Großes Genie, kleine Welt: Søren Kierkegaard

Werbung
SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen – Manuskriptdienst
Großes Genie, kleine Welt: Søren Kierkegaard
Autorin: Barbara Zillmann
Redaktion: Ralf Kölbel
Regie: Tobias Krebs
Erst-Sendung: Freitag, 3. Mai 2013, 8:30 Uhr, SWR2 Wissen
Wiederholung: Freitag, 25. Juli 2014, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula
(Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in
Baden-Baden für 12,50 € erhältlich.
Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030
SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2
Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören:
http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml
Manuskripte für E-Book-Reader
E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. Ab sofort gibt es auch die Manuskripte
von SWR2 Wissen als E-Books für mobile Endgeräte im so genannten EPUB-Format. Sie
benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen
der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für
die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser
wie z.B. Firefox gibt es auch so genannte Addons oder Plugins zum Betrachten von EBooks.
http://www1.swr.de/epub/swr2/wissen.xml
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
1
MANUSKRIPT
Musikklänge
Zitator:
In unserer Zeit glaubt man, das Wissen gebe den Ausschlag, und wenn man nur die
Wahrheit zu wissen bekomme, je kürzer und geschwinder, je besser, so sei einem
geholfen. Aber Existenz ist etwas ganz anderes als Wissen.
Ansage:
„Großes Genie, kleine Welt: Søren Kierkegaard“. Eine Sendung von Barbara
Zillmann.
O-Ton – Michael Bongardt:
Also ich habe sehr bald, als ich Kierkegaard zunächst eher zufällig begegnet bin,
gemerkt, dass mich seine Art zu denken, sehr anspricht, dass er ein unglaublich
guter Menschenkenner ist.
O-Ton – Robert Zimmer:
Für mich ist Kierkegaard vor allem eben der Philosoph der Individualität, er sagt dazu
Subjektivität, also der Philosoph der individuellen Selbstverwirklichung.
O-Ton – Christian Wiebe:
Bei mir ging das Interesse einerseits stark von der Sprache aus, eine Faszination,
das andere, was mich immer noch fasziniert, ist das enorme Einfühlungsvermögen in
psychische Vorgänge, die ungewöhnlich präzise Darstellung solcher Situationen.
Autorin:
Ein Theologe, ein Philosoph und ein Literaturwissenschaftler über den dänischen
Denker Søren Kierkegaard, der hierzulande wenig bekannt ist, aber viele
Wissenschaften inspiriert hat.
Am 5. Mai 1813 kam er als siebtes und jüngstes Kind eines frommen Kaufmanns zu
Welt. Der Vater war mit der Herstellung von Wollwaren, mit Strümpfen,
Handschuhen, Mützen zu Wohlstand gelangt; Søren ist ein zartes, weinerliches Kind
und wird doch die meisten seiner Geschwister überleben. Als Student der
Philosophie und Theologie lebt er vom Geld des Vaters, nach dessen Tod von
seinem Erbe. Der Philosoph Robert Zimmer:
O-Ton – Robert Zimmer:
Søren Kierkegaard wird ja auch bezeichnet als der Sokrates von Kopenhagen, weil
er sein ganzes Leben in dieser Kleinstadt verbrachte – Kopenhagen war damals eine
Stadt von 40.000 Einwohnern, in der die Bildungseliten und die höheren Stände, zu
denen er ja auch zählte, sich alle gegenseitig kannten.
O-Ton – Michael Bongardt:
Kierkegaard hat zunächst mal ein Leben als stadtbekannter Dandy in Kopenhagen
geführt. Es gab Kneipen – heute würde man sagen Clubs – in denen man sich traf,
junge Erwachsene, die ihre Freude daran hatten, sich über alles und jedes zu
erheben, indem sie es lächerlich machten, Kierkegaard war ein Meister des
2
Sarkasmus und des zynischen Spotts über alles und jeden – hat sich feiern lassen
als hochintelligenten Menschen, der alles sofort durchschaut und niedermachen
kann.
Autorin:
Und das tut er auch, weiß der Theologe und Ethikprofessor Michael Bongardt.
Kierkegaard legte sich mit der Staatskirche an, mit selbstgefälligen, saturierten
Bürgern, aber auch mit seiner eigenen Zunft, den Philosophen.
O-Ton – Robert Zimmer:
Ich denke, für die Kopenhagener Bildungselite war er am Schluss so etwas wie der
verlorene Sohn, aber er war natürlich nicht jemand, der von außen kam, sondern der
von innen kam, der alle Leute gut kannte, teilweise mit Namen nannte in seinen
Schriften, teilweise auch mit Anspielungen, die natürlich jeder verstand.
Musikklänge
Zitator:
Dieses Galerie-Publikum sucht nun den Zeitvertreib. Vornehm sitzt die Trägheit mit
übergeschlagenen Beinen da, und jeder, der arbeiten will, der König und der Lehrer
des Volkes, der Dichter und der Künstler, alle werden gleichsam vorgespannt, um
diese Trägheit vorwärts zu schleppen, die vornehm glaubt, die anderen wären die
Pferde.
Autorin:
Früh schlägt Kierkegaard in kleinen "literarischen Anzeigen" sein Grundthema an: die
Rolle des Einzelnen im Verhältnis zur Masse, in der sich viele auch gern verstecken.
Im Kulturbetrieb werde das "Publikum" zu einem solchen Versteck und zu einer
nivellierenden Macht – und sei doch eigentlich nur ein Phantom. In einer hellsichtigen
Satire schreibt er 1846:
Musikklänge
Zitator:
Publikum ist alles oder nichts. Man kann in Publikums Namen zu einer ganzen
Nation sprechen, und doch ist Publikum weniger als ein einziger noch so geringer
wirklicher Mensch. Publikum ist das Märchen des Zeitalters des Verstandes, welches
die einzelnen dazu erhebt, noch mehr zu sein als König eines Volkes. Indes je
weniger Idee in einer Zeit ist, je mehr eine Zeit, von aufflackernder Begeisterung
ermattend, sich in Indolenz, in Unempfindlichkeit ausruht, desto leichter wird die
Nivellierung zur verderblichen Lust werden, zu einem Sinnenreiz, der einen
Augenblick lang kitzelt und das Böse nur schlimmer macht.
Autorin:
Lust, Sinnenreiz, Gut und Böse. Auch über Liebe und Erotik schreibt Kierkegaard
eine freche Schrift. Sie ist Teil seines Hauptwerkes "Entweder – Oder", wird aber
auch separat veröffentlicht. Michael Bongardt:
O-Ton – Michael Bongardt:
Das einzige Buch, mit dem Kierkegaard Zeit seines Lebens Geld verdient hat, alles
andere musste er bezahlen, weil es sich nicht verkaufte: das "Tagebuch des
3
Verführers". Ein kleines Buch, in dem ein Mann beschreibt, wie er es genießt, eine
Frau Schritt für Schritt zu verführen und wie er dann in dem Moment, wo ihm das
dann gelungen ist, er sie also ins Bett bekommen hat, sie fallenlässt, weil sein
Genuss die Verführung ist und gar nicht so sehr die Sexualität und nicht das
Zusammensein mit einer Frau, sondern er genießt sich als Verführer.
Musikklänge
Autorin:
Jemand auf der Pirsch, der nicht anders kann als schöne junge Frauen zu
beobachten. Zu umwerben. Und abzuwerben.
Zitator:
Recht so, entschlossen und machtvoll, das rechte Bein vor das linke. Wie sieht sie
sich kühn und keck um in der Welt. Sehe ich recht, sie hat ja einen am Arm, also
verlobt. Lass sehen mein Kind, welch ein Präsent für dich an des Lebens
Weihnachtsbaum gehangen hat. Das sieht nach einem soliden Bräutigam aus. Sie
liebt ihn – schon möglich. Jedoch ihre Liebe umflattert ihn weit und geräumig, lose,
sie besitzt noch jenen Mantel der Liebe, der viele decken kann.
Autorin:
Die flotte Beschreibung eines erotischen Draufgängers täuscht nicht darüber hinweg,
dass Kierkegaard selbst in Liebesdingen unter Skrupeln litt. Die Verlobung mit einer
zehn Jahre jüngeren Frau, Regine Olsen, löste er nach nur einem Jahr – er scheue
sich vor einer festen Bindung und fürchte, die Geliebte unglücklich zu machen. Den
tragischen Verlauf erlebt Kierkegaard als persönliches Scheitern. Nun beginnt er, die
schweren Seiten seiner Existenz zu erforschen. Etwa in der Kindheit.
Zitator:
Hier liegt meines Lebens Schwierigkeit. Ich bin von einem Greis ungeheuer streng im
Christentum erzogen worden, deshalb ist mein Leben mir furchtbar verwirrt worden.
Deshalb bin ich in Kämpfe gestoßen worden, an die niemand denkt, geschweige
denn darüber spricht.
Autorin:
Der Greis ist sein Vater Michael Pedersen Kierkegaard. Als kleiner Junge wird Søren
streng religiös erzogen und erlebt, wie sein Vater unter zerstörerischen
Schuldgefühlen leidet. Er habe vor Gott gesündigt, einmal zum Beispiel verfluchte er
als kleiner Hüte-Junge Gott mitten auf dem Feld und später begann er ein Verhältnis
mit einer Magd. Sie wurde zwar seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder, aber so
etwas wie Glück kann der schwermütige Mann nicht annehmen. 1819, da ist Søren 6
Jahre alt, beginnt eine tragische Phase im Leben der Familie: Bis auf einen Bruder
sterben alle Geschwister und die Mutter. Der Vater weiht Søren in seine düsteren
Fantasien ein: Dies sei ein Fluch Gottes, keins seiner Kinder könne älter als 34 Jahre
werden – wie Jesus.
Zitator:
Bereits in der frühesten Kindheit hatte ich mich an Eindrücken überhoben, unter
denen der schwermütige Greis, der sie mir auferlegt hatte, selbst zusammenbrach.
4
Autorin:
… schreibt Kierkegaard in seiner posthum erschienenen Schrift "Der Gesichtspunkt
für meine Wirksamkeit als Schriftsteller". Erst nach dem Tod des Vaters kann er dem
religiösen Wahn entkommen. Und hat bis dahin einen hohen Preis gezahlt:
Musikklänge
Zitator:
Ich habe keine Unmittelbarkeit gehabt und habe daher, ganz menschlich betrachtet,
nicht gelebt. Ich habe sofort mit der Reflexion begonnen, ich habe, als ich älter
wurde, nicht "ein wenig Reflexion gesammelt", sondern eigentlich bin ich Reflexion
von Anfang an.
O-Ton – Robert Zimmer:
Kierkegaards Philosophie ist eine radikale Philosophie des Einzelnen. Søren
Kierkegaard ist ein großer Wachrufer innerhalb der Philosophiegeschichte, der uns
klarmacht, dass es nicht nur darum geht zu denken, sondern leben zu lernen und
eine eigene Existenz zu führen. Er ist der erste große Philosoph der Existenz der
Moderne.
Autorin:
Abstrakte Theorien, sagt der Philosoph Robert Zimmer, seien für Kierkegaard immer
unwichtiger geworden; er setzte sich ab von der Geschichtsphilosophie Friedrich
Hegels, die damals im Bildungsbürgertum Allgemeingut war: Hegel glaubte an einen
"Weltgeist", der sich im Laufe der Geschichte durchsetzen würde, hin zu einer
besseren Zukunft.
O-Ton – Robert Zimmer:
Für Kierkegaard war immer die Frage, die er an Hegel richtete: Ja, was passiert denn
mit dem Einzelnen? Ist das nur ein Opfer, ist das nur ein Zahnrädchen, ein Mitläufer
in dieser sogenannten notwendigen geschichtlichen Entwicklung, wo kommt der
Einzelne bei dir vor, der verschwindet in diesem pompösen Gebäude des
Geschichtsoptimismus, in dieser Entwicklung – wo ist der?
O-Ton – Michael Bongardt:
Er möchte zunächst verstehen, worin eigentlich die Existenz des Menschen – und
das ist für ihn immer auch die Not des Menschen – besteht und will dann aufzeigen,
wo er Möglichkeiten sieht, für diese Not Hilfe zu bekommen. Und das sind nie die
großen philosophischen Systeme.
O-Ton – Robert Zimmer:
Das Thema ist eigentlich Verwirklichung des Selbst, Selbstverwirklichung des
Einzelnen. In Freiheit, Freiheit ist ein ganz zentraler Begriff der Existenzphilosophie –
Freiheit von Bindungen und Freiheit für eine neue Bindung, die man eingeht, und
zwar auf Grund eigener Entscheidung, durch die eigenständige Wahl einer
Lebensform. Das Gefühl sozusagen, in die Welt geworfen zu sein und etwas machen
zu müssen aus seinem eigenen Leben.
5
O-Ton – Michael Bongardt:
Für ihn ein ganz zentraler Begriff ist der Begriff der Selbstwahl. Ich wähle mich
selbst, das heißt für ihn, ich erkenne, dass ich ein Mensch bin, der die Freiheit hat,
darüber zu bestimmen, was im eigenen Leben wichtig ist, was nicht wichtig ist. Dass
ich das kann, ist das eine. Was wichtig ist: dass ich mich auch entscheide, diese
Aufgabe zu übernehmen.
Autorin:
Das ist der Kern von Kierkegaards Hauptwerk "Entweder-Oder". Darin entfaltet er –
unter zwei verschiedenen Pseudonymen – zwei unterschiedliche Lebensmodelle.
Der Mensch könne sich entscheiden zwischen einer, wie Kierkegaard es nennt,
ästhetischen Lebensweise, die nach Genuss und Schönheit des Augenblicks strebt,
sich aber im Möglichen einrichtet und treiben lässt, und auf der andern Seite einer
ethischen Lebensweise, in der es um Nachhaltigkeit und Verantwortung geht.
Nachdem der Mensch sein innerstes Bedürfnis, seine Talente und Bestimmung
erkannt hat, ganz für sich allein. Diesen Augenblick der Selbsterkenntnis stilisiert
Kierkegaard zu einem mystischen Moment, einer Begegnung mit dem Göttlichen:
Musikklänge
Zitator:
Wenn da um einen her alles still geworden ist, feierlich gleich einer sternenklaren
Nacht, wenn die Seele allein ist in der ganzen Welt, da zeigt sich vor ihr nicht ein
hervorragender Mensch, sondern die ewige Macht selbst, da tut sich der Himmel
gleichsam auf, und das Ich wählt sich selbst, oder richtiger, es empfängt sich selbst.
Da hat die Seele das Höchste geschaut, da empfängt die Persönlichkeit den
Ritterschlag, der sie für eine Ewigkeit adelt. Denn das Große ist nicht, dies oder das
zu sein, sondern man selbst zu sein. Und das vermag ein jeder Mensch, so er will.
Autorin:
Søren Kierkegaard entwirft zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine subjektive
Religiosität, die viel Philosophie enthält und auch für Atheisten bekömmlich ist. Er
grenzt sich ab von der Glaubenspraxis und den Autoritätsverhältnissen bei
Protestanten wie Katholiken.
Die dänische Staatskirche sei zu sehr mit den Interessen des Königshauses und der
reichen Bürger verwoben, die wirklich Bedürftigen gingen leer aus.
Zitator:
Der Unterschied zwischen dem Theater und der Kirche ist, dass sich das Theater
ehrlich und redlich zu dem bekennt, was es ist. Die Kirche dagegen ist ein Theater,
das unredlich in jeder Weise zu verbergen sucht, was es ist.
Autorin:
Kierkegaard definiert seinen Glauben, der ihm im Elternhaus verleidet wurde, noch
einmal neu. Den Schuldgefühlen und der Sündenangst setzt er Gottvertrauen
entgegen; Angst sei eine Grundbefindlichkeit des Menschen, die mit der Freiheit
zusammenhänge:
6
O-Ton – Michael Bongardt:
Und für dieses Vertrauen ist dann für ihn wieder der christliche Hintergrund wichtig.
Ein glaubender Mensch braucht deshalb keine Angst zu haben, weil diese
Möglichkeiten, die vor ihm liegen, Möglichkeiten sind, die Gott ihm geschenkt hat,
und er sicher sein darf, dass er aus dieser Beziehung nicht herausfallen wird.
Zitator:
Jede tiefe und innerliche Selbsterkenntnis geschieht unter göttlicher Leitung.
O-Ton – Robert Zimmer:
Dieser Gott ist eigentlich nur noch ein Name für die selbstbestimmte Lebensform des
Individuums.
Musikklänge
Autorin:
Wie konnte der "Dichterphilosoph", wie er gern genannt wird, den Facettenreichtum
seiner Gedanken den Lesern vermitteln? Søren Kierkegaard hat eine Fülle kleiner
und größerer Schriften verfasst, die – mit Ausnahme seiner Predigten – alle die
gleiche Methode haben.
O-Ton – Christian Wiebe:
Die meisten ästhetisch-philosophischen Schriften sind ja gar nicht unter dem Namen
Søren Kierkegaard erschienen, sondern unter Namen von Pseudonymen, die
Kierkegaard gewählt hat, und ein anderes Pseudonym könnte etwas ganz anderes
dazu sagen. Darauf muss man immer gefasst sein, dass ein anderer Blick möglich
wird und das bisher Gedachte unterläuft.
O-Ton – Robert Zimmer:
Kierkegaard war der Meinung, dass man die Lebensprobleme nicht theoretisch lösen
kann, sondern dass man sie sozusagen vorführen muss wie ein Theaterstück auf der
Bühne. Er entwirft wie ein Dramendichter seine Verfasser, die etwas vorführen,
Wahlmöglichkeiten lassen sich anbieten. Und daher rührt diese eigenartige Weise
des Schreibens, dass Søren Kierkegaard keine philosophischen Traktate schreibt,
sondern dass er quasi dichterisch die Werke schreibt und pseudonyme Verfasser
kreiert.
Musikklänge
Autorin:
Da schreiben etwa Johannes de Silentio oder Constantin Constantius. Johannes
Climacus verfasste die "Philosophischen Brocken". Das Hauptwerk "Entweder-Oder"
entwarf ein Victor Eremita – und lässt zugleich noch weitere fiktive Autoren zu Wort
kommen. Über den "Begriff der Angst" schrieb Vigilius Haufniensis, und die
autobiografischen "Stadien auf des Lebens Weg" ein sogenannter Hilarius
Buchbinder.
Ein Spiel mit witzigen Pseudonymen, das es Kierkegaard erlaubt, wenig fassbar zu
bleiben. Und dennoch sehr intime Regungen auszudrücken. Er legt Wert darauf,
keine Helden zu kreieren und keine Rezepte zu geben.
7
Ironie und Verfremdung sind beliebte Stilmittel, die ihn auch isolieren. Am Ende
seines Lebens steht Søren Kierkegaard alleine da. Er trauert seiner ersten Liebe
Regine Olsen nach, die inzwischen geheiratet hat. Das abgeschlossene Studium der
Theologie führte ihn nicht ins Pfarramt, seine philosophische Promotion nicht in eine
akademische Karriere. Er schrieb seine Werke wie ein Besessener in wenigen
Jahren und zog sich dazu immer wieder nach Berlin zurück, in ein kleines Zimmer
nahe dem Gendarmenmarkt und der Humboldt-Universität. Wenn er zurückkam,
begegnete ihm Spott.
O-Ton – Michael Bongardt:
Es gab damals die Zeitschrift, den Korsaren, den man vielleicht bisschen mit dem
heutigen Titanic vergleichen kann, also so eine Satirezeitung, in der er anfangs als
Autor mitgearbeitet hat, und nach einem Streit mit dem Herausgeber des Korsaren
wurde er dann selbst zum Lieblingsspottobjekt in dieser Zeitung. Es gibt eine Reihe
Karikaturen, die besonders herausheben, dass er einen kleinen Buckel hat, dass
seine Beine nicht gleich lang waren, und das wird natürlich genüsslich
ausgeschlachtet.
O-Ton – Robert Zimmer:
Er wusste, dass er nicht nur für die Kopenhagener der 40er- und 50er-Jahre des 19.
Jahrhunderts schrieb, sondern für die Nachwelt schrieb, und er hatte ja Recht, 70
Jahre später wurde er vor allem in Deutschland entdeckt, und da begann seine
große Karriere in der Philosophiegeschichte.
O-Ton – Michael Bongardt:
Er hat also mit einer unglaublichen Anspannung gelebt, gearbeitet, es gibt
Zeichnungen von ihm, die wohl die Realität durchaus treffen, dass er nachts beim
Kerzenschein am Schreibtisch sitzt und seine Füße in eine Wanne mit kaltem
Wasser hat, um nicht einzuschlafen, und so Geschichten, also da steckt eine
Wahnsinnsenergie drin, er ist ja in dem Moment als 42-Jähriger gestorben, indem
gleichzeitig sein Körper nicht mehr konnte, er, ich würde sagen das, was er
philosophisch und theologisch zu sagen hatte, gesagt hat, und das Vermögen seines
Vaters aufgebraucht war. Also für die Beerdigungskosten musste schon sein Bruder
aufkommen, weil von dem Vermögen nichts mehr da war.
Musikklänge
Autorin:
Das war im November 1855. Mit 42 Jahren erlag der dänische Dichter einem
Nervenleiden. In seiner posthum erschienenen Schrift "Der Gesichtspunkt für meine
Wirksamkeit als Schriftsteller" schreibt er:
Zitator:
Das Märtyrium, das dieser Schriftsteller litt, lässt sich kurz folgendermaßen
beschreiben: Er litt daran, ein Genie in einer Kleinstadt zu sein.
O-Ton – Robert Zimmer:
Søren Kierkegaard war nach seinem Tod zunächst einmal für Jahrzehnte vergessen.
Erst zu Beginn es 20. Jahrhunderts hat man ihn dann wiederentdeckt. Und zunächst
haben ihn die deutschen Existenzphilosophen wiederentdeckt, vor allem eben Martin
8
Heidegger, der ihn gelesen hat zu einer Zeit, als Kierkegaard sonst nicht gelesen
wurde. Auch Jaspers hat Kierkegaard schon sehr früh gelesen, über die deutschen
Existenzphilosophen kam er dann nach Frankreich. Und dort war es vor allem
natürlich Jean-Paul Sarte und Albert Camus, die Kierkegaard gelesen haben und von
ihm beeinflusst wurden.
Autorin:
Christian Wiebe hat die frühe Rezeption im deutschsprachigen Raum untersucht.
"Der leidenschaftliche, tiefe, witzige Kierkegaard" heißt sein gerade erschienenes
Buch, das zeigen will, wie unterschiedlich der Däne mehr als 50 Jahre nach seinem
Tod in Deutschland gelesen wurde.
O-Ton – Christian Wiebe:
Das wäre auch eine alte These der Kierkegaard-Forschung, Kierkegaard ist ein Autor
für Krisenzeiten – das können persönliche oder gesellschaftliche sein, so dass
Kierkegaard während der Zeit des Ersten Weltkriegs für viele Menschen interessant
wurde.
Autorin:
Aber auch der Philosoph Ernst Bloch bezieht sich in seinem Werk "Geist der Utopie"
auf Kierkegaard. Weniger inhaltlich, eher methodisch.
O-Ton – Christian Wiebe:
Der entscheidende Impuls ist, wenn ich als Mensch zur Wahrheit kommen will, dann
ist das etwas, was mich angeht, ich kann gar nicht davon abstrahieren, sondern ich
muss mich in eine Beziehung dazu setzen. Und genau diese Denkhaltung ist das,
was Ernst Bloch an Kierkegaard interessiert hat. Eine Philosophie zu entwickeln, die
eben nicht Geschichtsphilosophie ist, die nicht objektiv ist, sondern die sich stets
bewusst ist, dass die Probleme, die sie verhandelt, die eigenen Probleme sind.
Autorin:
Impulse für eine Erkenntnistheorie, die den persönlichen Standpunkt des Denkers in
den Blick rückt. Wie es Kierkegaard bereits 1843 tat:
Zitator:
Es kommt nicht nur darauf an, was man sieht, sondern was man sieht, hängt davon
ab, wie man sieht.
Autorin:
Breiter beachtet wird Kierkegaard als Inspirator der modernen Existenzphilosophie,
vertreten in Deutschland durch Martin Heidegger und in Frankreich durch Jean-Paul
Sartre. Die Elemente der Angst, der Grenzsituation, der Verzweiflung werden hier
aufgenommen.
O-Ton – Christian Wiebe:
Bei Sartre ist es ja immer der Blick auf solche Randsituationen: die Menschen kurz
vor ihrer Hinrichtung oder die Menschen im geschlossenen Raum, dieses berühmte
Drama, wo sie nicht heraus können. Es sind extreme Randsituationen – das findet
sich nicht in dieser Schärfe, aber das ist angelegt im Denken bei Kierkegaard.
9
Autorin:
Søren Kierkegaard, der Krisenphilosoph und dichtende Denker, hat Gefühle und
Erfahrungen der menschlichen Existenz auf neue Weise beschrieben. Er hat das Tor
zu einer modernen Theologie geöffnet, Erkenntnisse der Psychologie vorbereitet
durch präzise Skizzen persönlicher Wirrnisse, er hat die Philosophie von der
jahrtausendealten Vorstellung befreit, es müsse eine objektive, für alle gültige
Wahrheit geben. Schließlich kommen seine Thesen den Erkenntnissen der
Hirnforschung nahe: Jeder Mensch gestaltet seine Entwicklung, er wird das, was er
lebt. Und was und wie er lebt, hängt davon ab, was ihn im Innersten berührt. Auch für
Menschen von heute lohnt es sich daher, Kierkegaard zu lesen.
Robert Zimmer, der in seinem Buch "Das Philosophenportal" viele wichtige Denker
porträtiert hat, trifft bei der Kierkegaard Rezeption auf ein sehr aktuelles Problem:
O-Ton – Robert Zimmer:
Eigentlich braucht man die Existenzphilosophen nicht mehr, also Heidegger und
Sartre, die haben das meiste sowieso geklaut bei Kierkegaard. Also alles, was an der
Existenzphilosophie wichtig ist, was für mich an der Existenzphilosophie wichtig ist,
das find ich nämlich schon dort.
Autorin:
Auch Christian Wiebe und der Theologe Michael Bongardt sehen bei dem dänischen
Philosophen Impulse, die bis heute reichen:
O-Ton – Christian Wiebe:
Dass man die eigenen Subjektivität ernstnimmt, die eigenen Entscheidungen
ernstnimmt, die sind wichtig bei Kierkegaard, da kann man noch ganz viel lernen, die
eigene Subjektivität beim Schopfe zu packen und ernstzunehmen.
O-Ton – Michael Bongardt:
Er versucht sich etwas herbei zuschreiben, was er nicht kennt. Und vielleicht gehört
das auch zur Tragik seiner Person. Dass er in dieses Gleichgewicht, das er immer
wieder so als Ziel menschlichen und christlichen Lebens beschrieben hat, selbst nie
reingefunden hat. Und es ist ja fast schon ein bisschen gemein zu sagen, gerade
deshalb kann man so viel von ihm lernen.
Musikklänge
Zitator:
Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen
verbirgt, aber dessen Lippen so beschaffen sind, dass es wie schöne Musik klingt,
wenn ihnen Seufzer und Schreie entströmen.
*****
10
Herunterladen