeht, ich kann gar nicht davon abstrahieren, sondern ich muss mich in eine Beziehung dazu setzen. Und genau diese Denkhaltung ist das, was Ernst Bloch an Kierkegaard interessiert hat. Eine Philosophie zu entwickeln, die eben nicht Geschichtsphilosophie ist, die nicht objektiv ist, sondern die sich stets bewusst ist, dass die Probleme, die sie verhandelt, die eigenen Probleme sind. Autorin: Impulse für eine Erkenntnistheorie, die den persönlichen Standpunkt des Denkers in den Blick rückt. Wie es Kierkegaard bereits 1843 tat: Zitator: Es kommt nicht nur darauf an, was man sieht, sondern was man sieht, hängt davon ab, wie man sieht. Autorin: Breiter beachtet wird Kierkegaard als Inspirator der modernen Existenzphilosophie, vertreten in Deutschland durch Martin Heidegger und in Frankreich durch Jean-Paul Sartre. Die Elemente der Angst, der Grenzsituation, der Verzweiflung werden hier aufgenommen. O-Ton – Christian Wiebe: Bei Sartre ist es ja immer der Blick auf solche Randsituationen: die Menschen kurz vor ihrer Hinrichtung oder die Menschen im geschlossenen Raum, dieses berühmte Drama, wo sie nicht heraus können. Es sind extreme Randsituationen – das findet sich nicht in dieser Schärfe, aber das ist angelegt im Denken bei Kierkegaard. 9 Autorin: Søren Kierkegaard, der Krisenphilosoph und dichtende Denker, hat Gefühle und Erfahrungen der menschlichen Existenz auf neue Weise beschrieben. Er hat das Tor zu einer modernen Theologie geöffnet, Erkenntnisse der Psychologie vorbereitet durch präzise Skizzen persönlicher Wirrnisse, er hat die Philosophie von der jahrtausendealten Vorstellung befreit, es müsse eine objektive, für alle gültige Wahrheit geben. Schließlich kommen seine Thesen den Erkenntnissen der Hirnforschung nahe: Jeder Mensch gestaltet seine Entwicklung, er wird das, was er lebt. Und was und wie er lebt, hängt davon ab, was ihn im Innersten berührt. Auch für Menschen von heute lohnt es sich daher, Kierkegaard zu lesen. Robert Zimmer, der in seinem Buch "Das Philosophenportal" viele wichtige Denker porträtiert hat, trifft bei der Kierkegaard Rezeption auf ein sehr aktuelles Problem: O-Ton – Robert Zimmer: Eigentlich braucht man die Existenzphilosophen nicht mehr, also Heidegger und Sartre, die haben das meiste sowieso geklaut bei Kierkegaard. Also alles, was an der Existenzphilosophie wichtig ist, was für mich an der Existenzphilosophie wichtig ist, das find ich nämlich schon dort. Autorin: Auch Christian Wiebe und der Theologe Michael Bongardt sehen bei dem dänischen Philosophen Impulse, die bis heute reichen: O-Ton – Christian Wiebe: Dass man die eigenen Subjektivität ernstnimmt, die eigenen Entscheidungen ernstnimmt, die sind wichtig bei Kierkegaard, da kann man noch ganz viel lernen, die eigene Subjektivität beim Schopfe zu packen und ernstzunehmen. O-Ton – Michael Bongardt: Er versucht sich etwas herbei zuschreiben, was er nicht kennt. Und vielleicht gehört das auch zur Tragik seiner Person. Dass er in dieses Gleichgewicht, das er immer wieder so als Ziel menschlichen und christlichen Lebens beschrieben hat, selbst nie reingefunden hat. Und es ist ja fast schon ein bisschen gemein zu sagen, gerade deshalb kann man so viel von ihm lernen. Musikklänge Zitator: Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen verbirgt, aber dessen Lippen so beschaffen sind, dass es wie schöne Musik klingt, wenn ihnen Seufzer und Schreie entströmen. ***** 10