9 August 2005: Ausbruch aus dem Lebenszyklus Youngme Yoon Harvard Business Manager August 2005: 52-63 Seit nunmehr 40 Jahren gehört Theodore Levitt's Konzept des Produktlebenszyklus zu den klassischen Strategiewerkzeugen im Marketing. Danach entwickeln sich Absatz und Umsatz von Produkten und Dienstleistungen entlang einer glockenförmigen Kurve, die üblicherweise in vier Phasen eingeteilt wird (siehe Abbildung). Jede der vier Lebensphasen unterscheidet sich charakteristisch von den anderen, zum Beispiel durch die Markt- und Wettbewerbssituation, die jeweils geeignete Marketingstrategie oder die erzielbaren Herstellungskosten und Gewinne. Youngme Yoon, Professorin für Marketing an der Harvard Business School, zeigt in ihrem Beitrag, wie Unternehmen den klassischen Ablauf des Produktlebenszyklus sowohl aus der Reifephase als Absatz / Umsatz auch aus der Einführungsphase heraus durchbrechen können. Rückwärtspositionierung/ Positionierung durch Herauslösen Getarnte Positionierung Einführung Wachstum Reife Degeneration Zeit Kerngedanken Strategien für die Reifephase: Durch Aufwerten der Leistung, zum Beispiel durch stetiges Hinzufügen neuer Nutzen, wird häufig versucht, Lebenszyklen soweit wie möglich zu verlängern. Wenn aber alle Wettbewerber ähnlich handeln, entsteht oft eine Pattsituation im Markt – mit kontinuierlich hohem Aufwand, aber ohne individuellen Wettbewerbsvorteil. Das Problem kann sehr elegant durch eine radikale Neupositionierung der Produkte (Rückwärtspositionierung, Reverse Positioning; Positionierung durch Herauslösen, Breakaway Positioning) und Zurückspringen in die Wachstumsphase gelöst werden. Copyright © 2005 by Dr. Pulz & Partner Managementberatung Strategie für die Einführungsphase: Neuen Produkten oder Produktsegmenten, insbesondere im Technologiebereich, haften manchmal bestimmte Vorbehalte in der Kundenwahrnehmung an – mit dem Ergebnis, dass neue Produkte nicht sofort akzeptiert werden. Getarnte Positionierung (Stealth Positioning) und Vorwärtsspringen aus der Einführungs- direkt in die Wachstumsphase sind wirksame Gegenstrategien. Nachfolgend werden diese Ansätze anhand von Beispielen erläutert. Rückwärtspositionierung Die Strategie bricht mit dem Paradigma, dass Kunden stetige Produktverbesserungen wünschen. Stattdessen speckt man reife Produkte sogar ab und reduziert sie auf das Wesentliche. Zusätzlich versieht man sie mit Zusatznutzen, die dem Kunden normalerweise nur aus höherwertigen Produktkategorien bekannt sind. Diese Kombination erschliesst neue Kundensegmente, die sich dadurch auszeichnen, dass sie gleichzeitig auf Basis-Produktleistungen und auf spezielle Zusatznutzen Wert legen. Sie erlaubt es damit, Produkte aus der Reifephase in die Wachstumsphase zurückzuführen. Rückwärtspositionierung ist besonders für Dienstleistungen geeignet (Banken, Fluggesellschaften), funktioniert aber auch im Produktgeschäft. Ein Beispiel ist das Möbelhaus Ikea. Anders als in der Einrichtungsbranche üblich, wurden hier Produkt- und Serviceleistungen rund um das Produkt reduziert und mit neuartigen Zusatznutzen kombiniert, wie grosser Sortimentsbreite (Kleinmöbel, Haushaltswaren), neuen Services (Kinderbetreuung, Restaurants), grosszügiger Raumkonzeption und einem unkonventionellem Image. Ikea hat sich mit diesem Konzept sehr erfolgreich vom Wettbewerb differenziert und eine starke Markenidentität aufgebaut. Positionierung durch Herauslösen Auch diese Strategie erlaubt es, Produkte aus der Reifephase in die Wachstumsphase zurückzuführen. Der Weg ist aber völlig anders als bei der Rückwärtspositionierung: Herauslösen bedeutet, reife Produkte durch gezieltes Verändern des Marketing-Mix (Produktdesign, Preis-, Distributions- und Kommunikationspolitik) in einem völlig neuen Markt zu positionieren, wobei gleichzeitig ein neuer Teilmarkt im ursprünglichen Markt entstehen kann. Hierbei erschliesst man neue Kundensegmente und stellt sich neuen Wettbewerbern, schafft aber zugleich auch neue Wachstumspotenziale für die ursprüngliche Branche. Positionierung durch Herauslösen ist besonders für Consumer-Produkte geeignet. Klassisches Beispiel ist die Swatch-Uhr, die ab Mitte der 80er Jahre die weltweite Uhrenindustrie revolutionierte. Das Herauslösen bestand darin, Schweizer Uhren nicht länger nur als hochwertiges, teueres Schmuckstück, sondern als modisches Accessoire zu positionieren – mit durchschlagendem Erfolg: Der Markt für Modezubehör wurde um preiswerte und funktionale Uhren mit unkonventionellem Design erweitert. Gleichzeitig wurde im Uhrenmarkt der neue Teilmarkt "modische Uhren" geschaffen, der von Swatch begründet und in der Folge von zahllosen Wettbewerbern besetzt wurde. Copyright © 2005 by Dr. Pulz & Partner Managementberatung 2 Getarnte Positionierung Die Strategie besteht darin, die wahre Natur neuer Produkte zu verschleiern. Ziel ist eine schleichende Markteinführung unter Vermeidung der potenziellen Risiken offener Einführungen, wie etwa Vorbehalten und fehlender Akzeptanz beim Kunden. Die Produkte werden daher zunächst mit anderen – unproblematischeren – Produkt- oder Marktsegmenten als den eigentlich anvisierten assoziiert. Dieser strategisch und wirtschaftlich sinnvolle Ansatz ist strikt zu trennen von allen Arten betrügerischen Vorgehens, die zur Schädigung von Kunden und Unternehmen führen könnten. Getarnte Positionierung ist besonders geeignet für technologielastige Produkte, die oft unter entsprechenden Vorurteilen leiden ("nicht ausgereift", "zu kompliziert" u.s.w.). So führte Sony eine neue Playstation zunächst als einfach zu bedienendes und weithin akzeptiertes Spielgerät ein, obwohl das Produkt eigentlich als leistungsfähiges Kommunikationsmittel (Videotelefon) angelegt war. Schrittweise Erweiterungen der Hardware- und Softwarefunktionalität sollen das Produkt nun in das eigentliche Anwendungssegment und damit in die endgültige Positionierung führen. Sony vermied es, das Produkt sofort als Kommunikationsmittel zu positionieren, da man mit Kaufzurückhaltung rechnete und zunächst die Kundenwahrnehmung positiv beeinflussen wollte. Zusammenfassung der Positionierungskonzepte Rückwärtspositionierung Strategie Positionierung durch Herauslösen Getarnte Positionierung Ausgangsphase Reife Reife Einführung Zielphase Wachstum Wachstum Wachstum Produkteigenschaften und – Nutzen Neue Anwendungen Erschlossen Neue Kundensegmente erschlossen Neue Wettbewerber Im Kern reduziert + neue(r) Zusatznutzen Nein Im Kern erweitert Schrittweiser Ausbau Ja Ja Ja Ja Ja Nein Ja Ja Beispiel Ikea Swatch Sony Fazit Unkonventionelle Positionierungsstrategien helfen in den unterschiedlichsten Märkten, den Produktlebenszyklus zu durchbrechen und den Geschäftserfolg zu steigern. Man sollte diese Möglichkeiten prüfen, bevor man entscheidet, Lebenszyklen ausschliesslich konventionell zu managen – zum Beispiel durch stetiges Optimieren reifer Produkte, welches häufig nicht mehr zum gewünschten Markterfolg führt. Copyright © 2005 by Dr. Pulz & Partner Managementberatung 3