SWR 2 Musikstunde mit Christian Schruff 11.10.2010 Montag, " Peter Tschaikowsky ist kein Komponist für den Montag-Vormittag – könnten man meinen. Pathetisch, überspannt, wuchtig – wer mag das schon um diese Zeit hören? Deshalb möchte ich Sie zu dieser Musikstundenwoche nicht mit dem Tschaikowsky begrüßen, den sie meist zu hören bekommen, also nicht mit dem Komponisten der Symphonien 4 – 6, nicht mit dem des Klavierkonzerts b-Moll und auch nicht mit dem des „Blumenwalzers“ aus dem „Nussknacker“-Ballett. Ich möchte diese Sendung eröffnen mit der Musik, die Tschaikowsky selbst für würdig befunden hat, um mit ihr zum ersten Mal vor eine breite Öffentlichkeit zu treten: sein Opus 1, sein erstes gedrucktes Werk. Es ist eine Klavierstück: Scherzo a la Russe. Musik 1 Track 1 Peter Tschaikowsky: Scherzo a la Russe Viktoria Postnikova, Klavier ERATO, 2292-45966-2, LC0200 6:22 Viktoria Postnikova mit dem „Scherzo a la Russe“ von Peter Tschaikowsky, seinem opus 1. 1867 ist es im Druck erschienen. Tschaikowsky war damals 27 Jahre alt, und gerade seit einem Jahr lehrte er in Moskau Harmonielehre am neuen Konservatorium. Nikolai Rubinstein hatte es gegründet. Tschaikowsky war ihm empfohlen worden von seinem Bruder Anton Rubinstein. Der leitete das Konservatorium in St. Petersburg. Dort hatte Tschaikowsky kurz vorher Examen gemacht. Anton Rubinstein hatte Tschaikowskys Abschluss-Arbeit aufgeführt, ein Werk für Soli, Chor und Orchester auf einen Text, der früher schon einmal von einem nicht ganz unbedeutenden Komponisten vertont worden war. Musik 2 Track 5 Peter Tschaikowsky: Ode an die Freude 4. Satz London Philharmonic Choir London Philharmonic Orchestra Ltg.: Derek Gleeson CARLTON, 30366 00122, LC08747 2:34 „Freude trinken alle Wesen An den Brüsten der Natur, Alle Guten, alle Bösen Folgen ihrer Rosenspur.“ Diese Worte aus Schillers „Ode an die Freude“ hat der London Philharmonic Choir da eben gesungen – wenn Sie Russisch verstehen, haben sie es schon erkennen können. Das also war der berühmte Text, den Tschaikowsky sich ausgesucht hatte für eine Examensarbeit. Die Musik, die er dazu komponiert hat, klingt erstaunlich nach Mendelssohn. Das ist wohl ein Tribut an den Lehrer Anton Rubinstein gewesen, „der mit der Musik von Schubert, Schumann und Mendelssohn groß geworden war, nur deren Orchester akzeptierte.“ Das berichtet uns der Studienfreund und enge Vertraute Tschaikowskys, Hermann Larosche. Und Tschaikowskys Bruder, Modest, berichtet, das Peter der Aufführung ferngeblieben war, um das öffentliche, mündliche Examen vor der Aufführung zu umgehen. Ein frühes Indiz für die Unsicherheit des Komponisten, wenn es um das eigene Werk ging. Tschaikowsky war einer der ersten Studenten am Petersburger Konservatorium gewesen. Eine junge Einrichtung mit jungen Lehrern: Der Direktor, der berühmte Pianist Anton Rubinstein, war 32, der polnische Geiger Henri Wienawski war 27, der Cellolehrer war sogar nur 24 und kam vom Leipziger Gewandhaus-Orchester, wo er bis dahin Solo-Cellist gewesen war. Der Student Tschaikowsky war also kaum jünger als diese Lehrer. Er war 21 Jahre alt, als er mit dem Studium begann. Und dieses Studium hat er gewissermaßen „auf dem zweiten Bildungsweg“ gemacht. Denn er arbeitete schon als Sekretär im Justizministerium. Diese Stelle hat er erst nach vier Jahren aufgegeben, um sich dann ganz der Musik zu widmen. Damals schrieb er: „Ob ich ein berühmter Komponist oder ein um seine Existenz kämpfender Lehrer werde, ist nicht von Bedeutung“. Damit der Feierabend-Student nicht noch unnötigen Ballast mitschleppen musste, hat der Direktor, Anton Rubinstein, Tschaikowsky vom obligatorischen Klavierunterricht befreit. So konnte er sich ganz auf die Theorie und die ersten Kompositions-Übungen konzentrieren. Musik 3 Track 6 - 8 4:40 Peter Tschaikowsky: 3 frühe Stücke für Streichquartett Allegretto E-Dur / Andante G-Dur / Allegro vivace B-Dur Moscow String Quartett Russian Seasons / Chants du monde, B000006LVX Das waren frühe „Fingerübungen“, Stücke für Streichquartett, die Peter Tschaikowsky als Student geschrieben hat. Tschaikowsky soll ein fleißiger Student gewesen sein. Rubinstein hat einmal erzählt, dass er bei den Kontrapunktaufgaben seinen Schülern gesagt hatte: „Nicht nur die Qualität ist wichtig, sondern auch die Quantität.“ Rubinstein hatte wohl ein Dutzend Übungen erwartet, Tschaikowsky kam zur nächsten Stunde mit über 200... 1863, nach 2 Studienjahren, quittierte Tschaikowsky den Dienst im Justizministerium. Er schrieb damals: „Ich bin mir nur über eines sicher, dass ich ein guter Musiker sein werde. ... Alle meine Lehrer sind mit meinen Arbeiten zufrieden, und sagen mir, dass ich, wenn ich fließig bin, eine große Zukunft habe.“ Gegen Ende seiner Studienzeit hat Tschaikowsky einen ersten Streichquartettsatz geschrieben, der über die eben gehörten Fingerübungen weit hinaus geht. Ein groß angelegter Satz, mit einer „Misterioso“-Einleitung. Ein echtes Streicher-Stück. In diesem Satz, den er wohl mit 25 Jahren geschrieben hat, hat Tschaikowsky etwas gemacht, was später noch oft geschehen wird: Er hat zwei Volksliedweisen als Grundlage genommen. Die „Misterioso“Einleitung erinnert an russische Liturgien, der schnelle Hauptteil geht auf ein ukrainisches Lied zurück, das Tschaikowsky in Kamenka gehört hatte, auf dem Landgut seiner Schwester Sascha. Sie haben beide Melodien heute schon einmal gehört, denn Tschaikowsky hat daraus sein opus 1 gemacht, das „Scherzo a la Russe“, mit dem ich diese SWR 2 Musikstunde eröffnet hatte. Hier nun der vorher geschriebene Streichquartett-Satz in B-Dur. Es spielt das Borodin-Quartet. Musik 4 CD I / Track 1 Peter Tschaikowsky: Streichquartett-Satz B-Dur Borodin Quartet CHANDOS, CHAN 9871(2), LC7038 12:38 Das Borodin Quartet hat vor 16 Jahren eine hervorragende Einspielung der Streichquartette von Peter Tschaikowsky gemacht und diese mit dem Streichquartett-Satz B-Dur des Studenten Tschaikowsky eröffnet. Hier verlassen wir nun den Bereich der Fingerübungen und kommen zu Tschaikowskys 1. Streichquartett. Es gilt als das erste Quartett von Rang überhaupt, das ein Russe geschrieben hat. Entstanden ist es 6 Jahre nach dem gerade gehörten Quartettsatz. Tschaikowsky war kein Student mehr, musste also nicht mehr Rücksicht nehmen auf den Geschmack seiner Kompositionslehrer Anton Rubinstein und Nikolai Zaremba. Er orientierte sich nun an den großen Vorbildern, hörbar vor allem an Franz Schubert. Musik 5 CD I / Track 3 3:48 Peter Tschaikowsky: Streichquartett Nr. 1 D-Dur, op. 11 3. Satz: Scherzo. Allegro non tanto e con fuoco Klenke Quartett BERLIN CLASSICS, 0016502, LC06203 Das Scherzo aus dem 1. Streichquartett von Peter Tschaikowsky. In einer noch recht neuen Aufnahme hörten Sie die vier Damen des Klenke-Quartetts. Sie haben alle drei Quartette Tschaikowskys aufgenommen, zum Teil im SWR, und damit haben sie diese SWR 2 Musikstunden über die Kammermusik von Tschaikowsky angestoßen. 1:15 Denn die Kammermusik ist im Vergleich zu den Symphonien, Balletten und Konzerten doch recht unterbelichtet. Als die Klenkes vor einigen Jahren auf einem Meisterkurs mit dem Primarius des Amadeus-Quartetts, Norbert Brainin, Tschaikowsky arbeiten wollten, da ernteten sie von dem nur ungläubige Blicke. Aber sie haben durch ihr Spiel den alten QuartettHasen doch noch einnehmen können für ein Werk, das die großen Quartette meist links haben liegen lassen. Tschaikowsky hat sein erstes Quartett vor allem aus einer materiellen Not heraus komponiert und nicht etwa, weil er besonders an der Gattung Streichquartett interessiert gewesen wäre. Als Lehrer am Moskauer Konservatorium verdiente er recht wenig. Er plante also ein Konzert mit eigenen Werken zu seinen eigenen Gunsten – das erste Konzert ausschließlich mit Werken von Tschaikowsky! Eröffnet wurde es mit dem 1. Quartett Musik 6 CD I / Track 1 10:40 Peter Tschaikowsky: Streichquartett Nr. 1 D-Dur, op. 11 1. Satz: Moderato e semplice Klenke Quartett BERLIN CLASSICS, 0016502, LC06203 Das Klenke Quartett mit dem 1. Satz aus dem Streichquartett Nr. 1 von Peter Tschaikowsky. Dieses Quartett ist sehr gut aufgenommen worden. Nach der Uraufführung formulierte der Kritiker (und Studienfreund Tschaikowskys) Hermann Laroche, was das Werk auszeichne: „reizvoll kräftige Melodien – wunderbar und auf interessante Weise harmonisiert -, ⟦ und⟧ die etwas weibliche Sanftheit, an die wir uns bei diesem begabten Komponisten gewöhnt haben.“ Vor allem eine Melodie hat dieses Quartett berühmt gemacht, ja vielleicht sogar übertönt, so dass das 1. Quartett selbst in den Schatten dieser berühmten Melodie getreten ist. Tschaikowsky ist daran nicht ganz unschuldig gewesen, denn er hat den langsamen Satz, das „Andante cantabile“, eigenhändig für Cello und Streichorchester bearbeitet. Diese Fassung ist dann noch viele weitere Male bearbeitet worden und so zu einem echten Tschaikowsky-Schlager geworden. Musik 7 Track 8 ausblenden ab 1:00 (unter Text raus bei 1:14!) Peter Tschaikowsky: Andante cantabile Jan Vogler, Cello Dresdner Kapellsolisten, Ltg: Helmut Branny SONY, 88697055952, LC Der Cellist Jan Vogler hat hier das „Andante cantabile“ von Peter Tschaikowsky angespielt, begleitet von den Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny. Die Melodie dieses Satzes ist wiederum ein Souvenir vom Gut der Schwester in Kamenka. Dort hat Tschaikowsky das Lied abgelauscht, einem Bäcker oder einem Ofensetzer – da gehen die Überlieferungen auseinander: „Wanja saß auf dem Divan und rauchte eine Tabakspfeife“. Bei einer späteren Gelegenheit hörte der von Tschaikowsky vergötterte Dichter Tolstoi diesen Satz. Tschaikowsky notierte: „Nie in meinem Leben habe ich mich so geschmeichelt und stolz auf meine Schöpfungskraft gefühlt wie bei der Gelegenheit, als Tolstoi neben mir saß und meinem Andante zuhörte, während Tränen seine Wangen herunterrollten“. Musik 8 CD I / Track 3 (6:34) Puffer auf Ende fahren 2:17! Peter Tschaikowsky: Streichquartett Nr. 1 D-Dur, op. 11 2. Satz: Andante cantabile Borodin Quartet CHANDOS, CHAN 9871(2), LC7038