Lateinische Syntax I Modul Lateinische Sprache: Grundkurs I Wintersemester 2014-15 Die grammatischen Relationen im Satz Dieses Skript soll Ihnen helfen, sich die Syntax und Semantik der satzinternen Relationen des Lateinischen zu erarbeiten. Es setzt voraus, daß Sie die entsprechenden Abschnitte bei Rubenbauer–Hofmann–Heine durchgearbeitet haben. Wir verwenden folgende Abkürzungen: RH — = Rubenbauer – Hofmann – Heine: Lateinische Grammatik 121995 (die Schulgrammatik, mit der wir arbeiten). KS — = Kühner-Stegmann: Lateinische Syntax, 1918 (das deskriptive Standardwerk; da schauen Sie als erstes nach, wenn Sie mehr Information brauchen) Kienpointner — = M. Kienpointner, Kontrastive Lateinisch-deutsche Syntax, 2010 HS — = J.B. Hofmann –A. Szantyr, Lat. Syntax, in: J.B. Hofmann – M. Leumann – A. Szantyr, Lateinische Grammatik. Bd. 1: Laut- und Formenlehre 1977, Bd. 2: Syntax 1965 (historisches Standardwerk) Givón — = T. Givón, Syntax. 2000. Eine Syntax auf typologischer (sprachvergelichender) Basis. Wichtig als theoretische Grundlage. MBS — = Menge – Burkard – Schauer: Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik, 2000. Das benutzt man als Nachschlagewerk für Fragen der dt.lat. Übersetzung, die in RH nicht beantwortet werden. Mehrere Ex. in der Lehrbuchsammlung. M — = Menge: Repetitorium der lat. Syntax: der Vorgänger von MBS, für Fragen der Übersetzung, die von MBS nicht geklärt werden, nach wie vor sehr nützlich LSS — = H. Pinkster, Lateinische Syntax und Semantik, Tübingen 1988 (das relativ ‘modernste’ der hier aufgeführten Bücher; als Begleitlektüre zu empfehlen) Meiser — = G. Meiser, Historische Laut- und Formenlehre der lateinischen Sprache. 1999. Baldi — = Ph. Baldi, Foundations of Latin. 1999. Die beiden letzgenannten Titel ziehen wir heran, wenn es um die Klärung sprachhistorischer Probleme geht. Bußmann — = H. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft. 2006 Glück — = H. Glück, Metzler Lexikon Sprachwissenschaft. 1999 Hinweise für Ihre Arbeit: 1. Lesen Sie vor der Bearbeitung die angegebenen §§ bei Rubenbauer-Hofmann 2. Dann arbeiten Sie das Skript durch und übersetzen dabei alle Beispielsätze so genau wie möglich. Ein Beispiel das mit eckigen Klammern numeriert ist — [1] — ist neu, eines mit runden Klammern — (1) — ist vorher schon einmal verwendet worden. F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 3. Neben dem Haupttext finden Sie Zusatzinformation in diesem Schriftgrad; die müssen Sie nur passiv beherrschen. 4. in Zeilen, vor denen Sie das Zeichen ? finden, stehen Aufgaben, die Sie lösen sollten. Wenn Sie das auch mit Hilfe von Wörterbuch, RH oder KS nicht schaffen, notieren Sie sich bitte Ihr Problem und bringen Sie es im Kurs zur Sprache 5. ↑ bedeutet, daß Sie einen Begriff bei Bußmann oder Glück klären sollten. Die jeweils neueste Version dieser Skripten finden Sie an folgender Internetadresse: http://www.ku-eichstaett.de/Fakultaeten/SLF/Philologie/Hinweise/Syntax/ KU Eichstätt 2 Latinistik Inhaltsverzeichnis A Grundbegriffe der Satzstruktur 11 A.1 Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 A.1.1 Relationale und absolute Ausdrücke . . . . . . . . . . . . 12 A.1.1.1 Inhärent relationale Ausdrücke . . . . . . . . . 12 A.1.1.2 Absolute Ausdrücke . . . . . . . . . . . . . . . . 14 A.1.1.3 Änderung der Relationalität . . . . . . . . . . . 15 A.1.2 Ausdrucksmittel der Relationalität . . . . . . . . . . . . . 15 A.2 Die Struktur des Satzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 A.2.1 Semantische und syntaktische Relationen . . . . . . . . . 17 A.2.2 Valenz und Satzstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 A.2.2.1 Situationstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 A.2.2.2 Determinationsgrade . . . . . . . . . . . . . . . 19 A.2.3 Semantische Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 A.2.4 Syntaktische Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 A.2.5 Komplexe und diskontinuierliche Satzglieder . . . . . . 23 A.2.5.1 Unterschiede zwischen Deutsch und Lateinisch 23 A.2.5.2 Formen komplexer Satzglieder . . . . . . . . . 24 A.2.6 Eine Liste wichtiger Satzstrukturen . . . . . . . . . . . . 25 A.3 Ausdrucksmittel satzinterner syntaktischer Relationen . . . . . 29 A.3.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 A.3.2 Kasus, Kongruenz und Präposition im Lateinischen . . 30 A.3.3 Charakteristika des lateinischen Kasussystems . . . . . . 31 A.3.3.1 Obliquer und kongruenter Kasus . . . . . . . . 31 A.3.3.2 Grammatische und konkrete Kasus . . . . . . . 31 A.3.3.3 Kasus und Präpositionen im klass. Latein . . . 34 A.3.3.4 Ableitung von Adverbien mittels Kasusformen 35 A.3.3.5 Die Entwicklung im Spätlatein . . . . . . . . . 35 3 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 B Direkte Partizipation: Subjekt und direktes Objekt 37 B.1 Das Subjekt und seine Sonderstellung . . . . . . . . . . . . . . . 37 B.2 Syntax des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 B.2.1 Nominale und satzförmige Subjekte . . . . . . . . . . . . 39 B.2.2 Mit dem Subjekt kongruierende Ausdrücke . . . . . . . 39 B.2.2.1 Kongruenz bei pronominalem Subjekt . . . . . 40 B.2.2.2 Syntax und Semantik der Prädikatsnomina . . 41 B.3 Das direkte Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 B.3.1 Transitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 B.3.1.1 Die Skala der Transitivität . . . . . . . . . . . . 44 B.3.1.2 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Transitivierung und Intransitivierung . . . . . . . . . . . 45 B.3.2.1 Obliquer Kasus wird direktes Objekt . . . . . 45 B.3.2.2 Transitivierung durch Präverbierung . . . . . . 47 B.3.2.3 Transitivierung durch Bedeutungswandel . . . 48 B.3.2.4 Absoluter Gebrauch, Ellipse, Intransitivierung 50 Verben mit vager Diathese . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 B.4 Nominalisierung transitiver und intransitiver Sätze . . . . . . . 54 B.5 Nicht-transitive Verben mit einem Akkusativobjekt . . . . . . . 55 B.3.2 B.3.3 B.5.1 B.5.2 Unpersönliche Verben mit Akkusativ der Person . . . . 56 B.5.1.1 57 Ausdrucksformate . . . . . . . . . . . . . . . . . Sog. ‘Inneres Objekt’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 B.5.2.1 Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 B.5.2.2 Abgrenzung gegen pronominale Objekte . . . 59 B.6 Doppelter Akkusativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 B.6.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 B.6.2 Der Typ ‘doppeltes Objekt’ . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 B.6.3 Der Typ AkkObj + Prädikatsnomen . . . . . . . . . . . . 63 B.7 Weiterführende Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 C Indirekte Partizipation: Der Dativ und seine Konkurrenzausdrücke 67 C.1 Semantische Varianten indirekter Partizipation . . . . . . . . . . 67 C.2 Syntaktische Funktionen indirekter Partizipanten . . . . . . . . 69 C.2.1 Der adverbiale Dativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 C.2.1.1 KU Eichstätt Der adverbiale Dativ bezeichnet eine Person . 4 69 Latinistik F. Heberlein Syntax I C.2.1.2 WS 2014-15 Der adverbiale Dativ bezeichnet einen Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 C.2.2 Der Dativ als Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 C.2.2.1 Der Dativ als einziges Objekt . . . . . . . . . . 71 C.2.2.2 Indirektes Objekt bei Adjektiven . . . . . . . . 73 C.2.2.3 Kombination von Dativobjekt mit Akkusativobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Ein Spezialfall: indirekte Partizipanten als Secundum comparationis . . . . . . . . . . . . . . 74 C.2.2.4 C.2.3 Alternative Ausdrucksformate für indirekte Partizipation 76 C.2.3.1 Präposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 C.2.3.2 Nebensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 C.2.4 Wechsel der Kasuskonfiguration . . . . . . . . . . . . . . 77 C.2.4.1 Nutznießer vs. Patiens . . . . . . . . . . . . . . 77 C.2.4.2 Kombination von indirektem Objekt und Possessor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 C.2.5 Doppelter Dativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 C.2.5.1 Prädikatsnomen bei esse . . . . . . . . . . . . . 80 C.2.5.2 Objekt der Sache bei dare, tribuere, vertere . . . . 81 C.3 Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 D Kategorisierung 87 D.1 Partitiv-Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 D.1.1 Zwei Arten von Partitiv-Relationen . . . . . . . . . . . . 89 D.1.1.1 Echte Partitivkonstruktionen . . . . . . . . . . . 90 D.1.1.2 Pseudo-Partitivkonstruktionen . . . . . . . . . 93 D.1.2 Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 D.2 Possessiv-Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 D.2.1 Possession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 D.2.1.1 Semantik der Possessivkonstruktionen . . . . . 98 D.2.1.2 Pronomina in Possessivkonstruktionen . . . . . 99 D.2.2 Abstrakte Extensionen des possessiven Genitivs . . . . . 100 D.3 Qualitative und quantitative Kategorisierung . . . . . . . . . . . 101 D.3.1 Genitivus bzw. Ablativus »qualitatis« und »pretii« . . . 101 D.3.1.1 KU Eichstätt Genitiv und Ablativ bei Verben für »Einschätzen« und »Kaufen« . . . . . . . . . . . . . . . . 5 102 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 D.4 Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 D.4.1 »Mnestische« Verben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 D.4.1.1 Ausdrucksformate . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 D.4.1.2 Satzförmige Objekte . . . . . . . . . . . . . . . . 106 D.4.2 Verben der Rechtssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 D.4.2.1 Ausdrucksformate . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 D.4.2.2 Metaphorische Ableitungen . . . . . . . . . . . 108 D.4.3 Unpersönliche Verba affectus . . . . . . . . . . . . . . . . 108 D.4.3.1 Alternative Ausdrucksformate . . . . . . . . . . 109 D.5 Das Genitivobjekt bei interest / refert . . . . . . . . . . . . . . . 110 E Konkomitanz 115 E.1 Polysemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 E.1.1 Kompensation der Polysemie . . . . . . . . . . . . . . . . 116 E.1.1.1 Semantische Variation . . . . . . . . . . . . . . . 116 E.1.1.2 Syntaktische Variation . . . . . . . . . . . . . . 117 E.1.1.3 Klassifikationskriterien . . . . . . . . . . . . . . 119 E.2 Der Soziativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 E.2.1 Der Prototyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 E.2.2 Semantische und syntaktische Variation . . . . . . . . . 120 E.2.3 Ausdrucksformate des Soziativs . . . . . . . . . . . . . . 122 E.3 Der Instrumental . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 E.3.1 Der Prototyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E.3.2 Ableitungen durch lexikalische Variation des Instrumentals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 E.3.2.1 Das ‘Instrument’ ist ein Körperteil . . . . . . . 124 E.3.2.2 Das ‘Instrument’ ist ein Beförderungsmittel . . 124 E.3.2.3 Das ‘Instrument’ ist eine Masse . . . . . . . . . 124 E.3.2.4 Das ‘Instrument’ ist abstrakt oder wird figurativ verwendet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Das ‘Instrument’ bezeichet eine Eigenschaft der Handlung: ‘Ablativus modi’ . . . . . . . . . . . 126 Kombination aus Ablativus modi und Secundum Comparationis . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Ableitung durch Wechsel der Aktionsart: der ‘Ablativus causae’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 E.3.2.5 E.3.2.6 E.3.3 KU Eichstätt 123 6 Latinistik F. Heberlein Syntax I E.3.3.1 WS 2014-15 Der Ablativus causae bei RH §151 . . . . . . . E.3.4 Lexikalische Spezialisierung des Hauptverbs: der »Ablativus pretii« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 E.3.5 Grammatikalisierung des Instrumentals als Objekt . . . F Lokale Relationen: Separativ, Lokativ, Direktiv, Pfad F.1 135 F.1.1 Ausdrucksformate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 F.1.2 Der Separativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 F.1.2.1 Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 F.1.2.2 Zur Semantik und Syntax der Separativverben 138 F.1.2.3 Phraseologie und Idiomatik . . . . . . . . . . . 140 Extensionen des Separativs . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 F.1.3.1 Der Ablativus originis . . . . . . . . . . . . . . 141 F.1.3.2 Der Agentive Ablativ . . . . . . . . . . . . . . . 141 F.1.4 Lokativ und Direktiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 F.1.5 Perspektivierung lokaler Relationen . . . . . . . . . . . . 143 F.1.5.1 F.1.5.2 Beispiele für unterschiedliche Perspektivierung zwischen Deutsch und Latein . . . . . . . . . . 144 Änderung der Perspektive durch Präverbierung 145 Von der Orts- zur Zeitangabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 F.2.1 Die Funktion von Zeitangaben . . . . . . . . . . . . . . . 146 F.2.1.1 Positionierung auf der Zeitachse . . . . . . . . 147 F.2.1.2 Zeitdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 F.2.2 F.3 129 Lokale Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 F.1.3 F.2 128 Die Rolle der Orts- → Zeit-Metaphorik in diesem System 148 F.2.2.1 Der Separativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 F.2.2.2 Der Direktiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 F.2.2.3 Der Lokativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 F.2.2.4 Zusätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Separativ und Instrumental in der Komparation . . . . . . . . . F.3.1 150 Die Funktionen des Separativs und Instrumentals in der Komparation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 F.3.2 Der Ablativus comparationis . . . . . . . . . . . . . . . . 152 F.3.3 Der Instrumental als Spezifikator des Tertium comparationis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 KU Eichstätt 7 Latinistik Warum beschäftigen wir uns mit lateinischer Grammatik? Wir könnten auf diese Frage zunächst eine simple Antwort geben: die ‘Autoritäten’ wollen es so: • die für uns maßgebliche Lehramtsprüfungsordnung verlangt in unannachahmlicher Kunstprosa (a) Beherrschung der Grammatik des klass. Latein, (b) Kenntnisse auf dem Gebiet der Sprachgeschichte und (c) der historischen Grammatik. Dem Punkt (a) gelten unsere Grammatikkurse, die Punkte (b) und (c) werden durch sie teilweise abgedeckt; weitere Lehrveranstaltungen erbringen den Rest • Didaktik und auch die Lehrpläne führen als Begründung für den Lateinunterricht an, daß das Lateinische Reflexionssprache sei, wogegen Englisch natürlich als Kommunkationssprache gelehrt werde1 . Nehem wir einmal ohne weitere Diskussion2 an, daß diese Forderungen und Begründungen sinnvoll sind: dann stellt sich uns die Frage, welche Kenntnisse wir selbst erwerben müssen, um das Lateinische als Reflexionssprache zu lehren, um also Schüler im bewußten Vergleich mit seiner Muttersprache einen Einblick in sprachliche Strukturen, Operationen und Entwicklungen zu geben3 . Sprachunterricht in ‘Kommunikationssprachen’ kann sich mit der Vermittlung intuitiver Sprachkompentenz begnügen und tut das oft auch (Motto: ‘Hauptsache sie können ihre Pizza auf Italienisch bestellen’). Sprachunterricht in einer Reflexionssprache muß klärlich auch ein gewisses Maß an kognitiver Sprachkompentenz vermitteln. Damit stellen sich für uns von vorneherein höhere Anforderungen. Denn natürlich müssen Lehrer in beiden Bereichen selbst über kognitive Sprachkompetenz verfügen, aber nur das Lateinlehrer muß diese auch dem Schüler vermitteln, wenn er den Begriff ‘Reflexionssprache’ ernst nimmt. Wir müssen also imstande sein, zweierlei zu tun: 1. Aufgrund unserer kognitiven Sprachkompentenz im Lateinischen den Aufbau der intuitiven Sprachkompetenz beim Schüler unterstützen. Die relevanten Teilbereiche sind dabei (a) Erwerb des Lexikons (b) Kenntnis der Wortkategorien (Substantiv, Verb etc.) (c) Kenntnis der syntakt. Kategorien und Relationen (Satzglieder; syntakt. Konstruktionen) (d) Nebensatz-Operationen 1 Guter Überblick bei K. Westphalen, Basissprache Latein. Bamberg 1992. Diskussion um die Funktion des Lateinunterrichts ist bekanntlich uferlos. Eine erste Orieentierung finden sie bei K. Westphalen, Latein oder Französisch?, Forum Classicum 46, 2003, 3ff. 3 Eine gute Einführung zum folgenden findet sich bei P. Portmann-Tselikas, Kognitive Linguistik und Spracherwerb, AU 46 4+5, 72ff 2 Die F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 (Die vorstehende Liste beschreibt den üblicherweise angenommenen Weg des Erwerbs muttersprachlicher Kompetenz; für das Erlernen einer Zweitsprache ist die Reihenfolge natürlich weniger wichtig). 2. Aufgrund unserer kognitiven Sprachkompetenz dem Schüler ebenfalls ein möglichst hohes Maß an kognitiver Sprachkompetenz zu vermitteln, die ihn zur Sprachreflexion befähigt. Die traditionellen Verfahren des Lateinunterrichts, Übersetzen und Interpretieren, können dabei auch propädeutische Funktion für die der Sprachkompetenz übergeordnete kommunikative Kompetenz haben, d. h. einen Beitrag liefern zur Entwicklung von (a) soziolinguistischer Kompetenz: Kenntnis der Situationsangemessenheit einer Äußerung (‘Aptum’) (b) Textkompentenz: Befähigung zur Textmusterkenntnis (Erzählen, Beschreiben, Explizieren, Argumentieren) und zur Herstellung von Textkohärenz (c) Kompentenz zur sprachlichen Problemlösung (‘wie mache ich was wem am besten verständlich?’) Diese Ziele lassen sich natürlich nur erreichen, wenn man nicht die Unterschiede zwischen Deutsch und Lateinisch glattbügelt, wie das manche Unterrichtswerke tun, sondern im Gegenteil hervorhebt und analysiert. Da Entwicklung intuitiver Sprachkompentez an die muttersprachliche Kompentenz anschließt, ist das natürliche Operationsfeld der Sprachreflexion dort, wo Sprachphänomene nicht auf der Basis muttersprachlicher Intuition verstehbar sind. Beispiele gibt es zuhauf; denken wir nur an die Konkurrenz zweier Präterita (Pf. und Impf) im Lateinischen, wo Sprecher des Dt. nur eines benutzen; an den Konj. im Nebensatz; an die freie Wortstellung und das Fehlen genuiner Satzglieder, was zu Problemen wie dem sog. ‘Prädikativum’ führt – vieles andere Derartiges wird uns in den Syntaxkursen noch begegnen. Kurz: Um kognitive Sprachkompetenz zu erwerben und vermitteln zu können, betreiben wir hier lateinische Grammatik. KU Eichstätt 10 Latinistik Kapitel A Grundbegriffe der Satzstruktur Bevor wir mit der konkreten Arbeit dieses Semesters, dem Ausdruck der grammatischen Relationen im lateinischen Satz, beginnen, müssen wir vorab einige wichtige Grundbegriffe klären, nämlich (1) Relationalität, Valenz und Dependenz; (2) Semantische und syntaktische Relationen. Arbeiten Sie bitte dieses Kapitel sorgfältig durch, da wir keine Zeit haben, es im Kurs in extenso zu besprechen. Überlegen Sie, ob Ihnen etwas unklar geblieben ist und stellen Sie im Kurs dann entsprechende Fragen. Literatur Eine brauchbare Einführung in das vorliegende Thema findet man in keiner Lateingrammatik, wohl aber bei Givón (s. Lit.-vz. Kap. 1-3). Die beste Arbeit zu Relationalität und Valenz im Lateinischen ist: Chr. Lehmann, Latin valency in typological perspective. In: A.M. Bolkestein, C.H.M. Kroon, H. Pinkster, H.W. Remmelink & R. Risselada (eds), ‘Theory and description in Latin linguistics’. Amsterdam 2002. Die Unterschiede zum Deutschen werden herausgearbeitet bei M. Kienpointner, Konstrastive Syntax Lateinisch–Deutsch, Tübingen 2010. A.1 Relationalität Wir beginnen mit zwei Beispielen: [1] Orgetorix M. Messala M. Pisone consulibus regni cupiditate inductus coniurationem nobilitatis fecit “Orgetorix, getrieben von seiner Herrschgier, machte unter dem Konsulat von Messala und Piso eine Verschwörung des Adels . . . ” [2] . . . et civitati persuasit, ut de finibus suis cum omnibus copiis exirent “ . . . und überredete die Bürger, aus ihrem Gebiet mit all ihrer Habe auszuwandern” (Caes.Gal. 1,2,1). Sie zeigen uns, daß ein Satz kein x-beliebiger Haufen von Wörtern ist, sondern durch bestimmte Relationen organisiert wird. Wir legen für das folgende das Strukturdiagramm von Bsp. [1] auf S. 12 zugrunde. Erläuterungen: 11 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Abbildung A.1: Strukturbaum von Bsp. [1] 1. Pfeile von oben nach unten bedeuten Rektion, solchen von unten nach oben Modifikation. Da wir in §A.1 feststellen werden, daß nicht nur Verben, sondern auch bestimmte Adj. und Subst. inhärent relational sind, haben wir bei den Attributen zwei Möglichkeiten: (1) sie sind von ihrem Nukleus regiert: coniurationem nobilitatis, cupiditate regni (2) sie modifizieren ihren Nukleus: Orgetorix inductus; das ist der Normalfall. 2. Der Ablativus Absolutus Messala . . . consulibus hat die semantische Funktion temporal (‘unter dem Konsulat des M. und P.’) und die synt. Funktion Adverbiale. Die synt. Kategorie ist Nominalsatz, d.h. consulibus hängt nicht von . . . Pisone ab, sondern die beiden Elemente sind iuxtaponiert. A.1.1 Relationale und absolute Ausdrücke Die Relation, die ein bestimmter Ausdruck mit einem anderen eingeht, kann auf seiner Bedeutung beruhen (so etwa bei Verben); ein solcher Ausdruck besitzt also inhärente Relationalität – er bedarf zu seiner Vervollständigung eines anderen Ausdrucks. Neben diese relationalen Ausdrucken gibt es absolute Ausdrücke, deren Bedeutung keine Relation zu einem anderen Ausdruck impliziert. Das gilt z.B. für die Namen in [1] und [2] und für civitas in [2]. Wir beschäftigen uns zunächst mit den relationalen Ausdrücken. A.1.1.1 Inhärent relationale Ausdrücke Sie gliedern sich in zwei große Gruppen: KU Eichstätt 12 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Gruppe I: Der relationale Ausdruck ist Nukleus einer Struktur 1. Eine hervorstechende Eigenschaft der Wortart Verbum ist es offenbar, andere Ausdrücke an sich zu binden. Es bildet also eine Struktur, nämlich einen Satz, deren Zentrum oder Nukleus das Verb ist ist: In [1] und [2] sind die Verben fett gedruckt und die vom Verb gebundenen Ausdrücke sind kursiv; dabei handelt es sich in [1] um das Subjekt Orgetorix und das Akk.-Objekt coniurationem, in [2] um das Dat.-Objekt civitati und das Akk.-Objekt ut . . . exirent1 . Ein einfacher, wenn auch unscharfer Test für diese ‘Bindungsfähigkeit’ ist die Weglaßprobe: läßt man eines der Satzglieder weg, kollabiert die syntaktische Struktur des Satzes. Das Satzgerüst von [1] lautet demnach: Orgetorix coniurationem fecit. Diese Eigenschaft des Verbs, aufgrund seiner Bedeutung andere Ausdrücke zu binden oder, anders gesagt, ‘Ergänzungen’ zu fordern, nennt man die Valenz des Verbs. Technisch ausgedrückt bedeutet Valenz, daß das Verb eine oder mehrere Leerstellen eröffnet, die von Subjekt und Objekten besetzt werden; Subjekt und Objekte sind also die Leerstellenbesetzer des Prädikats; in Abb. A.2 sind die Leerstellen mit | | gekennzeichnet. ↙ ||fecit|| ↘ Subjekt Orgetorix Akk.-Obj. coniurationem Abbildung A.2: Valenz 2. Auch andere Wortarten können Valenz besitzen. So impliziert coniurationem in [1] ebenso wie das zugehörige Verb coniurare die Existenz eines ‘Verschwörers’ (hier civitas). Und cupiditas im selben Satz impliziert ebenso wie das zugehörige Adjektiv cupidus die Existenz eines Objekts, auf das sich die Begierde richtet (hier regni). Regni und nobilitatis sind also durch die Valenz von cupiditas bzw. coniuratio gebunden. Auch diese Substantive sind Nukleus der von ihnen gebildeten Struktur, nämlich des Satzgliedes. 3. Weil relationale Ausdrucke der genannten Art die Existenz ihrer ‘Ergänzungen’ begründen, können wir sagen, daß sie diese Ergänzungen regieren, daß sie das Regens sind. Von den Ergänzungen aus gesehen heißt das, daß sie von den Valenzträger abhängen. Gruppe II: Der relationale Ausdruck ist Modifikator einer Struktur: 1. Es gibt auch Wortarten mit inhärenter Relationalität, die keine Struktur bilden, sondern eine Struktur voraussetzen, in die sie sich integrieren können. 1 Warum dieser ut-Satz Akkusativobjekt ist klären wir weiter unten. KU Eichstätt 13 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Typ. Beispiel dafür sind die Adjektive, wie inductus und omnibus in [1] und [2]. inductus und omnibus sind zwar relational, weil sie eine Leerstelle für einen Substantivbegriff eröffnen, den sie durch Aufnahme in diese Leerstelle näher bestimmen. Sie setzen aber die Existenz dieses Substantivbegriffs voraus und sind somit nicht ‘strukturbildend’, sondern ‘strukturvoraussetzend’. Das zeigt uns wieder die ‘Weglaßprobe’: inductus und omnibus können weggelassen werden, ohne daß die syntaktische Struktur des Satzes kollabiert. Daher können wir sagen, daß inductus und omnibus von ihrem jeweiligen syntaktischen Nukleus, Orgetorix bzw. copiis, abhängig sind. 2. Die semantische Funktion solcher »attributiven« Adjektive ist die nähere Bestimmung, technisch gesagt: die Modifikation des übergeordneten Nominals. Eine ähnliche Funktion, jedoch gegenüber dem Verb, haben die Adverbien und Adverbialien. Wir können beide daher unter dem Begriff Modifikatoren zusammenfassen und den übergeordneten Ausdruck das Modifikatum nennen. Ein weiteres Argument für die Abhängigkeit des Modifikators von Modifikatum ergibt sich aus dem Umstand, daß nicht die Modifikatoren, sondern das Modifikatum die syntaktische Kategorie des Gesamtausdrucks determiniert. In einem Satz wie Puella pulchra se in speculo contemplatur hat puella pulchra dieselbe syntaktische Funktion wie puella alleine; technisch gesagt: es hat dieselbe Distribution. Es bleibt also prinzipiell ein SubstantivAusdruck und wird nicht etwa zum Adjektiv, vgl. Tab. A.1: Puella Puella pulchra Form Substantiv Substantiv-Gruppe Synt. Kategorie Substantivale Substantivale Tabelle A.1: Wortart und syntaktische Kategorie. Der Begriff ‘Substantivale’ ist analog zu dem Begriff ‘Adverbiale’ gebildet von Chr. Lehmann, um den Unterschied zwischen Wortart und syntaktischer Kategorie erfassen zu können. Der Unterschied auf den Begriff gebracht: • Nuklei bilden Strukturen und regieren ihre Satelliten: Rektion. • Modifikatoren dagegen setzen eine Struktur voraus und modifizieren ihren Nukleus semantisch: Modifikation. A.1.1.2 Absolute Ausdrücke Sie bgründen keine Relation, und müssen deshalb auf andere weise in der Struktur eines Satzes verankert werden; dafür gibt es zwei Techniken: • Leerstellenbesetzung: Orgetorix ist Subjekt, besetzt also, wie wir oben anhand von Abb. A.2 gesagt haben, eine Leerstelle von fecit und wird so in die von fecit gebildete Struktur aufgenommen KU Eichstätt 14 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 • Relationalisierung durch syntaktische Abhängigkeit: Ein absoluter Ausdruck wird ‘künstlich’, nämlich mit syntaktischen Mitteln, relational gemacht. Die geläufigsten in Indoeuropäischen Sprachen hierfür sind Versetzung in einen Kasus obliquus oder Kombination mit einer Präposition. Ein Beispiel für ersteres ist consulibus in [1], eines für letzteres cum . . . copiis in [2]. Durch diese Mittel werden absolute Ausdrücke unselbstständig und signalisieren, daß sie eine Relation zu einem ‘syntaktischen Anker’ eingehen. Für die ‘Adverbialien’ consulibus und cum copiis ist der syntaktische Anker fecit bzw. exirent. A.1.1.3 Änderung der Relationalität Relationalität kann durch grammatische Operationen erweitert oder reduziert werden. 1. Ein Beispiel für Erweiterung der Relationalität im Deutschen ist ist die sog. Präverbierung mit be-, durch welche ein Intransitivum ein direktes Objekt erhält: [3] Hans malt → Hans bemalt die Wand. Solche Fälle besprechen wir in §B.3.2. 2. Beispiele für die Reduktion der Relationalität sind das Passiv und alle infiniten Verbformen: [4] Hans deckt das Dach → Das Dach ist frisch gedeckt. [5] Marcus legit librum ciceronis → iuvat librum Ciceronis legere Beim Passiv wird der Agens aus der Relationalität des Verbs entfernt, beim Infinitiv das Subjekt (daß sich diese Reduktion auf ddie syntaktische Ebene beschränkt, klären wir andernorts). A.1.2 Ausdrucksmittel der Relationalität Wenn ein Ausdruck relational ist, kann das formal angezeigt werden; obligatorisch ist das aber nicht. Im Lateinischen und im Deutschen ist es die Regel, im Englischen dagegen weniger häufig (vgl.u.). Im Lateinischen liegen die Dinge so: 1. Inhärente Relationalität kann markiert werden (a) bei Verben und Adjektiven durch die Kongruenz: Kongruenz wird am relationalen Element einer syntaktischen Konstruktion angezeigt, und zwar durch Kongruenz-Affixe, nämlich Person/Numerus beim Verb, vgl. feci-t und Kasus, Numerus und Genus beim Adj., vgl. induct-us in [1]. (b) bei Adverbien das Adverbialsuffix (-e, iter) oder – bei zu Adverbien erstarrten Substantiven – ein Kasus. KU Eichstätt 15 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 2. Nicht-inhärente Relationalität kann markiert werden, wie oben schon gesagt, (a) durch Versetzung eines Substantivs in den Kasus Obliquus, vgl. den Ablativ M. Messalla M. Pisone consulibus in [1] (b) durch Kombination mit einer Präposition plus den von dieser verlangten Kasus wie cum omnibus copiis in [2]; (c) schließlich durch Kasus-Kongruenz bei Substantiven: das sehen wir wieder an dem Ausdruck M. Messalla M. Pisone consulibus, von dem wir gerade gesagt haben, daß er durch den Ablativ seine syntaktische Relation zum Satz (Adverbiale) anzeigt. Die interne Relation zwischen dem Bezugswort Messala . . . Pisone und der Apposition consulibus wird durch KNG-Kongruenz angezeigt: indem consulibus den Kasus von Messala . . . Pisone ‘kopiert’, zeigt es an, daß es zu diesem in syntaktischer Relation steht. 3. Die Relevanz dieser Ausdrucksmittel hängt davon ab, in welchen syntaktischen Relationen sie verwendet werden: (a) Wenn ein Substantiv die Leerstelle eines Verbs besetzt (Subjekt oder Objekt ist), ist der Kasus als der Marker der Relation redundant, weil sich die Relation zum Verb aus der semantischen Relationalität des Verbs selbst ergibt. Dasselbe gilt für die Leerstellenbesetzung bei relationalen Substantiven. Das zeigt unmittelbar der Unterschied zwischen Lateinisch und Englisch: [6] a. M. Messalla M. Pisone consulibus Orgetorix fecit conspirationem b. Under the consulate of Mesalla and Piso, Orgetorix made a conspiracy [7] a. expositio investigationum b. research survey ( → survey of research) Das Englische hat keine Kasus; daß conspiracy Objekt ist, ergibt sich einfach daraus, daß diese Relationen in der Bedeutung von made impliziert sind. Dasselbe gilt für research: die relationale Bedeutung von survey reicht hin, um klar zu machen, daß es research bindet, also eine Konstruktion wie coniurationem nobilitatis in [1] vorliegt2 . (b) Wenn ein absoluter Ausdruck dagegen modifizierende Funktion hat wie etwa Messalla . . . consulibus wird die Relation von ihm alleine begründet und deswegen muß sie auch bei ihm angezeigt werden. Deswegen finden wir auch im Englischen hier einen formalen Ausdruck für die Relation, nämlich die Präposition under, die dem lat. Ablativ entspricht. 2 In Sprachen wie em Deutschen besteht in solchen Fällen Tendenz zur Komposition: ‘Forschungsbericht’. KU Eichstätt 16 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 A.2 Die Struktur des Satzes A.2.1 Semantische und syntaktische Relationen Kommen wir auf unser Beispiel [1] zurück: Orgetorix coniurationem fecit Wir haben gesagt, daß fecit kraft seiner Valenz die Grundstruktur dieses Satzes determiniert. Diese Struktur können wir semantisch und syntaktisch beschreiben: semantische Relation: semant. Eigenschaft: syntaktische Relation: Orgetorix Agens +anim Subjekt coiniurationem Patiens -anim Objekt fecit Grundlegend ist die semantische Relation Prädikat – Satzglied(er): fecit impliziert aufgrund seiner Valenz (1) zwei Ergänzungen (anderer Ausdruck: Partizipanten), davon (2) einen Agens, der also belebt sein muß (+anim), und (3) einen Patiens, der unbelebt ist. Nachrangig sind die syntaktischen Relationen, mit denen diese beiden Ergänzungen als Subjekt und Objekt ausgedrückt werden. Daß das die nachgeordnete Beschreibungsebene ist, können wir zeigen, indem wir den Satz manipulieren, z.B. in einen Abl.abs. umformen [8] coniuratione ab Orgetorige facta . . . Subjekt sowie Objekt sind verschwunden; Agens und Patiens aber bleiben. Wir werden also in Zukunft die semantischen Relationen innerhalb eines Satzes von den syntaktischen Relationen genau unterscheiden. A.2.2 Valenz und Satzstruktur Wir haben oben gesagt, daß das Verb kraft seiner Valenz die Struktur des Satzes bestimmt. Wir sehen jetzt, daß das nicht nur die Zahl der Ergänzungen betrifft, sondern, wenigstens im Prinzip, auch deren sematische und syntaktische Relation zum Verb: fecit determiniert die semantische Relation Agens – Patiens und die syntaktische Relation Subjekt – Objekt. Hinzu kommt nun noch ein letztes Kriterium, welches durch das Verb bereitgestellt wird, nämlich die Aktionsart: Verben können (1) im höheren oder geringeren Maße agentiv oder nicht-agentiv sein, anders gesagt: ihr Subjekt kann die Situation mehr oder minder kontrollieren, (2) im höheren oder geringeren Maße dynamisch und telisch sein, d.h. eine Entwicklung der Situation und ihren Abschluß implizieren oder nicht. KU Eichstätt 17 Latinistik F. Heberlein A.2.2.1 Syntax I WS 2014-15 Situationstypen Wenn man also Valenzbegriff mit seinen Komponenten (1) Zahl der Ergänzungen (oft ‘Wertigkeit’ oder ‘Stelligkeit’ genannt), (2) semantische und (3) syntaktischer Funktion der Ergänzungen kombiniert mit dem ebengenannten Kriterium der Aktionsart, ergibt sich eine einfache Typologie von semantischen Situationentypen wie in Tab. A.2 dargestellt: Situation Bsp. semant. Eigensch. Aktion +dynam. Paul killt seine Schwiegermutter Paul schreibt ein geniales Referat Paul arbeitet semant. Relationen +tel. +co Agens +co Prozeß -tel. Agens +tel. -tel. Recipiens Ursache Patiens +dynam. Paul bekommt einen Brief Der Regen trommelt auf das Dach -co -co Paul steht in der Ecke Paul ist riesengroß +co -co Zustand -dynam. -tel Kontrolleur Qualificatum Tabelle A.2: Situationstypen: co = Situation vom Subjekt kontrolliert; dynam = dynamisch, tel = telisch. Die Situationen sind von oben nach unten angeordnet von maximal agentiv (+co) und dynamisch bis minimal agentiv und dynamisch (+co / + dyn). Dynamische Situationen können telisch (+tel) oder atelisch (-tel) sein, Zustände sind natürlich immer atelisch. Ganz rechts Beispiele für semantische Relationen, welche in den Situationstypen typischerweise vorkommen. Folgende Eigenschaften des Satzes können also durch die Valenz des Prädikats bestimmt werden: 1. Der Situationstyp: (1) Aktionen sind dynamisch und vom Subjekt kontrolliert Prozesse sind ebenfalls dynamisch, aber nicht vom Subjekt kontrolliert (2) Zustände sind nicht-dynamisch; sie können aber vom Subjekt kontrolliert sein Aktionen und Prozesse können telisch sein (einen Abschluß der Situation implizieren), Zustände nicht. 2. Der Grad der Agentivität: wenn die Valenz des Verbs vorsieht, daß die Situation kontrolliert ist (+co), impliziert das die semantische Relation Agens für das Subjekt. Wenn nicht, besteht ein niederiger Grad an Agentivität, so in bekommt einen Brief ; hier ist das Subj. nicht Agens, sondern Nutznießer (Recipiens). 3. Der Grad der Patientivität: der Patiens kann von der Handlung affiziert sein, oder effiziert. Streicheln affiziert den Patiens nur in niederigem, killen in hohem Grade; schreiben verleiht dem Patiens überhaupt erst Existenz. All diese Parameter tragen zur Definition der semantischen Funktion (semantischen Relation) der Partizipanten in einem Satz bei; Beispiele: (1) Agens (+co + dyn) – Kontrolleur (+co) – Recipiens (-co + dyn) – Force (Naturkraft: -co + dyn); (2) Patiens: kontrolliert. KU Eichstätt 18 Patiens Locus Latinistik F. Heberlein A.2.2.2 Syntax I WS 2014-15 Determinationsgrade Nicht alle Prädikate determinieren die Eigenschaften ihrer Ergänzungen gleich stark; vielmehr gibt es eine Skala: 1. Der maximale Grad wird duch ein Verb wie dare illustriert: Marcus amico librum dat +anim Agens Subj. +anim Nutznießer Dat.-Obj. ± anim Patiens Akk.-Obj. Präd. dare impliziert (a) die Zahl der ‘Situationsteilnehmer’, der Partizipanten, nämlich drei, einen Geber, einen Empfänger und eine Gabe. (b) bestimmte semantische Eigenschaften der Partizipanten: Geber und Empfänger haben die Eigenschaft ‘belebt’ (anim), dagegen ist die semant. Eigenschaft der Gabe unbestimmt (c) die semantische Relation dieser Teilnehmer zu sich, dem Verb: ‘Marcus’ ist Agens, ‘amico’ ist Nutznießer, librum ist Patiens. (d) die syntaktische Relation dieser Teilnehmer zu sich: ‘Marcus’ ist Subjekt, ‘amico’ ist Dativobjekt, librum ist Akkusativobjekt. 2. Geringer ist der Determinationsgrad, wenn ein Verb zwar die Zahl der Ergänzungen determiniert, aber nicht deren semantische und syntaktische Relation; Beispiele sind donare und persuadere in Tab. A.3 auf S. 19: Marcus amico donat Agens indir. Part. ............................... Marcus amicum donat Agens Patiens equum Patiens Marcus amico persuadet Agens indir. Part. ............................... Marcus amico persuadet Agens indir.Part. persuadet ut Romam iret Ziel equo Instrument terram esse sphaeram Faktum Tabelle A.3: Determinationsgrad von Verbvalenz Donare läßt unterschiedliche Konfigurationen der semantischen Relationen zu3 , persuadere unterschiedliche semantische Relation des Ergänzungssatzes. 3. Auf der nächsten Stufe entfällt die Notwendigkeit, eine Ergänzung auszudrücken – sie kann in der aktuellen Äußerung fehlen, weil sie kommunkativ unwichtig ist, und ist dann nur implizit in der Situation vorhanden: [9] Paula sieht einen schweeweißen Fesselballon. [10] Paula sieht nur auf dem linken Auge. Sieht in [10] impliziert natürlich auch, daß Paula physische Objekte wahrnehmen kann; aber welche das sind, ist in [10] für den aktuellen Sprechakt völlig unwichtig. 3 Daß sich dabei tatsächlich auch die Gesamtbedeutung ändert, erörtern wir weiter unten. KU Eichstätt 19 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 4. Die semantische Relation von Adverbialien wird nicht vom Verb determiniert (von Einzelfällen abgesehen wie z.B. »rühren«, das ein Instrument impliziert). Sie wird vielmehr durch unterschiedliche Faktoren bestimmt, wie ihre lexikalische Bedeutung, ihre ‘optimale Interpretation’ in Relation zum Restsatz, und ggf. weitere Faktoren. Beispiele: (a) Mesalla Pisone consulibus in [1]. Der Abl.abs. Mesalla Pisone consulibus in [1] hat die SF temporal, weil seine nächstliegende Lesart die eines Temporalsatzes ist. Dagegen ist beim Abl.abs. in [11] Num ego Britannico vivo vivere potuissem “Hätte ich überleben können, wenn Britannicus am Leben geblieben wäre” die ‘optimale’ Interpretation die SF kondizional, was sich aus der Modalität des Hs. (potuissem) ergibt. (b) In dem Satzpaar [12] Hostes captivos fame perdiderunt [13] Captivi fame perierunt entscheidet die Aktionsart des Satzes über die semantische Relation von fame. [12] ist eine Aktion (Die Feinde vernichteten die Gefangenen durch Hungern), fame ist deren Instrument; [13] ist ein Prozeß, und fame dessen Ursache (die Gefangenen kamen durch Hungern ums Leben). A.2.3 Semantische Relationen Wieviele semantische Relationen wie Agens, Patiens etc. man annehmen soll, ist durchaus umstritten. Wir machen hier keine Liste auf, sondern nennen nur die Prototypen. Deren Varianten werden in den nachfolgenden Kapiteln jeweils am Ort beschrieben4 . Zur Terminologie: ein geläufigen Alternativausdruck zu »semantische Relation« ist semantische Funktion; wir verwenden aus Platzgründen im folgeden oft dessen Abkürzung: SF. 4 Listen, die einen Mittelweg zwischen den in der Literatur vorgeschlagenen Minimal- und Maximallösungen darstellen, finden sich bei Givón 106ff und Kienpontner. KU Eichstätt 20 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Semant. Funktion Beschreibung Agens Partizipant, der eine Aktion ausführt und kontrolliert Marcus librum scribit Partizipant, der von Aktion affiziert oder effiziert wird Marcus librum scribit Partizipant, auf den hin eine Situation orientiert ist Marcus amico librum donat / P. litori appellit Partizipant, der Ort und Zeit einer Situation bezeichnet Marcus Romae habitat Partizipant der die Handlung begleitet oder als Instrument dient Marcus venit cum amico / P. scribit stylo Ursache einer Situation Marcus abit propter tempestatem Kategorie oder Geltungsbereich, in die eine Situation gehört Marcus excellit virtute Patiens Indirekter Partizipant Tempus / Locus Konkomitanz Grund / Folge Kategorie Tabelle A.4: Prototypische semantische Funktinonen A.2.4 Syntaktische Relationen Syntaktische Relationen sind • auf Satzebene die Relation zwischen Satzgliedern, nämlich zwischen Prädikat und Subjekt, Objekt(en), Adverbial(i)e(n) • auf Satzgliedebene die Relationen Attribut / Apposition gegenüber dem übergeordneten Nominal. Wir unterscheiden folgende Satzglieder: 1. Das Prädikat ist Nukleus des Satzes. Prädikate können durch Verben, Adjektive und Substantive gebildet werden. Letztere werden im Unterschied zum Deutschen nur üblicherweise, nicht aber obligatorisch mit einer ‘Kopula’ verbunden (das Lateinische kennt also noch echte Nominalsätze): [14] Omnia praeclara rara (sunt) “Alles Hervorragende ist selten” 2. Der Rektion unterliegende Satzglieder – Subjekt und Objekte: Sie unterliegen wegen der Valenz der Prädikats dessen Rektion. Substantivische Subjekte stehen im Nominativ, die Objekte in dem von der Rektion vorgesehenen Kasus. Zu nicht-substantivische Subjekte / Objekte s. u. 3. Modifikatoren sind Satzglieder (oder Teile davon), welche nicht valenzgebunden sind; dazu gehören (1) Adverbialie – es modifiziert Verben oder Sätze; (2) Attribute – es modifiziert Nomina; (3) Apposition – sie bietet Zusatzinformationen zu einem nicht weiter modifizierbaren Nominal (einzelnes vgl. u.) Satzglieder bilden davon nur die Adverbialien; Attribute und Apposita sind KU Eichstätt 21 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Satzgliedteile. (a) Adverbialien modifizieren je nach Bedeutung das Verb, den Satz oder den Sprechakt: [15] Erika hat Erich die Pizza schnell wegefressen. → schnelles Wegfressen [16] Gestern hat Erika Erich die Pizza wegefressen. ̸= gestriges Wegfressen. [17] Hoffentlich hat Erika die Pizza nicht weggefressen Ein Modaladverb wie schnell modifiziert das Verb, ein Temporaladverb wie gestern den ganzen Satz, wie die Tests mit dem Infinitiv zeigen. Ein Adverb der Sprechereinstellung wie hoffentlich modifiziert den Geltungsgrad des ganzen Satzes. Adverbialien werden nach ihrer semantischen Relation weiter unterteilt; schnell etwa ist modal, gestern ist temporal. Weitere Beispiele am jeweiligen Ort. (b) Attribut, Apposition und ‘Prädikativum’: [18] Omnes mulieres amant filium Marci. ‘Alle Frauen mögen den Sohn des M.’ [19] a. Omnes mulieres amant viros pulchros. b. Omnes mulieres amant viros, qui sunt pulchri. ‘Alle Frauen lieben schöne Männer’ [20] a. Juppiter amavit Ganymedem puerum. ‘J. liebte den Knaben G.’ b. Omnes amant te mulieres, qui sis tam pulcher. ‘Alle Frauen lieben Dich, der Du / weil Du so schön bist’ [21] Aristides pauper mortuus est. ‘A. starb arm’ Marci in [18], pulchros in [19a] und der Relativsatz in [19b] sind Attribute unterschiedlicher Form; puerum und der Relativsatz in [20ab] sind Appositionen; pauper in [21] ist nach schulgrammatischer Terminologie ein ‘Prädikativum’. Gemeinsam haben sie, daß sie eine Relation mit einem Nominal eingehen. Der Unterschied ist folgender: • Das Attribut in [18] sowie in [19ab] modifiziert das zugehörige Nominal, indem es seinen Begriffsumfang einschränkt (Restriktion). • Eine Apposition wie puerum in [20a] bzw. der Relativsatz in [20b] tritt zu einem bereits determinierten (↑ Determination) Nominal, einem sog. Nominalsyntagma. Da dieses schon determiniert ist (in [20b] definit: ‘den Knaben’), kann es in seinem Begriffsumfang nicht mehr eingeschränkt werden. Appositive Substantive, Adjektive oder Relativsätze haben somit im Gegensatz zum Attribut nicht die Funktion der Begriffseinschränkung, sondern liefer deskriptive Zusatzinformation über das zugehörige Nominalsyntagma. • Ein Prädikativum wie pauper in [21] ist zunächst nichts weiter als ein appositives Adjektiv. Es ist aber ein semantischer Spezialfall, weil es auf die Geltung des Hauptsatzes beschränkt ist (technisch: der Zeitreferenz KU Eichstätt 22 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 des Hauptsatzes unterworfen ist), was bei gewöhnlichen Apposita nicht der Fall ist: ‘A. starb arm / A. war arm, als er starb’. Der Unterschied gegenüber einem Attribut, dessen Geltung prinzipiell nicht auf den Hs. beschränkt ist, wird deutlich, wenn wir pauper in [21] mit (appositivem) Relativ-Satz übersetzten, was den Sinn verändert: (21) Aristides pauper mortuus est: ‘Aristides starb arm / in Armut’ [22] Aristides, qui pauper erat, mortuus est: ‘Aristides, der arm war, starb’ A.2.5 Komplexe und diskontinuierliche Satzglieder Satzglieder können formal einfach oder komplex sein, d.h. aus einem oder mehreren Wörtern oder aus Sätzen bestehen. Beispiel: in [1], in deutscher Übersetzung [23] O. machte eine Verschwörung des Adels bildet die kursiven Wörter zusammen das Satzglied ‘Akkusativobjekt’. A.2.5.1 Unterschiede zwischen Deutsch und Lateinisch Im Deutschen kann man nachweisen, daß mehrere Wörter zu einem Satzglied gehören 1. durch Ersatz diese Wörter mittels Pronominalisierung: [24] Orgetorix machte das Das ist ein substantivisches Pronomen, welches ein komplettes Satzglied mit all seinen Wörtern ersetzt. Ein solcher Substitutionstest funktioniert nicht nur für nominale Satzglieder, sondern auch für komplette ‘Kernsätze’ aus Verb + Ergänzungen. Dafür brauchen wir natürlich keine substantivische Proform sondern eine satzförmige: [25] Orgetorix zettelte eine Verschwörung an. Das geschah unter dem Konsulat von Mesalla und Piso. ‘Das geschah’ (oder ‘das tat er’ o.ä.) anaphorisiert den kompletten Kernsatz aus Prädikat und Ergänzungen; alles was übrigt bleibt, gehört nicht zur Valenz des Verbs. 2. durch den ‘Verschiebungstest’: ein Satzglied kann nur als ganzes verschoben werden, nach dem Motto ‘was zusammengehört steht auch beisammen’, z.B. KU Eichstätt 23 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [26] Eine Verschwörung des Adels machte Orgetorix nicht aber z.B. [27] Eine Verschwörung machte Orgetorix des Adels 3. Im Lateinische sind nur die Substitutionstests nach dem Muster [24] und [25], nicht aber der ‘Verschiebungstest’ anwendbar, denn im Lat. müssen die Elemente eines Satzgliedes nicht beieinander stehen; so könnten wir etwa schreiben [28] coniurationem fecit Orgetorix nobilitatis. Besonders am Satzanfang sind Satzglieder oft ‘gesprengt’, vgl. [29] Liv. 24.41.11 Bigerra inde urbs a Carthaginiensibus oppugnari coepta est “Von da an wurde die Stadt Bigerra von den karthagern belagert” Das wäre im Dt. nicht nachzumachen: [30] *Bigerra von da an die Stadt wurde von den Karthagern belagert. 4. Hieraus ergibt sich eine wichtige Folgerung: Das Lateinische hat keine Satzglieder im engeren Sinn, sondern nur Wortgruppen, deren Elemente autonome Stellung haben können. Diese Autonomie des Einzelworts ist ein archaischer Zug des Lateinischen, den es mit anderen indogermanischen Sprachen gemeinsam hat. Wenn wir im folgenden den Begriff ‘Satzglied’ oder das lat. Äquivalent ‘Konstituente’ verwenden, tun wir es mit der ebengenannten Einschränkung. A.2.5.2 Formen komplexer Satzglieder Wir illustrieren die mögliche Komplexität von Satzgliedern am Beispiel des Subjekts und der Objekte. Komplexe Subjekte: • Das Subjekt in [31] ist ein subst. Partizip plus dessen Ergänzungen, das in [32] ist eine »Ab-urbe-condita«–Konstruktion. • Das Subjekt in [33] ist ein substantivischer Relativsatz, das in [34] ein indirekter Fragesatz. • Das Subjekt in [34ff] ist ein finiter oder infiniter Komplementsatz. [31] Beatus esse poterit virtute una praeditus, carens ceteris. “Glücklich kann einer sein, wenn er nur eine Tugend besitzt und die anderen nicht hat” KU Eichstätt 24 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [32] Angebat Graecos Sicilia amissa. [33] Maximum ornamentum amicitiae tollit, qui ex ea tollit verecundiam. ‘Das Schönste an der Freundschaft beseitigt der, der aus ihr die Aufrichtigkeit beseitigt’ [34] Incertum est, utrum istam legem L. Lucullus tulerit. ‘Es ist ungewiß, ob Lucullus dieses Gesetz eingebracht hat’ [35] Accidit, ut una nocte omnes hermae deicerentur. ‘Es geschah, daß in einer einzigen Nacht alles Hermesstelen umgeworfen wurden’ Komplexe Objekte: • Das Objekt in [36] ist ein substantivischer RS. • Das Objekt in [37] ist ein finiter, das in [38] ein infiniter Komplementsatz. [36] Facies, quod iussero ‘Du tust, was ich Dir sage’ [37] Orgetorix civibus persuasit, ut finibus suis exirent ‘O. überredete seine Mitbürger, aus ihrem Gebiet zu emigrieren’ [38] Homerus nobis perusasit terram esse orbem ‘H. hat uns davon überzeugt, daß die Erde eine Scheibe ist’ [39] Caesar curavit pontem faciundum ‘Caesar ließ eine Brücke bauen’ A.2.6 Eine Liste wichtiger Satzstrukturen Auf der Basis unserer Beschreibung der Valenz des Prädikats und der syntaktischen Satzglieder können wir zum Schluß eine Liste von sieben grundlegende Satztypen beschreiben, die wir in den folgenden Kapiteln im Einzelnen betrachten werden. 1. Subjektlose Sätze: [40] Pluit, tonat etc. Während im Dt. hier ein semant. leeres Subjekt präsent sein muß (es regnet), sind diese Sätze im Lat. subjektlos. 2. Kopulasätze und Nominalsätze: Aus Subjekt und einem nominalen Prädikat bestehende Sätze. Während im Dt. die Kopula obligatorisch ist, kann sie im Lat. fehlen (das ist der ursprüngliche Zustand): [41] Omnia praeclara rara (sc. sunt) KU Eichstätt 25 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 3. Einfache Intransitive Sätze: Aus intransitivem Verb plus Subjekt bestehende Sätze. Dessen semantische Funktion hängt von der Valenz des Prädikats ab: [42] Marcus cantat (Agens) [43] Marcus somniatur (Experiencer) 4. Intransitive Sätze mit indirektem Objekt: Und zwar mit Ortsobjekt [44], mit indirektem Partizipanten [45] oder mit Konkomitanz [46]: [44] Marcus Roma proficiscitur [45] Cicero dicit ad populum [46] Miles cum hoste pugnat 5. Einfache transitive Sätze: Wir unterscheiden (a) den Prototyp: Agens + Patiens in telischer Situation; der Patiens ist affiziert oder effiziert: [47] Erika malte ein Bild (effiziert) [48] Erika verhaut ihren Freund (affiziert) Manchmal ist eine adverbiale SF wie Modus oder Instrument impliziert, und manchmal ist der Satztyp eine Alternative zu zu einem bitransitiven Satz (s.u.), so in [51] und [52]: [49] [50] [51] [52] Brutus ermordet Caesar (tötet ihn absichtlich und heimtückisch) Hans rüht die Suppe (sc. mit dem Kochlöffel etc.) Cicero hat die Catilinarier eingekerkert (∼ in den Kerker gesperrt) Hans füttert den Hund ( ∼ gibt dem Hund Futter) (b) Typen mit semantischer Degradierung des Agens oder des Patiens: [53] Hans sieht den rosaroten Elefanten (Experiencer, Patiens) [54] Hans hat ein Auto (Possessor, Possessum) 6. Bi-transitive Sätze: Das sind Sätze, die neben einem Ak.-Objekt noch ein weiteres Objekt haben, und zwar (a) ein Ortsobjekt: [55] Romani nuntios Carthaginem miserunt ‘Die Römer schickten Boten nach Karthago’ KU Eichstätt 26 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 (b) einen indirekten Partizipanten: [56] Cicero donavit Bruto librum (c) ein Prädikatsnomen im Akk: [57] Romani Ciceronem consulem creaverunt 7. Verben mit satzförmigen Komplementen: Bei ihnen hat das Objekt bzw. das Subjekt (letzteres beim Passiv und bei unpersönlichen Verben) die Form eines finiten oder infiniten Nebensatzes. Hierher gehören v.a. (a) Intentionsverben: [58] Postulo, ut testis admittatur ‘Ich verlange, daß der Zeuge zugelassen wird’ [59] Spero amicum venturum esse (b) Kognitions und Äußerungsverben5 : [60] Video navem advernire / advenientem [61] Nuntius narrat se cum Rhodiis egisse [62] Nuntius narrat, quid cum Rhodiis egerit ‘Der Bote sagt, er habe mit den R. verhandelt / . . . worüber der mit den R. verhandelt habe’ (c) Verba affectus: [63] gaudeo amicum venisse [64] gaudeo, quod amicus venit ‘Ich freue mich, daß der Freund gekommen ist’ (d) Geschehensausdrücke: [65] Accidit, ut una nocte omnes hermae6 deicerentur. ‘Es geschah, daß in einer einzigen Nacht alle Hermesstelen umgeworfen wurden’ 5 Die sog. PCU-Verben des Englischen: Perception, Cognition, Utterance. d.i. ‘Wegnweiser’ in Athen 6 Hermessäulen, KU Eichstätt 27 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 A.3 Ausdrucksmittel satzinterner syntaktischer Relationen Grundlegende Informationen zum Thema bei Givón (s. Litvz.). Über das Kasussystem des klass. Lateins informiert man sich bei LSS, Kap. 1-4 (s. Lit.-Vz.), über die Vorgeschichte des lat. Kasussystems bei Baldi, Meiser (beide im Lit.-Vz) oder bei A. Shiler, A new comparative grammar of Greek and Latin. A.3.1 Übersicht Wie wir in Kap. A.1 gesagt haben, wird die syntaktische Grundstruktur eines Satzes durch die Valenz des Verbs festgelegt, welche die Relation zwischen diesem und seinen Ergänzungen (Komplementen) determiniert. Wir fragen uns nun, wie diese syntaktischen Relationen formal ausgedrückt werden. 1. Im simpelsten Fall haben sie keinerlei formalen Ausdruck, weil sie ja aus der lex. Bedeutung des Verbs und der Satzglieder selbst erschlossen werden können. Vgl. das englische Bsp. [66] A baby can not eat a steak. Hier gibt es keinerlei formale Kennzeichnung der syntaktischen Relationen. 2. Je komplexer ein Satz aber wird, desto größer wird die Notwendigkeit, die syntaktischen Relationen im Satz zu kennzeichnen. Hierfür gibt es eine Skala möglicher Mittel; wir ordnen sie hier nach dem Grad ihrer formalen Komplexheit: (a) Fixierung der Satzgliedstellung: das tut etwa das Englische, das eine feste Stellung Subjekt – Verb – Objekt hat (SVO) (b) Kongruenz: Das ist ein Verfahren, das zweierlei leisten kann: • Person/Numerus-Kongruenz ist eine Technik, am Verb indirekt das Subjekt zu kennzeichnen7 : [67] A baby crie-s often • (Kasus)-Numerus/Genus-Kongruenz ist eine Technik, Relationen zwischen nominalen Elementen zu kennzeichnen, und zwar entweder (1) satzgliedintern wie in [68], wo die possessiven Attribute mit ihrem Bezugsnominal NG-kongruieren (Kasus gibt es im Frz. nicht), oder (2) satzgliedextern wie in [69], wo das akk. Prädikatsnomen einen Rostkarren im Kasus mit dem Ak.-Objekt den Wagen kongruiert. [68] a. Paul aime son fils b. Paul aime sa voiture [69] Hans nannte den Wagen Egons einen Rostkarren 7 NB. Im Englischen gibt es sie nur bei Vollverben, nicht aber bei Modal- und Hilfsverben; deswegen gab es in [66] oben keine PN-Kongruenz. KU Eichstätt 29 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 (c) Kasus: Sie sind formale Ausdrucksmittel für syntaktische Relationen: [70] Das Mondschaf Subjekt rauft Präd. sich Dat.-Obj einen Halm . . . Akk.-Objekt (d) Präpositionen: Sie sind ebenfalls formale Ausdrucksmittel für syntaktische Relationen und haben oft zusätzlich eine bestimmte semantische Funktion: [71] . . . und geht dann heim Präd. auf seine Alm Adverbiale-lokal Deswegen sind ihr ursprüngliches Verwendungsgebiet die adverbialen Relationen, d.h. Satzglieder die Zeit, Ort (so in [71]), Grund etc. bezeichnen. Im Dt. ist ihre Verbreitung weiter forgeschritten als im Lat., vgl. z.B. [72] appelere litori ‘an der Küste landen’ A.3.2 Kasus, Kongruenz und Präposition im Lateinischen Das Lateinische verwendet von den oben genannten Mitteln die morphologischen: Kongruenz, Kasus und Präpositionen, kennt aber nicht die beiden simplen Verfahren, daß syntaktische Relationen gänzlich unbezeichnet bleiben oder nur durch Satzgliedstellung ausgedrückt werden. Kongruenz — Verbale Kongruenz, d.h. Person/Numerus-Kongruenz zwischen Verb und Subjekt, ist im Lat. voll ausgebildet, ebenso Nominale Kongruenz, die bei Adjektiven alle drei nominalen Kategorien Kasus–Numerus–Genus (liber meus, amicam suam etc.) umfaßt, bei Subst. natürlich nur den Kasus. Das Kasus-System des Lateinischen — Es umfaßt 5 Kasus (der Vokativ bleibt außer Betracht), von denen der Akk. schwach (vgl. S. 65), der Ablativ stark ‘synkretistisch’ ist, d.h. die Funktion mehrerer ‘prähistorischer’ Kasus umfaßt, die im vorliterarischen Latein noch selbstständig waren, z.B. beim Ablativ: Instrumental securi ‘mit dem Beil’ Separativ Romā ‘von Rom her / weg’ Lokativ Athenis ‘in Athen’ Wie in den mod. indoeuropäischen Sprachen ist also das lat. Kasussystem bereits in klass. Zeit einem Schwundprozeß ausgesetzt, der fortschreitet und zum letztlichen Verschwinden der Kasus im Spätlatein führt (vgl.u.). Präpositionen — Sie zunächst Ausdrucksmittel konkreter Relationen (z.B. lokal, temporal, modal), entwickeln sich dann aber generell zu dem Mittel, das den Schwund der Kasus kompensiert. Sie sind daher zunächst in adverbialer Funktion beheimatet (in urbe, post prandium, legere cum studio), entwickeln sich aber bald zu Konkurrenten des Genitivs in attributiven (quis Romanorum : homo de plebe) und Objekt-Relationen (accusare furti : de furto). Zu ihrem weiteren vordringen im Spätlatein s. u. §A.3.3.5. KU Eichstätt 30 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 A.3.3 Charakteristika des lateinischen Kasussystems A.3.3.1 Zwei Typen von Kasuskonstruktion: obliquer und kongruenter Kasus Ein lat. Kasus kann ein Signal für zweierlei sein: entweder zeigt er autonom die syntaktische Relation seines Satzglieds zum restlichen Satz an, oder er dupliziert den Kasus eines anderen Ausdrucks. Ersteres ist in den a.-Beispielen von [73] und [74] der Fall, letzteres in den b.-Beispielen: [73] a. Marcus mihi librum dono dedit b. Marcus mihi librum donum dedit [74] a. Chrysalus callido animo est b. Chrysalus callidus est [75] b. Servus callidus pecuniam domino parat Im Fall der a.-Beispiele spricht man traditionell von Kasus obliquus, bei den b.-Beispielen von Kongruenz des Kasus. Ein obliquer Kasus hat eine eigenständige syntaktische Funktion, ein kongruenter Kasus nicht, vielmehr bildet er die Funktion des ‘Kontrolleurs’ der Kongruenz ab. Kongruenz kann über Satzgliedgrenzen hinweggehen wie in [73b], oder satzgliedintern stattfinden, wie in [75]. Betrachten wir unsere Beispiele: 73a — hier steht mit dono ein Dativ, der signalisiert, daß sein Ausdruck das Ziel der Handlung bezeichnet (dazu u. §A.3.3.2). In [73b] dagegen ‘kopiert’ donum den von librum und ist damit eine appositive Erweiterung; die semantische Funktion Ziel wird nicht ausgedrückt, sondern muß vom Hörer erschlossen werden. 74a — hier steht ein sog. »Ablatiuvs qualitatis« als Prädikatsnomen zu est, der anzeigt, daß daß Prädikatsnomen Qualitätsausdruck ist; im b-Beispiel wird durch die Kongruenz nur signalisiert, daß das Prädikatsnomen callidus eine Aussage über das Subjekt macht. 74b — hier zeigt die Kongruenz lediglich an, daß das Adjektiv callidus sein Bezugsnominal modifiziert. A.3.3.2 Grammatische und konkrete Kasus Semantische und syntaktische Funktionen Wir haben in Kap. A gesagt, daß wir die semantischen Funktionen wie Agens, Patiens, etc. von den syntaktischen Funktionen wie Subjekt, Objekt, Adverbiale etc. unterscheiden. Wir machen uns jetzt klar, daß es kein 1 : 1 – Verhältnis von semantischen und syntaktischen Funktionen gibt (deswegen haben wir der Liste semantischer Funktionen auf S. 21 auch keine syntaktischen Funktionen zugeordnet). Im Lateinischen sind manchen Kasus völlig unabhängig von bestimmten semantischen Funktionen, daher nennt man sie grammatische Kasus; andere dagegen KU Eichstätt 31 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 sind mit bestimmten semantischen Relationen assoziiert, daher nennt man sie konkrete Kasus. 1. Zunächst sollten wir uns an das simpelste Beispiel dafür erinnern, daß es keinen Parallelismus semantische : syntaktische Funktion gibt, nämlich das Passiv. Wenn wir einen Satz mit transitivem Verb ins Passiv stellen (‘Passivtransformation’) ändert sich die Zuordnung von semantischer Funktion und syntaktischem Ausdruck: Brutus Subj Agens rem publicam Akk.-Objekt Patiens liberavit → res publica Subj Patiens a Bruto Adverbiale Agens liberata est Im ersten Beispiel haben wir die Zuordnung Agens=Subjekt, Patiens=Objekt, im zweiten Agens=Adverbiale, Patiens=Subjekt. 2. Prinzipiell existiert folgende Skala der Kasus von grammatisch nach konkret: Kasus Nominativ Akkusativ Genitiv Funktion grammatisch grammatisch grammatisch synt. Funktion semant. Funktion Subjekt variabel dir. Objekt variabel Attribut variabel Objekt Kategorie ............................................................................ Dativ Objekt / konkret indir. Partizipant / Adverbiale Referenzpunkt Ablativ konkret Adverbiale Konkomitanz — Separativ – Lokativ Tabelle A.5: Das grammatisch → konkret – Kontinuum der lat. Kasus Wenn wir den Genitiv als vorzugsweise ‘adnominalen’ Kasus (Attribut) einmal beiseite lassen und uns nur auf die ‘adverbalen’ (Subjekt, Objekt, Adverbiale) konzentrieren, dann sehen wir daß Nominativ und Akkusativ grammatische Kasus, Dativ und Ablativ dagegen konkrete Kasus mit einem bestimmten semantischen Funktionsspektrum sind. Das hängt zusammen mit dem unterschiedlichen Grad an Autonomie: Nom. und Akk. unterliegen (praktisch) immer der Rektion durch das Verb, und Rektion impliziert, daß das Verb die semantische Funktion dieser Kasus determiniert. Am unteren Ende der Skala ist es umgekehrt: der Ablativ ist (fast) immer Adverbiale, unterliegt also nicht der Rektion, sondern modifiziert das Prädikat und tut das mittels einer eigenständigen semantischen Relation8 . Der Dativ steht auf der Grenze zwischen beiden Bereichen – er kann Objekt (Rektion) oder Adverbiale (Modifikation) sein; im ersten Falle bezeichnet er eine semantische Relation, die durch das Verb determiniert wird, z.B. Adressat / Nutznießer in dico tibi bzw. dono tibi, im letzteren Fall drückt er Relationen wie Adressat / Referenzpunkt eigenständig aus, z.B. in emo tibi librum, entsprechend zum dt. ich kauf Dir ein Buch. 8 Wir konzentrieren uns hier auf die Hauptfunktionen der Kasus; natürlich gibt es auch marginale Fälle von adverbialem Akkusativ und regiertem Ablativ. KU Eichstätt 32 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Diese Skala ‘grammatisch → konkret’ widerspiegelt sich in den Kapitelüberschriften des vorliegenden Skripts. Wir beginnen mit den grammatischen Relationen Subjekt und direktes Objekt und gehen dann sukzessive zu konkreten Relationen wie z.B. Partitiv und Konkomitanz weiter. Einzelheiten 1. Der Nominativ hat innerhalb des Kasussystems eine privilegierte Rolle, denn als Kasus des Subjekts kontrolliert er die Kongruenz: Marcus legi-t : sorores legu-nt. Er markiert also den kommunkativ wichtigsten Partizipanten in einem Satz. 2. Daß Nom./Akk. grammat. Kasus sind entspricht dem Dt.: [76] a. Markus liest b. Markus kriegt ein Buch geschenkt [77] a. Markus schlägt seine Oma / Marcus aviam verberat b. Markus kennt ein nettes Lokal / Marcus novit tabernam iucundam In [76a] ist das Subjekt Agens, in [76b] ist es Nutznießer; in [77a] ist das Akk.Obj. Patiens, in [77b] ist es marginaler Partizipant (im Sinne unserer Liste von S. 21). Nominativ und Akk. sind offenkundig an keine bestimmte semant. Funktion gebunden und sind rein syntaktische Kasus, nämlich des Subjekts und des direkten Objekts. 3. Der Dativ ist ein konkreter Kasus, wie im Deutschen: [78] a. Paul haut dem Nachbarshund auf die Schnauze. b. ̸= Paul haut dem Klavier auf die Tasten. Ein Dat. ist ein indirekter Partizipant, in [78a] liegt also ein ‘Dativus incommodi’ vor. Da ein Klavier nichts spüren kann, kann es diese SF nicht haben, weswegen [78b] ungrammatisch ist. Der Dativ ist also mit einer bestimmten SF assoziiert, die im Lat. unterteilt wird nach dem Kriterium ‘belebt / unbelebt’: [79] amicus mihi librum dedit [80] amicus litori appulit ‘Der Freund landet an der Küste’ Gemeinsam ist [79] und [80], daß der Dativ Referenzpunkt der Handlung, d.h. derenige Partizipant ist, auf den hin die Handlung orientiert ist. Da der Dat. im ersten Fall belebt ist, ergibt sich die Interpretation ‘Nutznießer’, da er im 2. Fall unbelebt ist, die Interpretation ‘Ziel’. 4. Der Ablativ KU Eichstätt 33 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 ist ebenfalls ein konkreter Kasus; er ist der typische Kasus für Adverbialien und zwar wie oben §A.3.2 gesagt für die drei Gruppen Konkomitanz (Soziativ und Instrumental), vgl. [81a.], Lokativ [81b.] und Separativ [81c.]. [81] a. Miles sagitta ictus est. b. Paulus Romae (= Roma-i) habitat. c. Paulus domo abiit. Die Verwendung des Ablativs als Objektskasus, z.B. bei uti aliqua re ist marginal und als Analogie zum Instrumental zu verstehen. 5. Der Genitiv hat eine Sonderstellung, weil er in den meisten Fällen nicht eine Relation zum Verb, sondern eine zu einem Nominal eingeht, nämlich als Attribut. Hier ist er ein grammatischer Kasus, denn seine SF ist variabel (Partitiv, Possessiv, Qualitatis etc.). Ähnlich wie der Dativ kommt er als Objektskasus nur selten vor (Typ memini Ciceronis); hier hat er eine konkrete SF: er zeigt, wie auf S. 21 gesagt, die Kategorie bzw. den Geltungsbereich an, in welche(n) die Verbalhandlung fällt: [82] a. Haus des Vaters, Ein Teil der Studenten / domus patris, pars studiosorum b. Er wird des Verrats angeklagt / accusatur proditionis A.3.3.3 Kasus und Präpositionen im klass. Latein Ihre Verteilung unterliegt folgender Tendenz: je mehr eine syntaktische Funktion zur Zentralität tendiert, desto eher wird sie durch bloßen Kasus markiert, je mehr sie zur Peripherie tendiert, desto eher wird sie durch Präposition markiert. Demzufolge • wird Rektion bei den zentralen Relationen Subjekt, direktes und indirektes Objekt nur mit Kasus markiert (Nom., Akk. und Dativ, vgl. Tab. A.6, Nr. (1)–(3)) • kann Rektion bei den periphere Relationen, die der Genitiv ausdrückt, auch durch Präposition ausgedrückt werden (ibid. Nr. (4)) • kann Modifikation teils durch Kasus, teils durch Präposition ausgedrückt; das gilt für – adnominale Modifikation (Attribute), vgl. ibid. Nr. (5) – adverbiale Relationen im engeren Sinne, d.h. solche, die das Verb unmittelbar modifizieren, wie Instrumental und modal, vgl. ibid. Nr. (6) • wird Modifikation durch adverbiale Relationen im weiteren Sinne, d.h. solche die den gesamten Satz modifizieren (daher in Tab. A.6 Nr. (7) adsentential genannt), vorzugsweise mit Präposition markiert. Beispiele in Tab. A.6. KU Eichstätt 34 Latinistik F. Heberlein Syntax I (1) (2) (3) (4) (5) intr. trans. intr. + Obj. (6) adverbial (7) adsentential adnominal Gaius vapulat Gaia Gaium verberat Gaia nupsit Gaio Gaius oblitus est amici / de amico pars militum homo de plebe Gaius anatem dolabra occidit Gaius anatem cum studio persequitur Gaius cum amico rediit Gaius multum praestitit in summo periculo WS 2014-15 keine Präposition ↓ Präp. möglich ↓ Präp. notwendig Tabelle A.6: Kasus und Präpositionen A.3.3.4 Ableitung von Adverbien mittels Kasusformen Kasusformen sind neben der regulären Derivation mit einem Adverbialsufix (-e, -ter) eine produktive Quelle der Bildung von Adverb(iali)en. Vgl. z.B. dt. [83] besten-falls, keines-falls; unter-tags, des nachts etc. In diesem Falle spricht man auch von »erstarrten« Kasus. 1. Im Lat. ist der produktivste Kasus hierfür der Ablativ: iure, iniuriā necessario silentio merito, immerito casu vi Näheres hierzu unten S. 131. 2. Der Akkusativ ist Basis für die Bildung von (1) quantifizierenden Adverbialien ([84]) (2) deiktischen Adverbien, die mit einem partitiven Genitiv kombiniert werden ([85]): [84] magnam partem ‘großteils’, maximam partem ‘größtenteils’ [85] id aetatis, id temporis ‘zu dieser Zeit’ [86] Cic.fin.5.1 constituimus . . . , ut ambulationem post meridianam conficeremus in Academia, quod is locus ab omni turba id temporis vacuus esset. Beispiele für den deiktischen Typ bei KS 1,306, für den quantifizierenden bei KS 1,280. 3. mit dem Genitiv werden Adverbien der indefiniten Quantifikation gebildet, wie magni (pluris, plurimi) aestimare nihili ducere tanti – quanti parvi (minoris, minimi) aestimare nihili esse / fieri [87] Quanti alios facis, tanti ipse soles fieri A.3.3.5 Die Entwicklung im Spätlatein Das Kasussystem kollabiert in der Spätantike; für die Entwicklung zum Frühromanischen gilt: KU Eichstätt 35 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 1. wo im klass. Latein Kasus und Präpositionen konkurrierten, setzen sich die Präpositionen durch. Als Folge davon schwinden der Genitiv: der adverbiale Dativ: der Ablativ: Lat. Ital. populi Europae dono librum Corneliae equo vehi claudere portam clavi praeterire aliquid silentio populi dell’Europa dono librum a Cornelia andare a cavallo chiudere la porta a chiave passare qalcosa sotto silenzio 2. Wenn der Dativ aber einziges Objekt im Satz ist, fällt er mit dem Akkusativ zusammen: servire servire patriae la patria 3. die zentralen Funktionen Subjekt und direktes Objekt werden ‘nullmarkiert’ – sie verlieren den Kasus, erhalten aber keinen anderen Marker der syntaktischen Relation: Paulus Paulo videt vede caballum un cavallo 4. Im Deutschen ist dieser Ablösungsprozeß durch Präpositionen noch im Gang: [88] a. schriftdt: Maxens Auto stand vor der Tür c. dialektal: dem Max sein Auto stand vor der Tür b. standard-umgangssprachl.: das Auto von Max stand vor der Tür KU Eichstätt 36 Latinistik Kapitel B Direkte Partizipation: Subjekt und direktes Objekt Subjekt und direktes Objekt sind Ausdrucksmittel derjenigen Partizipanten, welche unmittelbar in die Verbalhandlung involviert sind: 1. die prototypische Funktion des Subjekts ist es, den Gegenstand zu definieren, über den das Prädikat ausgesagt wird, technisch gesagt den Topik. 2. die prototypische Funktion des direkten Objekts ist es, einen Partizipanten anzugeben, der von der Verbalhandlung affiziert oder effiziert wird: [1] Erika raucht → Erika raucht eine riesige Havanna 3. Die semantischen Relationen von Subjekt und direktem Objekt werden jeweils durch das regierende Verb determiniert. Für das Subjekt haben wir das schon auf S. 31 illustriert. Wir lassen in Tab. B.1 auf S. 38 eine Liste der wichtigsten semantischen Relationen des Agens-Patiens–Kontinuums folgen. Die Prototypen stehen in Kapitälchen, die Varianten sind vertikal nach abnehmenden Grad an Agentivität angeordnet. 4. Nominales Ausdrucksformat des Subjekts ist der Nominativ, des direkten Objekts der Akkusativ. Subjekt und direktes Objekt können aber auch durch Nebensätze ausgedrückt werden, vgl. z.B. amicum venire in Marcus audit amicum venire in Tab.B.1. Ausnahmsweise kann der Subjektsgriff auch durch ein relationales Adverb konstituiert werden: [2] Satis frumenti ei tributum est. B.1 Das Subjekt und seine Sonderstellung Wenn wir eben gesagt haben, das Subjekt definiere den Redegegenstand (‘Topik’), über den das Prädikat – samt dessen Ergänzungen – ausgesagt wird, dann bedeutet das, daß das Subjekt eine Sonderstellung im Satz hat, denn dann es hat ja eine pragmatische Funktion, die von keinem anderen Satzglied 37 F. Heberlein Partizipant Syntax I Situationstyp Beschreibung / Beispiel +anim +co + dyn Kausator +anim +co +dyn Kontrolleur +anim +co Possessor +anim +co Experiencer +anim -co Ursache -anim -co – -co – +co +dyn initiiert und kontrolliert eine Aktion Marcus librum scribit löst Handlung eines anderen Agens aus Marcus me venire iussit kontrolliert eine Situation Marcus in angulo stat kontrolliert einen Besitz Marcus duos equos habet nimmt eine Situation wahr Marcus audit amicum venire Ursache, die einen Prozeß auslöst Licht blendet die Augen Gegenstand von Urteil oder Definition Marcus callidus est wird vom Agens affiziert oder effiziert hic liber a Marco scriptus est Marcus amicum salutat Marcus librum scribit Agens Qualificatum Patiens ref. Eigensch. WS 2014-15 Tabelle B.1: Das Agens- → Patiens–Kontinuum. anim = belebt, +co = vom Subjekt kontrolliert, dyn = dynamisch. erfüllt werden kann. Das zeigt sich in einer Reihe grammatischer Besondernheiten: 1. Das Subjekt kann in manchen Fällen alleine stehen, z.B. in Ausrufen oder Ankündigungen (daher rührt der Name des Nominativs, ‘Nennkasus’): [3] Feuer!; The President of the Republic of Erewhon! Die anderen Satzglieder sind dagegen ohne den ‘Anker’ des Prädikats nicht möglich (wenn ich rufe ‘des Feuers!’ kommt nicht die Feuerwehr, sondern allenfalls der Psychiater). Ein Subjekt unterliegt also einerseits der Valenz des Verbs, anderseits hat es eine gewisse syntaktische Autonomie gegenüber dem Restsatz. 2. Das Subjekt kontrolliert die Kongruenz des Prädikats in Person und verbalem Numerus (PN): Person Numerus tu legi-s nos legi-mus is legi-t vos legi-tis PN-Kongruenz findet im Lateinischen nur mit dem Subjekt und keinem anderen Satzglied statt. 3. Das Subjekt ist das kommunikativ zentrale Satzglied, der sog. Topik; daher wird es bei Koordination nicht neu gesetzt: ein Subjekt bleibt solange konstant, bis es ausdrücklich gewechselt wird, vgl. KU Eichstätt 38 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [4] Er fand einen Ring und trug ihn aufs Fundbüro. [5] aber: Er fand einen Ring *und war aus Gold. 4. Aus demselben Grund kann das Subjekt in einer abhängigen Konstruktion gesperrt werden: [6] Marcusx ∅x abire constituit. Markusx beschloß, ∅x wegzugehen. [7] Marcusx timuit, ne ∅x ab amicis desereretur. Markus fürchtete, daß er von seinen Freunden im Stich gelassen würde. Wie [7] zeigt, geht im Lateinischen dieser Mechanismus weiter als im Deutschen, da er auch auf finite Nebensätze ausgedehnt ist, wo im Deutschen ein pronominales Subjekt stehen muß. Was würde bedeuten: . . . ne is . . . desereretur? ? 5. Nur die Syntaktische Funktion Subjekt, nicht die semantische Funktion Agens kontrolliert die direkte Reflexivität1 : [8] a. Der Hund hat seinen Herrn gebissen b. ̸= Vom Hund wurde sein Herr gebissen c. → Der Herr wurde von seinem Hund gebissen B.2 Syntax des Subjekts B.2.1 Nominale und satzförmige Subjekte Wie eingangs schon gesagt, ist der prototypische Ausdruck für ein nominales Subjekt der Nominativ. Ein Prädikat kann aber nicht nur über Personen oder Gegenstände, sondern auch über Sachverhalte ausgesagt werden; dann tritt das Subjekt in Form eines mehr oder weniger stark nominalisierten Nebensatzes, eines sog. ‘Subjektsatzes’ auf: [9] bene accidit, quod ad me venisti [10] turpe est te aufugisse [11] errare humanum est Weitere Beispiele haben wir schon in §A.2.5.2 auf S. 24 genannt. B.2.2 Mit dem Subjekt kongruierende Ausdrücke Neben der Kongruenz des Prädikats kann das Subjekt auch noch die Kongruenz nominaler Ausdrücke kontrollieren. Das betrifft 1 Bei sog. ‘indirekte’ Reflexivität liegen die Dinge anders; das klären wir im Skript ‘Pronomina’. KU Eichstätt 39 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 1. Das Prädikatsnomen, d.h. einen nominalen Bestandteil des Prädikats; er muß mit dem Subjekt in Kasus, Genus und Numerus kongruieren: statua pulchra est : statuae pulchrae sunt Mögliche Wortarten des Prädikatsnomens sind Adjektiv und Substantiv, vgl. [12] bzw. [13], Einzelheiten u. §B.2.2.2. [12] Seneca praeceptor Neronis erat. [13] Chrysalus callidus est. 2. Apposition und Prädikativum: [14] Aristides, vir pauper, mortuus est ‘A., ein armer Mann, starb’ [15] Aristides pauper mortuus est ‘A. starb als armer Mann’ Apposition und Prädikativum können aber auch zu jedem anderen Satzglied in Relation stehen. B.2.2.1 Kongruenz bei pronominalem Subjekt Diese ist anders geregelt als im Deutschen und bildet eine Ausnahme zur Grundregel, daß das Subjekt die Kongruenz kontrolliert: [16] a. Das ist mein Haus / Das ist meine Schwester / Das ist mein Bruder / Das sind meine Eltern b. Haec est casa mea c. Questa e la mia casa [17] Liv. 42.44.3 Thebae quoque ipsae, quod Boeotiae caput est, in magno motu erant, aliis ad regem trahentibus ciuitatem, aliis ad Romanos Wenn das Subjekt ein Pronomen ist und das Prädikatsnomen ein Substantiv, verwenden das Lat. (und auch noch das Italienische) und das Dt. unterschiedliche Techniken. • das Dt. verwendet die deiktische Technik: es wird deiktisches Pronomen verwendet, das auf seine deiktische Funktion reduziert ist. Die Numerus/Genus-Kongruenz mit dem Bezugswort ist daher beseitigt (das . . . Schwester). • das Lat. verwendet die anaphorische Technik, vgl. haec in [16a]. Ein Anaphoricum kongruiert nun aber normalerweise mit dem Substantiv, das KU Eichstätt 40 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 es repräsentiert, und folglich muß in [16a] ausnahmsweise das Subjekt mit dem Prädikatsnomen kongruieren. Das ist also nur eine konsequente Anwendung des Kongrenzmechanismus: ein Pronomen repräsentiert den Inhalt eines Nomens, indem es dessen grammatische Kategorien Numerus und Genus abbildet. Genau das tut haec in [16a] und quod in [17]. Lernen Sie die Kongruenzregeln bei RH §108; dort finden Sie auch Ausnahmen von der o.g. Kongruenzregel. B.2.2.2 Syntax und Semantik der Prädikatsnomina Reiner Nominalsatz und »Kopula-Satz« Ein Prädikatsnomen wie praeceptor in [12] oder callidus in [13] kann nicht wie ein verbales Prädikat das Subjekt regieren, weil es keine Leerstelle für ein Subjekt hat. Dieser Mangel kann mit zwei Techniken kompensiert werden: 1. Das Prädikatsnomen wird mit einem Hilfsverb, einer sog. ‘Kopula’ kombiniert. Ein Hilfsverb hat zwei Leerstellen, ein für ein Subjekt und eine für ein Prädikatsnomen; durch deren Besetzung wird die syntaktische Relation Prädikat – Subjekt hergestellt daher der Name ‘Kopula’. Außerdem kann die Kopula Tempus und Modus des Prädikats anzeigen, was ein substantivisches oder adjektivisches Prädikat ja nicht kann: [18] a. Seneca philosophus est / erat b. Si taceres, philosophus esses 2. Das Prädikatsnomen steht ohne Kopula und markiert seine Relation zum Subjekt nur durch Kongruenz, z.B. [19] Omnia praeclara Subjekt ‘Alles Gute rara Prädikat ist selten’ Diese Markierung ist aber unterspezifiziert, denn sie wird ja auch für die Relationen Apposition bzw. Attribut verwendet. Hier kommt es darauf an, daß der Hörer / Leser die Struktur der Äußerung richtig analysiert – nicht als ‘alles seltene Gute’ sondern als ‘alles Gute ist selten’. Dieser kopulalose Nominalsatz ist die ältere Variante. In diesem Fall von ‘Fehlen der Kopula’ zu sprechen, wie es die Schulgrammatik tut, ist also unhistorisch. Referierende und nicht-referierende Prädikatsnomina Wenn das Prädikatsnomen ein Substantiv ist, ergibt sich im Lateinischen wie im Deutschen der Unterschied zwischen [20] und [21], ohne daß aber dieser Unterschied im Lat. einen formalen Ausdruck hat: KU Eichstätt 41 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [20] a. Hans ist der geniale Lehrer, von dem ich Dir erzählt habe ↔ Wer ist Hans? b. Augustus primus imperator Romanorum erat ↔ Quis erat Augustus? [21] a. Hans ist Lehrer an einer Zwergschule ↔ Was ist Hans? b. Seneca philosophus erat. ↔ quid erat Seneca? • In [20] ist das Prädikat referierend: es bezeichnet dieselbe Person wie das Subjekt, lediglich mit anderen Worten. • In [21] ist das Prädikat nicht-referierend: es bezeichnet nicht eine bestimmte Person, sondern es charakterisiert eine Eigenschaft des Subjekts, das ‘Philosoph-’ bzw. ‘Lehrer-Sein’. Dieser Unterschied im Dt. gekennzeichnet durch Anwesenheit bzw. Abwesenheit des Artikels beim Prädikatsnomen, im Dt. und im Lat. dadurch, daß • [20] und [21] Antworten auf unterschiedliche Fragen sein können: [22] Wer ist Hans / quis fuit Augustus? [23] Was ist Hans / Seneca quid fuit? Die dabei verwendeten Fragepronomina kongruieren im ersten, nicht kongruieren im zweiten Fall (Wer / was; quis / quid). • daß die Paraphrasemöglichkeiten unterschiedlich sind: (20) Hans ist identisch mit dem genialen Lehrer, von dem . . . (21) Hans hat die Eigenschaft, Lehrer zu sein / den Beruf des Lehrers an einer Zwergschule Wenn wir [17] und [20b.] einerseits zusammenfassen, ergibt sich, daß ein Pronomen in Subjektsfunktion, egal ob Demonstrativ- oder Fragepronomen, immer dann mit einem subst. Prädikatsnomen kongruiert, wenn es eine Identitätsbeziehung, also Koreferenz ausdrückt. Aus [21b.] dagegen ergibt sich, daß die Kongruenz beseitigt wird, wenn das Prädikatsnomen charakterisiert oder definiert (quid est virtus?). B.3 Das direkte Objekt Begriff Wie wir auf S. 37 schon gesagt haben, ist das ‘direkte Objekt’ eine rein syntaktische Relation ohne semantische Eigenbedeutung (was sie vom indirekten Objekt und von Adverbialen unterscheidet). Semantische Funktionen wie ‘Patiens’ (necare aliquem) oder ‘Empfindungsgegenstand’ (amare aliquem) ergeben sich nicht aus einer Kasusbedeutung, sondern aus der lexikalischen Bedeutung des Verbs oder aus der Opposition zu einer alternativen Konstruktionsmöglichkeit. Die semantische Funktion des direkten Objekts beschränkt sich somit darauf, den Verbalinhalt zu spezifizieren: • Spezifikation durch Nennung eines Patiens: [24] Erika raucht eine riesige Havanna (‘affiziertes Objekt’) KU Eichstätt 42 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [25] Erika schreibt ein geniales Referat (‘effiziertes’ Objekt) • Spezifikation durch qualitative Eigenschaften, sog. ‘inneres Objekt’: [26] Dei beatam vitam vivunt. Ausdrucksformate 1. Prototypischer Ausdruck eines nominalen direkten Objekts ist der Akkusativ wie in [27]. Akkusativobjekte können auch doppelt gesetzt ([28]) oder durch ein Prädikatsnomen erweitert werden ([29]): [27] Equus currum trahit. [28] Philosophus nos sapientiam docet. [29] Romani Ciceronem consulem creaverunt. In [27] ist der Akkusativ direktes Objekt; in [29] liegt Kombination von AkkObj der Person und AkkObj des Sachverhalts vor, in [29] Kombination von AkkObj und Prädikatsnomen (zum Unterschied Sachobjekt vs. Prädikatsnomen im Akk. vgl. u. §B.6). 2. Satzförmige direkte Objekte treten in verschiedenen Formen auf, z.B. als Infinitiv, AcI und in Form verschiedener Nebensätze: [30] Marcus abire constituit ( → id constituit) [31] Marcus dicit se abiturum esse [32] Marcus sperat, ut abire possit Den Akk. bei Ortsangaben behandeln wir unten §F.1.4 . B.3.1 Transitivität Zweistellige Verben, welche Sätze aus Subjekt und direktem Objekt konstituieren, heißen transitive Verben. [33] Caesar exercitum traduxit. [34] Galli murum collocaverunt. Der durch [33] und [34] illustrierte Prototyp wird durch folgende Eigenschaften charakterisiert: • das Subjekt hat die SF Agens: es ist belebt (+anim), Auslöser und Kontrolleur (+co) der Handlung; der Situationstyp (vgl. S. 17) ist in beiden Fällen ‘Aktion’ (dynamisch + telisch). • das Objekt ist Patiens der Handlung als affiziertes oder effiziertes Objekt ([33] bzw. [34]). KU Eichstätt 43 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 • Der Satz kann in ein persönliches Passiv transformiert werden. Das entspricht den Verhältnissen im Deutschen, wo auch nur ein direktes, nicht aber ein indirektes Objekt Subjekt eines Passivsatzes werden kann: [35] a. Marcus schreibt einen Brief → Der Brief wurde von Marcus geschrieben b. Hier helfen wir Ihnen! ̸= Hier werden Sie geholfen! ? Setzen Sie [33] und [34] ins Passiv. Aber nicht alle Verben mit Akk.-Obj. entsprechen diesem Prototyp; vielmehr müssen wir eine Transitivitätsskala aufstellen, die illustriert, in welchen grammatischen Eigenschaften sich das Abnehmen von Transitivität manifestiert2 . B.3.1.1 Die Skala der Transitivität ergibt sich durch das Verfahren der lexikalischen Variation, entweder beim Verb oder bei Subjekt / Objekt. Degradierung des Subjekts wie oben in Tab. B.1 auf S. 38 illustriert. Durch schrittweise Degradierung der mit einem Agens prototypischerweise verknüpften Eigenschaften »belebt / Kontrolleur / dynamische Situation« nimmt das Sujekt folgende semantischen Relationen an: 1. Possessor in [36]. Hier ist das Subjekt nur Kontrolleur aber nicht Agens der Situation; Folge: eine Passivtransformation ist nicht möglich (??duo equi habebantur ). [36] Rusticus duos equos habebat. 2. Experiencer, als Träger einer Wahrnehmung wie in [37]. Hier ist das Subj. nicht mehr Kontrolleur der Situation. Folge: es ist kein Imperativ mehr möglich (̸=fühle den Tod nahen!). [37] Sensit mortem advenientem. 3. ‘Ursache’ in [38] und [39]. [38] Der Hammer durchschlug die Scheibe [39] claritas colorum aciem oculorum offendit [38] und [39] sind metaphorische Extensionen des agentiven Subjekts, in [38] die Extension ‘Agens → Instrument’, in [39] ‘Agens → physische Eigenschaft’. Daher ist das Subj. in [38] agensähnlicher als in [39], denn es löst einen Prozeß aus, aber kontrolliert ihn aber nicht, wogegen in [39] weder Aktion noch Prozeß, sondern ein nicht-kontrollierter Zustand vorliegt. Mangels Kontrolle ist in beiden Fällen kein Imperativ möglich. Degradierung des Objekts es ist nicht Patiens, sondern (1) Posessum ([36]), (2) Ortsangabe ([40]); (3) es ist lediglich ein Ps.-Objekt, das sog. ‘inneres Objekt’ ([41]) [40] Epidamnum relinquimus 2 Vgl. Givon, Syntax. KU Eichstätt 44 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [41] Acerrimam pugnam pugnare 1. In [40] ist das Objekt von der Handlung nicht affiziert, hat also nicht die semantische Relation ‘Patiens’. Daher wäre eine Passivversion (die ja sagt, was mit einem Patiens geschieht) merkwürdig (Epidamnus a nobis relicta est); das Verb ist dennoch transitiv, vgl. ↔ relinquimus. 2. In [41] erzeugt das ‘innere Objekt’ pugnam zwar eine Scheintransitivität (→ acerrima pugna pugnatur ), aber es dupliziert nur den Stamm des Verbs und ist kein eigenständiger Partizipant, sondern beschreibt die Art und Weise (Modus) der Verbalhandlung (Einzelheiten u. §B.5.2). B.3.1.2 Zusammenfassung Die beiden Extrempole der Transitivitätsskala sind das prototpyische direkte Objekt einerseits und das ‘innere Objekt’ andererseits. Bei ersteren ist das Objekt obligatorisch, weil das Verb selbst zu wenig Informationsmenge für eine kommunkativ sinnvolle Äußerung bieten (vgl. [34] ̸=Galli collocaverunt); genau umgekehrt ist es bei Intransitiva mit ‘inneren Objekten’: hier haben die Verben soviel Informationsmenge, daß die Ps.-Objekte nur eine modale Spezifikation des Verbinhalts erbringen (Einzelheiten in §B.5.2.). B.3.2 Transitivierung und Intransitivierung Transitivität und Intransitivität können mit grammatischen Operationen hergestellt werden (vgl. §A.1.1.3 auf S. 15). Im ersteren Falle braucht man einen Mechanismus, um die Valenz eines Verbs durch ein Akkusativobjekt zu erweitern, im letzteren einen, um ein Akk.-Objekts aus der Verbvalenz zu entfernen. 1. Transitivierung erfolgt durch folgende Operationen: • Umwandlung eines obliquen Kasus in ein direktes Objekt. • die Valenzerweiterung durch ↑ Präverbierung, d.h. Kombination eines Verbum simplex mit einem Adverb oder einer Präposition. Einzelheiten nachstehend in §B.3.2.1 und §B.3.2.2. 2. Intransitivierung ist die Entfernung des Akk.-Objekts aus der Verbvalenz durch die Operation Ellipse / absoluten Gebrauch / Uminterpretation des Verbs zum Intransitivum. Einzelheiten in §B.3.2.4 auf S. 50. B.3.2.1 Obliquer Kasus wird direktes Objekt Exemplarisch illustrieren diesen Prozeß die Verba affectus, die ursprünglich intransitiv sind. In [42] doleo clade ist clade syntaktisch gesehen ein Adverbiale; das ist typischerweise der Ausdruck für einen Grund (‘kausaler Ablativ’). Im Lauf der Entwicklung wird der Grund aber zum Patiens uminterpretiert und deshalb syntaktisch nicht mehr als Ablativ bzw. Präp. + Ablativ ausgedrückt, sondern als Akk. Objekt: KU Eichstätt 45 Latinistik RH §114 F. Heberlein [43] Syntax I a. dolere a. ‘trauern’ → → WS 2014-15 b. dolere morte alicuius b. trauern über / wegen → → c. dolere mortem alicuius. c. betrauern Im Einzelnen läuft folgender Prozeß ab: (1) dolere ist etymologisch ‘zerrissen sein’, also intransitiv; (2) der Grund des Schmerzes kann dabei durch einen adverbialen ‘Ablativus causae’ repräsentiert werden; (3) dieser Grund wird sodann kognitiv als das Objekt, das von der Empfindung ‘affiziert wird’ erfaßt: das Verb bildet eine transitive Konstruktion aus. Im Dt. ist Phase (3) dadurch von Lat. unterschieden, daß die Transitivierung obligatorisch durch Präverbierung (Transitivierungspräfix ‘be-’) erfolgt. Dieser Mechanismus existiert im Lateinischen ebenfalls (vgl. §B.3.2.2), aber parallel zu dem älteren in [43] illustrierten Verfahren, daß einfach der Kasus gewechselt wird. Unterschiedliche Grade des Transitivierungsprozesses bei den verschiedenen Verba affectus zeigen sich, wenn wir die bei RH §114 aufgeführten Verben anders anordnen, nämlich so wie Tab. B.2. Es ergeben sich dann folgende Gruppen: I. Das Verb bleibt intransitiv; allenfalls wird der Ablativ durch eine Präposition verdeutlicht. II. Das Verb bildet die transitive Konstruktion alternativ zur intransitiven aus und entwickelt damit die oben zu [43] genannte Bedeutungsdifferenzierung zwischen ‘Grund’ und ‘Objekt’ der Empfindung. III. Das Verb hat die intransitive Konstruktion aufgegeben und nimmt (fast) ausschließlich ein Akk.-Obj. zu sich. Sie müssen die unterschiedlichen Transitivierungsgrade der Verben in RH §114 aktiv beherrschen. intransitiv Ablativ de + Abl I II gaudere angi laetari + + + + + dolere + + + + + + + + + queri sperare desperare III transitiv Akkusativ mirari + lugere maerere horrere ridere + + + + Tabelle B.2: Transitivitätsskala bei Verba affectus KU Eichstätt 46 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Die Verben in II. und III. erreichen aber nicht den Transitivitätsgrad prototypischer transitiver Verben (vgl. §B.3.1), denn sie werden nicht passivierbar, d.h. das Akk.-Obj. kann nicht zum Subjekt eines Passivsatzes werden: [44] Cic.Sest.33 Illi lugent casum proditoris ̸= lugetur ab illis casus proditoris Prüfen Sie, ob Sie alle Verben in RH §114 beherrschen Satzförmiges Objekt Unterscheiden müssen wir von der ebengenannten Transitivtätsskala die Frage, ob der Grund des Affekts auch satzförmig sein kann, was naheliegt, da Gründe ja Sachverhalte sind. Das Objekt kann demzufolge oft ein AcI oder ein quod-Satz sein (RH §168,2). Nachdem diese Objekt ja keine Flexion haben, ist der Unterschied zwischen transitiver (Akk.) und intransitiver Konstruktion (Abl.) hier von vorneherein neutralisiert: doleo doleo doleo mortem amici amicum mortuum esse quod amicus mortuus est Pronominales Objekt löst Transitivierung aus Bei allen obliquen Objekten findet Transitivierung regulär statt, wenn die Objektstelle durch ein Pronomen besetzt wird: doleo morte → doleo hoc; piget laboris → piget hoc; obliviscor amici → obliviscor hoc studeo libertati → id studeo Nicht hierher gehören die bei RH §114 genannten (1) Komposita wie illudere und (ad)mirari, die zu §B.3.2.2 gehören; (2) der Typ id gaudeo, id laetor. Das id ist hier nicht Objekt, sondern ein Kataphoricum, das auf einen folgenden Aci- oder quod-Satz vorausweist und dessen Objektfunktion im Hauptsatz lediglich repräsentiert. Hierzu vgl. u. §B.5.2. B.3.2.2 Transitivierung durch Präverbierung Ein Verbum simplex kann durch Kombination mit einer Präposition transitiviert werden: [45] Paulus it ad templum → Paulus templum adit. Aus dem einstelligen Verb ire wird hier also das zweistellige Verb adire, und zwar dadurch, daß die Präposition ad ihre eigenes Komplement auf das Verb überträgt und so dessen Valenz erweitert, vgl. Abb. B.13 . ? Übersetzen Sie mit Hilfe einer solchen Konstruktion: 3 Nach Chr. Lehmann, Latin preverbs and cases. H. Pinkster (ed.): Latin linguistics and linguistic theory. 1983, 145ff. KU Eichstätt 47 Latinistik RH §112 F. Heberlein Syntax I Präd.: it ↓ Sj.: Paulus WS 2014-15 Relator: ad ↙ ↘ Locatum: Paulus ↘ Referenzpunkt: templum ↙ adit ↙↘ Sj.: Paulus AkkObj: templum Abbildung B.1: Präverbierung: die beiden Komplemente der Präposition, nämlich der Referenzpunkt der Bewegung (templum) und das bewegte Element (das sog. Locatum, Paulus), werden kombiniert mit dem Komplement von ire. Dabei werden das Locatum der Präp. und das Subjekt des Verbs miteinander identifiziert (beide Paulus) und das Relatum der Präposition (templum) als neues Objekt hinzugefügt. [46] um das Lager herumgehen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [47] den Feind umzingeln: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [48] an der Stadt vorbeigehen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [49] die Stadt belagern: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [50] am Rhein wohnen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [51] Caesar führte seine Truppen über den Rhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn bei traducere zwei Ortsangabe stehen, nämlich passierter Bereich und Ziel, wird die Präposition wiederholt4 [52] Caesar copias trans Rhenum in Galliam traduxit. Lernen Sie die bei RH §112 verzeichneten Phrasen wie adire oraculum . B.3.2.3 Transitivierung durch Bedeutungswandel Manche intransitive Verben haben neben ihrer Ausgangsbedeutung eine abgeleite Bedeutung entwickelt, die dann ‘regelwidrig’ ebenfalls zu einer transitiven Konstruktion geführt hat. Das führt dazu, daß diese Verben (vermeintlich) unverträgliche Bedeutungen haben. Hier drei Beispiele: 1. tuēri: zu tumeo ‘sich aufplustern’: a gegenüber jemandem ∼ ihn (eindringlich) anschauen b zugunsten von jemanden ∼ ihn schützen. 4 Soetwas nennt man »grammatische Hypercharakterisierung«: es werden mehr grammat. Mittel verwendet, als nötig, vgl. Baldi 360. KU Eichstätt 48 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Übersetzen Sie: ? [53] Ille transversa5 tuetur. [54] Catul.64.53 Ariadna Thesea cedentem celeri cum classi tuetur [55] Cic.n.d.2.219 Gallinae pullos ita tuentur, ut pinnis foveant [56] Phaedr.3.7.10 Custos liminis domum a furibus tuetur 2. ulciscor: zu ulcus ‘Geschwür’, also eigentlich ’eitern’ = metaphorisch ‘wüten’. Die Kombination mit einem Akkusativ der Richtung (vgl. S. 146) liefert die Bedeutung »wüten im Hinblick auf jemand«; je nach lexikalischer Bedeutung des Objekts wird diese als (a) »wüten gegen jemand« oder (b) »wüten zugunsten jemandes« oder (c) »wüten wegen einer Ursache« interpretiert: a ulicisci inimicum ∼ ‘wüten gegen den Feind’ = Rache nehmen am Feind, b ulcisci amicum ∼ ‘wüten zugunsten des Freundes’ = Rache nehmen für den Freund6 . c ulcisci dolorem ∼ ‘wüten wegen der Kränkung’ = sich rächen für die Kränkung Übersetzen Sie und bestimmen Sie, wo welcher Typ vorliegt: ? [57] Pl.Am.1043 Illum ulciscar Thessalum veneficum, qui perturbavit familiae mentem [58] Suet.Dom.32.1 miles sodalem occisum ultus est [59] Liv.4.54.2 (die plebs hatte eine Niederlage einstecken müssen:) eum dolorem ulta est plebs tunc primum plebeis quaestoribus creatis 3. defendere: es bedeutet zunächst ‘(jemanden) wegschlagen, abwehren’ (vgl. of-fendere ‘dagegenschlagen’), hat also bereits eine transitive Ausgangskonstruktion wie in [60] und [61]. Daraus abgeleitet ist der Typ [62]: aus ‘jemanden wegschlagen (sc. zugunsten eines Dritten)’ wird durch Besetzung der Objektstelle mit dem Begünstigten ‘jemanden / etwas verteidigen’. Übersetzen Sie: ? [60] Enn.sc.6 serva cives, defende hostes 5 ‘schräg’, d.h. neidisch Das ist nur eine scheintransitive Konstruktion, denn der amicus ist weder affiziertes noch effiziertes Objekt. 6 KU Eichstätt 49 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [61] Cic.off.3.74 iniuriam defendi a meis [62] Liv.2.40.2 Viri urbem armis defendunt B.3.2.4 Absoluter Gebrauch, Ellipse, Intransitivierung RH 112 Vorbem. 2 Die gegenläufige Operation zur Transitivierung ist die Weglassung eines Akkusativobjekts. Hier gibt es drei Grade • Ellipse: das Objekt wird weggelassen, seine Information bleibt jedoch erhalten • Absoluter Gebrauch: das Objekt wird weggelassen, seine Information wird aber unspezifisch • Intransitivierung: das Objekt wird gelöscht Ellipse liegt vor, wenn das Objekt so spezifisch ist, daß auch bei Weglassung ‘mitverstanden’ wird. [63], [64] und [65] belegen die wichtigsten Varianten: [63] a. Der alte Maier trinkt b. Der Säugling trinkt. [64] Der Bus hielt. Paul stieg ein. [65] Anna liebte ihre Katze; ihr Mann nicht. 63 ist eine konventionalisierte Ellipse, die möglich ist, wenn das Subjekt bestimmte semantische Eigenschaften hat, welche die Bedeutung des ausgelassenen Objekts determinieren: in [63a] ist die nächstliegende Lesart ‘Alkohol’, in [63b] dagegen ‘Milch’. 64 ist eine situative Ellipse; die Bedeutung des ausgelassenen Objekts (Zug, Bus, . . . ) wird aus der Situation klar 65 ist eine anaphorische Ellipse; hier wird die Bedeutung des ausgelasssenen Objekts aus dem vorhergehenden Text klar Konventionalisierte und situativen Ellipsen gibt es auch im Lateinischen in großer Zahl [66] Caesar in Galliam duxit (sc. exercitum), ? Schauen Sie sich Material hierzu bei KS 1, 94f an Übersetzen Sie und benennen Sie die ausgelassenen Objekte: [67] Caesar Brundisio conscendit: . . . . . . [68] nondum pro vectura solvisti: . . . . . . . . . KU Eichstätt 50 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [69] Hasdrubal clauso fluminis transitu ad Oceanum flexit: . . . [70] Tiberius ab Armenia rediens Rhodum appulit: . . . . . . Absoluter Gebrauch liegt vor, wenn ein Komplement weggelassen wird, weil es kommunikativ nicht relevant ist, wie in dt. [71] Paul ißt gerade, stör ihn nicht. Das Objekt zu essen ist für den Äußerungszweck hier unerheblich. Präsupponiert bleibt der unspezifische Objektsinhalt ‘Eßbares’. • Da wir §B.3 gesagt haben, daß der Akk. den Verbalinhalt spezifiziert, ist es klar, daß die Weglassung des Objekts die Verbbedeutung etwas weniger spezifisch macht. Deshalb kann das Verb mit Adverbialien kombiniert werden, die sonst nicht möglich sind, vgl. [72] Hannibal altero oculo minus videbat : ̸= Hannibal *altero oculo minus videbat Romanos aufugisse. • Wenn die Informationsdichte des Verbs für eine Weglassung des Komplements nicht ausreicht, kann das Objekt dennoch weggelassen werden, wenn die fehelnde Information durch ein Adverb(iale) kompensiert wird: [73] Paulus Romae habitat : *Paulus habitat : Paulus luxuriose habitat. Die Information des Verbs wohnen ist ‘trivial’, weil wir annehmen, daß jemand irgendwo wohnt; kommunkativ relevant ist entweder wo oder wie. Intransitivierung Fälle wie o. [70] können Bildungsquelle für regelrechte neue Intransitiva sein. Das Objekt wird gelöscht und damit ein neues intransitives Verb gebildet ( ↑ Lexikalisierung): [74] Suet.Tit.5 Titus Rhegium oneraria nave appulit ? B.3.3 Welches Indiz für echte Intransitiverung (‘landen’) liegt hier vor? Verben mit vager Diathese Als Resultat der oben geschilderten Prozesse der Transitivierung und Intransitivierung gibt es eine ganze Anzahl von Verben mit ‘vager Diathese’, die also sowohl transitiv als auch intransitiv sind. Sie treten neben eine andere, altertümliche Verbgruppe, die von Haus aus vage Diathese hat, so auch im Deutschen: KU Eichstätt 51 Latinistik RH 113 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [75] a. Die Suppe kocht b. Erich kocht die Suppe [76] a. das Brett bricht b. Erika bricht das Brett [77] a. aus der Schlacht fliehen b. den Feind fliehen ? Schauen Sie die folgenden Verben im Lexion nach und klären sie deren transitive und intransitive Bedeutung: as-/consuesco cano circumspicio communico concedo conduco convenio debello declino deflecto deploro (ob)duro effringo festino horreo indulgeo laxo loquor moveo offendo opperior propero prae-/antecedo praecipito teneo, obtineo turbo verto Weiteres Material bei MBS §346-7. Eine vollständige Liste solcher Verben mit Einzelerklärungen bietet L. Feltenius, Intransitivizations in Latin, Upsala 1977. Sonderfälle: 1. effugere: [78] Niemand kann aus der Stadt fliehen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [79] Niemand kann dem Zorn seines Patrons enfliehen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bei konkreter lokaler Bedeutung ist nur die intransitive Version möglich, d.h. der Referenzpunkt der Bewegung wird als Separativ markiert, bei übertragener ist auch die transitive Version möglich. 2. deficere: Zu facere, eig. stellen, setzen7 . Deficere ist also eig. ‘(sich) losmachen von’. Durchsichtig ist somit der Typ deficere ab aliquo, während die anderen Konstruktionen Ergebnis von Transitivierung und absolutem Gebrauch sind: ? Intransitiv + Ref.-Punkt: transitiv absoluter Gebrauch deficere ab aliquo abfallen von deficere aliquem jemanden verlassen deficio abnehmen, schwinden Übersetzen Sie: [80] Das Heer fiel von Pompeius ab: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vgl. fēci mit gr. ê-jhka (idg. -th- → lat. -f-). KU Eichstätt 52 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [81] Als Hercules die Pfeile ausgingen, wurde er von Juppiter durch einen Steinregen unterstützt: Hercules, cum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a Iove lapidum imbre adiutus est. [82] Die Kräfte verlassen mich: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [83] Die Zeit für einen Feldzug wurde knapp: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [84] Ich verliere den Mut: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. adaequare: • Semantik: Adaequare, zu Zu aequus »gleich«, ist ein Komparationsverb, mit dem zwei Dinge auf ihre Gleichheit hin verglichen werden. Die verglichene Eigenschaft ist dabei entweder implizit oder sie wird spezifiziert. Ersteres in [85a.] und [85c.], wo die Dimension ‘Höhe’ impliziert wird, letzteres in [85b.], wo die Qualität ‘facultas dicendi’ spezifiziert wird: [85] a. b. c. intr. trans. Romani Primum c. Secundum c. Tertium c. Spezifikator turris Cato moenia murum Caesarem solo adaequavit adaequavit adaequaverunt facultate dicendi • Syntax: Wie [85] zeigt, gibt es von adaequare eine intransitive und eine transitive Variante. – Der intransitive Typ [85] a. und b. ist zweistellig und bezeichnet einen Zustand. Das Primum comparandum ist Subjekt, das Secundum ist Akk.Objekt. Dieser Akkusativ stammt von der Präposition ad; er macht also das Verb nicht transitiv, denn er drückt das Secundum comparationis, nicht einen Patiens aus. Daher ist die Konstruktion nicht ins Passiv umsetzbar. – Der transitive Typ [85] c. ist dreistellig und bezeichnet eine Handlung. Das Subjekt ist Agens, das Akk.-Objekt kombiniert die Funktionen Patiens + Primum comparandum, und das zusätzlich hinzutretende Dativobjekt drückt das Secundum comparatum aus. Dieser Typ kann natürlich (1) ins Passiv umgesetzt werden, vgl. [86], und (2) statt des Dativobjekts findet sich auch ein Präpositionalobjekt, v.a. bei übertragener Bedeutung, vgl. [87]. ? Übersetzen Sie: [86] Die Mauern wurden von den Römern dem Erdboden gleichgemacht. ....................................... [87] Cic.Arch.24 Pompeius hat seine äußeren Lebensumstände seiner Tüchtigkeit angeglichen: Pompeius fortun . . . . . . . . . . . . . . adaequavit KU Eichstätt 53 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 B.4 Nominalisierung transitiver und intransitiver Sätze Wird ein Verb zum Substantiv, d.h. zu einem ‘Verbalabstraktum’, nominalisiert, behält es seine Relationalität, aber es ändert sich das Ausdrucksformat der Ergänzungen zum sog. Genitivus subiectivus bzw. Genitvus obiectivus. ‘Subjekt’ ‘Prädikat’ ‘Objekt’ Intrans.: parentum ↑ parentes sapientia ↑ sapiunt — Trans.: Caesaris ↑ Caesar translatio ↑ transfert pecuniarum ↑ pecunias Tabelle B.3: Genitivus subiectivus und obiectivus 1. Die Namen besagen, daß aus dem Subjekt und dem Objekt Genitive werden, d.h. die Komplemente des Verbalabstraktums nehmen den üblichen Marker für die adnominale Relation eines Substantivs an, die des Attributs. Aus Gründen der Deutlichkeit kann der ‘Genitivus obiectivus’ durch eine Präposition ersetzt werden: amor parentum → amer erga parentes. Anmerkungen (a) Der Genitiv war ursprünglich Marker der Kategorisierung, d.h. partitiver, possessiver und ähnlicher Relationen; ein Gen.subi. kann teilweise noch so interpretiert werden: sapientiaPossessum parentumPossessor. Der Gen.er wurde aber schon sehr früh zum Marker adnominaler Relationen schlechthin grammatikalisiert. (b) Statt eines Gen. obiectivus findet sich im Altlatein vereinzelt, daß ein Verbalabstraktum die normale Akkusativrektion hat; neben dem klass. Typ [89] steht also der Typ [88]: [88] Pl.Amph.519 Quid tibi hanc curatio est rem? [89] Cic.Nat.deor.1,94 omnis cultus et curatio corporis erit eadem adhibenda deo, quae adhibetur homini 2. Bei jeder Nominalisierung eines Verbs wird das vormalige Subjekt syntaktisch prinzipiell entbehrlich, nicht aber das vormalige Objekt. Vgl. z.B. [90] MarcusSj discit linguam Graecam [91] MarcusSj constituit linguam Graecam ∅sj discere Ähnliches gilt für den Genitivus subiectivus. Findet sich also bei einem transitiven Verbalabstraktum nur ein einziger Genitiv, ist dieser in der Regel der Patiens (‘Gen. obiectivus’): KU Eichstätt 54 Latinistik F. Heberlein poeta Agens Subj Syntax I laudat Prädikat Pisonem Patiens AkkObj → laus Abstraktum WS 2014-15 Pisonis Patiens Attribut Der Patiens kann nur dann weggelassen werden, wenn er aus dem Kontext ergänzbar ist; nur in diesem Falle kann der einzige vorhandene Gentiv eines transitiven Verbalabstraktums also auch ‘Genitivus subiectivus’ sein: [92] Victoria Romanorum Carthaginienses gravissime afflixit. Ausschlaggebend für die Interpretation ist dann die semantische Verträglichkeit mit dem Hauptsatzprädikat oder außersprachliches Wissen. 3. Kommunikativer Zweck einer solchen Satznominalisierung ist die Komprimierung einer als gegeben vorausgesetzten Information, welche in einen anderen Satz eingegliedert werden soll: [93] Die Verarbeitung von Pappe zu Trabis war eines der großen Industriegeheimnisse der DDR (← Wie man Trabis zu Pappe verarbeitet . . . ). Die Konstruktion entspricht also funktional einem ‘faktischen’ Nebensatz und kann auch vielfach durch einen solchen paraphrasiert werden: [94] Ille admiratur propter animi multarum rerum brevi tempore percursionem. → Ille admiratur, quod animus (eius) brevi tempore multas res pecurrit. Anwendung • Übersetzen Sie [95] und formulieren Sie den lat. Nebensatz, mit translatio + Ergänzungen nominalisiert ist. Bestimmen Sie die semant. Funktion der Genitive. [95] Caesaris pecuniarum translatio a iustis dominis ad alienos non debet liberalis videri. • Übersetzen Sie die kursiv gesetzte Passage mit Gen.obj.: [96] Nur wenige hat die Furcht vor Bestrafung von einem Verbrechen abgehalten: Paucos . . . . . . . . . . . . . a facinore deterruit. B.5 Nicht-transitive Verben mit einem Akkusativobjekt Hierher gehören zwei Gruppen, nämlich • Unpersönliche Verben des Typs me iuvat, me fugit, me piget KU Eichstätt 55 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 • das sog. ‘innere Objekt’ bei intransitiven Verben des Typs acerrimam pugnam pugnare Der ersten Gruppe fehlt das personale Subjekt, der zweiten ein vollwertiges Objekt. B.5.1 Unpersönliche Verben mit Akkusativ der Person Diese Verben bilden zwei semantische Gruppen: 1. (Negative) Kognitionsverben: RH §113,2 fallit, fugit, praeterit: das sind die negativen Gegenstücke zu den Verba sentiendi wie scio. Sie geben den Geltungsgrad der Äußerung an (scit ‘er weiß’, eum fugit ‘er weiß nicht’); technisch gesagt: es sind epistemische Modalitätsverben8 . [97] me fugit eum abiisse 2. Verba affectus: piget, pudet, paenitet, taedet, miseret; iuvat RH 137 Das sind Verben die eine Einstellung gegenüber einem gegebenen Faktum ausdrücken, vgl. [98] eum piget peccati / pecavisse Die Satzstruktur ist Patiens Akk.Obj. Prädikat Geltungsbereich me me fugit pudet eum abisse peccavisse / peccati Tabelle B.4: Unpersönliche Verben mit Akk.-Objekt Von prototypischen transitiven Konstruktionen unterscheidet dieses Muster sich dadurch, daß ein personales Subjekt fehlt: (1) Beim Typ me fugit handelt es sich um eine Ableitung aus dem persönlichen Muster aliquis me fugit / fallit, bei dem aus einem Handlungsverb (‘fliehen, täuschen, vorübergehen’) dadurch ein Kongitionsverb abgeleitet wird, daß das personale Subjekt durch einen Sachverhalt ersetzt wurde, (2) beim Typ pudet me peccati handelt es sich um einen originär unpersönlichen Typ, bei dem der Geltungsbereich, sofern er durch ein Substantiv auftritt, im Genitiv (der Kategorie, vgl. S. 108) steht. Der. Akk. dagegen bezeichnet ganz normal den Patiens, eine Person die einem Affekt oder einer Wahrnehmungstäuschung ausgesetzt ist. Im Dt. ist die Situation ähnlich: der Wahrnehmungs- bzw. Empfindungsträger steht nicht im Nominativ (mir entgeht, mich ärgert / freut, daß etc.), syntaktisches Subjekt ist der Inhalt der Empfindung, der im Hauptsatz wegen des Zwangs zum Ausdruck des Subjekts durch das Scheinsubjekt es repräsentiert wird, sofern das Hauptverb voransteht: [99] Es freut / ärgert mich, das zu hören / das zu hören freut mich 8 Zu diesen Begriffen näheres im Kapitel ‘Modus und Modalität’. KU Eichstätt 56 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 B.5.1.1 Ausdrucksformate Tabelle B.5 stellt die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten für die Komplemente zu diesen Verben dar. I. II. piget pudet paenitet iuvat fugit fallit praeterit Gen.-Obj.: Subst + + + Pro + + + + Subjekt: SubstNom Inf + + + + + + + Aci NS: quod quod + + + Frage Frage Frage Tabelle B.5: Unpersönliche Verben mit Akk.-Objekt der Person Die Syntax der Komplemente entspricht mit den nachfolgend genannten Einschränkungen den anderen Verba affectus, sentiendi und Urteilsverben, und wie bei diesen ist das Komplement natürlich pronominalisierbar (hoc me paenitat / iuvat / fugit): I. Verba affectus: piget, pudet, paenitet; iuvat: [100] Cic.div.1.63 eos peccatorum suorum maxime pudet [101] Hoc me piget. [102] Cic.Cato 84 non me paenitet vixisse [103] Cic.Att. 11,13,2 eum paenitet, quod animum tuum offendit – Diese Gruppe hat, wenn das Objekt ein Substantiv ist, ein Genitivobjekt – im Gegensatz zu anderen Verba affectus. – Wenn das Objekt satzförmig ist, steht bei diesen Verben statt des bei anderen Verba affectus üblichen AcI eine Infinitivkonstruktion, weil das semant. Subjekt des Infinitivs regelmäßig mit dem Akk. der Person identisch ist wie in [102] (Ausnahmen mit Aci bei KS 1, 702). – Im Einklang mit den anderen Verba affectus findet sich aber der quodSatz (klass. meist bei paenitet). II. Verba sentiendi: fugit, fallit, praeterit. Das sind metaphorische Ableitungen von Bewegungsverben9 . Im Unterschied zu den ‘normalen’ Verba sentiendi in RH §168 sind sie inhärent negativ (me fugit ∼ non sentio), können aber durch ↑ Litotes positiven Sinn annehmen (non me fugit). 9 fugere ‘fliehen’, praetire ‘vorübergehen’, fallere (kausativ) ‘stolpern machen’ KU Eichstätt 57 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Ihr Sachobjekt wird demzufolge konstruiert wie das der anderen Verba sentiendi, d.h. eine satzförmige Ergänzung steht im Aci oder im indirekten Fragesatz: [104] Cic.Verr.3,182 Non me fugit vetera exempla pro ficits fabulis iam haberi [105] Cic.Quinct. 54 Non me fallit, quae sint consilia adversariorum B.5.2 RH §116 Sog. ‘Inneres Objekt’ Der Begriff ‘inneres Objekt’ besagt, daß ein Ausdruck im Akkusativ zu einem intransitiven Verb tritt (wo also ein Akk.-Objekt gar nicht möglich ist): [106] Servire → miserrimam servitutem servire Wie wir in §B.3.1.1 gesagt haben, ist das nur ein Pseudo-Objekt, weil es nicht, wie ein echter Patiens, vom Verb unabhängige Referenz hat. Seine semantische Funktion es ist, den Verbalinhalt expressiv zu verstärken; aus diesem Grund tritt es auch im Grundtyp (unten Nr. I.) regulär in der Konfiguration ‘Substantiv + Attribut’ (miserrimam servitutem) auf. B.5.2.1 Typologie Die bei RH genannten Beispiele gliedern sich in folgende Gruppen (zu §116,3 s. nächster Abs.): 1. Das Ps.-Objekt ist mit dem Verb stammverwandt: [107] acerrimam pugnam pugnare [108] verissimum iusiurandum iurare [109] istam pugnam pugnare Das ist der häufigste Typ10 . Die Bedeutungskompentente ‘Kampf’ wird durch ein Attribut (acerrimam) oder ein Anaphoricum ([109]) spezifiziert. Dieser Typ heißt traditionel ‘figura etymologica’ (zur Geschichte s. HS 38f). Die volle Form [107] läßt sich problemlos durch ein Adverb(iale) paraphrasieren (acerrime pugnare). Das zeigt, daß das ‘innere Objekt’ kein Objekt, sondern ein Modifikator des Verbs ist. ? Versuchen Sie es: [110] deorum vitam vivere: ∼ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [111] verissimum iusiurandum iurare: ∼ . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Vgl. H. Rosén: On cognate complements. R. Risselada e.a. (eds.) On Latin. Fs H. Pinkster, 1996, 127-150. KU Eichstätt 58 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 2. Das Ps.-Objekt ist mit dem Verb nur semantisch verwandt: Das ist eine Ableitung aus dem Grundtyp: [112] Hor.carm.4.9.14 non pugnavit ingens Idomeneus . . . solus dicenda Musis proelia 3. Das Ps.-Objekt spezifiziert einen semantischen Sonderfall: In [113] regnet es nicht, wie üblich Wasser, sondern Steine. [113] Liv.28.27.16 lapides pluere et fulmina iaci de caelo . . . uos portenta esse putatis Hier wird also ein dem Verb inkorporiertes Objekt (‘Wasser’) lexikalisiert, weil es nicht die von der Verbbedeutung vorausgesetzte Bedeutung hat (technisch gesagt: es liegt Objektexteriorisierung vor). Daneben steht oft der ablativische Typ lapidibus pluere. 4. Sog. ‘Accusativus Graecus’ – ein griech. ‘Akk. der Beziehung’ wird nachgemacht: [114] Enn.ann.374 vicit Olympia ∼ t >OlÔmpia ânÐkhse B.5.2.2 Abgrenzung gegen pronominale Objekte RH §116, 3 rechnen zum ‘inneren Objekt’ auch zwei Typen mit akkusativischen Pronomina, die nicht hierhergehören: • id glorior / cetera tibi assentior / illud non dubito: hier steht ein pronominales Objekt im Akkusativ statt im regulärem Abl.- oder Präp.-Obj. Wir haben auf S. 47 schon darauf hingewesen, daß pronominale Objekte transitiviert werden. Unten in §D.4.1 auf S. 105 wird uns das bei hoc memini / obliviscor statt huius rei memini / obliviscor wiederbegegnen. Zweck dieser Transitivierungen ist es, umständliche Paraphrasen wie memini huius rei zu vermeiden; (huius alleine würde als Maskulinum interpetiert. • id studeo, ut vincam: das ist eine Erweiterung des vorstehenden Typs: das Objekt wird durch den ut-Satz ausgedrückt, der seinerseits durch das Kataphorikum id vorbereitet wird. Wir stellen in der folgenden Tabelle alle obliquen und zusätzlich die satzartigen Objekten zusammen, die bei Pronominalisierung in der geschilderten Weise ‘normalisiert’ werden: KU Eichstätt 59 Latinistik F. Heberlein Syntax I cogo te prohibeo te admoneo te (1) Kasus obliquus ad pugnam a pugna de ea re celo te studeo eam rem/ de ea re libertati (2) Nebensatz pugnare ne pugnes ut venias eum adesse me timere abire te liberum esse ut discam eum abisse quid dixerit pecavisse me dixisse fugit me piget me obliviscor WS 2014-15 facinoris amici (3) Anaphoricum id id id id id id id id B.6 Doppelter Akkusativ RH §119ff; 121 B.6.1 Beschreibung Im Lateinischen wie im Deutschen gibt es zwei Arten von ‘doppeltem Akkusativ’, nämlich A. ‘Objekt + Objekt’, B. ‘Objekt + Prädikatsnomen: A(= RH §119) Socrates Platonem philosophiam docuit ‘Sokrates lehrte Philosophie’ P. B (= RH §121) Romani Akk.Obj. Ciceronem Akk.Obj. consulem creaverunt ‘Die Römer wählten Cicero zum Konsul’ Akk.Obj PN In A hat der zweite Akkusative eine andere Referenz als der erste (Plato ̸= philosophia), in B dagegen bezeichnet der zweite Akkusativ eine Eigenschaft des ersten (Cicero (est) consul). Form: Das Muster B hat im Nhd. eine Präposition (zum Konsul); das ist eine jüngere Variante eines doppelten Akkusativs, der im Frühnhd. noch existierte (vgl. [115]) noch heute im Englischen üblich ist, vgl. [116]. [115] Darnach wollen wir all deutsche Bischoff Cardinel machen. (Luther) [116] Napoleon appointed his stepson, Eugène de Beauharnais, viceroy Funktion: Die Unterschiede zwischen A und B treten zutage, wenn wir auf folgende Beispiele zwei kleine Tests anwenden: 1. Wir setzen den beide Muster ins Passiv: A B parentes filium pecuniam poscunt ‘Die Eltern fordern von ihrem Sohn Geld’ Caesar Cavarinum constituit regem ‘Caesar setzt C. als König ein’ KU Eichstätt 60 → filius a parentibus pecuniam poscitur → a Caesare Cavarinus constituitur rex Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 In A bleibt das Sachobjekt im Akkusativ, in B tritt das Prädikatsnomen analog zu seinem Bezugswort in den Nominativ. 2. Wir versuchen, die Relation zwischen den beiden Akkusativen durch einen Kopulasatz zu paraphrasieren – das funktioniert nur in B: A B ̸= Plato philosophia est ∼ Cavarinus rex est / fit Die Unterschiede zwischen A und B ist der, den wir den wir §A.3.3.1 auf S. 31 zwischen kongruentem und obliquem Kasus gemacht haben: 1. beim Typ B hat der 2. Akkusativ alle Eigenschaften, die wir von einem Prädikatsnomen des Typs Cavarinus rex est kennen (vgl. §B.2.2.2): • Er kongruiert im Kasus mit seinem Bezugswort: daher Nominativ beim Passiv (Test 1) • er als ‘Prädikatsnomen plus Kopula’ paraphrasierbar (Test 3). 2. beim Typ A dagegen hat der 2. Akkusativ alle Eigenschaften eines Objekts: • er verbleibt bei Passivtransformation im Akk., ist also ein echtes Objekt, nämlich ein Sachobjekt neben einem Objekt der Person. • er kann nicht Prädikat eines Kopulasatzes werden; stattdessen kann einen ganzen Sachverhalt bezeichnen und ist dann durch einen Infinitiv oder Nebensatz ausdrückbar: Socrates Platonem philosophiam docuit → Socrates Platonem philosophari docuit. • Der historische Kern dieses Typs ist eine Kausativkonstruktion des Musters iubere / sinere aliquem aliquid: Marcus docet te musicam Marcus läßt annehmen Dich die Musik B.6.2 Der Typ ‘doppeltes Objekt’ steht wie oben gesagt bei Verben, die kraft ihrer Valenz zwei referenzverschiedene Ergänzungen haben: docere, celare; poscere, rogare, flagitare aliquem aliquid. 1. Beim Prototyp bezeichnet der erste Akk. ein Lebewesen, der zweite Akkusativ einen Sachverhalt, der aber nicht als Satz ausgedrückt wird, sondern auf ein Substantiv oder anaphorisches Pronomen, das einen Sachverhalt repräsentiert, reduziert ist. Das pronomen kann anaphorisch ([117]) oder kataphorisch ([118]) sein; im letzteren Fall wird sein Inhalt durch einen nachfolgenden Explikativsatz »nachgeliedert«. [117] Quint. decl. 5.pr.8 Parentes filium alimenta poscunt KU Eichstätt 61 Latinistik RH §119 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [118] Cic. fin. 5.83 Quid me istud rogas? inquam. Stoicos roga. Die Sachverhaltseigenschaft des zweiten Akk. zeigt sich, wie ebenfalls schon gesagt, daran, daß er oft durch einen Inf. oder Nebensatz ersetzt werden kann: [119] Tib.2.1.41 Dei tauros servitium docuerunt ∼ tauros servire docuerunt [120] Sen. con. 1.1.10 Quisquis alimenta a medico rogatus est, . . . monstrat11 : » i ad fratrem, i ad filium« 2. Alternative Ausdrucksformate bei poscere, rogare und flagitare ergeben sich durch ↑ Analogie zur Konstruktion von postulare: (a) das Objekt der Person wird durch ab + Abl. ersetzt: [121] Cic. Verr. 2.117 Hoc a me munus universa provincia poposcit [122] Vitr. 7.pr.6 Aristophanes vero, cum ab eo sententia rogaretur, respondit . . . (b) das Objekt der Sache wird durch einen Finalsatz ersetzt: [123] Liv.5.28.9 poposcerunt, ut confestim se ad castra hostium duceret 3. docere und celare sind in ihrer Grundbedeutung ‘lehren’ bzw. ‘verbergen’ Handlungsverben, in abgeleiteter Bedeutung (»informieren« bzw. »verheimlichen«) sind sie Informationsverben. (a) Als Handlungsverben haben sie den doppelten Akkusativ: [124] Damon unterrichtete Perikles in der Musik: [125] Colum. 11.2.36 Pridie Kalendas Maias Canis stella se uespere celat ‘Am 30. April geht der Sirius am Abend unter’ Bei docere gibt es für den 2. Akkusativ als alternatives Ausdrucksformat den Infinitiv: [126] Damon lehrte Perikles das Flötenspielen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bei Passivtransformation wird das Verb gewechselt, nämlich docere → discere, ein Fall von lexikalischer Bildung der ↑ Diathese: [127] Perikles wurde von Damon in der Musik unterrichtet: . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Als Informationsverben (‘informieren’ bzw. ‘verschweigen, verheimlichen’) 11 hier: »zu verstehen geben« KU Eichstätt 62 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 haben sie alle Konstruktionsmöglichkeiten, die Informationsverben (‘Verba dicendi’) im Lateinischen haben, nämlich i. Das Sachobjekt steht im AcI: [128] Sall.I.68.3 Is milites docet oppidum non amplius mille passum abesse [129] Cic.Att.11.24.2 Eam celo me hoc timere ii. Das Sachobjekt steht im indirekten Fragesatz: [130] Cic.fam.3.6.5 Litterae me docebant, quid ageres [131] Cic.off.3.52 Tu celabis homines, quid iis adsit commoditatis? iii. Das Sachobjekt wird durch eine Themaangabe mit de + Ablativ ersetzt (Muster: dixit de . . . ): [132] Caes.civ.2.3.3 Nasidius praemissa navicula Massilienses de suo adventu certiores facit [133] Cic.Deio.10 De insidiis celare te noluit B.6.3 Der Typ AkkObj + Prädikatsnomen Hier ist, wie oben gesagt, der 2. Akk nicht-referierend und nennt eine Eigenschaft des ersten: [134] Caesar Cavarinum constituit regem ∼ Cavarinus rex fit Bei RH §121 finden sich drei Verbgruppen, die hierher gehören. Sie unterscheiden sich wie folgt: 1. Die Gruppe haben, nehmen, geben betrifft Verben, bei denen der Akkusativ lediglich ein appositiver Zusatz zu einem transitiven Verb ist; er weglaßbar, ohne daß sich die Verbbedeutung ändert: [135] a. habeo servum : b. habeo servum comitem ‘haben als’ [136] a. dare amico servum : b. dare amico servum comitem: ‘geben als’ ? Weitere Bedeutungen von habere: [137] habeo te amicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [138] Plato Graeciae praeceptor habebatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [139] habeo incerta pro veris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KU Eichstätt 63 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 2. se praebere gehört etymologisch zur habere-Gruppe und kann daher durch einen zweiten Akk. erweitert werden, se gerere dagegen nicht; es hat statt des 2. Akk. ein Adverb . ? Übersetzen Sie dementsprechend mit beiden Verben: [140] Verres führte sich sehr übel (turpis) auf. 3. Bei den anderen Verben mit doppeltem Akkusativ ist der zweite Akk. obligatorisch geworden (↑ Erweiterung der Realtionalität). Das betrifft (a) Verben für halten für, beurteilen als: [141] a. appello eum: . . . . . . . . . . . . . . . b. appello eum amicum: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [142] a. putare numerum: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. putare aliquem tristem: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [143] a. senatores sententiam dicunt: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. senatores dicunt Ciceronem patrem patriae: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Verben für machen zu, wählen zu12 . Das sind Erweiterungen von Verben mit effiziertem Objekt; die Erweiterung macht aus dem effizierten ein affizierten Objekt, denn das zweite Akk.-Objekt bezeichnet den Zustand, in den das erste Objekt überführt wird. [144] a. facio pontem / coniurationem ̸= facio amicum b. facio amicum heredem [145] a. stercus herbas creat b. Romani Ciceronem consulem creaverunt. [146] Pl. Capt. 326 lucrum multos homines lutulentos reddidit Zur Geschichte der Konstruktionen mit facere in [144] ist zu folgendes ergänzen: 1. Die auf der Basis von facere entwickelten kausativen Konstruktionen in den romanischen Sprachen wie [147] it. fare sapere qcs. a qcn ‘jemand etwas wissen lassen’; fare ridere qcn. jemanden zum Lachen bringen [148] frz. faire lire un texte aux élèves ‘die Schüler einen Text lesen lassen’ beruhen auf Ausdrücken, die im Altlatein vorhanden sind (vgl. [149]), im klass. Latein aber verpönt sind und erst im Spätlatein wieder zum Vorschein kommen. [149] Ter.Heau.873 Te scientem faciam quiquid egero ‘ich werde Dich wissen lassen, was ich getan habe’ 2. Im klass. Latein gibt es diesen Typ nur in fachsprachlicher Verwendung: 12 Den Typ appellare, nominare etc. haben wir zur vorigen Gruppe gestellt. KU Eichstätt 64 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [150] Xenophon facit Socratem disputantem de immortalitate animi. ‘X. läßt Sokrates über die Unsterblichkeit der Seele vortragen’ Facere meint hier ‘jemand in einer bestimmten Rolle auftreten lassen’, d.h. im fiktionalen Kontext der Literatur. Darauf kommen wir beim Partizip in Syntax IV zurück. 3. Ein generelles Kausativverb wie dt. lassen gibt es im klass. Latein nicht. Je nach Kontext muß ein spezielles Kausativverb gewählt werden: [151] (a) iubeo te venire ‘ich lasse dich kommen (= ich befehle, daß . . . )’ (b) sino te abire ‘ich lasse Dich gehen (= ich lasse zu, daß . . . )’ (c) patior te abire ‘ich lasse Dich gehen (= ich nehme es hin, daß . . . )’ (d) efficio ut rideas ‘ich bringe Dich zum Lachen’ Zusatz: Die Kongruenz bei pronominalem Objekt ist geregelt wie beim Prädikatsnomen im Nominativ, vgl. §B.2.2.1 auf S. 40: [152] a. Paul nennt das Freiheit b. Paulus hanc appellat libertatem Wie wir an [152] sehen, gilt die Regel von der Kongruenz eines proninalen Subjekts mit einem substantivischen Prädikatsnomen analog bei einem doppelten Akkusativ aus pronominalem Objekt und substantivischem Prädikatsnomen. ? Übersetzen Sie dementsprechend: [153] Das verstehe ich unter ‘Idee’ (intellego; idea): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [154] Es ist klar, was Platon unter der Idee versteht (apparet): ................................. B.7 Weiterführende Information Kasussynkretismus Daß der Akkusativ zwei Relationen umfaßt, die synchron anscheinend nichts miteinander zu tun haben, nämlich den Akk. als Objekt und den Akk. als Ortsangabe, zeigt, daß wir auch beim Akk., ähnlich wie im viel bekannteren Fall des Ablativs, mit einem Zusammenfall, einem ‘Synkretismus’ ursprünlich unabhängiger Funktion zu rechnen haben. 1. Wenn müssen zunächst voraussetzen, daß (1) konkrete Relationen älter sind als abstrakte, (2) appositionelle Konstruktionen älter sind als rektive. Demnach müßten im Bereich des Akkusativs folgende die beiden Typen die ältesten sein: [155] irem Romam KU Eichstätt 65 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [156] iurare verissimum iusiurandum Das Akkusativobjekt in seinen beiden Variaten als ‘affiziertes’ und ‘effiziertes’ Objekt müßte demnach aus diesen beiden Typen entwickelt sein. 2. Diese Entwicklung könnte, in Anlehnung an Schwyzer, Griech. Grammatik 2,67ff so verlaufen sein: (a) Beim Akk. der Bewegung tritt als Referenzpunkt statt eines Ortes ein bewegliches Objekt ein: [157] sequor bestiam Damit entsteht ein von der Bewegung sequi ‘affiziertes’ Objekt. (b) beim appositionelle Akk. des Inhalts treten neben dem Typ acerrimam pugnam pugnare, der den Modus des pugnare spezifiziert, Substantive wie iusiurandum in [156] auf, die als ‘Resultat’ interpertiert werden können, d.h. als ‘effiziertes’ Objekt. Nach diesen beiden Prototypen können dann durch Analogie und Generalisierung weitere Muster mit ‘affizierten’ und ‘effizierten’ Objekten gebildet werden. (c) Gemeinsam haben sie die ‘inagentive’ Endung -m, die auch beim Nominativ des Neutrum vorhanden ist (ein Neutrum ist per definitionem ein ‘Nicht-Agens’), die in Opposition zum ‘agentiven’ -s / ∅ dominus / nauta, consul des Nominativs steht. (d) Durch fortschreitende Grammatikalisierung entsteht so der Typ ‘transitives Prädikat’: Akk d. Bewegung Akk des Inhalts ire Romam pugnam pugnare ↓ ↓ sequi aliquem Patiens, ‘affiziert’ iusiurandum iurare Patiens, ‘effiziert’ ↘ ↙ -m ‘inagentiv’ vgl. Neutrum ↓ ‘Transitivierung’ Literatur Zur Präverbierung: Chr. Lehmann, Latin preverbs and cases. H. Pinkster (ed.): Latin linguistics and linguistic theory. 1983, 145ff. Zur ‘Figura etymologica’: H. Rosén, On cognate complements. R. Risselada e.a. (eds.) On Latin. Fs H. Pinkster, 1996, 127-150. KU Eichstätt 66 Latinistik Kapitel C Indirekte Partizipation: Der Dativ und seine Konkurrenzausdrücke Als ‘indirekte Partizipanten’ haben wir in §A.4 diejenigen Teilnehmer einer Situation bezeichnent, die in die Situation involviert sind, ohne aber effiziertes oder affiziertes Objekt zu sein, z.B. Ich Agens gebe Dir indir. Partizipant ein Buch Patiens Allgemein ausgedrückt, bezeichnet ein indirekter Partizipant den Referenzpunkt, auf den hin die Situation orientiert ist. So wird etwa in [1] die Lage der Belgier durch den Referenzpunkt ‘Germanen’ bestimmt, in [2] eine Äußerung auf einen Adressaten orientiert. [1] Caes.Gal.1.1.3 Belgae proximi sunt Germanis [2] Cic.fam.8.1.2 In Kal. Iun., ut mihi ipse dixit, eam distulit relationem Das bevorzugte Ausdrucksformat für indirekte Partizipanten ist im Lateinischen der Dativ. Konkurrierende Ausdrucksformate sind Präposition und fallweise der Akk; Einzelheiten nachstehend. C.1 Semantische Varianten indirekter Partizipation Der Grundtyp ‘indirekter Partizipant’ kann durch zwei Operationen variiert werden, nämlich • semantische Variation durch (1) den Wechsel belebt ↔ unbelebt, (2) durch Metapher, Metonymie und Abstraktion • syntaktische Variation: ein indirekter Partizipant kann der Rektion unterliegen – am häufigsten als Dativ-Objekt – oder Adverbiale sein. Im 67 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 ersteren Falle wird seine Interpretation durch das Verb, von dem er regiert wird, definiert, im letzteren durch die semantische Relation zum Gesamtsatz. Beispiele: [3] Catul.14.7 hoc munus dat tibi Sulla litterator [4] Petr.62.5 mihi anima in naso esse (=erat), stabam tamquam mortuus. In [3] besetzt tibi die Stelle des Dat.-Objekts zu dare, wird also durch diese Abhängkeit als Empfänger definiert; in [4] ist mihi Adverbiale; seine semantische Funktion als ‘Betroffener’ wird somit nur dadurch definiert, daß diese semantisch zum Hs. ‘paßt’, technisch gesagt: die nächstliegende Lesart ist. Tabelle C.1 stellt die häufigsten semantischen Variationen indirekter Partizipation zusammen. belebt: Objekt Nutznießer Betroffener Adressat do vestem pauperi noceo tibi persuadeo tibi ut venias Adverbiale Nutznießer Betroffener Perspektiventräger emo vestem pauperi anima mihi in naso stetit ad sinistram intrantibus canis erat unbelebt: Objekt lokaler Referenzpunkt konkret abstrakt turris proxima castris religio superstioni proxima est comparare dicta factis providere saluti sociorum Secundum comparationis Zweck Adverbiale Zweck non vitae sed scholae discimus Tabelle C.1: Semantische Varianten indirekter Partizipation ? Analysieren sie die folgenden Beispiele gemäß Tab. C.1 (Objekt / Adverbiale? belebt / unbelebt konkret / abstrakt ?): [5] Cic.div.2.46 quid tibi hic tandem nocet? [6] Caes.Gal.1.3 Orgetorix persuadet Castico Sequano, . . . ut regnum in civitate sua occuparet KU Eichstätt 68 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [7] Petr.29.12 ad sinistram intrantibus . . . canis ingens, . . . in pariete erat pictus superque quadrata littera scriptum ’cave canem’. [8] Cic.Lael.102 Mihi quidem Scipio, quamquam est subito ereptus, vivit . . . semperque vivet [9] bell.Afr.38.2 turris proxima fuit castris adversariorum [10] Caes.Gal.1.16 dies instabat, quo die Caesar frumentum militibus metiri oportebat [11] Sen.clem.1.11 Conparare nemo mansuetudini tuae (cum mensuetudine tua) audebit divum Augustum [12] Sen.ep.106.12 non vitae sed scholae discimus C.2 Syntaktische Funktionen indirekter Partizipanten Das bevorzugte Ausdrucksformat indirekter Partizipation, der Dativ, ist, wie wir in der Einführung auf S. 31 gesagt haben, ein konkreter Kasus, und daher sind Bedeutungsvarianten prinzipiell unabhängig von seiner syntaktischen Funktion als Objekt oder Adverbiale. Wir haben oben aber gesagt, daß das Interpretationsspektrum eines adverbialen Dativs größer ist als das eines Dativobjekts, weshalb wir den Objektsdativ und den adverbialen Dativ samt ihren Konkurrenzausdrücken im folgenden getrennt behandeln. C.2.1 Der adverbiale Dativ Aus dem eben Gesagten ergibt sich, daß schulgrammatische Begriffe wie ‘Dativus ethicus, Dativus possessivus’ keine syntaktischen Begriffe, sondern nur Bezeichnungen für semantischen Varianten des prototypischen Funktion ‘indirekter Partizipant’ sind, die sich aus der Opposition belebt : unbelebt und der Relation zum Restsatz ergeben. Wir gliedern das Material zu adverbialen Dativ im folgenden nach unserem Kriterium aus Tab. C.1 zusammen, nämlich (A) der Dativ bezeichnet eine Person, (B) der Dativ bezeichnet eine Sache: C.2.1.1 Der adverbiale Dativ bezeichnet eine Person Die Person ist indirekter Beteiligter (‘Nutznießer, Betroffener, Referenzpunkt’), insofern KU Eichstätt 69 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 • die Handlung in ihrem /gegen ihr Interesse geschieht: ‘Dativus in-/commodi’, s. [13]. • sie als Betroffener in die Handlung involviert ist: ‘Dativus sympatheticus’, s. [16]. • ein Gegenstand zu ihren Gunsten existiert: ‘possessiver Dativ’, s. [18]. • die Handlung aus ihrer Perspektive gesehen wird: ‘Dativus iudicantis’, s. [19]. Der Dativus commodi / incommodi: [13] Philippus Aristotelem Alexandro filio accivit. [14] Consuli adsurrexerunt omnes. Der Dativus sympatheticus entspricht dem im Deutschen: [15] ‘Wir machen Musik, da geht dir der Hut hoch; wir machen Musik, da fliegt dir der Bart weg’ Diese Konstruktion ist eine Alternative zum possessiven Genitiv bzw. Adjektiv: [16] a. Paul ist der Hut davongeflogen ↔ b. Pauls Hut ist davongeflogen. [17] a. Demeas Sostrato caput diffregit. b. Demeas Sostrati caput diffregit. Das zugrundeliegende Genitivattribut (Teil eines Satzgliedes) wird hier durch »syntaktische Aufwertung« zum adverbialen Dativ (eigenständiges Satzglied) in den Vordergrund gerückt und damit der »Betroffene«. Der possessive Dativ ist historisch gesehen nichts weiter als ein normaler Dativus commodi neben dem Vollverb esse. Das Muster [18] amico domus est ‘der Freund hat ein Haus’ bedeutet ursprünglich: ‘Es existiert ein Haus zugunsten des Freundes’, im Gegensatz zu domus amici est, ‘das Haus ist des Freundes → . . . gehört dem Freund’. Den Unterschied zwischen amico domus est : domus amici est : amicus domum habet besprechen wir im Kap. ‘Possession’ in §D.2.1.1. Der Dativus iudicantis bezeichnet den Referenzpunkt der Perspektive, aus welcher eine Situation betrachtet wird. Muster sind [7] und [8] aus unserer Beispielssammlung auf S. 69. ? Setzen Sie die die passende Verbform ein: [19] Epidamnos ist die erste Stadt, wenn man in den Golf von Korfu einfährt Epidamnos urbs prima est . . . . . . . (intrare) sinum Cercyraeum. KU Eichstätt 70 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 C.2.1.2 Der adverbiale Dativ bezeichnet einen Sachverhalt Wenn unsere semantische Definition des Dativs ‘Referenzpunkt, auf den hin die Handlung orientiert ist’, (1) auf eine Situation angewandt wird, (2) diese Situation syntaktisch Adverbiale ist, ergibt sich regulär eine finale Relation: ‘finaler Dativ’. RH §128.3 [20] Legati colloquio diem dixerunt: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [21] Galli Germanos auxilio arcesserunt: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [22] Caes.Gal.1.51 Caesar praesidio castrorum, quod satis esse visum est, reliquit C.2.2 In §C.2.5 wird uns dieser Dativ in Verbindung mit esse, z.B. praesidio esse, wieder begegnen. Dort hat er seine finale Relation fast vollständig eingebüßt, weil er zur Bidlung des Prädikats neben der Kopula esse benötigt wird. Der Dativ als Objekt Sobald ein indirekter Partizpant Objekt zu einem Verb ist (»indirektes Objekt«), wird seine semantischen Funktion (zusammengestellt in Tab. C.1 durch das Verb determiniert. Eine Zusammenstellung der einzelnen semantischen Funktionen indirekter Objekte erübrigt sich daher; somit wir können uns auf die wichtigsten syntaktischen Verwendungsweisen konzentrieren. Indirekte Objekte kommen am häufigsten in zwei der Satztypen vor, die wir auf S. 25 aufgelistet haben, nämlich: • in intransitiven Sätzen als einziges Objekt, z.B. subvenio amico ‘ich helfe dem Freund’. • in ‘bitransitiven’ Sätzen kombiniert mit einem Akk.-Objekt (z.B. dare alicui panem); Einzelheiten in §C.2.2.3. Häufigstes Ausdrucksformat des indirekten Objekts ist der Dativ, zu dem es aber öfters Alternativen gibt. Wir besprechen zunächst den Dativ als Objekt, danach die alternativen Ausdrucksformate. C.2.2.1 Der Dativ als einziges Objekt Er steht bei Verbklassen, die einen Nutznießer, dessen Antonym oder einen Referenzpunkt in ihrer Valenz vorsehen: z.B. (1) nützen, schaden; (2) gefallen, mißfallen; (3) befehlen, gehorchen; (4) begegnen, sich nähern 1. In vielen Fällen entspricht die lat. Syntax der deutschen: KU Eichstätt 71 Latinistik RH §124 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [23] a. patriae subvenire debemus b. non licet sui commodi causa nocere alteri [24] Cic.Tusc.4.56 (Cic. grenzt aemulatio von obtrecatio ab:) obtrectare vero alteri aut . . . eum aemulari quid habet utilitatis . . . ? [25] Cato agr.142.1 vilicus domino dicto audiens sit [26] navis litori appropinquabat 2. zu manchen dt. Verben mit Dativ-Objekt existieren lexikalische Varianten mit anderer Syntax; sie werden bei der Übersetzung ins Lateinische [27] a. jemanden schädigen: nocere alicui, b. auf jemanden hören: oboedire alicui, c. sich annähern ad etwas: appropinquare alicui rei 3. Bei folgenden Verben ist im Lat. ist das Objekt nicht wie im Deutschen als Patiens (Akkusativ), sondern, wegen der Etymologie der Verben, als Adressat oder Nutznießer (Dativ) konzipiert: [28] mederi aegro: ‘Rat wissen für den Kranken’ → . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [29] nubĕre alicui: ‘sich verschleiern für jemanden’ → . . . . . . . . . . . . . . . . . . [30] favēre alicui: ‘jemandem gegenüber günstig gestimmt’ → . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [31] parcĕre alicui: ‘sich einschränken zugunsten jemandes’ → . . . . . . . . . . . . . . . . . . [32] maledicere alicui »jemandem Übles sagen« → . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suppletion (vgl. Anm. u.) tritt dabei auf bei den Verben 1. medēri: [33] Der Arzt heilt meine Krankheit: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [34] Der Arzt hat meine Krankheit geheilt (Perfekt): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. nubĕre: [35] Julia, die Tochter Caesars, war mit Pompeius verheiratet. Nach ihrem Tode heiratete dieser eine Tochter des Metellus. Julia, filia Caesaris, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quae cum mortua esset, ille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fälle von morphologischer oder semantischer / syntaktischer ‘Defektivität’ sind sehr häufig. In diesem Fall treten andere Formen oder andere Wörter als Ersatz ein: Suppletion. Ein Beispiel morphologischer Suppletion bieten die idg. Verben für ‘sein’, vgl. lat. sum vs. est, dt. bin vs. ist vs. sind, eines für semantische die Verben für ‘besitzen’, vgl. Hans besitzt ein Haus : ̸= das Haus wird von Hans besessen → das Haus befindet sich im Besitz von Hans. KU Eichstätt 72 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 C.2.2.2 Indirektes Objekt bei Adjektiven 1. Manche Adjektive haben ein indirektes Objekt zur Angabe von Referenzpunkt oder Zweck. Neben dem Dativ tritt hier auch Präposition auf (vgl. dazu §C.2.3.1). RH §129 Setzen Sie die richtigen Formen ein: ? [36] (Mit Dat.:) Dieser Platz ist geeignet zum Bau eines Hauses: Hic locus idoneus est1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Mit Präposition:) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Angabe bei RH §129 »bei Sachen nur mit Akk.« stimmt nur für sein Corpus 2. Bei einigen Adjektiven findet sich Konkurrenz von Dativ und Genitiv im Positiv und Superlativ, jedoch nicht im Superlativ. ? Übersetzen Sie: [37] Brutus war für Caesar der vertrautetste Freund (familiarissimus). [38] Brutus war Cicero vertrauter als Caesar. Der Genitiv erklärt sich daher, daß das Adjektiv substantiviert wird; beim Komparativ ist das nicht möglich (Substantive sind nicht gradierbar), sodaß sich hier der Dativ erhalten bleiben muß Zur Kasuskonkurrenz bei sacer, proprius, superstes, communis, similis etc. lernen Sie bitte RH §135,2. 3. Bei manchen Adjektiven wie utilis, noxius ist ein Referenzpunkt (Nutznießer) impliziert, der aber unausgedrückt bleiben oder ausgedrückt werden kann, vgl. [39] vs[40]: [39] Utile est officia sua novisse [40] Utile est consuli officia novisse Wenn bei dem Typ [39] das semant. Subjekt des Infinitivs spezifiziert wird, steht der AcI: [41] Utile est consulem officia novisse C.2.2.3 Kombination von Dativobjekt mit Akkusativobjekt Wenn ein Verb in seiner Valenz einen Referenzpunkt (Empfänger, Nutznießer, Adressaten . . . ) vorsieht, wie in [42] Da nobis Falernum [43] Narra nobis, quid factum sit 1 Hier brauchen Sie eine Gerundivkonstruktion. KU Eichstätt 73 Latinistik RH 129 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 hat der Dativ eine der semantischen Funktionen Adressat / Nutznießer während das direkte Objekt (Akk. bzw. indir. Fragesatz) den Patiens bezeichnet. Einzelbelege erübrigen sich wegen der Häufigkeit dieses Typs. C.2.2.4 Ein Spezialfall: indirekte Partizipanten als Secundum comparationis Eine Komparativkonstruktion des Typs »x ist größer als y« kann auch mit Komparationsverben gebildet werden, Verben, welche einen Vergleich bedeuten oder implizieren und die dabei das Tertium comparationis ausdrücken. Bei diesen Verben wird das Secundum comparationis, der »Referenzpunkt« des Vergleichs, oft durch einen Dativ oder einen Konkurrenzausdruck ausgedrückt: Primum comparationis Tertium comparationis Secundum comparationis murum homo Marcus adaequare antecellit prudentia anteit virute dicta comparare Marcus superat virtute solo bestiis ceteris ceteros factis cum factis ceteros Diese Komparationsverben sind aus Handlungsverben abgeleitet; der jeweilige Ableitungsweg bestimmt den Ausdruck des Secundum comparationis: • Der Dativ ist ursprünglich bei transitivem adaequare »etwas einem (lokalen) Referenzpunkt gleich machen« und bei ante-/excellere alicui »hervorragen« über einen (belebten) Referenzpunkt • der Dativ ist Analogie bei – comparare, von urspg. compar cum aliqua re »gleich mit einer Sache« – ante-/praeire, ante-/praecedere (s. nachstehend) • der Akk. bei superare ist Ergebnis von Transitivierung: intr. superare ex mari »herausragen« → superare aliquem »jemanden übertreffen« Bewegungsverben als Komparationsverben 1. Intransitive Bewegungsverben mit ante und prae, nämlich anteire, antecedere, praeire, praecedere »vor jemandem (einher)gehen« sind implizte Komparationsverben, da sie ja die Lage eines Objekts (eines »Locatums«) relativ zu einem Referenzpunkt angeben. So können aus ihnen einfach Komparationsverben abgeleitet werden, und zwar durch Metapher, indem das Verb durch einen hinzutretenden Modifikator, der eine Qualität bezeichnet (virtute in den folgenden Bspp.), umdefiniert wird (»x kommt vor y hinsichtlich eines bestimmten Parameters«): Marcus Marcus Marcus anteit anteit virtute anteit virtute KU Eichstätt Lucium Lucium Lucio »Marcus geht vor Lucius« »Marcus übertriff L. an Tüchtigkeit« 74 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 2. Als genuine Bewegungsverben haben haben sie den Akkusativ d bei sich. Dieser erklärt sich, wie wir in §B.3.2.2 auf S. 47 gesehen haben, daher, daß die Präposition ihren Kasus in die Valenzstruktur des Kompositums einbringt: Marcus it ante carrum → Marcus carrum ante-it. 3. Wenn sie als Komparationsverben verwendet werden, kann das (muß aber nicht) dadurch gekennzeichnet werden, daß das Secundum comparationis in den Dativ des Referenzpunkts tritt. 4. Beispiele für genuine Bewegungsverben mit Akkusativ sind [44]–[45], Beispiele für Bewegungsverben als Komparationsverben, also mit Secundum comparationis im Akkusativ oder Dativ sind [46]–[49] bzw. [50]–[52]: [44] Curt.3.3.15 doryphorae (Speerträger) currum regis antebibat [45] Stella Veneris solem antecedit [46] Caes.Gal.3.8.1 Veneti ceteros antecedunt scientia atque usu nauticarum rerum [47] Ov.met.13.366 quantoque ratem qui temperat (‘Steuermann’), anteit remigis officium, . . . tantum ego te supero. [48] Caes.Gal.1.1.4 Helvetii reliquos Gallos virtute praecedunt [49] Cic.fin.5.93 hominis natura omnes animantes anteit [50] Pl.As.629 vostrae fortunae praecedunt longe meis [51] Cic.fin.593 animi praestantia omnibus corporis bonis anteit [52] Cic. off. 2.37.1 Admiratione autem adficiuntur ii, qui anteire ceteris virtute putantur Da prae- den Ablativ regiert, müßten nach unserer obigen »Präverbierungsregel« die entsprechenden Komposita wie praeire, praecedere eigentlich einen Ablativ des Referenzpunkts haben. Den gibt es aber nirgends, sondern die Komposita mit prae- haben dieselben Ausdrucksformate wie die mit ante, offenbar in ↑ Analogie zu den ante-Komposita. Ursache ist, daß ante ungleich häufiger ist als prae (klass. 85%:15%). 5. Anders liegen die Dinge natürlich bei den transitiven Komposita wie ante/praeferre ‘jemanden einem anderen vorziehen’, ‘jemand höher schätzen als einen anderen’. Hier ist der Akk. schon für den Patiens verbraucht, und deswegen steht der Referenzpunkt immer im Dativ: [53] Cic.orat.23 longe omnibus unum Demosthenem antefero KU Eichstätt 75 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 C.2.3 Alternative Ausdrucksformate für indirekte Partizipation C.2.3.1 Präposition 1. Wir haben o. S. A.3.3.5 darauf hingewiesen, daß oblique Kasus im Spätlatein wegen des Zusammenbruchs des Kasussystems durch Präpositionen verdrängt werden. Wir beobachten hier die Anfänge dieser Entwicklung: die Bezeichnung des Referenzpunkt mittels Präposition wird oft als expliziter empfunden als der reine Dativ: [54] Col. 7.3.19 [55] matres oves pratis (→ ad prata) admovendae sunt Formulieren Sie jeweils die beiden Versionen für: ? [56] Die Stadt liegt am Meer (Kompositum von iacere): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [57] Am Kampf teilnehmen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eine entgegengesetzte Entwicklung findet in der Dichtersprache statt, die oft ↑ Archaismen verwendet, und damit auch den Dativ des Referenzpunktes dort hat, wo in Prosa die Präposition verwendet wird: [58] Verg.A.5.451 (Bei einem Wettkampf:) it clamor caelo → . . . . . . . . . . [59] Verg.A.6.178 aram sepulchri2 caelo educere certant C.2.3.2 Eine Übersicht darüber, wie verbreitet dieser Archaismus in der Dichtersprache ist, bietet G. Maurach, Lat. Dichtersprache. Nebensatz Wenn der Referenzpunkt nicht ein Gegenstand, sondern ein Sachverhalt ist, kann dieser natürlich in als Nebensatz ausgedrückt werden. Das wichtigste Beispiel ist studēre: [60] Alle Menschen streben nach Freiheit : Omnes homines student Substantiv: Infinitiv: Nebensatz: . . . . . . . (libertas) . . . . . . . . . (liber sum) . . . . . . . . . . . . (dto.) Studere ist wtl. ‘auf etwas (ab)zielen’, Der Dativ bezeichnet den Referenzpunkt, dem die Handlung ‘zustrebt’, also eine finale Relation. Da diese Finalität aber vom Verb studere selbst impliziert wird, ist das Ausdrucksformat des Nebensatzes prinzipiell frei, und so gibt es eine Konkurrenz zwischen zwei Varianten: 2 Scheiterhaufen KU Eichstätt 76 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 • Die finale Relation bleibt unmarkiert — es steht eine Infinitivkonstruktionen. Ein Infinitiv hat weder Subordinator noch Modus; die Finalität ergibt sich hier lediglich aus der Bedeutung des Hauptverbs. • die finale Relation wird markiert — es steht ein ut-Satz Bei der Infinitivkonstruktion müssen wir zwei Varianten unterscheiden: • Wenn das semant. Subjekt des Infinitivs identisch mit dem übergeordneten Subjekt ist, steht eine einfache Infinitiv-Konstruktion ([61]) • Wenn das semant. Subjekt des Infinitivs vom übergeordneten Subjekt verschieden ist, steht der AcI, der ja mit dem ‘Subjektsakkusativ’ ein eigenes semantisches Subjekt einführt ([62]) Setzen Sie die richtigen Formen ein: ? [61] Schlaue Menschen trachten danach, Sprachen zu lernen: Homines callidi . . . . . . . . . . . . . . . student. [62] Schlaue Menschen trachten danach, daß ihre Kinder Sprachen lernen: Homines callidi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . student. C.2.4 Wie so oft, fehlt bei RH §124 ein Querverweis, nämlich auf den §169. Wechsel der Kasuskonfiguration Wenn der Dativ zusammen mit einem anderen Objekt auftritt, gibt es oft syntaktische Alternativen, mit denen ein bestimmter Bedeutungsunterschied verbunden ist: RH §125 C.2.4.1 Nutznießer vs. Patiens Ein Partizipant wird wahlweise als Nutznießer / Geschädigter (Dativ) oder als Patiens (Akkusativ) konzipiert: [63] a. Valerius Procillo civitatem donat a. luna terrae rorem aspergit b. Valerius Procillum civitate donat (Caes.Gal.1.47.) b. luna terram aspergit rore (∼Plin.nat.18.282) Auf den semantischen Unterschied der damit verbunden ist, kommen Sie, wenn sie überlegen, warum [64b] seltsam ist: ? [64] ? a. b. ‘Was bekommst Du für den Kaffee’ ‘Was bekommst Du für den Kaffee’ :: :: ‘Den schenk’ ich Dir’ ‘Damit beschenk ich Dich’ Geben Sie solche Alternativlösungen für: [65] Ich schenke dem Freund ein Buch: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [66] Der General (imperator) umgab die Stadt mit einer Mauer: ................................................... KU Eichstätt 77 Latinistik F. Heberlein C.2.4.2 Syntax I WS 2014-15 Kombination von indirektem Objekt und Possessor Bei Mustern wie wie [67] a. Ich antworte Dir auf Deinen Brief b. Ich verzeihe Dir Deinen Leichtsinn c. Ich beneide Dich um Dein Auto ist der Adressat gleichzeitig Possessor eines konkreten oder abstrakten Gegenstands (dir . . . deinen). Das prinzipielle Ausdrucksformat ist hier anders als im Dt., denn beim Dat.-Obj. findet Metonymie Person → Sache statt: Deutsch: Paul verzeiht dem Freund seinen Leichtsinn Possessor Possessum Dat.-Obj. Akk.–Obj. ................................................................ Latein: Paulus ignoscit levitati amici Paulus invidet divitiis amici Paulus respondet epistulae amici Ego respondeo epistulae tuae Possessum Possessor Dat.-Obj. Gen.-Attr. Tabelle C.2: Indirektes Objekt mit Possessor Invidere behält diese Konstruktion auch im Passiv, bei respondere und ignoscere dagegen findet Normalisierung statt: [68] Crassus wurde um seinen Reichtum beneidet: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [69] Cic. Caec. 86 mihi respondetur ad illud . . . hoc interdictum ita esse compositum ut nihil commutandum videretur [70] Auct.Herenn. 2.25 tali de causa aliis quoque ignotum est Beachte bei respondere in [69] auch den Ausdruck für »antworten auf «: respondere ad illud, ad epistulam etc. Konstruktionen mit Dativobjekt der Person Die »Normalkonstruktion« mit Objekt der Person muß in folgenden Fällen eintreten: 1. Das Possessum ist ein Demonstrativpronomen: dann tritt die übliche syntaktische Normalisierung ein und das Pron. tritt in den Akk.: KU Eichstätt 78 Latinistik F. Heberlein Paulus ignoscit Paulus respondet Paulus invidet Syntax I hoc hoc hoc WS 2014-15 amico amico amico Bei invidere ist diese Konstruktion selten3 . 2. Das Sachobjekt ist satzförmig: [71] Cic. Att. 7.12.3 Interim velim mihi ignoscas quod ad te scribo tam multa totiens [72] Cic. fam. 10.31.6 invideo illi tamen quod ambulat et iocatur tecum Bei respondere sind unterschiedliche Kombinationen von Partizipanten möglich; entsprechend ändern sich die Konstruktionsmöglichkeiten: [73] (Adressat + Antwort:) Ich antworte Dir, daß ich gesund bin (valere): .......................... [74] (Adressat + Possessor + Antwort:) Ich antworte auf Deinen Brief, daß ich gesund bin (valere): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [75] (Possessor + Antwort, s. Tab. C.2:) Ich antworte auf Deinen Brief / auf den Brief des Freundes, daß ich gesund bin (valere): ....................................................... 3. Absoluter Gebrauch: Paul beneidet den Freund Paul antwortet dem Freund Paulus invidet amico Paulus respondet amico Ignoscere wird kaum absolut verwendet, stattdessen steht veniam dare Anmerkung zur Konstruktion von invidere: Ausgangspunkt ist der Typ [76] ‘invideo aliquid alicui’ = ‘ich besehe einem etwas mißgünstig’ (d.h. mit dem bösen Blick): Patiens (Akk.) + indir. Partizipant (Dat.) Durch Weglassung des direkten Objekts ergibt sich sich das Muster invideo tibi (‘ich schaue mißgünstig zu deinem Nachteil’), das wiederum zum Muster invideo divitiis tuis / divitiis amici erweitert wird (‘ich schaue mißgünstig zum Nachteil Deines Reichtums / zum Nachteil des Freundes’). Daß diese Entwicklung auch von den Römern als irregulär empfunden wurde, zeigt eine Äußerung Ciceros, der bei invidere eher ein Akk.-Objekt erwartet: [77] Cic.Tusc.3.20 quod verbum (= invidere) ductum est a nimis intuendo fortunam alterius, ut est in Melanippo:4 ‘quisnam florem liberum invidit meum?’ Male Latine videtur, sed praeclare Accius; ut enim ‘videre’, sic ‘invidere florem’ rectius quam ‘flori’. ‘Das Verbum ‘invidere’ ist abgeleitet von ‘allzu mißgünstigen Schauen auf das Glück 3 Cic.Mur. 4 88, fam. 9,1.6., fam. 8.4.1 (Caelius) Ein Drama des altlat. Dichters Accius KU Eichstätt 79 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 eines anderen’; ein Beispiel findet sich in der Tragödie Melanippus: ‘wer schaut da mißgünstig auf mein Glück? ’ Das scheint schlechtes Latein zu sein, aber Accius hat ganz recht: wie nämlich ‘videre florem’, so wäre auch ‘invidere florem’ richtiger als ‘invidere flori’.” C.2.5 Doppelter Dativ RH 128 Kombinationen aus Dativ der Person und Sache kommen in zwei Varianten vor nämlich bei esse und und den Verben dare, tribuere, vertere: Hoc tibi vitio do ‘Ich mache dir das zum Vorwurf’ Hoc tibi laudi verto ‘Ich rechne dir das als lobenswert an’ → → → → hoc tibi vitio est ‘das gereicht dir zum Vorwurf’ Hoc tibi laudi est ‘das gereicht dir zum Lob’ • Die beiden Muster stehen in ↑ kausativer Beziehung: der ‘esse’-Typ ist das Resultat des ‘dare’-Typs. • In beiden bezeichnet der erste Dativ einen ‘Betroffenen’ (Nutznießer / Benachteiligter), der zweite dient zur Bildung eines kompleen Prädikats mit esse bzw. als zweites Objekt bei dare, tribuere, vertere; Einzelheiten im folgenden. C.2.5.1 Prädikatsnomen bei esse Der Dativ der Sache bildet mit dem Hilfsverb ein komplexes Prädikat: [78] Haec res tibi usui est: Diese Sache ist nützlich ∼ haec res utilis est [79] Haec res est laudi / honori tibi: ‘Diese Sache gereicht Dir zum Lob / zur Ehre’ Der Dativ der Sache steht hier statt der seltenen Adjektiva auf -(b)ilis wie laudabilis oder honorabilis. [78] ist ursprünglich ‘Diese Sache existiert für Dich, für deinen Nutzen’, der zweite Dativ war also eine Apposition, durch die der Zweck spezifiziert wurde. Er wurde dann zusammen mit esse zu einem Prädikatskomplex grammatikalisiert, bei dem esse zur Kopula und der Dativ zum charakterisierenden Prädikatsnomen wurde5 . Folge davon ist, daß der Dativ (1) auf den Singular beschränkt ist, (2) nicht referenzfähig ist (man kann nicht sagen ea res *huic usui est), (3) nicht attribuierbar ist (haec res honori *sororis est), außer durch eine Gradangabe (magno honori esse), (4) durch ein Adjektiv auf -(b)ilis paraphrasiert werden kann, sofern eines vorhanden ist (∼haec res tibi utilis est). ? Solche Dative müssen oft mit freieren Wendungen übersetzt werden; versuchen Sie es: 5 Den Begriff ‘charakterisierendes Prädikatsnomen’ haben wir S. 41 eingeführt KU Eichstätt 80 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [80] Cic.Lael.15 amicitiae nostrae memoriam sempiternam fore mihi est cordi (∼mea magni interest) [81] Caes.Gal.1.133 Caesar Gallorum animos verbis confirmavit pollicitusque est sibi eam rem curae futuram [82] Cic.Ver.2.1.153 Magno praesidio fuit Anniae mater, femina primaria. [83] Cic.Verr.2.5.19 Non sic hanc rem agemus ut crimini aut invidiae6 reo sit, si quo de homine severius iudicaverit [84] Cic. de orat.1.34.5 ‘Quam ob rem pergite . . . atque in id studium, in quo estis, incumbite, ut et vobis honori et amicis utilitati et rei publicae emolumento esse possitis.’ C.2.5.2 Objekt der Sache bei dare, tribuere, vertere Der Dativ der Sache wird zur Ableitung von Urteilsprädikaten aus Handlungsprädikaten verwendet bei: dare tribuere vertere ‘geben’ ‘zuweisen’ ‘umwenden’ → → → dare vitio tribuere ignaviae vertere laudi ‘als Fehler anrechnen’ ‘als Feigheit anrechnen’ ‘als lobenswert anrechnen’ Bei dare und tribuere wird das Dativobjekt, bei vertere ein urspgl. adverbialer Dativ (»ich wende etwas zu Deinen (Un)gunsten um«) mit einem finalen Dativ kombiniert und so aus einem Handlungsverb (semantischer Kern ist die ‘Bewegung eines Gegenstands’ ist) ein Urteilsverb abgeleitet. 1. Die beiden Dative sind für diese Bedeutung obligatorisch; bei der Zielkonstruktion handelt sich also um eine doppelte Objektkonstruktion. Die Konstruktion ist damit stereotyp folgende: Iudex Sj. id AkkObj reo DatObj Person crimini DatObj Sache dedit V 2. Der Übergang vom Handlungs- zum Urteilsprädikat spiegelt sich außerdem darin, daß (a) das Akk.-Objekt durch einen fakt. quod-Satz besetzt werden kann, da Urteilsprädikate sich ja auf Tatsachen richten: [85] Illi vitio mihi dant, quod mortem hominis necessarii graviter fero 6 Wir sehen hier, daß RHs (§128,1) Angabe ‘individae esse = Ersatz des Passivs’ zu eng ist. KU Eichstätt 81 Latinistik RH §128,3 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 (b) der Nebensatzinhalt bei Negation wahr bleibt7 : [86] → Non mihi vitio dant, quod mortem . . . graviter fero. Bei RH §128 werden die obigen Typen zum Dativus finalis gerechnet. Final war aber, wie wir gesagt haben, nur die Ausgangskonstruktion, z.B. hoc mihi curae est ‘das existiert für mich, für meine Sorge’ ∼das existiert, damit ich mich darum kümmere’. In der Zielkonstruktion ist der Dativ jedoch Prädikatnomen eines komplexen Prädikats ‘darum will ich mich sorgfältig kümmern’. Anders ist es, wo der Dativ neben einem Vollverb adverbial bleibt, vgl. u. §C.2.1.2. Anhang: Verben mit unterschiedlicher Relationalität RH §126 Manche Verben, die ein indirektes Objekt haben, können auch andere Objekt regieren, woraus natürlich eine andere Satzbedeutung entsteht, z.B. cavere ‘Vorsorge treffen’ [87] cavere amico (Dat.): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [88] cavere canem: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [89] ab hoste, ab inimicitiis: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Solche Erscheinungen sind im Lat. häufiger als im Dt., weil das Lateinische eine der sog. ‘grammatischen’ Sprachen ist, die ein relativ kleines Lexikon durch eine relativ ‘große’ Grammatik kompensieren müssen (Gegensatz: ‘lexikologische Sprachen’, z.B. das Englische). Wir unterscheiden folgende Gruppen: Verben mit intransitiver und transitiver Verwendung Neben cavere gehört hierher: 1. temperare (wtl. ‘einteilen’, ‘eine Grenze setzen’): [90] temperare sociis — ab iniuria — rem publicam 2. consulere (wtl. ‘ein consilium veranstalten’): [91] consulere saluti suae: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [92] consulere in adversarium crudeliter: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [93] consulere patrem: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. convenire (wtl. ‘zusammenkommen’): Der Dat. steht hier nur bei unpersönlichem Gebrauch: 7 Vgl. hierzu das Skript zum Infinitv, verba affectus. KU Eichstätt 82 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [94] Suet.Aug.25. nihil autem minus perfecto duci quam temeritas convenit Bei persönlicher Konstruktion steht der Akk. alternativ zu Präpositionalausdrücken: [95] convenire amicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [96] convenire cum amico . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [97] convenire ad amicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen sie die convenire-Bsp. bei RH §126 a.E. 4. imperare (wtl. ‘jemand etwas anschaffen’) hier wird ein Bedeutungsunterschied durch Besetzung oder Nichtbesetzung der Stelle des Akk.-Objekts (‘absoluter Gebrauch’, vgl. u. §B.3.2.4) erzielt: [98] Caesar befahl den Helvetiern, Geiseln zu stellen: Caesar Helvetiis . . . . . . imperavit. [99] Die Römer geboten über die ganze Welt: Romani . . . . . . . . . . . . . imperaverunt. Intransitive Verben mit unterschiedlichen Konstruktionen 1. interesse: [100] Am Abendessen teilnehmen (2 Konstruktionen): ........................................ [101] Zwischen seinem ersten und sechsten Konsulat lagen 46 Jahre: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLVI anni interfuerunt. [102] Welcher Unterschied ist zwischen Loben und Schmeicheln? ....................................... Zu interest ‘es ist wichtig’ vgl. o. §D.5 2. imponere: [103] Dem Stamm Gesetze auferlegen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [104] Truppen auf die Schiffe verladen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. vacare: [105] Cic.div.1.11 philosophiae semper vaco: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [106] Cic.fam.7.3.4 Vacare culpā magnum est solacium ........................................... KU Eichstätt 83 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Bitransitive Verben mit unterschiedlichem direkten Objekt Bei manchen Verben kann das direkte Objekt alternative Ausdrucksformate haben, woraus ein Unterschied der Gesamtbedeutung resultiert: 1. Bei Verba dicendi wie dicere und respondere: [107] Nuntii dicunt Caesari legatos Sueborum venturos esse [108] Caesar nuntio dixit, ut legati Sueborum venirent [109] Cicero antwortete, daß jener kommen solle: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen Sie dazu RH §234,3. 2. Bei persuadēre: [110] Paul überredete seinen Freund zu kommen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ................................. [111] Paul überzeugte seinen Freund von seiner Glaubwürdigkeit8 : . . . . . . . . . ........................................ Was im Deutschen durch unterschiedliche Verben ausgedrückt wird, wird im Lat. durch unterschiedliche Syntax ein und deselben Verbs ausgedrückt. ? Zusatz: Unterscheide [112] Id ei persuasit. [113] Id sibi persuasit. Für Beispiel [113] sind zwei Alternativen denkbar, welche? ....................................... Anm.: Suadēre ‘einreden’ ist eig. ‘schmackhaft machen’, zu suavis mit verstärkendem Präverb per- wie etwa in percupio, perdoleo. Das Engl. hat diesen Konstruktionsunterschied aus dem Lat. geerbt: (a) Felipe persuades Manuel to leave; (b) Alicia perusades Carlos that a theory of syntax is possible. C.3 Übung ? Setzen Sie die richtigen Formen ein: [114] Epaminondas leugnete nichts von dem, was ihm seine Gegner zum Vorwurf gemacht hatten. Epaminondas nihil negavit earum rerum, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [115] Kaum zu Recht hat man es dir als Hochmut ausgelegt, daß du Eichstätt (Dryopolis) ein Dorf genannt hast: Vix iure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , quod Dryopolim vicum appellavisti. 8 glaubwürig = sincerus KU Eichstätt 84 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [116] Die Freundschaft des römischen Volkes müßte für mich von Nutzen, nicht von Schaden sein. Amicitia populi Romani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . esse deberet. [117] Die Germanen waren angeblich von den Belgiern zur Hilfe herbeigeholt worden: Germani a Belgis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dicebantur. [118] Ein Kaufmann hat meiner Mutter eine Sklavin zum Geschenk gemacht: Mercator matri servam . . . . . . . . . . . . . . . dedit (2 Konstruktionsmöglichkeiten!). KU Eichstätt 85 Latinistik Kapitel D Kategorisierung 1. Kategorisierung ist die Zuordnung eines Elements zu einer Kategorie. Prototypen solcher Relationen sind • Partitiv – Zuordnung einer Untermenge zu einer Obermenge • Possessiv – Zuordnung eines Besitzes (Possessum) zu einem Besitzer (Possessor) • Qualität und Quantität: Zuordnung eines Elements zu einer qualitativen oder quantitativen Kategorie • Geltungsbereich: Zuordnung eines Sachverhalts zu einem Geltungsbereich Beispiele: Partitivrelation: Possessivrelation: qualitative / quantitative Kategorisierung: Geltungsbereich: pars servorum servus patris servus magni ingenii servus magni pretii kognitiv: memini patris affektiv: piget me laboris iuristisch: accusare proditionis Tabelle D.1: Prototypen von Kategorisierung 2. Die Kategorisierung kann vom Sprecher aktuell vorgenommen, d.h. ‘assertiert’ werden oder als Faktum präsentiert werden. Im ersteren Falle ist das Ausdrucksformat ein Satz, im letzteren ein Nominal: [1] Hic miles Romanorum est ‘dieser Soldat gehört zu den Römern’ [2] Miles Romanorum ‘ein Soldat der Römer’ 3. Das älteste Ausdruckformat für Kategorisierung sind Konstruktionen mit dem Genitiv, der eine Konstruktion entweder mit dem Verb wie in [1] oder mit einem Nominal wie in [2] bildet, also entweder eine ‘adverbale’ der eine ‘adnominale’ Konstruktion. Der semantische Prototyp der »Kategorisierung« ist der Partitiv (Zuordnung von untermenge zu Obermenge). Durch semantische und syntaktische Variation 87 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 werden aus diesem eine Reihe von Varianten abgeleitet, die Tab. D.2 zeigt. Diese einzelnen Varianten besprechen wir weiter unten. Partitiv Gen. = Obermenge harum Baccarum est pars Baccarum ↙ Metapher ↙ Possession pes Marci domus Marci ↓ Abstraktion d. Possessum ↓ Gen. subi./obi. amor parentum ↘ Abstraktion ↙ ↘ Geltungsbereich accusare furti memini patris piget laboris Quantität / Qualität servus magni pretii / ingenii (est) emere tanti Tabelle D.2: Der semantische Zusammenhang zwischen den verschiedenen Funktionen des Genitivs 4. Vielfach gibt es zum Genitiv konkurrierende Ausdrucksmodelle. Beispiele sind D.1 Relation Ausdrucksmodell Beispiel Partitiv Possessiv Geltungsbereich Separativ Nutznießer Grund Nominalsatz homo de plebe patri domus est accusare propter vim piget me dicere Partitiv-Konstruktionen 1. Partitiv-Relationen ordnen eine Untermenge einer Obermenge zu. Einer der beiden Ausdrücke, die in Partitivrelation stehen, muß also entweder (1) als Obermenge interpretierbar sein oder (2) eine Obermenge implizieren. Ersteres ist der Fall beim Gen. Baccharum in [3], letzteres beim Subst. pars in [4]: ‘Teil’ impliziert eine Obermenge, im Gegensatz etwa zu ‘Haus’. RH §130 [3] Pl.Mil.1016 Cedo signum, si harum Baccharum es. ‘Das Paßwort bitte, wenn Du zu den Bacchantinnen hier gehörst’ [4] Pars Baccharum ↔ domus Baccharum 2. Partitiv-Relationen können ‘informell’ sein wie in [5]; oft haben solche Relationen aber ein bestimmtes Ausdrucksformat, d.h. ihre Elemente bilden eine Partitivkonstruktion wie in [6]. KU Eichstätt 88 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [5] Isti homines similes non sunt; alter est Aethiops, alter galbus1 (∼ Varr.l.L.8.41.3) [6] Caes. civ. 3.15.6 loquuntur cum M’. Acilio et Statio Murco legatis, quorum alter oppidi muris, alter praesidiis terrestribus praeerat. Im folgenden beschränken wir uns auf Partitivkonstruktionen. D.1.1 Zwei Arten von Partitiv-Relationen Wir unterteilen im folgenden die Partitivrelationen nach einem semantischen Kriterium in echte Partitivrelationen und Pseudopartitivrelationen (Begründung unten). Dieser Unterschied wird bei RH §130 vernachlässigt, was für einen Teil der verwirrenden Darstellung dort verantwortlich ist. Wir werden unten sehen, daß der Unterschied zwischen beiden Typen im Lateinischen zwar nicht so eindeutig formal ausgedrückt wird wie im Dt., aber dennoch klar hervortritt2 . Partitiv-Konstruktion Pseudo-Partitivkonstruktion manus fortissimus homo duo mei fabrorum Gallorum de plebe libri multum multa harenae harena Untermenge Obermenge Untermenge Kategorie Echte Partitivrelationen sind Teil-Ganzes-Relationen, bei denen aus einer (im Diskurs oder im Vorwissen des Hörers) gegebenen Obermenge eine Untermenge abgegrenzt wird. [7] Cic.Lael.71.1 Plerique inferiorum3 queruntur semper aliquid [8] Caes. Gal. 1.1.1 horum omnium (= die Bewohner Galliens) fortissimi sunt Belgae Pseudo-Partitivrelationen sind solche, wo statt einer echten Obermenge nur die Kategorie genannt wird, in welche die Untermenge gehört. Den Unterschied illustriert am besten ein dt. Beispiel wie [9], weil im Deutschen der Unterschied zwischen echten und Pseudo-Partitivkonstruktionen einen formalen Ausdruck hat: Ps.-Partitive werden als Appositionen ([9a.]), echte Partitive aber mit einem Partitivmarker (Genitiv, Präposition) konstruiert: 1 gelb 2 Grundlage des folgenden ist Koptjevskaja-Tamm, M.: ’A lot of grammar with a good portion of lexicon: towrads a typology of partitive and pseudo-partitive nominal constructions. In: Helmbrecht, J. e.a. (eds.), Form and Function in language research. FS Chr. Lehmann. Berlin 2009.– Zur Terminologie: MBS unterscheiden zwischen einem Genitivus totius und Gentitivus quantitatis, was offenbar aus KS §84 abgeleitet ist. Diese Terminologie ist unglücklich, denn die Operation der Quantifikation ist bei beiden Mustern da. 3 ‘Kleine Leute’ KU Eichstätt 89 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [9] a. Ich nehm ein Glas Wein b. Ich nehm ein Glas von dem Wein da In [9a.] wird nur die Kategorie bzw. Gattung genannt, der das Getränk zugehört, in [9b.] dagegen ist eine echte Obermenge vorhanden. D.1.1.1 Echte Partitivkonstruktionen In der folgenden Tabelle stehen links die wichtigsten semantischen Arten von Untermengenbegriffen, rechts die möglichen Ausdrucksformate. Eine semantische Klassifizierung der Obermengenbegriffe erübrigt sich: semantisch kommen alle Ausdrücke in Frage, die eine gegebene Obermenge bezeichnen können. Untermenge Ausdrucksformat der Obermenge Kongruenz Präposition Genitiv Teilmengen/ Bruchteile pars domorum maior Neronum plerique militum alter consulum uterque nostrum primus oratorum domus (Nom.Pl.) pars plerique milites alter consul uterque consul plerique ex militibus primus ex oratoribus Kardinalzahlen quattuor ex essedariis Obermenge mit Poss.-Pro. Pronomina – definite – indefinite Qualitätsbegriffe duo mei libri nullus meus liber idem consilii quis hominum nemo civium quidam militum quidam noster amicus quis de plebe Romana nemo ex decem quidam ex militibus fortissimi Gallorum Tabelle D.3: Die Tabelle enthält auch Konstruktionen, die bei RH §130 nicht bezeugt sind; Beispiele folgen unten. Ausdrucksformate echter Partitivkonstruktionen: 1. Konstruktion mit Genitivattribut oder dem alternativen Ausdrucksformat »Präpositionalattribut ex / de mit Ablativ«: plerique militum / plerique ex militibus. Der Genitiv ist hier das ursprüngliche ‘Partitivmodell’, die Präpositionen das jüngere ‘Separativmodell’ (welches den Genitiv bis zum Spätlatein weitge- KU Eichstätt 90 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 hend verdrängt). In Partitivkonstruktionen mit obliquen Kasus oder Präposition ist die Untermenge der übergeordnete, die Obermenge der abhängige Ausdruck. 2. Konstruktion mit Kongruenz: Hier gibt es (a) den ‘Normaltyp’ plerique milites, bei dem die Obermenge Regens, die Untermenge adjektivisches Attribut ist. (b) den archaischen Typ der ‘Partitivapposition’ domus pars corruerant, wtl. ‘die Häuser ein Teil’, bei dem die Obermenge Nukleus einer Apposition, die Untermenge Appositum ist. 3. Die Wahl des Ausdrucksformats hängt von eine Reihe von Faktoren ab, die wir im folgenden zunächst einfach zusammenstellen, wobei die folgende Zusammenstellung zusammen mit Tabelle D.3 zu lesen ist. Im nächsten Schritt leiten wir aus diesem schwer überschaubaren Befund eine Faustregel für die deutsch-lateinische Übersetzung ab. Mögliche Syntaktische Faktoren: 1. Die Untermenge ist ein Substantiv, Bsp. pars domorum: dann ist natürlich nur der Typ mit Genitiv oder Präposition möglich, weil die Obermenge ja ebenfalls ein Substantiv ist und zwei Substantive nur dann eine Nominalgruppe bilden können, wenn eines zum Genitiv- oder Präpositionalattribut wird (Ausnahme: die o.g. archaische ‘Partitivapposition’). 2. Die Obermenge ist indeklinabel; dann bleibt nur die Konstruktion mit Präposition. nemo ex decem 3. Die Untermenge kann zwischen Substantiv und Adjektiv wechseln; in diesem Fall kann auch die Konstruktion prinzipiell zwischen Genitiv und kongruenter Konstruktion wechseln: pleriqueSubst. civium / ex civibus vs. pleriqueAdj. cives. 4. Der Wechsel kann aber durch grammatische Zwänge eingeschränkt sein: bei uterque steht die kongruente Konstruktion bei Substantiven, bei Personalpronomina muß der Genitiv stehen, der dort Ausdrucksformat des Partitivs ist4 uterqueAdj. consul vs. uterqueSubst. nostrum Mögliche Semantische Faktoren: 1. die Untermenge bedeutet ‘Bruchteil’, z.B. pars. Hier wird also die Partitivrelation bereits durch die lexikalische Bedeutung der Untermenge konstiuiert, denn Wörter wie ‘Teil’, ‘die meisten’, ‘der ältere’ etc. implizieren immer eine definite Obermenge. Daraus folgt, daß 4 Nostrum, vestrum (mit archaischem Genitiv Pl. auf -um) ist partitives Substantiv, nostrorum, vestrorum ist possessives Adjektiv, vgl. RH §54 KU Eichstätt 91 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 (a) jedes Ausdrucksformat zulässig ist, das syntaktisch möglich ist: plerique militum / ex militibus / milites; (b) aber Wechsel in die kongruente Konstruktion natürlich nur dann geht, wenn die Untermenge Wortartwechsel zwischen Substantiv und Adjektiv erlaubt, wie das oben genannte plerique. 2. Im Gegensatz dazu ist bei allen anderen in Tab. D.3 genannten Ausdrücken der Untermenge keine gegebene Obermenge impliziert; hier muß die Partitivrelation also grammatisch, nämlich durch Genitiv bzw. Präposition ausgedrückt werden. Daher ist multi civium bzw. multi ex civibus eine Partitivkonstuktion, ‘viele von den Soldaten’, dagegen multi cives, ‘viele Soldaten’ nicht. Einzelheiten: (a) Die Obermenge ist eine Gruppe von Individuen: Dann steht sie im Plural und läßt freie Variation zwischen Genitiv und Präposition zu: quattuor essedariorum : quattuor ex essedariis (b) Wenn die Untermenge durch einen Superlativ gebildet wird, ist der Genitiv Ausdruck des Partitivs: fortissimi Gallorum = die tapfersten der Gallier; dagegen ist die kongruente Kosntruktion Ausdruck des Elativs: fortissimi Galli = sehr tapfere Gallier. (c) Die Obermenge ist ein Kollektiv: Dann steht sie natürlich im Singular; hier wird die Präposition verwendet: quis de plebe Romana? (d) die Obermenge enthält ein Possessivum: Dann steht die kongruente Konstruktion, während ohne Possessivum Genitiv oder Präposition steht: quattuor mei amici vs. quattuor amicorum / ex amicis nullus meus liber nullus librorum aber: quattuor amici eius Die kongruente Konstruktion (also die nicht partitiv markierte) kann hier stehen, weil das Possessivum die Obermenge definit macht ‘vier von meinen Freunden’ (quattuor amici dagegen hätte (auch) die Lesart ‘vier miteinander befreundete Personen’). Daß hier fast regelmäßig die kongruente Konstruktion steht, hat mit der häufigen Präsenz von Kardinalzahlen zu tun, die von Haus aus Adjektive sind5 . Die Faustregeln für die Übersetzung ins Lateinische lauten bei echten Partitivkonstruktionen in ihrer einfachsten Form somit: • verwende prinzipiell den Genitiv (multi civium etc.) • Ausnahmen: – Präposition, wenn die Obermenge (i) indeklinabel (z.B. nemo ex decem) ist, oder (ii) ein Kollektiv (z.B. homo de plebe) ist – kongruente Konstruktion, wenn die Obermenge ein Possessivum enthält (duo mei libri) 5 Einzelheiten bei RH §65. KU Eichstätt 92 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 D.1.1.2 Pseudo-Partitivkonstruktionen Wie Tab. D.4 zeigt, gliedern sich die Untermengen-Ausdrücke hier in zwei Gruppen, nämlich • quantifizierende Ausdrücke: Maße, Quanten, Quantoren • nicht-quantifizierende Ausdrucke, v.a. Pronomina; sie bezeichnen qualitative Relationen (Gegenstück zu dem o.g. Typ fortissimus Gallorum) Untermenge Genitiv Maße modius tritici Quantum gutta olei abstr. Quantoren – subst. Adjektive multum ligni Ausdrucksformat der Kategorie / Gattung Kongruenz ̸= modius de tritico multum lignum multo ligno tantum ingenium tanto ingenio tantum ingenii ̸= multum de ligno magnus numerus militum parum cibi satis praesidii satis magna copia .............................................................. – subst. Adverbien Pronomina – indefinite aliquid boni – definite idem consilii aliquid bonum aliquid utile ̸= idem consilium Tabelle D.4: Ps.-Partitivkonstruktionen. Auch hier stehen in der Tabelle links die geläufigsten Untermengenbegriffe. Die Kategorie-Ausdrücke (die ‘Pseudo-Obermenge’) zu den quantifizierenden Untermenge-Ausdrücken bestehen überwiegend aus zwei semantischen Typen, nämlich • Massenbegriffe wie Wein, Sand, Milch, Holz / vinum, harena, lac, lingum • Abstrakta wie Freiheit, Faulheit etc. / libertas, pigritia etc. Beide haben gemeinsam, daß sie nicht in Individuen teilbar sind; es besteht also der Unterschied • multum harenae ‘eine große Masse aus der Kategorie Sand’ vs. • multi militum ‘viele Individuen aus der Obermenge Soldaten’ Das hat Konsquenzen für das Ausdrucksformat von Pseudo-Partitivkonstruktionen: 1. Der Wechsel zwischen Genitiv und Präposition ist bei Pseudo-Partitivkonstruktionen prinzipiell ausgeschlossen, denn durch Wechsel zur Präposition KU Eichstätt 93 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 ändert sich der Sinn: es ergäbe sich eine definite Obermenge, vgl. modius tritici ‘ein Scheffel Weizen’ vs. ‘ modius de tritico ein Scheffel von dem Weizen’ M.a.W.: aus der Ps.-Partitivkonstruktion würde eine echte Partitivkonstruktion. 2. Aus syntaktischen Gründen ist somit beim Pseudo-Partitiv der Genitiv immer dann erforderlich, wenn Untermenge und Kategorie Substantive sind, vgl. modius tritici, gutta olei etc. Da der Genitiv also ebenso in Pseudo-Partitiv- wie in echten Partitivkonstruktionen auftritt und nicht wie im Deutschen ein formaler Unterschied zwischen beiden Typen besteht (vgl. o. [9] ein Glas Wein vs. ein Glas von dem Wein), sollte uns klar sein, daß der Genitiv prinzipiell ambig zwischen echter und Pseudo-Partitivkonstruktion ist: modius tritici kann bedeuten ‘ein Scheffel von dem Weizen’ oder ‘ein Scheffel Weizen’; das hängt davon ab, ob der Oberbegriff schon in den Diskurs eingeführt ist oder nicht. Im ersteren Falle haben wir es also mit einer echten Partitivkonstruktion zu tun. RH 130,4 3. Untermengenbegriffe aus substantivierten Adverbien wie parum und satis lassen natürlich nur den Genitiv der Obermenge zu: parum cibi, satis pecuniae. Wenn dagegen der Kategoriebegriff ein adj. Attribut beinhaltet, z.B. magnum praesidium, wird satis als Adverb und Modifikator des Adjektivs verwendet. Der Konstruktionsunterschied ist also: satis Subst. praesidii Gen.-Attr. vs. vs. [satis magnum] Adj.-Attr. praesidium Subst. 4. Wenn die Untermenge als Substantiv oder als Adjektiv fungieren kann, ist freier Wechsel zwischen Genitiv und kongruenter Konstruktion möglich: multum ligni ↔ multum lignum, vgl. [10] Caes. Gal. 4.13.3 quibus ad consilia capienda nihil spatii dandum existimabat. [11] Caes. Gal. 7.42.2 Haedui primis nuntiis ab Litavicco acceptis nullum sibi ad cognoscendum spatium relinquunt. Hierbei gibt es wieder zwei Besonderheiten: RH 130,2 (a) Untermengenbegriffe, die durch Substantivierung von Adjektiven gewonnen werden (multum, parum, etc.) sind immer indeklinable Substantive im Neutrum; sie können also nur in den beiden unmarkierten Kasus des Neutrums, dem Nom. und Akk. stehen; bei den obliquen Kasus muß kongruente Konstruktion stehen (die Untermenge wird dabei Adjektiv): Nom.Akk.: habet multum ligni mihi est multum pecuniae Obliquus: utitur multo ligno implere arcam multā pecuniā Im Deutschen ist das ähnlich: ‘viel’ in ‘viel Wein’ wird nicht dekliniert, wie sich beim obliquen Kasus zeigt: KU Eichstätt 94 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [12] Den Bratensatz mit viel Wein (< Weines) ablöschen ̸= mit *vielem Wein (b) Kategoriebegriffe, die durch Adjektive der 3. Dekl. wie utilis gebildet werden, sind ambig zwischen Nom. und Gen.; sie stehen daher nur in der kongruenten Konstruktion, vgl. den Unterschied: Flexionsklasse des Kategoriebegriffs ist 2. Dekl.: 3. Dekl.: aliquid boni aliquid utile 5. Wenn die ‘Untermengen’-Ausdrücke nicht-quantifizierende Pronomina sind wie z.B. is, idem, quis, fokussiert der Genitiv die Zugehörigkeit zur Kategorie: [13] Ter. Hec. 639 quid mulieris uxorem habes ‘Was für eine Sorte Frau hast denn Du zur Gemahlin?’ [14] Cic. fam. 9.2.2 Tibi autem idem consilii do quod mihimet ipsi ‘Ich gebe dir dieselbe Art von Rat wie mir selbst’ Die Faustregeln für die dt.-lat. Übersetzung bei Ps.-Partitivkonstruktionen lauten somit: • Genitiv, wenn die Untermenge ein echtes Substantiv oder ein substantiviertes Adjektiv ist (modius tritici) • kongruente Konstruktion, wenn die Untermenge ein Quantitätsadjektiv oder ein Indefinitum est (multum lingnum geht in allen Kasus und Flexionsklassen; multum ligni nur im Nom. und Akk.) D.1.2 Übung Klassifizieren Sie die folgenden Beispiele nach den Begriffen in Tabelle D.3 bzw. Tab. D.4: ? [15] Caes. Gal. 5.19.1 Cassivellaunus . . . milibus circiter quattuor essedariorum relictis itinera nostra servabat [16] multitudo pars ruit in vias, pars prospicit de tectis [17] Varro r.r.1.17 plerique pauperes colunt agros ipsi [18] Caes.civ.3.69.3 plerique ex his se in fossas praecipitabant [19] Liv. 42.5.2 Eumenis beneficiis muneribusque plerique principum obligati erant [20] Cic. Ver. 1.1.22 Ex quibus quidam . . . eadem illa nocte ad me venit KU Eichstätt 95 Latinistik RH S. 148, e F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [21] Caes.Gal.5.22.4 multum aestatis supererat [22] Caes.civ.1.49.1 multum erat frumentum provisum superioribus temporibus [23] Cic.Att.1.24.3 tantum est reliquum de argento. [24] Cic. Brut. 82 Galba . . . princeps ex Latinis (auctoribus) illa oratorum . . . opera tractavit ? Setzen Sie die richtigen Formen ein und begründen Sie das durch Verweis auf die einschlägige RH-Regel: [25] Cic.Brut.110 De Scauro ac Rutilio breviter licet dicere, . . . . . . . . . . . . . . . summi oratoris habuit laudem —Über Scaurus und Rutilius kann ich mich kurz fassem, da keiner von beiden das Ansehen eines Spitzenredners genoß [26] Caes.Gal.1.1 Gallia es omnis divisa in partes tres, . . . . . . . . . . . . . . incolunt Belgae — Gallien in seiner Gesamtheit gliedert sich in drei Teile, von denen einen die Belgier bewohnen [27] Nep.2.4.3 Themistocles . . . . . . . . . . . . . quem habuit fidelissimum ad regem misit — Th. schickte von seinen Sklaven den treuesten, den er hatte [28] Cic.off.1.151 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (omnes res), quibus aliquid acquiritur, nihil est agri cultura melius — Von allen Arten des Erwerbs ist keine besser als die Landwirtschaft [29] Sall.Cat.5.4 Erat Catilinae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . — C. hatte genug Redegewandtheit, aber zu wenig Klugheit [30] Cic.fin.2.114 In animis doctissimi illi veteres inesse quiddam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . putaverunt. — Jene alten Philosophen meinten, daß dem Geist etwa Himmelisches und Göttliches innewohne. [31] Welche der beiden Konstruktionen ist falsch und warum: a. Silius Italicus tantum librorum habuit, ut novam villam emeret. / (‘S.I. hatte soviel an Büchern, daß er ein neues Haus kaufen mußte’). b. Plinius Martialem tanto pecuniae instruxit, ut in Hispaniam redire posset. / (‘P. hat Martial mit soviel Geld ausgestattet, daß er nach Spanien zurückkehren konnte.’) KU Eichstätt 96 Latinistik F. Heberlein D.2 Syntax I WS 2014-15 Possessiv-Konstruktionen D.2.1 Possession ist die Zuordnung eines Besitzes zu einenem Besitzer; technisch gesagt: eine Relation zwischen Possessum und Possessor. Diese Relation kann adverbal oder adnominal sein; als Ausdrucksformate für den Possessor sind dabei möglich: bei adverbaler Konstruktion: bei adnominaler Konstruktion: Gen.-Obj. Domus patris est Dat.-Obj. Patri domus est Subjekt Pater domum habet ................................. Gen.-Attribut Domus patris adj. Attribut Domus patria Tabelle D.5: Possessiv-Konstruktionen 1. Der possesive Genitiv beruht historisch auf einer metaphorische Ableitung aus dem Partitivus: ‘Teile sind Besitztümer’: [32] Pes Marci laesa est Ausgangspunkt dieser Ableitung ist die sog. ‘inalienable Possession’ wie in [32]: pes ist relational, setzt also eine ‘Obermenge’ voraus; diese ist aber ihrerseits ‘Besitzer’ des pes. Pes ist also gleichzeitig Teil der ‘Obermenge’ und deren unveräußerliches (»inalienables«) Besitztum: die partitive Relation kann so possessiv interpetiert werden. ‘Inalienable Possessa’ sind solche, von denen sich der Eigentümer normalerweise nicht trennen kann, vgl. (1) *Hans läßt seinen Kopf zuhause vs. (2) Hans läßt seinen Hut zuhause. 2. Der possessive Dativ dagegen beruht auf einer Existenzkonstruktion: mihi domus est ∼ ‘es existiert ein Haus für mich’. 3. In beiden Fällen war esse somit ursprünglich ein normales Existenzverb, wie es heute noch im Russischen ist: [33] u menja Kniga bei mir Buch ‘Ich habe ein / das Buch’ Durch Uminterpretation des Gen. / Dat. zum Komplement von esse (↑ Valenzerweiterung) entsteht die Possessivkonstruktion. 4. Die Konkurrenz des des (jüngeren) habere+Akk. mit dem (älteren) possessiven Dativ ist im klass. Latein noch nicht voll ausgebaut, denn der habere-Typ ist noch weitgehend auf Sachen beschränkt (im Einkläng mit der Etymologie von habere ‘in der Hand halten’). Nachklassisch setzt er sich aber durch, weil er flexibler ist (das Possessum kann beliebig determiniert werden, vgl. nachstehend). KU Eichstätt 97 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 D.2.1.1 Semantik der Possessivkonstruktionen Wenn man die Bsp. in Tab. D.5 auf S. 97 exakt ins Deutsche übersetzt (Artikelverwendung beachten!); kann man verifizieren, daß possessiver Dativ und possessiver Genitiv Typen in semantischen Opposition stehen: 1. beim possessiven Genitiv ist das Possessum definit (‘das Haus’) und kann daher auch durch ein definites pronomen bezeichnet werden (vgl. [34]), beim possessiven Dativ ist es indefinit (‘ein Haus’) und kann daher ein Indefinitpronomen enthalten (vgl. [35]): [34] Plaut. Trin. 521 ne tu illum agrum siveris fieri gnati tui [35] Plaut. Cas. 37 est ei quidam servos, qui in morbo cubat Bei der habere-Konstruktion ist die Determination des Possessums frei (indefinit oder definit). 2. in pragmatischen Begriffen bedeutet das: bei der Genitiv-Konstruktion ist das Possessum ↑ Topik und der Possessor ↑ Fokus, bei der Dativ- und der habere- Konstruktion ist es umgekehrt. Nr. 2 besagt informell: Der possessive Genitiv ist eine Aussage über das Possessum, der Dativ eine über den Possessor. Technisch umformuliert: der Gen. ist ‘possessumorientiert’, der Dat. und der Akk. sind ‘possessor-orientiert’. Die Assozierung von Indefinitheit mit Fokusfunktion und Definitheit mit Topikfunktion ist universal, vgl. im Dt.: [36] a. Da kommt der Zug! b. Da kommt ein Zug! In a. ist der Zug im Diskurs bereits vorhanden, in b. ist der neu. ? Was bedeutet demzufolge: [37] filiusne apud parentes habitat an ei domus est? [38] filiusne apud parentes habitat, an domus eius est? Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Übersetzung ins Lateinische: Wenn wir den Unterschied zwischen definitem und indefinitem Possessum beachten, ist klar, daß auch bestimmte Sätze, die im Deutschen den possessiven Dativ mit gehören haben, ins Lateinische mit possessivem Genitiv übersetzt werden müssen. ? Für welches von den beiden folgenden gilt das? [39] Marcus hat ein Auto (carrus): . . . . . . . . . . . . . . . . [40] Das Auto gehört dem Marcus: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KU Eichstätt 98 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 D.2.1.2 Pronomina in Possessivkonstruktionen Der Possessor kann natürlich auch durch ein Pronomen bezeichnet werden. Dann gibt es einige Unterschiede zwischen possessivem Dativ und possessivem Genitiv: Dativ (1) (2) (3) (4) Patri Mihi Tibi Illi (5) (6) (7) Marcus dixit: sibi domum esse illi domum esse Genitiv domus est haec domus patris est mea tua illius hanc domum hanc domum suam esse illius esse Tabelle D.6: Pronomina in der Possession 1. Beim Dativ sind die Dinge simpel: (a) es wird ein Personalpronomen für die 1. und 2. Person verwendet (Zeile 2 u. 3); das ist ein normales Substantiv (b) bei der dritten Person steht ein Demonstrativpronomen für den nichtreflexiven Fall (Zeile 4), denn ein nicht-reflexives Personalpro. der 3. Person gibt es nicht; für den reflexiven Fall steht dagegen das Reflexivpronomen (Zeile 6). Beide Pronomina sind Substantive, weswegen die DativKonstruktion immer beibehalten werden kann. 2. Beim Genitiv (a) wird als Pronomen der 1. und 2. Person das Possessivpronomen verwendet. Das ist ein Adjektiv und unterliegt daher dem Zwang zur Kongruenz mit dem Possessum (Zeile 2/3 in Tab. D.6); es muß sich also die Konstruktion ändern (b) bei der 3. Person muß unterschieden werden zwischen dem reflexiven Fall und dem nicht-reflexiven Fall. Für den reflexiven Fall existiert ein adjektivisches Possessivpronomen suus, -a, -um (Zeile 6 in D.6). Für den nicht-reflexiven Fall existiert keines; ersatzweise wird ein substantivisches (!) Demonstrativpronomen (hic, is, ille) verwendet (Zeile 4 u. 7); das tritt dann natürlich wieder in den Genitiv. (c) Ein Possessivpronomen kann (zur Fokusbildung) mit ipse kombiniert werden; dann ergibt sich eine Kombination aus adjektivischem Attribut (das Possessivpronomen) und substantivischem Genitivattribut (ipse ist Substantiv): [41] tuam ipsius epistulam recitabo ‘Ich werde Deinen eigenen Brief vorlesen’ (∼ Apul.apol.86) Wann Reflexiva verwendet werden müssen, klären wir andernorts KU Eichstätt 99 Latinistik F. Heberlein ? Syntax I WS 2014-15 Setzen Sie die richtigen Formen ein: [42] das ist der Hund des Professors : das ist mein / dein Hund Haec canis . . . . . . . . . . . est : Haec canis est . . . . . . . . . . . [43] Marcus sagte, er habe kein Auto, aber jener habe eines. ....................................................... [44] Marcus sagte, dieses Buch gehöre ihm: ..................................... [45] Marcus sagte, das Buch gehöre nicht ihm, sondern jenem: ................................................... D.2.2 Abstrakte Extensionen des possessiven Genitivs Das Grundmuster (1) domus patris est kann durch lexikalische und syntaktische Variation des Possessors oder des Possessums verändert werden. In (2) ist das Possessum durch einen Sachverhalt ersetzt, in (3) ist das Possessum durch einen Sachverhalt und der Possessor durch ein abstraktes Substantiv ersetzt: Possessum Possessor Prädikat (1) domus (2) disputare (3) aufugere patris mathematicorum ignaviae est est est 1. Das Possessum, das ja normalerweise ein Gegenstand ist, wird durch einen Sachverhalt ersetzt. Dann entstehen je nach Kontext Bedeutungen wie ‘es ist Aufgabe / Pflicht / Gewohnheit / Merkmal von’: [46] deorum est Pompeium populo Romano servare [47] De hac re disputare mathematicorum est [48] Est miserorum ut malivoli sint: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auch der Possessor wird durch ein Abstraktum ersetzt, und zwar durch eine Metoymie des typs stulorum est → stulititiae est. Dann ergibt sich nur die Bedeutung ‘es ist Zeichen von’, ‘es ist typisch für’: [49] Stultitiae est de hac re disputare Nun befinden wir uns bereits im Bereich der qualitativen Kategorisierung, die wir im nächsten Abschnitt besprechen. KU Eichstätt 100 Latinistik F. Heberlein D.3 Syntax I WS 2014-15 Qualitative und quantitative Kategorisierung D.3.1 Genitivus bzw. Ablativus »qualitatis« und »pretii« adverbal: puer magni ingenii est puer magno ingenio est servus magni pretii est → adnominal: puer magni ingenii puer magno ingenio ‘Gen. qualitatis’ »Abl. qualitatis« servus ‘Gen. pretii’ magni pretii Tabelle D.7: Gen. / Abl. qualitatis und Gen. pretii 1. Semantik: Diese Konstruktionen drücken die Einordnung eines Elements in eine qualitative oder quantitative Kategorie aus. In der Schulgrammatiken werden sie daher ‘Genitivus / Ablativus qualitatis’ bzw. ‘Genitivus pretii’ genannt (einen »Ablativus pretii« gibt es nur im semantischen Spezialfall der »Kauf-Verben«, vgl. u. §D.3.1.1). Der Unterschied zwischen qualitativer und quantitativer Kategorisierung ist fließend, denn ein ‘Gen.pretii’ kann jederzeit metaphorisch als ‘Gen. qualitatis’ interpretiert werden; vgl. unten Bspp. [53] und [54]. 2. Ausdrucksformate: Die semantische Gleichwertigkeit von qualitativem Genitiv und Ablativ zeigt sich an Fällen, wo beide in Koordination auftreten, wie in [50] (weitere Bsp. bei KS 1,456f). [50] Cic. leg. 3.45 Uir magni ingenii summaque prudentia, L. Cotta, dicebat nihil omnino actum esse de nobis. Da »Einordnung in eine qualitative Kategorie« auch als Possessivrelation konzeptualisiert werden kann, konkurriert mit dem adverbalen Gen. qualitatis der possessive Dativ: [51] puer magni ingenii est → puero magnum ingenium est (Der possesive Dativ, nicht der Genitiv, weil der Fokus auf dem Possessum liegt, vgl. o. S. S. 98.) 3. Syntax: Der qualitative / quantitative Genitiv und Ablativ kommen adverbal (am häufigsten als Prädikatsnomen zu esse) und adnominal vor. Beispiele: KU Eichstätt 101 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [52] Plaut. Mos. 782 habeo homines clitellarios (»Lastträger«); magni sunt oneris: quidquid imponas vehunt [53] Petr.58.14 (früher gab es noch Kerle:) at nunc . . . nemo dupondii evadit. [54] Cic.fam.5.10a.1 simius, non semissis homo, contra me arma tulit et eum bello cepi. [55] Nep. 24.3.1 Cato singulari fuit prudentia et industria [56] Caes. Gal. 5.14.2 Britanni capillo sunt promisso atque omni parte corporis rasa praeter caput et labrum superius. [57] Cic. Tusc. 1.7. Aristoteles, vir summo ingenio, scientia, copia, prudentiam cum eloquentia iunxit 1. Semantisches Ableitungsverhältnis: (a) Genitivus ‘qualitatis’ und ‘pretii’ sind Ableitungen aus dem Pseudo-Partitivus (vgl. S. 93) durch lexikalische Erweiterung; die Relation Quantum : Kategorie wird zur Relation Individuum : Kategorie weiterentwickelt. Der Unterschied zwischen Gen. qualitatis und Gen. pretii beruht rein auf lexikalischen Spezialisierung – der Gen. bezeichnet eine Kategorie der Qualität oder Quantität. (b) der ‘Ablativus qualitatis’ dagegen ist eine Ableitung aus dem ‘Begleiter-’ bzw ‘Zubehörmodell’, das wir unten S. 115 beim Kapitel Konkomitanz besprechen. Das ist das historisch früheres Modell, das durch den Genitiv erst allmählich Konkurrenz bekommt. Zur Illustration: in adnominaler Funktion besteht noch bei Cicero ein Verhältnis von Ablativus qualitatis zum Genitiv von 445 : 27. 2. Syntaktisches Ableitungsverhältnis: Ausgangspunkt ist, wie in Tab.D.7 dargestellt, sowohl beim Genitiv als auch beim Ablativ die adverbale Konstruktion, Endpunkt die adnominale. D.3.1.1 Genitiv und Ablativ bei Verben für »Einschätzen« und »Kaufen« RH 139,2 Bei diesen Verben gibt es im klassischen Latein eine ‘Arbeitsteilung’ zwischen Genitiv und Ablativ, die aus Tabelle D.8 auf S. 103 ersichtlich ist: der Gentiv steht bei indefiniten Wertangaben, der Ablativ bei spezifischen und definiten. 1. Die Kasusopposition erklärt sich aus den oben genannten unterschiedlichen Ableitungsquellen. Der Ablativ ist mit der semantischen Funktion ‘Instrumental’ assoziiert, ‘Instrumente’ aber sind definit. Der Genitiv dagegegen ist mit der semantischen Funktion ‘Kategorie’ assoziiert, die auch ein abstrakter, indefiniter Quantitäts- oder Qualitätsbegriff sein kann. 2. Durch die Kombination des Genitivs bzw. Ablativs mit einem Vollverb (statt wie beim Gen. / Abl. pretii mit der Kopula esse) werden die betreffenden Ausdrücke syntaktisch zu Adverbialien. KU Eichstätt 102 Latinistik F. Heberlein Genitiv: indef spez def indef aestimat bovem pluris quam capram bovem tanti quanti capram bovem magni Syntax I WS 2014-15 Ablativ: bovem magno bovem ducentis denariis emit bovem pluris quam capram bovem tanti quanti capram spez def bovem magno bovem ducentis denariis Tabelle D.8: Gen. und Ab. mit Verben für ‘Einschätzen’ und ‘Kaufen’ Indefiniter Wertangaben stehen im Genitiv Die häufigsten Verwendungsweisen sind: 1. Komparativkonstruktionen: [58] Cic.fam.7.23.3 quanti ego genus signorum omnium non aestimo, tanti ista quattuor aut quinque sumpsisti. [59] Cic.Ver.2.4.10 Heius id, quanti aestimabat, tanti vendidit [60] Cic.Ver.2.3.41 Pluris decumas vendidisti quam ceteri. 2. Ergänzungsfragen: [61] P.Rud.1272 Quanti censes? 3. Konsekutivgefüge des Typs [62] Plin.ep.8.9.2 Nulla studia tanti sunt, ut amicitiae officium deseratur 4. Kurzformen des Typs [63] Cic.fam.8.14.1 tanti non fuit Seleucean expugnare Indefinitheit ist eine semantische Eigenschaft aller Komparations- und Fragewörter wie pluris, tanti und quanti: ‘mehr’ ist nicht eine Steigerung von ‘viel’, denn in einem Satz wie Anna wiegt mehr als Erika, ist, unter der Voraussetzung daß beide Babies sind, mehr dennoch nicht besonders viel, und auch in . . . wiegt soviel wie Erika und wieviel wiegt Anna? ist über Annas Gewicht überhaupt nichts gesagt. KU Eichstätt 103 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Definite Wertangaben stehen im Ablativ. Muster wie aestimare / emere ducentis denariis sind eine abstrakte Form des Instrumentalis (‘kaufen mit 200 Denaren’); der Begriff ‘Instrument’ ist natürlicherweise mit ‘definit’ assoziiert. Spezifischen Wertangaben stehen teils im Ablativ, teils im Gentiv. Spezifität ist eine Zwischenkategorie zwischen definit und indefinit; z.B. ist »teuer kaufen« spezifischer als »teurer kaufen«, aber nicht definit (wie es »für 2 Euro kaufen« ist). Prinzipiell steht hier ebenfalls der Ablativ: magno aestimare, magno emere. Bei der aestimare–Gruppe (nicht aber bei der emere–Gruppe) gibt es zusätzlich den Genitiv magni aestimare. Der Genitiv ist offensichtlich nur durch Analogie hierher verschleppt, weil so eine komplette Komparationsreihe gebildet werden kann: magni spezifisch maximi pluris plurimi indefinit Zu beachten ist, daß die Komparationswörter teils der ‘Groß–’, teils der ‘Viel’–Gruppe entnommen sind (technisch: teils dimensional, teils quantitativ sind). D.4 Die Faustregel für die Übersetzung ins Lateinische lautet somit: ‘Indefinite Wertangaben stehen im Genitiv, alle anderen im Ablativ’ Geltungsbereich Die Angabe des Geltungsbereichs ist eine Möglichkeit der Kategorisierung von Sachverhalten: es wird ausgesagt, wofür der Sachverhalt relevant ist: [64] a. Max wurde des Unterschleifs überführt b. Max wurde wegen Unterschleifs verurteilt c. Schwimmen ist wichtig für die Stärkung der Rückenmuskulatur Wie [64bc] zeigen, besteht (teilweise) Konkurrenz zwischen dem semant. Modell »Geltungsbereich« und den Modellen »Grund« bzw. »Ziel«. Im Lateinischen gehören drei Verbgruppen hierher: (1) (2) (3) unpersönliche Verba affectus Verben der Rechtssprache mnestische Verben (erinnern / vergessen) pudet accuso memini me eum facinoris proditionis eius calamitatis / amici Semantisch unterscheiden sie sich dadurch, daß bei den Gruppen (1) und (2) der Geltungsbereich ein Sachverhalt ist, bei (3) er dagegen auch ein physisches Objekt sein kann (»ich erinnere mich noch an mein erstes Auto«). Der Geltungsbereich gehört zur Valenz des Verbs, ist syntaktisch also Objekt. Ausdrucksformate sind (1) Genitiv, (2) Präposition, (3) nominale und verbale Nebensätze. KU Eichstätt 104 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Nicht hierher gehört der irreguläre Genitiv bei interest und refert (vgl. u. §D.5). D.4.1 »Mnestische« Verben Verben, die »mnestische Prozesse« wie Erinnern und Vergessen bezeichnen, sind so organisiert, daß ‘erinnern’ und ‘denken an’ in kausativer Relation stehen (moneo → memini), und ‘erinnern’ vs. ‘vergessen’ in antonymer Reation stehen: kausativ → jemanden erinnern sich erinnern / denken an vergessen ← antonym → D.4.1.1 Ausdrucksformate »Menstische« Verben drücken das Objekt der Erinnerung im Lateinischen wie im Deutschen ähnlich aus, nämlich mit Genitiv, Präposition oder Nebensatz [65] a. Wir gedenken der Toten b. ich erinnere mich eines Vorfalls / an einen Vorfall im Jahre 2000 c. ich erinnere mich nicht, ihm das erlaubt zu haben / daß ich . . . erlaubt habe TabelleD.9 zeigt die Einzelheiten für das Lateinische: Gen.-Obj. memini amici obliviscor amici venit mihi in mentem amici mentionem facio amici Präp.-Obj. Akk.-Obj. memini verba amici memini hoc obliviscor hoc venit mihi in mentem hoc → mentionem facio de Caesare admoneo te de Caesare recordor de amico ← admoneo te hoc recordor verba amici recordor hoc reminiscor verba amici reminiscor hoc Tabelle D.9: Genitiv bei Verben für ‘sich/jemand erinnern’ und ‘vergessen’ Sie zeigt, 1. wann der Genitiv durch das ‘normale’ Akk.-Objekt abgelöst wird, nämlich: (a) sobald das Objekt ein Pronomen ist (memini hoc); das dient der Vermeidung der Paraphrase huius rei (vgl. o. S. ??). KU Eichstätt 105 Latinistik RH §136 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 (b) sobald ein zweiter ‘Partizipant’ hinzutritt (memini verba amici). Was könte der Grund hierfür sein? 2. die zunehmende Konkurrenz, die der Genitiv durch die Präposition de + Abl. erhält: bei mentionem facio steht beides nebeneinander, bei admoneo gibt es nur noch die Präposition. 3. daß bei recordor (< re-cord-or) der Akkusativ ‘normal’ ist und die Präposition auf ↑ Analogie zu admoneo beruht. Das hat mit der Etymologie von recordari zu tun: inwiefern? 4. daß die Variante mit Akk.-Obj. sich nicht entwickelt bei mentionem facio. Auch das läßt sich aus der Etymologie erklären; inwiefern? D.4.1.2 Satzförmige Objekte Wie oben gesagt, können natürlich auch Sachverhalte Gegenstand von Erinnern und Vergessen sein; die Syntax ist dann folgende: RH 169 • Verben für »erinnern« haben wie alle Kognitionsverben den AcI bzw. den indirekten Fragesatz, vgl. [66] und [67] • Verben für vergessen haben – wenn sie als negative Kognititionsverben verwendet werden (oblivitus sum ∼ non memini), den Aci oder den indirekten Fragesatz, vgl. [68] u. [69] – wenn sie als Handlungsverben verwendet werden (∼ unterlassen), den Infinitiv, vgl. [70] [66] Cic. de domo sua 27 res publica summisque in periculis eius viri auxilium implorat, a quo saepe se et servatam esse meminit [67] Cic. reg. Deiot. 35 Quid retineat per te meminit, non quid amiserit [68] Cic. de orat. 2.15 me senem esse sum oblitus fecique id, quod ne adulescens quidem feceram [69] Cic. Planc. 57 Is, unde audierit, oblitus est [70] Plaut. Mos. 487 lucernam forte oblitus eram exstinguere »Mnestische« Adjektive. Neben ein o.g. Verben gibt es eine Reihe verwandter Adjektive wie memor, die ebenfalls einen Genitiv bei sich haben. Dieser Genitiv ist als »echt«, im Gegensatz zum Genitiv bei anderen Adjektive wie sciens. Sie finden diese Adjektive zusammengestellt bei RH §135; bitte überprüfen Sie, ob sie sie beherrschen. KU Eichstätt 106 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 D.4.2 Verben der Rechtssprache (1) Cleophon accusat Phocionem proditionis (2) Iudex damnavit feneratorem ob annonam compressam pecunia .............................................................................. Agens Präd. Patiens ‘Kategorie’ : Tatbestand ‘Strafmaß’ Subj. Akk.Obj. Gen.Obj./Präp.Obj. Tabelle D.10: Verben der Rechtssprache Verben für (1) ‘anklagen’ sind maximal dreistellig, die für (2) ‘verurteilen’ sind maximal vierstellig, weil sie zusätzlich noch einen Partizipanten für das Strafmaß haben. Ein Repertorium von Verben der Rechtssprache findet sich bei MBS s.v. accusare. D.4.2.1 Ausdrucksformate 1. Tatbestand und Urteilsgrund: Das ist derselbe Partizipant in unterschiedlicher Perspektive. Anklagen und verurteilen kann man jemand wegen eines Verstoßes gegen eine iuristische Kategorie oder aus einem bestimmten Grund. Daher ist es verständlich, daß die einschlägen Ausdrücke nach zwei Muster gebildet werden können: • nach dem Prototyp ‘Einordnung in eine Kategorie’ – mit einer Abstraktionsform des partitiven Genitivs (vgl. Tab. D.2 auf S. 88), – mit einem anderen Ausdrucksformat des Partitivs, der Präposition mit de + Abl. Beides findet sich nebeneinander in [71]. • nach dem Prototyp ‘Grund’ mit einem Kausal-Ausdruck, nämlich – den Präposition propter und ob – einem quod-Satz, der deswegen regulär möglich ist, weil der Klagegrund ja einen Sachverhalt bezeichnet. [71] Cic. Clu. 114 illi debuerunt potius accusari de pecuniis repetundis quam ambitus. [72] Liv.38.35.5 duodecim clipea aurata ab aedilibus curulibus sunt posita ex pecunia, qua frumentarios ob annonam compressam damnarunt [73] Caes. Gal. 1.16.6 Caesar graviter eos accusat quod tam necessario tempore, tam propinquis hostibus ab iis non sublevetur 2. Das Strafmaß hat mehrere Ausdrucksformate, die von verschiedenen Prototypen abgeleitet sind: KU Eichstätt 107 Latinistik RH §138 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 • Vom Instrumental: [74] a. Zum Exil verurteilen: damnare . . . . . . b. Zu einer Geldstrafe (pecunia) verurteilen: damnare . . . . . . . (vgl. [72]). • Vom Lokativ (Richtung): [75] a. Zur Bergwerksarbeit verurteilen: . . . . . . . . . . b. Zu Arbeitslager verurteilen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [76] Plin. ep. 10.31.2 In plerisque ciuitatibus quidam uel in opus damnati uel in ludum similiaque genera poenarum publicorum seruorum officio funguntur, atque etiam ut publici serui annua accipiunt. • Vom Gen. pretii bei aestimare / emere (vgl. §D.3.1): [77] Cato agr. pr.1 maiores nostri sic habuerunt: furem dupli condemnari, feneratorem quadrupli. Der Wechsel von Ablativ und Genitiv in [74] vs. [77] entspricht dem zwischen Abl. und Gen.pretii, vgl. S. 102: spezifisches und definites Strafmaß stehen im Ablativ, indefinites steht im Genitiv. D.4.2.2 Metaphorische Ableitungen sind bei Verben der Rechtssprache häufig, z.B. [78] a. Der Redner klagte die Inkompetenz der Politiker an ∼ ‘anprangern’. b. Der Künstler verurteilt die Ignoranz des Publikums ∼ ‘(scharf) kritiseren’ Diese metaphorische Ableitung widerspiegelt sich in der alternative Konstruktionsmöglichkeit, die Objektsstelle mit dem ‘Straftatbestand’ zu besetzen: [79] Petr.41.5 (jemand kapiert etwas erst im zweiten Anlauf:) damnavi ego stuporem meum et nihil amplius interrogavi ? Formen Sie entsprechend um: [80] Consul cives inertiae arguit → . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D.4.3 Unpersönliche Verba affectus RH §137 Die Verba piget, pudet, paenitet, taedet, miseret KU Eichstätt 108 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 sind unpersönliche Verba affectus, also Verben, welche eine emotionale Einstellung (Freude, Trauer, Ärger etc) gegenüber einem Sachverhalt ausdrücken. [81] Piget me laboris »Plackerei widert mich an.« Gegenüber den ‘normalen’ Verba affectus wie gaudere victoriā, dolere iniuriā etc. haben sie zwei syntaktischen Besonderheiten: Verb Träger d. Einstellung Sachverhalt,auf den sich d. Einstellung richtet piget dolet dominum dominus nequitiae servi nequitiā servi • der Träger der Empfinung steht im Akk. statt im Nominativ; er ist also nach dem Prototyp ‘Patiens’ konzipiert – wie in dt. das reut mich, das ärgert mich • der Sachverhalt, auf den sich die Empfindung richtet, ist nicht wie bei dolere als Grund – Ablativ – konzipiert, sondern als ‘Kategorie’, als Geltungsbereich, in welchen der Affekt fällt Diese Verbgruppe weist also Verbindungen zu zwei anderen Verbgruppen auf: 1. semantisch zu den persönlichen Verba affectus wie dolere, gaudere, deren Grammatik wir in §E.3.3 §B.3.2.1 auf S. 45 behandeln 2. syntaktisch, wegen des Akk. der Person, zu den unpersönlichen Kognitionsverben wie me fallit / fugit, die wir in §B.5.1 auf S. 56 behandeln. Dort findet sich auch eine Gesamtübersicht. D.4.3.1 Alternative Ausdrucksformate Der mit dem Verb ausgedrückte Affekt richtet sich, wie bei Verba affectus immer, auf eine faktische Situation; technisch gesagt: Geltungsbereich ist faktisch präsupponiert. Daraus folgt, daß statt des Gen.-Objekts jeder andere Ausdruck vorkommen kann, der eine faktische Situation ausdrücken kann: [82] Diese Tat reute ihn nicht: Non eum paenitet .......... / Gen. .......... / Inf. .............. Ns. Pronomen als Objekt In [83] liegt ein Wechsel vom Gen. zum Pronomen vor, der uns so ähnlich bei den Vb. für ‘erinnern’ in §D.4.1 begegnet ist. Weil das Verb unpersönlich ist, hat allerdings das Pronomen hier nicht Objektssondern Subjektsfunktion, und das hat wiederum Konsequenz für die Kongruenz, wie sich in [84] zeigt: [83] Das widert mich an: Piget me . . . [84] Schämst du dich nicht für diese Dinge? (Plural beachten!) Non te haec . . . . . . . KU Eichstätt 109 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Zusatz: Der Genitiv als Komplement der Postpositionen causā und gratiā causā und gratiā sind zu ‘Postpositionen’ grammatikalisierte Substantive im Ablativ. Sie vermitteln eine gute Anschaung davon, wie ein Grammatikalisierungsprozeß laufen kann: 1. Als ‘normale’ Substantive verwendet werden, können sie einen possessiven Genitiv bei sich haben: [85] causā rei publicae: ‘aufgrund der Angelegenheit des Staates’ 2. Bei der Grammatikalisierung zur Postposition ‘wegen, um. . . willen’ wurde dieses Genitivattribut zum Komplement (Ergänzung) der Postposition uminterpretiert, also: [86] rei publicae causa → ‘um des Staates willen’ 3. Reflex dieser Vorgeschichte ist, daß der Wechsel des ‘possessiven’ Genitivs mit dem Possessivpronomen erhalten bleibt: [87] Um des Staates willen habe ich das getan: . . . . . . . . . . . . . . . . hoc feci. [88] Um deinetwillen habe ich das getan: . . . . . . . . hoc feci. D.5 RH §140 Das Genitivobjekt bei interest / refert Während bei allen bisher behandelten Verbgruppen der Genitiv regulär ist und Entsprechungen in den anderen idg. Sprachen hat, gilt das für den bei interest und refert nicht. Deshalb stellen wir ihn als Nachtrag an das Ende der Genitivkonstruktionen. Die Bedeutung von rēfert und interest, ‘es ist jmd. gelegen an’, ‘es ist wichtig für’, wird durch vier Komponenten konstituiert. intererat Romanorum multum populos regere ad gloriam mea / tua / sua plurimi id .................................................................................... (Verb) ‘Interessent’ Interesse-Grad Interesse-Objekt Geltungsbereich Während die Bedeutung ‘es ist wichtig’ bei interest aus der konkreten Bedeutung ‘es ist ein Unterschied’ ableitbar ist, so z.B. in [89], ist die Entstehung dieser Bedeutung bei refert ebensowenig klar, wie der Genitiv der Person bei beiden Verben. [89] interest, lapidem deorsum an sursum mittas ( ∼Cl.Quadr.hist.85) Eine weit verbreitete Hypothese (Walde-Hofmann, s.v., skeptisch HS 84) zur histor. Herleitung von interest und refert ‘es ist wichtig für jmd’ besagt 1. daß rēfert (nicht verwechseln mit rĕfero) Kontraktion aus res fert ist. Ausgangstyp wäre damit id (ad) meas res fert ‘das führt zu meinen Angelegenheiten’, mit regulärem Wechsel des Poss.-Pro meas mit dem poss. Gen. eines Substantivs (vgl. §D.2.1.1): id patris res fert.; KU Eichstätt 110 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 2. daß durch die Kontraktion ein unpersönliches Verb refert entsteht, 3. daß schließlich das Kontraktionsprodukt rēfert falsch als Abl. rē + fert reanalysiert wurde, weswegen Pronomina, die den Interessenten bezeichnen, in den Abl. treten (!): meā, tuā, suā refert 4. daß der Genitiv der Person patris refert dann durch Analogie auf interest übertragen wurde, wo er sonst nicht erklärbar wäre, 5. daß der adverbiale Genitiv, der den Grad des Interesses angeben kann (z.B. plurimi), und der in Konkurrenz mit gewöhnlichem Adverb steht (z.B. multum), Analogie zu den Verben für ‘einschätzen, kaufen’ (vgl.§D.3.1.1) ist. ? Übersetzen Sie folgende Sätze und tragen sie die Formen Formen für die einzelnen semant. Komponenten in die untenstehenden Tabelle ein: [90] Daran liegt mir viel. [91] Es liegt mir sehr viel daran, daß du kommst. [92] Es liegt im Interesse aller, die Wahrheit zu kennen. [93] Ob die letzte Silbe (syllaba) lang oder kurz ist, ist nicht einmal im Vers (versus) von Bedeutung. interest ‘Interessent’ Interesse-Grad Interesse-Objekt Geltungsbereich 90: 91: 92: 93: ........... ........... ........... ........... ............. ............. ............. ............. ........................ ........................ ........................ ........................ ........................ ........................ ........................ ........................ KU Eichstätt 111 Latinistik Konkomitanz- und Ortsrelationen: Einleitung In den folgenden Kapiteln besprechen wir zwei Gruppen von Relationen, welche die formale Gemeinsamkeit haben, daß der Ablativ in ihnen als Ausdrucksformat eine prominente Rolle spielt, nämlich • Konkomitanz mit den Subklassen Soziativ und Instrumental: venire cum amico / occidere aliquem securi • Lokale Relationen, mit den Subklassen Separativ, Lokativ und Direktiv: proficisci Romā, habitare Romae / in Graecia, ire Romam. Die wichtige Rolle des Ablativs bei diesen Relationen hat sich erst spät herausgebildet, denn noch im Altlatein können hatten die Konkomitanz, Separativ und Lokativ jeweils ein eigenes Ausdrucksformat haben: Instrumental / Soziativ Separativ (»woher?«) Lokativ (»wo?«) gladi-ō ‘mit dem Schwert’ *Corinth-ōd ‘von Korinth’ Corinth-ī ‘in Korinth’ Im klassischen Latein sind diese Ausdrucksformate weitgehend vom Ablativ absorbiert worden: • Separativ und Instrumental sind formal zusammengefallen • der Lokativ behält seine Endung nur bei Ortsnamen -ī im Singular (Typ ‘Corinthi’, und das auch nur in der 1./2. Dekl. Singular. Wir haben es also mit einem Frühstadium des Kasussynkretismus zu tun, der erst im Spätlatein mit dem Zusammenbruch des Kasussystems sein Ende findet. Der Kasusschwund wird kompensiert: (1) morphologisch durch die Verwendung von Präpositionen, (2) syntaktisch durch unterschiedliche Ausdrucksformate für die prototypischen Relationen nach folgendem Prinzip: Konkomitanzrelationen Instrumental Soziativ Ablativ Ablativ + cum occidere securi venire cum amico mit dem Beil mit dem Freund Separativ Ortsrelationen Lokativ Ablativ / Ablativ + ab arcere hostem urbe separare alqm ab alqo von der Stadt Lokativ -i b. Ortsnamen Abl. + in habitare Corinthi habitare in Graecia in Korinth / Griechenl. • Instrumental und Soziativ stehen in syntaktischer Opposition: der Prototyp 113 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 des Instrumentals steht prinzipiell im reinen Kasus, der prototyp. Soziativ steht mit cum • beim Separativ stehen reiner Ablativ und Präposition ab alternativ nebeneinander; da der Separativ (fast immer) Komplement zu einem Separativverb ist, besteht zwischen beiden kein Bedeutungsunterschied • der Lokativ steht, abgesehen von den Reliktformen bei Ortsnamen (Corinthi), mit Ablativ plus Präposition in. Separativ und Lokativ stehen Kasusopposition zum Direktiv (»wohin?«), der durch Akkusativ bzw. Akk. + Präposition ausgedrückt wird. KU Eichstätt 114 Latinistik Kapitel E Konkomitanz Der Begriff Konkomitanz umfaßt das ganze Spektrum semantischer Relationen von der Begleitung durch einen Menschen über den Instrumental (sozusagen ein »sächlicher« Begleiter) bis zur begleitenden Situation, dem sog. Begleitumstand. Die Überschrift dieses Kapitels heißt deswegen »Konkomitanz« und nicht »Instrumental«, weil der Begriff der ‘Begleitung’ der übergeordnete ist und in vielen europ. Sprachen ‘Begleiter’ und ‘Instrument’ dasselbe Ausdrucksfomat haben1 . Auch im Deutschen haben »Begleiter« und »Instrument« dasselbe Ausdrucksformat; der »Begleitumstand« kann es als eines von mehreren haben: [1] Hans geht mit seinem Hund spazieren [2] Hans bohrt mit seinem Bleifstift in der Nase [3] Die Fans feierten den Sieg mit großem Geheul So war es ursprünglich auch im Lateinischen, das für beides den Instrumental verwendete, und erst im klassischen Latein zwischen ‘Begleiter’ (Ablativ + cum) und ‘Instrument’ (bloßer Ablativ) differenzierte, vgl. u. [4]. Dieser Zusammenfall der beiden Relationen ist der ‘europäische Normalfall’, vgl. Th. Stolz e.a. On Comitatives and Related Categories, 2006. Ausdrucksformate Das klass. Latein hat den Bereich der Konkomitanz in zwei formale Modelle differenziert, nämlich • das Modell ‘Instrument’, das in prototypischer Verwendung den bloßen Ablativ als Ausdrucksformat hat, • das Modell ‘Begleiter’, das in prototypischer Verwendung die Präposition cum + Abl. als Ausdrucksformat hat: [4] a. Marcus fodit nasum stilo b. Marcus ambulat cum cane Die abgeleiteten Varianten richten sich wahlweise nach dem ‘Instrumental’oder nach dem ‘Begleiter’-Modell, vgl. z.B. [5] mit [6]: 1 Theoretische Basis dieses Abschnitts ist Christian Lehmann & Yong-Min Shin, Concomitance, Erfurt: Univ. Erfurt 2006. 115 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [5] Cic. rep. 2.38 Servius ius dixit regio ornatu ‘S. saß zu Gericht im Königsornat’ [6] Cic. Verr. 2.5.31 Verres cum pallio purpureo versabatur in conviviis muliebribus ‘V. verkehrte im Purpurpallium bei den Gastmählern der Frauen’ Einzelheiten besprechen wir weiter unten. E.1 Polysemie Die Ausdrucksmittel für Konkomitanz, Kasus und Präposition, sind natürlich sehr beschränkt und damit von vorneherein polysem. Wenn man die bunte Palette von Varianten des instrumentalen Ablativs bei RH §147ff betrachtet könnte man im Vergleich mit der Verwendung von Präpositionen in den mod. Sprachen meinen, man habe es mit einem Fall von archaischer Unterspezifizierung zu tun. Wir sollten uns daher vorab klarmachen, daß die dt. Präpositionen keineswegs expliziter sind als der lat. Ablativ, vgl. Klaus kam (1) (2) (3) (4) (5) mit mit mit mit mit einem Nachschlüssel einem Sprung seiner Freundin einem Rausch Sonnenaufgang ins Institut hinein instrumental modal soziativ prädikativ temporal Dementsprechend können die Präpositionalausdrücke unterschiedlich paraphrasiert werden: (1) . . . unter Verwendung eines Nachschlüssels, (2) . . . indem er sprang, (3) . . . und seine Freundin (4) . . . hatte einen Rausch, als (5) . . . als die Sonne aufging. E.1.1 Kompensation der Polysemie Kompensiert wird die Polysemie durch zwei Verfahren, nämlich die semantische und die syntaktische Variation: E.1.1.1 Semantische Variation 1. Die wichtigste Art der semantischen Variation ist natürlich die lexikalische: [7] a. Marcus venit cum amico b. Marcus venit cum hasta c. Marcus venit cum febri [7a] ist der Prototyp, denn der Konkomitant ist eine Person; in [7b] ist er ein Gegenstand, das Muster steht also auf der Grenze zwischen den Prototypen ‘Begleiter’ und ‘Instrument’, in [7c] ist er eine Eigenschaft des Subjekts, das Muster gehört also zur Subklasse ‘Begleitumstand’. Auf dem Übergang ‘konkret’ → ‘abstrakt’ beruhen z.B. KU Eichstätt 116 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 (a) das Tertium comparationis bei Komparationsverben: [8] aliquem superare virtute (b) der sog. ‘Ablativus mensurae’: [9] aliquem multo superare In [8] haben wir einen Typ mit abstraktem Instrumental, der in Kombination mit dem Komparationsverb superare das Tertium comparationis, den Geltungsbereich auf den sich der Vergleich erstreckt, bezeichnet. In [9] ist der Instrumental durch einen reinen Quantor ersetzt, der lediglich den Grad des superare spezifiziert. Damit ist eine neue Variante aus dem Prototyp ausgegliedert; das zeigt [10]: beide Typen können nebeneinanderstehen, was bedeutet, daß verschiedene semantische Funktionen vorliegen. [10] multo aliquem superare virtute ‘Jemanden bei weitem an Tüchtigkeit übertreffen’ Anm.: In indogermanischen Sprachen kann eine semantische oder syntaktische Funktion in einem Satz nur jeweils einmal vorkommen (‘1-pro-Satz’-Prinzip; Erscheinungen wie der ‘doppelte Akkusativ’ machen keine Ausnahme, da die beiden Akk., wie wir gesehen haben, unterschiedliche semant. und synt. Funktion haben). Wenn also zwei Ausdrücke unkoordiniert bzw. nicht-asyndetisch nebeneinanderstehen, haben sie unterschiediche semantische oder syntaktische Funktion. 2. Daneben spielt die Variation des Verb- bzw. Sitationstyps ein wichtige Rolle: [11] Paulus anatem dolabra occidit [12] a. Syracusani captivos fame perdiderunt b. captivi fame perierunt occidere in [11] und perdere in [12a] sind Handlungsverben; das Subjekt kontrolliert die Handlung, der Situationstyp ist ‘Aktion’. Der Unterscheid liegt nur darin, daß dolabra ein konkreter, fame ein abstrakter Instrumental ist. In perire in [12b] dagegen wird die Situation nicht vom Subjekt kontrolliert; dieses ist folglich nicht Agens, sondern Patiens der Handlung und fame ist der Grund des perire – die Relation ist kausal. E.1.1.2 Syntaktische Variation Die prototypische syntaktische Funktion von Konkomitanten ist die adverbiale. [13] Paulus antem dolabrā occidit → P. anatem occidit2 Daß sie selten als Objekt auftreten, liegt daran, daß es nur sehr wenige Verben gibt, die einen Begleiter oder ein Instrument implizieren (ein Beispiel wäre dt. rühren). 2 Weglaßtest, vgl. §A.1.1 auf S. 12. KU Eichstätt 117 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Durch syntaktische Reanalyse kann die adverbiale Relation in eine prädikative oder attributive überführt werden; aus der syntaktischen Variation resultiert dabei eine semantische Variation: 1. ‘Instrument’ → transiente Eigenschaft → stabile Eigenschaft: [14] Britanni essedariis3 pugnant → Britanni pugnabant. essedariis utuntur. ‘Die Britannen kämpfen mit Streitwagen’ [15] Britanni capillo promisso pugnant. ̸= capillo promisso utuntur. / Britanni capillo promisso sunt, cum pugnant. ‘Die B. kämpften mit aufgelöstem Haar’ [16] Videsne illic mulierem funesta veste? → videsne illic hanc mulierem? ‘Siehst du da die Frau in Trauerkleidung’ • [14] ist der prototypische Instrumental: der Ablativ nennt das Mittel des pugnare; seine adverbiale Funktion wird durch den Abspaltungstest (‘sie verwendeten dabei Kampfwagen’) nachgewiesen. • Dagegen kommt capillo in [15] als Instrument des pugnare nicht in Betracht. Es bezeichnet vielmehr einen Zustand, in dem die Britanni sich beim pugnare befinden, s. den Paraphrasetest, bei dem capillo promisso zu Hauptsatz wird. Nach schulgrammatischen Begriffen ist [15] somit ein Prädikativum: ein P. bezeichnet den physischen oder psychischen Zustand, in dem sich das Bezugswort (hier der Possessor) zum Zeitpunkt der Prädikatshandlung befindet4 . • Auch in [16] kann der Abl. funesta veste nicht Instrument von videre sein, vielmehr modifiziert er mulierem, d.h. er ist ein Attribut. 2. ‘Begleiter’ → transiente Eigenschaft → stabile Eigenschaft: [17] [18] [19] [20] Marcus redit cum Paulo. → Marcus et Paulus redeunt conspexi iuvenem cum equo albo Marcus redit cum febri. ̸=Paulus et febris redeunt Cato fuit summa sapientia ∼fuit sapientissimus. • In [17] bezeichnet Paulo einen ‘Begleiter’ mit eigenständiger Referenz; dasselbe gilt für equo in [18]. Unterschiedlich ist nur die syntaktische Relation, nämlich adverbial in [17] und attributiv in [18]. • In [19] und [20] hat der ‘Begleiter’ dagegen keine eigenständige Referenz, sondern ist Eigenschaft des Subjekts: in [19] bezeichnet cum febri den Zustand des Subjekts zum Zeitpunkt des redire, ist also Prädikativum. • In [20] schließlich ist summo ingenio klar Bestandteil des Prädikats, d.h. es ist Prädikatsnomen und bezeichnet eine stabile Eigenschaft des Subjekts. Von beiden Prototypen her, Instrument und Soziativ, kann sich also eine Variante ‘transiente Eigenschaft’ entwickeln. Aus diesem Grund findet sich, wie o. mit [5f] schon illustriert, dieser Typ gleichermaßen mit oder ohne Präposition cum. Aus praktischen Gründen ordnen wir im folgenden diesen Typ dem ‘Begleiter-Modell’, dem Soziativ, zu. 3 Streitwagen 4 Zum ‘Prädikativum’ vgl. Pinkster, LSS Kap. 8. KU Eichstätt 118 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 E.1.1.3 Klassifikationskriterien Zur Differenzierung der einzelnen Varianten von Komkomitanz verwenden wir folgende Parameter: • Zahl der Partizipanten: Konkomitanz im prototypischen Sinn setzt zwei voraus (x kommt mit y), »Instrument« meistens drei (x tut y mit z); «begleitende Eigenschaft« (Marcus redit cum febri) und »Modus« (Marcus legit summo studio) setzen nur einen Partizipanten voraus: im ersten Fall ist der vermeintliche »Begleiter« ja nur eine Eigenschaft des »Begleiteten«, im zweiten Falle ist er eine Eigenschaft der Prädikatshandlung. • Semant. Eigenschaft des 1. Partizipanten: menschlich > belebt > Kontrolleur (±hum, ±anim, ±co) • Semant. Eigenschaften des ‘Konkomitanten’: hum > anim > Gegenstand > Masse > Situation > Eigenschaft; bis einschließlich »Situation« sind die Konkomitanten vom Agens referenzverschieden, bei »Eigenschaft« sind sie referenzidentisch Daraus ergeben sich die in Tab. E.1 auf S. 119 verzeicheten Unterarten von Konkomitanz. Begleiter Begleitumstand 1. Partizipant 2. Partizipant +hum, +co +hum +co +anim +anim Gegenstand Situation Marcus redit cum amico Marcus redit cum libro Verres abiit cum ingenti clamore civitatis – – Cato fuit summo ingenio Marcus redit cum febri Marcus pugnat capillo promisso Marcus anatem occidit dolabrā Marcus dolium vino implet Marcus venit celeriter Eigenschaft – stabil – transient Instrument +anim, +co Gegenstand Material Modus +co +co Masse – 3. Part. Patiens Beispiel Tabelle E.1: Semantische Varianten von Konkomitanz (+anim = belebt) E.2 Der Soziativ Dieser Begriff umfaßt Begleiter und Begleitumstand. Paulus redit cum amico Paulus rediit pura mente KU Eichstätt 119 Latinistik F. Heberlein E.2.1 Syntax I WS 2014-15 Der Prototyp Er bezeichnet eine Situation, in der eine Person zusammen mit einem ‘Begleiter’ auftritt: [21] Paulus rediit cum Marco. Hier haben wir zwei referenzverschiedene Partizipanten, den zentralen Partizipanten und den Begleiter, beide mit der Eigenschaft ‘belebt’. Diese Situation ist reziprok und symmetrisch, wie die Transformationsmöglichkeiten zeigen: [22] Paulus rediit cum Marco → Marcus redit cum Paulo; → Paulus et Marcus redeunt Das unterscheidet den Prototyp von allen anderen Konkomitanz-Relationen. E.2.2 Semantische und syntaktische Variation Wie wir in §E.1 schon gesagt haben, werden aus dem Prototyp durch semantische und syntaktische Abwandlung verschiedene Varianten abgeleitet. Die ersten drei sind Possesivrelationen, da der ‘Begleiter’ gleichzeitig ‘Besitz’ des Begleiteten ist, die vierte ist die begleitende Situation. Begleiter → begleitender Gegenstand Der ‘Begleiter’ wird semantisch degradiert zum ‘Begleitgegenstand’, wodurch eine Possessivrelation entstehnt: [23] Paulus cum hasta rediit [24] Conspexi iuvenem cum equo albo. [23] und [24] zeigen gleichzeitig syntaktische Variation, den ersteres ist Adverbiale, letzteres Attribut (vgl. S. 117. Begleiter → transiente Eigenschaft Auch das ist eine Possessivrelation, bei der der ‘Begleiter’ aber kein eigenständiger Partizipant mehr ist, sondern ‘Bestandteil’ des Begleiteten ist. Es gibt zwei Varianten: 1. Der ‘Begleiter’ bezeichnet einen physischen Zustand des ‘Begleiteten’, z.B. seine Kleidung: [25] Cic.rep.2.37 Servius ius dixit regio ornatu [26] Cic.Verr.2.5.86 (Verres nimmt sturzbetrunken die Flottenparade ab:) Stetit . . . praetor populi Romani cum pallio purpureo . . . muliercula nixus in litore. KU Eichstätt 120 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 2. Der ‘Begleiter’ bezeichnet einen psychischen Zustand des ‘Begleiteten’: [27] Paulus rediit cum febri. [28] Paulus rediit sincera mente. In beiden Fällen bezeichnet der ‘Begleiter’ eine transiente Eigenschaft; es ergibt sich der Typ, den wir oben S. 118 Bsp [15] und [19] schon kennengelernt haben und als ‘Prädikativum’ bezeichnet haben. In Konkurrenz dazu stehen Prädikativa in Form von Adjektiven, Partizipen oder Substantiven: [29] Paulus rediit sincera mente ↔ Paulus rediit sincerus [30] Paulus rediit tristi animo ↔ Paulus trdiit tristis Diese Besprechen wir in Syntax IV. Begleiter → stabile Eigenschaft Das das ist der sog. Ablativus qualitatis. Er kommt in den syntaktischen Varianten Prädikatsnomen ([31]), Attribut ([32]) und Apposition ([33]) vor. [31] Cato fuit summo ingenio. [32] Cic.fam.4.6.19 Cato, qui summo ingenio, summa virtute filium perdidit, iis temporibus fuit ut eius luctum ipsius dignitas consolaretur . . . [33] Cic.Tusc.1.7 Aristoteles, vir summo ingenio, scientia, . . . cum motus esset Isocratis rhetoris gloria, dicere docere etiam coepit adulescentes Der Ablativus qualitatis ist eine Alternativkonstruktion zum sog. Genitivus qualitatis ist (vgl. o. S. 101). Der Abl.qual. gehörte ursprünglich nur zum ‘Zubehörmodell’ des Typs mulier funesta veste, d.h. bezeichnete temporäre Eigenschaften. Im klass. Latein hat er aber auch die Funktion des Genitivus qualitatis, übernommen (Cato fuit summi ingenii / summo ingenio), von dem wir auf S. 101 gesagt haben, daß er eine Relation der Kategorisierung ist, also stabile Eigenschaften bezeichnet. Begleiter → begleitende Situation Der ‘Begleiter’ ist hier eine komplette Situation, die den Hauptsatz ‘begleitet’, mit anderen Worten: ein äußerer Begleitumstand, der eine Hintergrundssituation zu einer Vordergrundssituation beschreibt: [34] Cic.Verr.2.1.49 Verres signum abstulit magno cum gemitu civitatis. KU Eichstätt 121 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [35] Cic.Verr.2.1.63 Accidit, . . . ut (Verres) illo itinere veniret Lampsacum5 cum magna calamitate et prope pernicie civitatis. [36] Caes.Gal.3.1.1 Mercatores itinere per Alpes magno cum periculo ire consueverant E.2.3 Ausdrucksformate des Soziativs 1. Der prototypische Soziativ des Typs [21] (21) Paulus redit cum amico steht immer mit cum. Wir haben auf S. 113 schon gesagt, daß er in formaler Opposition zum prototypischen Instrumental steht, der keine Präposition hat. Ausnahmen von dieser Regel gibt es, wenn eine besondere Konzeptualisierung vorliegt. Der wichtigste Fall findet sich in der militärischen Fachsprache, wo Personengruppen als militärische ‘Instrumente’ konzeptualisiert sein können ([37]): [37] Caesar omnibus copiis in Sequanos proficiscitur. 2. Ebenfalls mit cum steht der Soziativ, wenn er einen äußeren Begleitumstand des Hauptsatzes bezeichnet, wie oben in [34]–[36]. 3. Wenn der Soziativ eine transiente Eigenschaft des Possessors bezeichnet, also entweder eine eine physische (pallio purpureo; cum febri) oder eine psychische (pura mente) Disposition des Possessors, gibt es ohne Bedeutungsunterschied die oben [27] illustrierte Alternative Paulus redit cum amico : Paulus rediit pura mente, d.h. diese Variante des Soziativs • kann sich am – soziativen – ‘Begleitermodell’ orientieren und steht folglich mit Präposition cum • kann sich am – instrumentalen – ‘Zubehörmodell’ orientieren und steht folglich im präpositionslose Ablativ. 4. Wenn der Soziativ eine stabile, inhärente Eigenschaft bezeichnet, also beim Ablativus qualitatis des Typs [31] –[33], steht der bloße Ablativ. Faustregeln für die Übersetzung ins Lateinische brauchen wir also für die Übersetzung eines Soziativs, der transiente Eigenschaften bezeichnet. Wir können dieselben verwenden wie später auch beim modalen Ablativ (S. 126): • ‘ohne Attribut ↔ mit cum’ (Begleitermodell) • ‘mit Attribut ↔ ohne cum’ (Zubehörmodell) Übersicht zu den Ausdrucksmitteln des Soziativs 5 Lampsacus, Stadt am Hellespont, Heimat des Priap KU Eichstätt 122 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Begleiter begleitende Situation transiente Eigenschaft stabile Eigenschaft cum cum bloßer Ablativ cum amico cum gemitu civitatis -Attr ↔ +cum +Attr ↔ -cum cum febri pura mente vir magno ingenio Übung Mit oder ohne cum? (Welche semantische Funktion liegt vor – manchmal sind mehrere Möglichkeiten denkbar)? [38] ambulare . . . . amico. [39] Paulus . . . . febri domum rediit. [40] Consul agrum . . . caedibus et incendiis populatus est. [41] Mulier . . . crinibus passis deos adorabat. [42] Caesar . . . . . omnibus copiis subsecutus est. [43] Caesar . . . . exercitu accurrit. [44] Fictas fabulas . . . . voluptate audimus. [45] Cic.Pis.92 Piso domum se abdidit; inde . . veste servili navem conscendit E.3 Der Instrumental Paulus anatem dolabra occidit Der Instrumental bezeichnet ein Mittel, das ein Agens zur Ausführung einer Handlung an einem explizit oder implizit vorhandenen Patiens benutzt. E.3.1 Der Prototyp Der prototypische Instrumental des Musters Paulus anatem dolabra occidit ist durch folgende Eigenschaften charakterisiert: • Die Aktionsart ist agentiv (zur Definition vgl. S. 17), das Verb ist demzufolge ein Handlungsverb, und das Subjekt hat Kontrolle über die Handlung; • der Instrumental bezeichnet einen Gegenstand mit dem die Handlung ausgeführt wird. • das Ausdrucksformat ist stets der präpositionslose Ablativ Im Deutschen wird dieselbe Situation oft nicht mit instrumentaler, sondern einer anderen Relation ausgedrückt, vgl. z.B. KU Eichstätt 123 Latinistik RH §147 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [46] Lat. instrumental: tibiis canere, wörtlich: . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dt. lokal: . . . . . . . . . . . . . . . . . . [47] Lat. instrumental / lokal: exercere se armis / in armis, wörtlich: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dt.: lokal . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen Sie die Liste bei RH S. 167 o. Aus diesem Prototyp wird wiederum eine Anzahl von Varianten abgeleitet: E.3.2 Ableitungen durch lexikalische Variation des Instrumentals E.3.2.1 Das ‘Instrument’ ist ein Körperteil Wenn Körperteile, die ja keine ‘Instrumente’ im eigentlichen Sinn, sondern ↑ inalienable Possessa sind, als ‘Instrument’ verwendet werden, ist das Ausdrucksformat der normale Instrumental (wie im Deutschen auch): [48] Mit dem Fuß stampfen: . . . . . . . . . . . . . Daß es sich hier nur um Ps.-Instrumentale handelt, stellt sich heraus, wenn man versucht, das Instrument zu negieren oder es einem anderen Possessor zuzuweisen: [49] a. Hans schlug den Nagel mit dem Hammer ein → . . . ohne Hammer b. Hans schlug den Nagel mit seinem Hammer ein → . . . mit Pauls Hammer [50] a. Hans schlug den Nagel mit der Faust ein ̸= ohne Faust b. ̸= Hans schlug den Nagel mit Pauls Faust ein. E.3.2.2 Das ‘Instrument’ ist ein Beförderungsmittel Wie im Deutschen wird hier der Instrumental verwendet. [51] nave vehi [52] equo vehi Im Dt. ist alternativ auch lokative Auffassung möglich (auf / mit dem Pferd reiten, das Holz auf / mit dem Wagen transportieren). E.3.2.3 Das ‘Instrument’ ist eine Masse Der Ausganspunkt ist hier das Muster [53] Instruere milites frumento Wie im Deutschen schließen sich daran andere Verben für ‘ausrüsten’ und ‘anfüllen’ an: KU Eichstätt 124 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [54] implere dolium vino Ebenso Adjektive für ‘ausgerüstet’, ‘voll’: [55] plenus copiis Konkurrierend dazu kann bei Adjektiven der partitive Genitiv des Typs [56] stehen. [56] plenus irae vgl. dt. sie sind voll süßen Weines E.3.2.4 Das ‘Instrument’ ist abstrakt oder wird figurativ verwendet 1. Das »Instrument« ist nicht ein Gegenstand, sondern ein Abstraktum: RH 147 [57] iudicare veritate 2. Häufig ist er in Verbindungen mit afficere, einem semantisch fast leeren Handlungsverb (‘anmachen’). [58] Aliquem honore afficere. Solche Verbindungen können zur Übersetzung ganz verschiedener dt. Phrasen dienen; der lexikalische Inhalt des dt. Verbs wird dabei durch den lat. Abl. wiedergegeben. Übersetzen Sie mit afficere: ? [59] Jemanden beleidigen (‘jemanden mit Kränkung versehen’) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [60] Über jemanden Strafe verhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [61] Jemanden hinrichten lassen (‘jemand mit Hinknieen versehen’) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [62] Jemanden belohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [63] In eine schwere Krankheit verfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Bsp. bei MBS 495. 3. Als Metonymie wird der Instrumental verwendet bei sacrificare: [64] Die Konsuln opferten Jupiter zwei Ziegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diese Verwendung ergibt sich die Etymologie von sacrificare; [64] ist wlt. ‘die K. verrichteten eine heilige Handlung für J. mittels zweier Ziegen’. ? Wie wird dagegen [64] mit immolare übersetzt (was ist dessen Etymolo- gie)? KU Eichstätt 125 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 E.3.2.5 Das ‘Instrument’ bezeichet eine Eigenschaft der Handlung: ‘Ablativus modi’ RH 146 Der ‘Ablativus modi’ des Musters [65] hat wie sein deutsches Gegenstück [66] mit dem Instrumental die Aktionsart gemeinsam: das Subjekt ist Agens und kontrolliert die Handlung. [65] milites castra summo studio defendebant [66] Der Dieb entkam mit einem Sprung über die Mauer ∼ indem er über die Mauer sprang Der Unterschied ist, daß • der modale Ablativ eine Eigenschaft oder eine Handlung des Subjekts bezeichnet und somit obligatorisch ‘Partizipantensharing’ vorliegt: der implizite Possessor des Modalausdrucks in [65] und der implizite Agens des Modalausdrucks in [66] ist jeweils identisch mit dem grammatischen Subjekt. • ein Modalsatz daher notwendigerweise gleichzeitig mit dem Hs. ist. Ausdrucksformate Im Lateinischen gibt es kein Äquivalent für den dt. Modalsatz mit indem. Stattdessen gibt es folgende Ausdrucksformate: 1. Der Modalsatz ist nominalisiert wie in [67]—[69]: [67] Caes. Gal. 4.31.3 hoc summo studio a militibus administrabatur ( ∼ milites studebant) [68] Bell.Alex. 61.2 Longinus noctu silentio ex castris proficiscitur (∼ Longinus silebat) [69] Apul. met. 10.34 (Beschreibung einer Theaterszene:) Postquam finitum est Paridis iudicium, . . . Venus . . . laetitiam suam saltando . . . professa est. (∼ Venus saltabat) [70] Cic. Lael. 51 quod ab amico est profectum, iucundum est, si cum studio6 est profectum [71] Suet. Iul. 82 (Caesarem) assidentem conspirati specie officii circumsteterunt7 2. Der Modalsatz besteht aus einer Kombination aus (1) Kataphoricum wie eo/ hoc modo, ea / hac ratione und (2) Nebensatz mit ut, bei der das Kataphoricum die Relation ‘Modus’ ausdrückt und der Nebensatz den Inhalt von ‘Modus’: [72] Sall.63.4 deinde alium magistratum, post alium sibi peperit, semperque . . . eo modo agitabat, ut ampliore . . . dignus haberetur. 6 »freundschaftliches Gefühl« officium ist hier die Ehrenpflicht gemeint, um den Thron des Diktators herum eine ‘Ehrenwache’ zu bilden. 7 Mit KU Eichstätt 126 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Übersetzung ins Lateinische Die vorstehenden Bsp. zeigen folgende Tendenz: • ist der Modalausdruck zweigliederig, steht er ohne Präposition ([67], [71]) • ist der Modalausdruck eingliederig, kann er mit ([70]) oder ohne ([68]) Präposition stehen Wir können daher dieselbe »Zweigliederigkeitsregel« verwenden wie oben S. 122 beim Soziativ der Sache: mit Attribut summo studio defendere ohne Präposition ohne Attribut cum studio defendere mit Präposition E.3.2.6 Kombination aus Ablativus modi und Secundum Comparationis Sie liegt vor in Wendungen wie in [73] (aus RH §146,1) und more maiorum in [74]. [73] more ferarum maiorum ritu deorum RH 146,1 modo servorum [74] Caes.Gal.6.44 Caesar de coniuratione Carnutum quaestionem habere instituit et de Accone, qui princeps eius consilii fuerat, . . . more maiorum supplicium sumpsit. Der Unterschied zum Prototyp ist, daß der implizite Possessor von more maiorum nicht mit dem Hs.-Subjekt identisch ist und sich so die Interpretation ergibt sicut erat mos maiorum, ‘wie es die Vorfahren taten’, also ein Vergleich vorgenommen wird. Deswegen tauchen solche Wendungen auch in Form eines Komparativsatzes auf, wie in [75]: [75] Cic.Verr.2.1.40 Tu cum . . . particeps omnium rerum consiliorumque fueris, . . . sicut mos maiorum ferebat, repente . . . deseras, ad adversarios transeas? Diese Fälle gehören also zur Komparation. Anm.: 1. Die anderen Bsp. aus §146,2 gehören nicht zum Abl. modi. Wir stellen diese mit anderen Quasi-Adverbien u. S. 131 zusammen. 2. Der bei RH §146,2 sog. ‘Ablativ der äußeren Erscheinung’ und der ‘Ablativ der begleitenden Umstände’ gehören zum Soziativ, der in §E.2 behandelt wird. E.3.3 Ableitung durch Wechsel der Aktionsart: der ‘Ablativus causae’ Wie wir bereits oben auf S. 117 gesagt haben, ist ein kausaler Ablativ durch Wechsel der Aktionsart aus dem prototypischen Instrumental abgeleitet. Wäh- KU Eichstätt 127 Latinistik RH §151 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 rend jener agentive Aktionsart hat, das Subjekt somit die Handlung kontrolliert, hat dieser inagentive Aktionsart: der Grad an Kontrolle, den das Subjekt über die Handlung hat wird herabgesetzt oder ganz beseitigt: fame perdere aliquem → fame perire. Kausale Relationen Wir müssen prinzipiell zwei Gruppen von kausalen Relationen unterscheiden, nämlich Grund–Folge und Grund–Folgerung: 1. Grund-Folge—Relationen: [76] Erika war vom Regen durchnäßt /durchnäßt, weil es geregnet hatte. [77] Erika verließ den Hörsaal aus Langeweile. In beiden Varianten liegt ein ‘objektives’, empirisch verifizierbares Grund-Folge-Schema vor; der Unterschied ist (a) In [76] nennt der Kausalausdruck einen äußeren Grund, der den Hauptsatz veranlaßt (‘Kausator’); das Subjekt (Erika) hat dabei keine Kontrolle über die Hauptsatzhandlung. Das zeigt sich an den möglichen Paraphrasen wie Der Regen hatte Erika durchnäßt / fames Paulum perdidit. (b) In [77] nennt der Kausalausdruck den inneren Beweggrund, das Motiv des Subjekts; die Kontrolle des Subjekts über die Hauptsatzhandlung ist reduziert, sodaß es gleichzeitig Patiens des Kausalausdrucks ist: Die Langeweile veranlaßte Erika, den Hörsaal zu verlassen. 2. Grund-Folgerung—Relationen: Der Hs. ist hier eine subjektive Folgerung des Sprechers aus dem Kausalausdruck ([78]) oder umgekehrt ([79]): [78] Weil er Erika liebt, wird Erich wohl bald zurückkommen [79] Erich kehrte zurück, weil er Erika anscheinend liebt In [78] lautet die Folgerung ‘Erich wird zurückkommen’ – aufgrund des Faktums seiner Liebe; in [79] lautet die Folgerung ‘Erich liebt Erika’ – aufgrund des Faktums seiner Rückkehr. Typisch ist, daß solche Kausalsätze muß nicht notwendig auf derselben Zeitstufe stehen müssen wie der Hauptsatz. Andere wichtige Ausdrucksmittel kausaler Relationen sind kausale und konsekutive Nebensätze. Diese behandeln wir bei den Adverbialsätzen. E.3.3.1 Der Ablativus causae bei RH §151 Dieser Paragraph vereinigt heterogene Erscheinungen, von denen manche eher woandershin gehören. 1. Die Verben in §151,2 entsprechen den in §114 aufgeführten Verba affectus (die wegen ihrer Transitiverbarkeit in §114 stehen, vgl. o. S. 45); hier ist der Abl. Objekt. KU Eichstätt 128 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [80] Doleo tanta calamitate miseriaque 2. Die Ausdrücke in §151,1 lassen sich wie folgt unterteilen: Äußerer Grund: Innerer Beweggrund (Motiv): fame perire fessus bello spe impulsus metu coactus timore perterrritus ira incensus aviditate inflammatus 3. Nicht zum kausalen Ablativ gehören (a) Der Typ more maiorum / ex consuetudine sua: sie gehören zum modalen Ablativ, vgl. o. S. 126. (b) Der Typ mea sententia / meo iudicio: Das sind Modalitätsausdrücke, die den Geltungsgrad des Satzes bezeichnen (sog. epistemische Modaladverbialien). Sie zeigen an, daß der Satz nicht objektive, sondern subjektive Geltung hat. Sie entsprechen damit einem Verbum sentiendi wie sentio, puto, censeo, iudico. Sätze, die solche Modalausdrücke enthalten, können oft in eine Aci-Konsturktion umgeformt werden: [81] Meo iudicio Verres damnari debet. [82] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E.3.4 Lexikalische Spezialisierung des Hauptverbs: der »Ablativus pretii« Der Ablativus pretii ist ein Instrumental, bei dem das Hauptverb lexikalisch spezialisiert ist auf auf Verben der Kaufhandlung und damit semantisch verwandten Verben: [83] Hunc bovem duobus denariis emit. ‘ . . . mit zwei Denaren’ Einzelheiten beim Vergleich mit dem Gen. pretii auf S. 102. E.3.5 Grammatikalisierung des Instrumentals als Objekt Daß ein ursprüngliches Adverbiale zum Objekt uminterpretiert werden kann haben wir schon beim Akk. und dort bei den Verba affectus kennengelernt (dolere ‘Schmerz empfinden’ → dolere iniuria → dolere iniuriam.) Wir tragen hier einige Verben nach, bei denen die Existenz eines Abl.-Objekts aufgrund dieses Prozesses noch nachvollziehbar ist, und einige andere, die offenbar durch Analogie zu jenen den Ablativ zu sich genommen haben: 1. potiri: KU Eichstätt 129 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 z.B. urbe potiri < potis esse, ‘mächtig sein / werden’ plus Instrumental, also potiri oppido ∼ ‘mächtig werden mittels der Stadt’ 2. uti: z.B. uti armis. uti ist ein Verb, das eine instrumentale Relation lexikalisch ausdrückt: utor gladio ad pugnandum → pugno gladio. Daher dürfte der Ablativ auf der Analogie pugno armis → utor armis beruhen. Entsprechend dann bei usus est: [84] Plaut. Most. 250 Mulier quae suam aetatem spernit, speculo ei usus est Analog hierzu wiederum opus est, wörtlich ‘es ist Bedarf an’, das seinen alten partitiven Genitiv zugunsten des Ablativs aufgegeben hat. RH 150 Überprüfen Sie, ob Sie die Konstruktionen mit opus est beherrschen: ? [85] Ich brauche Bücher: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [86] Ich brauche vieles: Mihi . . . . . . . . . . . . . . . . opus . . . . . . . . . [87] Themistokles erkannte schnell, was nötig war: Themistocles celeriter, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cognovit Hier tritt wieder die ‘Normalisierung’ des Kasus bei Pronomina und neutralen Adjektiven auf, die wir auf S. ?? behandelt haben. Schließlich gibt es auch noch eine Reliktform mit Supin (auf -o): [88] Ubi consulueris, facto opus est 3. fungi, frui: fungi, frui aliqua re < ‘Genuß haben durch etwas’; die Entwicklung des Abl. zum Objekt geht also wie bei dolere. Akkusativobjekt statt Ablativobjekt findet sich schon im Altlatein bei uti, frui, fungi, also analog zu dem Transitivierungsprozeß dolere iniuria → iniuriam. Diese Transitivierung ist im klass. Latein weitgehend rückgängig gemacht (↑ Restitution); ein Relikt davon ist aber, daß diese Verben zur Bildung einer Gerundivkonstruktion verwendet werden können, die ja regulär nur bei transitiven Verben möglich ist (vgl. RH §175). [89] ein Amt verwalten: . . . . . . . . . . . . . [90] Bei der Verwaltung von Ämtern war er sorgfältig: In . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . diligens erat. Lernen Sie die Liste bei RH S. 167 o. KU Eichstätt 130 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Phraseologisierung von Konkomitanz Neben den Suffixen auf -e und -(i)ter sind ‘erstarrte’ Kasus die wichtigste Quelle der Bildung von Adverbien. Der Ablativ ist hier besonders produktiv. Das Resultat kann außer einem ‘echten’ Adverb, wie z.B. casu ‘zufällig’, noctu ‘nachts’, manchmal auch eine (Mehrwort-)Phrase sein. Bei RH §146 und §151 werden solche Ausdrücke, den Rubriken ‘modaler’ bzw. ‘kausaler’ Ablativ zugeordnet, semantisch nicht immer passend. Diese zu Averbien erstarrten Ablative bezeichnen nämlich ganz verschiedene semantische Relationen. Der Ablativ selbst drückt hier nur noch die adverbiale syntaktische Funktion aus. Die semantische Relation selbst dagegen ergibt sich erst aus der Interpretation des Verhältnisses von lexikalischer Bedeutung des Ablativs und der Hs.-Bedeutung. Deswegen ist die Zuordnung solcher Quasi-Adverbien zu einer bestimmten semantischen Relation zwecklos; vielmehr ist ist es leicht möglich, daß ein und derselbe Ablativ unterschiedliche Relationen bezeichnen kann; man muß dazu ja nur den Hs. austauschen. Einige Beispiele (Verweise in der Tabelle auf Fälle, die wir schon besprochen haben): Modus Secundum comparationis Instrumental Soziativ Lokativ Kausal Final Resultat Aktionsart Urteil Epistemische Modalität aequo animo; silentio; tanta celeritate; hoc modo, hac ratione more maiorum / ferarum / servorum wie die Vorfahren‘/ Tiere / Sklaven’; arbitratur alicuius dolo / fraude ‘mit List’ , vi ‘mit Gewalt’ abiit sine querela noctu iussu alicuius eo consilio, ut; ea lege, ut; tuo commodo / incommodo casu ‘zufällig’, voluntate ‘willentlich’ iure, iniuria mea sententia, meo iudicio; s. §E.3.2.5 s. §E.3.2.5 s. §E.3.1 s. [92] s. s. s. s. s. s. Die Relationen von ‘Modus’ bis ‘Kausal’ haben wir am einschlägigen Ort schon besprochen. Beispiele für adverbiale Ablative mit anderen Relationen sind: 1. Instrumental: [91] Caes.civ.2.22.1 Massilienses . . . sese dedere sine fraude constituunt. Der Typ fraude steht bei RH §146 unter dem Ablativus modi. Unsere Definition von ‘Modus’, nämlich ‘Art und Weise des Vollzugs der Hs.-Handlung’, impliziert, daß ein modaler Abl. nicht negiert werden kann. Ein Instrumental kann das durchaus (vgl. [49] auf S. 124). Deswegen rechnen wir Fälle wie [91] zum Instrumental. Dagegen sind Fälle wie [92] per tot annos vectigalia sine querela toleraverunt ( ∼ Tac.Ann.13.50) eher zum Soziativ zu rechnen. Es handelt sich um einen negativen Begleitumstand (‘ohne zu’-Satz), der vom Instrumental dadurch unterschieden ist, daß er nicht als – intentionales – Mittel zur Erfüllung der Hs.-Handlung interpretierbar ist. 2. Final: KU Eichstätt 131 Latinistik §E.3.3 [93] [94] [96] [95] [99] F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [93] Caes.Gal.1.48.1 (Ariovistus) . . . milibus passuum duobus ultra Caesarem castra fecit eo consilio, uti frumento commeatuque . . . Caesarem intercluderet. Eo consilio, ut . . . wird bei RH §146,1 zum Abl. modi gerechnet. Aber dieser Ausdruck bezeichnet hier klar die Intention des Subjekts, nicht die Art und Weise von castra fecit. 3. Resultat: [94] Caes. Gal. 6.44.1 Tali modo vastatis regionibus exercitum Caesar duarum cohortium damno . . . reducit RH S. 165 u. rechnet solche Phrasen zum Soziativ. Von dem unterscheiden sie sich aber dadurch, daß sie nicht den Aspekt des Begleitumstands, sondern den des Resultats hervorheben. 4. Urteil: [95] Cic.Caecil.62 si iure posses eum accusare, tamen . . . id pie facere non posses ∼ si ius esset te eum accusare, tamen pium non esset Hier wird ein Urteil über einen (hypothetischen) Sachverhalt gefällt, nicht aber, wie bei S. RH §146, 2 angenommen die Art und Weise des accussare bezeichnet. 5. Aktionsart: Wir haben auf S. 18 gesagt, daß ein Kriterium zur Klassifikation von Aktionsarten der Grad an Kontrolle bzw. Intention ist, den das Subjekt über die Handlung hat. Durch Adverbien wie casu in [96] wird dieser herabgesetzt, durch Adverbien wie consilio oder . . . voluntate wird er erhöht. [96] Caes.Gal.6.37.1 Hoc ipso tempore casu Germani equites interveniunt protinusque . . . in castra inrumpere conantur ‘Genau zur selben Zeit taucht zufällig die Germanische Reiterei auf und versucht sofort ins Lager einzubrechen’ [97] Caes.Gal.144.2 obsides voluntate dati sunt Erweiterte Formen können dagegen eine kausale Interpretation erhalten: [98] Caes.Gal.5.27.1 Ambiorix dicit . . . neque id quod fecerit de oppugnatione castrorum, . . . voluntate sua fecisse, sed coactu civitatis ( ̸= non quod voluerit sed quod coactus sit) ‘ . . . und was er wegen der Belagerung des Lagers unternommen habe, habe er nicht aus eigenem Willen, sondern unter Zwang des Stammes unternommen’ 6. Epistemische Modalität: [99] Cic.Phil.13.32 Omnino mea quidem sententia legem illam appellare fas non est, et, ut sit lex, non debemus illam Hirti legem putare. (∼ sentio fas non esse . . . ) ‘Meiner Meinung nach wenigstens darf man das gar nicht Gesetz nennen; und, angenommen es ist ein Gesetz, dürfen wir es nicht als Gesetz des Hirtius ansehen’ KU Eichstätt 132 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Wie wir auf S. 129 gesagt haben, entsprechen solche Ablative derjenigen Subklasse der ‘Verba sentiendi’ (RH §168,1), welche den Geltungsgrad eines AcI bzw. die subjektive Einstellung des Sprechers gegenüber dem AcI-Inhalt anzeigen. KU Eichstätt 133 Latinistik F. Heberlein KU Eichstätt Syntax I 134 WS 2014-15 Latinistik Kapitel F Lokale Relationen: Separativ, Lokativ, Direktiv, Pfad F.1 Lokale Relationen Lokale Relationen sind solche, bei denen ein Gegenstand oder eine Situation (das sog. »Relatum«) im Hinblick auf einen lokalen Referenzpunkt eingeordnet wird. Im Lateinischen sind dieselben Relationen grammatikalisiert wie im deutschen, nämlich • Lokativ (wo / ubi?) • Separativ (woher / unde?) • Direktiv (wohin / quo?) und zusätzlich »Pfad«, die Referenzlinie, an der entlang eine Bewegung stattfindet (qua?): Relation: lokativ separativ direktiv Pfad Relatum ubi? unde? quo? qua? Marcus Marcus Marcus Marcus Referenzpunkt versatur proficiscitur proficiscitur it Romae / in urbe Romā / ab urbe Romam / ad forum viā Sacrā Der Referenzpunkt wird meist durch ein Substantiv ausgedrückt, kann aber auch durch Adverbien ausgedrückt werden. Sofern diese von Pronomina abgeleitet werden, wird das Feld der Ortsrelationen wesentlich komplexer, weil sie ja dann durch die von den Pronomina hic : iste : ille übernommene deiktische Opposition ‘proximal : medial : distal’ (nahe : entfernt : weitentfernt) untergliedert werden kann. In Tab. F.1 auf S. 136 sind im oberen Teil die adverbialen, im unteren die substantivischen Ortsangaben zusammengestellt: F.1.1 Ausdrucksformate Die lokalen Relationen im klass. Latein zeigen ein Nebeneinander älterer und jüngerer Ausdrucksformate: 1. Bei Ortsnamen ist das alte Ausdrucksformat, der bloße Kasus, erhalten: (a) beim Lokativ (‘wo?’) ist (1) im Singular der 1. und 2. Deklination die alte 135 RH §122, §141, §154 F. Heberlein Syntax I Separativ hinc » istinc, » inde illinc » Lokativ WS 2014-15 Direktiv daher« von dort« hic istic »hier« »dort« huc »hierher« istuc »dahin« von dort (drüben)« illic ea via »dort (drüben)« »da entlang« illuc »dorthin(über)« Romā Athenis via sacra in urbe ex urbe Romam in urbem Tabelle F.1: Lokale Relationen mit Pronomina Lokativendung -i erhalten: Corinthi, Romae (< Roma-i; bei den anderen Deklinationen wird der Ablativ verwendet, s. RH §8 L8); (2) im Plural wird bei allen Deklinationen der Ablativ verwendet: Athenis (»in Athen«), Gadibus (»in Cadix«). (b) beim Separativ (‘woher’?) steht der Ablativ: Romā (c) beim Direktiv (‘wohin’?) steht der Akkusativ: Romam Dasselbe gilt für einige adverbiale Reliktformen: (1) domi – domo – domum, (2) ruri – rure – rus, (3) humi – humo Ländernamen dagegen stehen mit Präposition: [1] habitare in Graecia [2] redire e Graecia [3] abire in Graeciam 2. Für allen anderen Ortsangaben gelten folgende Tendenzen: (a) beim Lokativ und Direktiv werden Präpositionen verwendet: [4] vivere in urbe [5] proficisci in urbem Das gilt schon dann, wenn der Ortsname in einer Apposition steht: [6] vivere Corinthi → vivere in urbe Corintho (b) beim Separativ, der in den meisten Fällen Objekt ist, wird die Alternative bloßer Ablativ : Ablativ mit Präposition durch das Verb bestimmt. Einzelheiten im nächsten Abschnitt. (c) die Relation Pfad, die Referenzlinie, an der entlang eine Bewegung stattfindet, ist nur schwach grammatikalisiert und zeigt viele verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten: i reiner Ablativ: ire via Sacra ii Kompositum + Akk: praeterire urbem, transire Rhenum iii Präposition, je nach Semantik des Pfades: [7] praesidia disponere per urbem KU Eichstätt 136 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [8] exire per portam nigram [9] ambulare in silva (das ist im Gegensatz zu den anderen eine multidirektionale Bewegung) 3. Wir stellen in folgender Tabelle die Ausdrucksmittel für alle Relationen mit Ortsnamen zusammen (vgl. RH §§122, 141, 154): (1) (2) (3) (4) (5) Lokativ: ubi? Separativ: unde? Direktiv: quo? Bereich: qua? habitare Corinthi habitare in Sicilia pugna ad Cannas facta in oppido Citio Citii, in oppido parvo Roma abire abire ex Sicilia a Brundisio discedere ex oppido Gergovia abire Roma, ex urbe clara abire Romam ire via Sacra ire ire in Graeciam in silva ambulare ad Genavam pervenire in urbem Romam venire Romam, in urbem claram, venire Einzelheiten: • Wenn wie in (3) eine Präposition bei einem Ortsnamen steht, wird die Umgebung des Ortes bezeichnet, wie in [10] Caesl. Gal. 1.7.2 Caesar ad Genavam pervenit ‘Caesar gelangte vor Genf’ A Brundisio meint regelmäßig den Hafen von Brundisium. • Wenn wie in (4) der Ortsname mit einer Apposition eine syntaktische Einheit bildet, steht ebenfalls Präposition; wenn die Apposition aber segmentiert ist wie in (5), steht der reine Kasus, da ja hier der Ortsname für sich steht. ? Welche Ortsvorstellungen werden in den beiden folgenden Beispielen kombiniert: [11] Pl.Amph.795 venisti huc alia via [12] Pl.Persa 444 abi istac travorsis angiportis (Gasse) ad forum Setzen Sie die richtigen Formen ein: ? [13] Paul verließ das Haus des Freundes: Paulus . . . . . . . . . . . . profectus est. [14] Paul verließ das alte Haus: Paulus . . . . . . . . . . . . . . . profectus est. RH 154,1 [15] Dieser Satz steht nicht am rechten Platz: Haec sententia non . . . . . . . . posita est. F.1.2 Der Separativ Der Separativ zeigt folgende Varianten: • das Relatum bewegt sich vom Referenzpunkt weg: ab urbe proficisci • das Relatum wird vom Referenzpunkt wegbewegt: expellere aliquem ex urbe KU Eichstätt 137 Latinistik RH §141ff F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 • das Relatum befindet sich in Distanz vom Referenzpunkt: arcere aliquem ab urbe Im ersten Fall ist das Verb intransitiv, in den beiden anderen transitiv. F.1.2.1 Syntax Der Separativ ist syntaktisch entweder (1) Objekt zu inhärenten Separativverben, also solchen mit implizitem Referenzpunkt wie z.B. solvere, oder (2) Adverbiale bei sonstigen Bewegungsverben, die keinen Referenzpunkt implizieren, wie z.B. movere. Tabelle F.2 auf S. 138 gliedert das Material aus RH §143 nach den oben genannten semantischen Gruppen. RH §143 A. Relatum bewegt sich – Ablativ oder Präposition + Ablativ: excedere (ex) urbe decedere* abire* proficisci desistere B. Relatum wird bewegt – bloßer Ablativ kausativ: → resultierender Zustand: (de-, ex)pellere aliquem urbe solvere movere privare, spoliare, exuere fraudare, levare orbare nudare liberare carere, egere, indigere, vacare orbus nudus liber C. Relatum wird distanziert – Ablativ oder Präposition + Ablativ: arcere aliquem (ab) facinore prohibere Tabelle F.2: Separativverben und -adjektive. F.1.2.2 Eine einfach Faustregel für die dt.-lat. Übersetzung leiten wir aus dieser Aufstellung auf S. 140 ab. Überpüfen Sie in RH §143, ob Sie die Bedeutung dieser Verben beherrschen. Zu den mit * gekennzeichneten lernen Sie die in §F.1.2.3 aufgeführten Phrasen. Zur Semantik und Syntax der Separativverben Die folgenden Hinweise beziehen sich auf Tab. F.2. KU Eichstätt 138 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 1. Inhärente und nicht-inhärente Separativverben: Die Separativverben in Tabelle F.2 haben ihre separative Bedeutung entweder aufgrund inhärenter Bedeutung (z.B. liberare), oder weil sie Bewegungsverben mit einem Präverb sind, durch welches der Ausgangspunkt einer Bewegung impliziert wird: ire ist ‘gehen’, abire ‘weggehen von einem Referenzpunkt’. Dagegen sind zwei Verben in Tabelle F.2, nämlich movere und pellere, weder genuine Seperativverben noch implizieren sie einen Referenzpunkt qua Präverb. Die Kombination mit einem Separativ ist bei ihnen also nur eine von mehreren Möglichkeiten, und wir müssen folglich unterscheiden: • Das Verb steht ohne Ortsangabe: [16] Pl.Am.1034 istas pepuli fores [17] Var.r.r.2p3 Multi manus movere malunt in theatro quam in segetibus [18] Pl.Ps.955 transvorsus, non provorsus cedit, quasi cancer solet • Das Verb steht mit Separativ (Ausgangspunkt): [19] Cic.Sest.85 Magistratus templis pellebantur, alii omnino . . . foro prohibebantur: nemo resistebat. [20] Sall.Cat.23.1 Curium censores senatu probri gratia moverant [21] Cic.dom.5 hunc tu civem ferro et armis . . . domo et patria . . . cedere coegisti • Das Verb steht mit Direktiv (Zielpunkt): [22] movere in Indiam [23] cedere in tutum [24] pulsus in exsilium 2. Die Bewegungsverben in Spalte A. kommen in konkreter und übertragener Bedeutung vor. (a) Bei konkreter Bedeutung kommen sie naturgemäß oft mit Ortsnamen vor (Romā decedere etc.). Dann stehen sie, wie S. 135 gesagt, mit bloßem Ablativ. Bei anderen Referenzpunkten können sie auch mit Präposition stehen (excedere ex oppido). (b) Bei übertragener Bedeutung steht unterschiedslos reiner Ablativ oder Ablativ mit Präposition: desistere (ab) iniuria. Jedoch steht bei Personen immer die Präposition: manus abstinere ab adversario. 3. Kausative Relationen zwischen Transitivum und Intransitivum: Die transitiven Verben in Spalte B. können zu bestimmten Intransitiva und Adjektiven in kausativer Relation stehen: Brutus rem publicam dominatu liberat KU Eichstätt → 139 res publica liber est dominatu Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Die Intransitiva bzw. Adjektive bezeichnen den durch die Kausativa herbeigeführten Zustand: »machen, daß x frei ist« → »x ist frei«. 4. Aspektuelle Relation zwischen Intransitivum und Adjektiv: Diejenigen Adjektive, die zu Intransitive gehören, stehen zu diesen in aspektueller Beziehung: vacare negotiis ist ein temporärer, vacuus negotiis ein permanenter Zustand. 5. Komposita mit dis-, se- reRH 143,3 haben eine Sonderstellung: sie werden immer mit Präposition verwendet: separare alium ab alio Als Faustregel für die Übersetzung ins Lateinische läßt sich formulieren: • Separative Relationen lassen sich prinzipiell mit bloßem Ablativ übersetzen; obligatorisch ist das bei Ortsnamen • Ausnahmen sind die Komposita mit dis-, re-, die mit Präposition konstruiert werden F.1.2.3 Phraseologie und Idiomatik Bei den in Tab. F.2 mit * gekennzeichneten Verben gibt es folgende Phrasen: [25] abeo magistratu (= me abdico magistratu) ‘ein Amt niederlegen’ [26] decedo de scaena ‘Von der Bühne abtreten’; dagegen: decedere ex urbe, decedere domum, ad somnum etc. [27] dissideo ab (cum) aliquo ‘eine andere Meinung haben als’, auch: dissident inter se ‘sie sind unterschiedlicher Meinung’. Nicht aufgenommen in die Tabelle ist die Phrase interdicere aliqui aqua et igni ‘jemand verbannen’, weil hier kein echtes Separativverb mehr vorliegt: [28] Plin.ep.4.11.3 carent togae iure, quibus aqua et igni interdictum est ? Lesen Sie RH §143, 1+2 und füllen Sie die Lücken aus: [29] Medicus aegrum rogavit, ut . . . . abstineret (sich des Weines zu enthalten). [30] Gladiator rogatus est, ut manus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . abstineret (nicht Hand an seinen besiegten Gegner zu legen) ? Für folgenden Satz gibt es zwei Konstruktionsmöglichkeiten; welche? KU Eichstätt 140 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [31] Die Gallier schnitten Caesar die Versorgung (res frumentaria) ab (intercludere). ................................................ / ............................................... [32] Der Schauspieler trat von der Bühne ab: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (trat von der Bühne ab). [33] Der Konsul trat von seinem Amt zurück: ....................... . ? Übersetzen Sie unter Beachtung von RH §143,3: [34] Die Eltern von den Kindern trennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [35] Wahres vom Falschen unterscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [36] Ein vom Tyrannen freies Volk ist noch nicht frei von Sorgen ............................................... F.1.3 Extensionen des Separativs hierher gehören (1) Herkunftsangaben, (2) der agentive Ablativ (3) der Separativ als Secundum comparationis (letzteren behandeln wir mit dem Instrumental als Spezifikator des Tertium comparationis unten auf S. 150). F.1.3.1 Der Ablativus originis Er beruht auf der Metapher ‘Ort’ → ‘Sozialer Rang’. Den Übergang zeigt gut RH §142 [37] summo loco natus → nobili genere natus Präpositionen werden bei diesem Typ zur Bezeichnung eines entfernteren Verwandtschaftsgrades verwendet: [38] Caes.orat.29.1 Amitae meae Iuliae maternum genus a regibus ortum est F.1.3.2 Der Agentive Ablativ Caesar a Bruto occisus est Der Ablativ als Ausdruck des Agens im Passivs ist die produktivste Grammatikalisierung des Separativs. Man findet sie genauso im Deutschen, aber mit einem wichtigen Unterschied: KU Eichstätt 141 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 1. Das Lat. unterscheidet zwischen belebtem Agens und unbelebten Ursachen einer Situation; ersterer steht mit Präposition ab + Ablativ, letztere mit bloßem Ablativ 2. Im Deutschen dagegen werden Ursachen als metonymische oder metaphorische Ableitungen des agentiven Prototyps behandelt und daher wie dieser mit der Präposition von ausgedrückt: [39] Paul wurde von seinem Freund erschlagen: Paulus . . . . . . . . . occisus est [40] Paul wurde von einem Blitz erschlagen: Paulus . . . . . . . occisus est [41] Paul wurde von einem Schiff aufgenommen: Paulus . . . . receptus est. Anm.: Dieser Unterschied ist ein typologisches Unterscheidungsmerkmal zwischen Sprachen. Weltweit gibt es (1) Sprachen, welche den Agentiv besonders kennzeichnen (2) Sprachen, die den Agentiv und den Instrumental zusammenfassen F.1.4 Lokativ und Direktiv Die grundlegenden Ausdrucksformate haben wir schon oben auf S. 135 aufgeführt: lokativ: direktiv: habitare in urbe habitare Corinthi / Romae (<Roma-i) habitare Athenis ire in urbem ire Romam • Ausdrucksformat lokativer Relationen ist in + Abl., außer bei Ortsnamen Bei Ortsnamen steht die Reliktform des Lokativ auf -i, sofern diese Form gebildet werden kann (nämlich im Singular der 1./2. Deklination); wo sie nicht gebildet werden kann (3.-5. Dekl), steht der reine Ablativ • Ausdrucksformat direktiver Relationen ist Präposition in / ad + Akk., außer bei Ortsnamen, bei denen der bloße Akkusativ steht. RH §117 Der Direktiv wird auch zur Quantifizierung von Strecken verwendet: [42] Vicus ab urbe passus sescentos abest. Hier wird die durch abest ausgedrückte Distanz zwischen zwei Punkten quantifiziert. Diese quantifizierenden Ausdrücke sind syntaktisch Adverbiale; daher tendieren sie zur Phraseologisierung (wie die S. 131 aufgeführten Konkomitanzausdrücke): [43] magnam partem, maximam partem ‘großteils, größtenteils’ Im Deutschen sind solche Ausdrücke oft vollkommen lexikalisiert, d.h. regelrechte Adverbien geworden KU Eichstätt 142 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [44] ’größten-teils’ (vgl. besten-falls, keines-falls; des nachts etc.) Aus diesen Ausdrücken werden Angaben der Zeiterstreckung abgeleitet, s. §F.2.1.2. Zu unterscheiden von diesen Ausdrücken sind deiktische Phrasen auf der Basis des Direktivs, die mit einem Partitiv kombiniert werden, wie id temporis ‘zu dieser Zeit’, id (hoc, illud) aetatis ‘in diesem Alter’ ‘zu dieser Zeit’: RH §118 [45] Cic. Flac. 106 id aetatis est, ut sensum iam percipere possit ex maerore patrio, [46] Cic.fin.5.1 constituimus . . . , ut ambulationem post meridianam conficeremus in Academia, quod is locus ab omni turba id temporis vacuus esset. F.1.5 Beispiele für den deiktischen Typ bei KS 1,306, für den quantifizierenden bei KS 1,280. Perspektivierung lokaler Relationen Eine Situation die eine Ortsangabe beinhaltet, kann in verschiedenen Sprachen unterschiedlich perspektiviert sein. Perspektive Wir empfinden es im Deutschen als ‘normal’, Orts- und Raumangaben aus unserer Perspektive, vom Referenzpunkt ‘Sprecher’ aus, zu präsentieren, genauso wie wir es mit Zeitangaben tun, und wie wir es als normal empfinden, unseren Kalender linear ‘vorwärts’ aufzubauen. Die Römer empfanden das als nicht so zwingend; wir wissen ja • daß die Römer ihre Entfernungsangaben auf Meilensteinen vom Ausgangspunkt, und nicht vom Zielpunkt der Straße her rechneten z. a legione X MP ‘vom Legionslager her 10 Meilen’ • daß die Römer, wenn sie einen Brief geschrieben haben, die Ereignisse oft nicht zeitlich auf den Referenzpunkt des Schreibers, sondern den des Adressaten bezogen haben (↑ ‘Brieftempus’), • daß die Römer ihren Kalender durch Rückrechnung von Fixtagen strukturierten, • daß es so etwas wie ‘relatives Tempus’ gibt, wo der Referenzpunkt eben nicht der Sprecher ist, • daß es schließlich, wie wir im vorliegenden Skript lesen, im Lateinischen ‘Possessumorientierte’ Possessiv-Konstruktionen und Komparativkonstruktionen gibt, die vom Secundum comparationis her perspektiviert sind (§D.2.1.1 und §F.3). Wir können also nicht einfach davon ausgehen, daß Raum- und Zeitinformation in einer anderen Sprache aus der für uns gewohnten Perspektive erfolgt. Solche Perspektivierungen können kulturell determiniert und damit dem Wandel unterworfen sein. Ein Beispiel hierfür ist die Repräsentation von Himmelsrichtungen. Wir neigen dazu, beeinflußt durch die Tradition der Geographie und Kartographie, Nord – Süd für die räumliche Hauptorientierungsachse zu halten und ‘oben’ mit ‘Norden’ und ‘Süden’ mit ‘unten’ zu assoziieren. Diese Tradition ist nicht sonderlich alt: mittelalterliche Karten wie KU Eichstätt 143 Latinistik RH §155 F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 etwa die ↑ Ebsdorfer Weltkarte, sind geostet, weil der heilgeschichtlich wichtigste Ort, Jerusalem, im Osten liegt. Auch für Naturvölker ist die Ost-West-Orientierung (Sonnenaufgang, -untergang) wichtiger, und deshalb sind Ost und West in ihren Sprachen meist eindeutig lexikalisiert, wogegen die Bezeichnungen für Nord und Süd vage bleiben. Wir befinden uns hier in dem großen Zusammenhang der kognitiven Grundlagen von Grammatik und Lexikon. Mehr dazu bei B. Heine, Cognitve Foundations of Grammar. 1997. F.1.5.1 Beispiele für unterschiedliche Perspektivierung zwischen Deutsch und Latein Dt. direktiv ↔ Lat. lokativ [47] eine Statue statuam auf die Mauer in muro stellen ponere (wohin?) (wo?) Eine Bewegung kann kognitiv in drei Komponenten zerlegt werden: Ausgangspunkt, durchmessener Raum, Endpunkt. Sprachen können hier beim Ausdruck einen unterschiedlichen Fokus setzen: • im Deutschen ist der Sachverhalt vom Ausgangspunkt der Bewegung her perspektiviert: ‘wohin wird die Statue gestellt?’ • im Lateinischen liegt der Fokus auf dem Endpunkt: ‘wo kommt die Statue zu stehen?’. Dt. lokativ ↔ Lat. direktiv [48] Cic.Pis.34 Ganz Italien tota Italia kommt zusammen convenit in Rom Romam Hier ist es umgekehrt wie in [47]: im Deutschen liegt der Fokus auf dem Endpunkt (wo?), im Lateinischen auf dem Ausgangpunkt (wohin?). Dt. lokativ oder direktiv → Lat. separativ Das ist der auffälligste Perspektivenunterschied zwischen Deutsch und Lateinisch; im folgenden die wichtigsten Beispiele; weiteres Material bei bei KS 1,493 und MBS 531. KU Eichstätt 144 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 incipere a Iove cavere a veneno defendere aliquem a periculo pharetra pendet ab umero ligare funem a bracchio ‘bei Iuppiter anfangen’ ‘Vorkehrungen gegen einen Giftanschlag treffen’ ‘jemand gegen eine Gefahr verteidigen’ ‘der Köcher hängt ihm um die Schultern’ ‘einen Strick am Arm anbingen’ a fronte a tergo a mea parte ‘vorne’ ‘hinten’ ‘auf meiner Seite’ ab epistulis (sc. servus) a manu a libellis ‘Sekretär’ ‘Sekretär’ ‘Bearbeiter von Gesuchen’ F.1.5.2 Änderung der Perspektive durch Präverbierung ist möglich, wie das folgende Beispiel zeigt (zum Mechanismus der Präverbierung vgl. o. §B.3.2.2): [49] statuam in inferiorem locum transponunt (∼ Gell. 4,5,3) Das Präverb trans- hat zwei semant. Komplemente: x trans y, wobei x die Statue, und y das Ziel ist. Trans- determiniert damit die Perspektive des Kompositums und den Kasus des Ortsobjekts1 . Übung Setzen Sie die richtigen Konstruktionen ein: RH §155 [51] Kaum war im punischen Lager gemeldet worden, daß die römischen Gesandten in Spanien angekommen seien, als Hannibal sich ihr Kommen verbat: Vix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . nuntiatum erat legatos advenisse, cum Hannibal eos ad se venire vetuit. [52] Als die Theatertruppe in der Stadt angekommen war, strömte eine Menge von Leuten auf dem Forum zusammen: Cum histriones . . . . . . . . . advenissent, magna hominum multitudo . . . . . . . . confluxit. [53] Aiax rühmte sich, daß auf seinem Flügel niemals die Phalanx durchbrochen worden sei: Aiax gloriatus est . . . . . . . . . . . aciem numquam perruptam esse. 1 Bei [48] ist das nicht so, weil con- nicht den Ort, sondern die andere Person als Argument hat, die ja im Ablativ hinzugefügt werden kann: [50] Paulus cum amico convenit (apud amicum) . KU Eichstätt 145 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [54] Karthago war gegen das Land und gegen das Meer hin vorzüglich befestigt: Carthago . . . . . . . . . . . . . . . . . . egregie munita erat. F.2 Von der Orts- zur Zeitangabe Wie in vielen Sprachen werden auch im Lateinischen Angaben zu Beginn, Zeitpunkt und Zeitdauer einer Situation metaphorisch aus Lokalangaben abgeleitet auf der Basis der Orts- → Zeit–Metaphorik. Dabei wird ein konkreter ‘Punkt’ oder eine Strecke im physischen Raum durch einen ‘Punkt’ oder eine ‘Strecke’ auf der Zeitachse ersetzt. Separativ → Terminus a quo Lokativ → Zeitpunkt Zeitraum Direktiv → Terminus ad quem a pueritia meridie / paucis diebus (usque) ad vesperem Alle drei zusammen finden sich etwa in [55] Caes. Gal. 1.26.2 hoc toto proelioZeitraum, cum ab hora septimaTerminus a quo ad vesperumTerminus ad quem pugnatum sit, aversum hostem videre nemo potuit. Das Nebeneinander von ursprünglich lokaler und abgeleiteter temporaler Angabe zeigen Verbindungen wie [57]. [56] Romae obiit → hieme obiit. ‘Er starb in Rom → er starb im Winter’ [57] domi militiaeque ‘Im Frieden (‘daheim’) und im Krieg ’ Wir verschaffen uns erst einen Überblick über Zeitangaben und beschreiben dann die Rolle von Separativ, Lokativ und Direktiv in diesem System. F.2.1 Die Funktion von Zeitangaben ist prinzipiell eine der drei folgenden: • Positionierung einer Situation auf der Zeitachse, d.h. Angabe von Zeitpunkt oder Zeitraum: [58] Gestern hat Kanzlerin Merkel eine Erleuchtung gehabt [59] Seit gestern ist Winterzeit KU Eichstätt 146 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 • Bestimmung der Dauer einer Situation: [60] Er arbeitete den ganzen Nachmittag • Kombinationen von beidem: [61] Er arbeitete bis zum Sonnenuntergang F.2.1.1 Positionierung auf der Zeitachse Sie kann mit einer deiktischen oder einer nicht-deitkischen Technik erfolgen. 1. Das deiktische Verfahren ist die Einordnung einer Situation vom Referenzpunkt des Sprechers. Ausdrucksmittel dafür sind (a) die Hauptsatztempora veni, vidi, vici (b) deiktische Adverbien wie gestern, heute, morgen (c) genuine Zeitbegriffe wie Morgen, Abend, Nacht 2. Das nicht-dektische Verfahren ist die Einordnung einer Situation von einer anderen Situation aus. Ausdrucksmittel sind (a) das bezogene Tempus. In [62] wird durch das Tempus des 1. Hs., traduxerant, signalisiert, daß der Satz vor dem 2. Hs. . . . populabantur liegt. [62] Caes.Gall.1.11.1 Helvetii iam per . . . in Haeduorum fines pervenerant eorumque agros populabantur. ‘Die H. waren bereits in das Gebiet der Haeduer gelangt und verwüsteten deren Äcker’ (b) relative Adverbien wie pridie, postridie, postea etc. (c) eine andere Situation, die die Hauptsituation (den Hauptsatz) zeitlich einordnet, nämlich – Temporalsätze: cum Caesar in Galliam venisset, legati omnium gentium ad eum convenerunt: Das Zusammenströmen der Gesandten liegt zeitlich nach Caesars Ankunft in Gallien. – deverbale Situationsausdücke: nach meiner Ankunft; während der Verhandlungen – Situations-Substantive wie ‘nach dem Krieg’, ‘im Frieden’, ‘in meiner Kindheit’ 3. Schließlich kann zeitliche Einordnung auch durch Bezug auf kulturell determinierte Systeme wie Kalender (gregorianischer K., Heiligenkalender etc.) kalendarische Zeitbegriffe erfolgen: An den Iden des März / am 15. März. F.2.1.2 Zeitdauer verwenden wir als weiten Oberbegriff für alles was die interne Zeitstruktur einer Situation betrifft, wie stativ, dynamisch, telisch, also Informationen die mit mit den Begriffen ↑ Aktionsart und ↑ Aspekt assoziiert sind. Das ist eine prinzipiell nicht-deiktische Information. Zu den Ausdrucksmittel gehören 1. Tempus, im. Lat. in erster Linie das Imperfekt, vgl. Romam veniebam vs. Romam veni 2. lexikalische Zeitangaben zu Dauer und Frist: lange, kurz, zwei Stunden; binnen drei Tagen 3. Kombination mit einer anderen Situation, die ausgedrückt wird z.B. durch KU Eichstätt 147 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 (a) bestimmte temporale Nebensätze wie ‘solange als, solange bis’ (rusticus exspectat, dum defluat amnis); (b) deverbale Nominalkonstruktion (bis zum Eintritt des Waffenstillstandes). F.2.2 Die Rolle der Orts- → Zeit-Metaphorik in diesem System F.2.2.1 Der Separativ wird metaphorisch zur Angabe des Terminus a quo (»seit wann?« bzw. »nach welchem Zeitpunkt?«) verwendet. Ausdrucksformat ist immer ab / ex + Ablativ: 1. sehr häufig in Formeln wie: [63] ab adulescentia, ab ineunte adulescentia, ab iuventute, a pueritia, ab ineunte aetate, ab urbe condita. [64] Caes. Gal. 1.42.3 dies conloquio dictus est ex eo die quintus. 2. in Relativkonstruktionen: [65] Sen. contr.exc. 33 aetas, a qua aliquis filius esse desinit 3. in nominalisierten Sätzen: 4. Caes. Gal. 2.25.1 Caesar ab decimae legionis cohortatione ad dextrum cornu profectus est F.2.2.2 Der Direktiv wird metaphorisch zur Messung der Zeitdauer einer Situation verwendet (» wie lange?«, sog. Accusativus temporis): [66] Cic. Tusc. 5.57 Duodequadraginta annos tyrannus Syracusanorum fuit Dionysius, cum quinque et viginti natus annos dominatum occupavisset Der Quantor kann eine Kardinal- oder eine Ordinalzahl sein: [67] annos iam triginta tres in foro versaris [68] annum iam tricesimum quartum in foro versaris Mit der Kardinalzahl wird die Länge der verstrichenen Zeit gemessen, mit der Ordinalzahl der zur Sprechzeit erreichte Endpunkt bestimmt. Daher wird bei Ordinalzahlen der Wert um 1 erhöht. KU Eichstätt 148 Latinistik F. Heberlein F.2.2.3 Syntax I WS 2014-15 Der Lokativ wird verwendet zur Angabe • von Zeitpunkten bzw. Zeiträumen (»wann?«): • des Terminus ad quem, d.h. der Frist, binnen welcher die Hs.-Situation vollendet ist (»bis wann?«, »binnen welcher Frist?«) Zeitpunkte / Zeiträume: RH §156 [69] vesperi, noctu, hieme [70] in bello : bello Punico Ausdrucksformat: Das Lateinische grammatikalisiert den Unterschied zwischen originalen und abgeleiteten Zeitangaben durch unterschiedliche Verwendung von bloßem Ablativ und Ablativ + in: 1. originale Zeitangaben stehen im Lokativ bzw. Ablativ vgl. [69]. 2. abgeleitete Zeitangaben richten sich nach der vom modalen Ablativ (vgl. S. 126) her bekannten Faustregel ‘mit Attribut ↔ ohne Präposition’, ‘ohne Attribut ↔ mit Präposition’, vgl. [70]. 3. Ausnahme: wenn nicht Zeitpunkte bestimmt, sondern Zeitumstände, also Eigenschaften von Situationen, charakterisiert werden sollen, stehen auch originale Zeitangaben mit der Präp. in. [71] Ter.Andr.819 me nolo in tempore hoc videat senex 4. Zeitpunkte können natürlich auch multiplikativ (‘iterativ’) sein; das Ausdrucksformat ist »Ordinalzahl + quisque«: [72] Quinto quoque anno Olympia aguntur. Terminus ad quem Ein Terminus ad quem wird ausgedrückt durch Ablativ + Quantor (diebus paucis / viginti); ersetzt dynamisch-telische Aktionsart des Verbs voraus: [73] Caes.Gal.6.9.5 magno militum studio paucis diebus opus efficitur. [74] Caes.Gal.7.24.1 diebus viginti quinque aggerem exstruxerunt. Ein alternatives Ausdrucksformat ist die Präposition intra + Akk.: [75] Plaut. Curc. 442 Persas, Arabes, Cares . . . : dimidiam partem nationum subegit solus intra viginti dies KU Eichstätt 149 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Konkurrenz von Direktiv und Lokativ ergibt sich bei dynamischen Situationen. Der Endpunkt solcher Situationen kann bestimmt werden (1) (2) durch Messung ihrer Ausdehnung: durch Angabe ihres Endpunkts: Alexander tringinta tres annos natus mortuus est Alexander tricesimo quarto anno vitae suae mortuus est (1) basiert auf dem Direktiv (Akk. temporis) und beantwortet die Frage »wie lange lebte A.?«, (2) basiert auf dem Lokativ (Abl. temporis) und beantwortet die Frage »wann starb A.?« Die Verwendung der Kardinal- / Ordinalzahlen geschieht wie in §F.2.2.2. F.2.2.4 Zusätze Bezug auf die Gegenwart des Sprechers mit hic: Mit einem deiktischen Pronomen hic kann hervorgehoben werden, daß die Gegenwart des Sprechers der Bezugspunkt ist, von dem ab ein Zeitpunkt oder eine Frist bestimmt wird. [76] Cic.rep.1.58.6 Ancus his annis quadringentis Romae rex erat ‘A. war jetzt vor 400 Jahren König in Rom’ [77] me hoc triduo exspecta ∼ intra dies tres ‘Erwarte mich heute in drei Tagen’ Zeitangaben mit Multiplikativa: Wenn gesagt werden soll, daß innerhalb eines Zeitraums sich ein Vorgang wiederholt, steht auch bei echten Zeitbegriffen in: [78] bis in nocte ‘zweimal pro Nacht’ Kalenderangaben: Informieren Sie sich bei RH §276,2 wie man übersetzt: [79] Am 28. Januar. F.3 Separativ und Instrumental in der Komparation Der Separativ und der Instrumental werden in abgeleiteter Funktion innerhalb von Komparativkonstruktionen verwendet: • der Separativ dient dem Ausdruck des Secundum comparationis ([80]) • der Instrumental ist beteiligt am Ausdrucks des Tertium comparationis ([81]). [80] Marcus est prudentior Paulo [81] Marcus superat Paulum sapientia Wir beschreiben zunächst die Operation der Komparation. KU Eichstätt 150 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Komparation besteht aus drei Elementen, die in der folgenden Tabelle genannt werden; in der zweiten Zeile stehen die traditionellen, in der dritten die derzeit in der Linguistik üblichen Termini2 : Erika Primum comparationis Comparee ist größer ist so groß Tertium comparationis Parameter als Erich wie Secundum comparationis Standard • Das Secundum / der Standard ist die ‘Meßlatte’, also der vorgegebene Wert, an dem • das Primum / der Comparee gemessen wird. • Das Tertium / der Parameter ist der Maßstab, mit dem gemessen wird; er betrifft entweder Dimension (groß, breit) oder Qualität (schlau, dumm). Ein Komparativ weist einem Begriff keine absolute Eigenschaft zu, sondern nur einen Gradunterschied gegenüber der Eigenschaft eines anderen Begriffs. Es wird keinesfalls vorausgesetzt “Erika ist groß & Erich ist groß”, denn Erika könnte durchaus ein Baby sein. Haupttypen der Komparation 1. Komparation der Ungleichkeit (»inäquative Komparation«): ‘Erika ist größer als Erich’. Ausdrucksmittel sind im Lateinischen • der Abl.comp: Marcus est maior Paulo • der Partikel-Komparativ mit quam: Marcus est maior quam Paulus. • das Komparationsverb: Marcus superat Paulum magnitudine 2. Komparation der Gleichheit: ‘Erika ist so schlau wie Erich’. Ausdrucksmittel sind im Lateinischen: • beim Vergleich von gradierbaren Eigenschaften (»äquative Komparation«) (1) der Partikel-Komparativ mit quam + Adjektiv (vgl. [82f]), (2) das Komparationsverb + Substantiv im Ablativ (vgl. [84]): [82] Marcus est tam magnus quam Paulus. [83] Marcus currit tam celeriter quam Paulus [84] Marcus adaequat Paulum magnitudine • beim Vergleich von (nicht-gradierbaren) Situationen (»similative Komparation«) der Partikel-Komparativ mit ut, sicut, tamquam + Verb: [85] Nep.Hann.7.4 ut Romae duo consules, sic Carthagine annui bini reges creantur Das Ausdrucksformat mit quam ist das produktivste da es in beiden Subklassen der Komparation verwendbar ist; daher verdrängt es bis zum Spätlateinischen den Abl.comp. Wie beim Ersatz des Kasus durch Präposition haben wir hier also den Übergang von einer synthetischen zu einer analytischen Ausdrucksweise. 2 Die exakten, hier vereinfachten, traditionallen Termini lauten primum comparandum – secundum comparatum – tertium comparationis. KU Eichstätt 151 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 F.3.1 Die Funktionen des Separativs und Instrumentals in der Komparation sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt: Primum Tertium Secundum (1) (2) Marcus Marcus fratre amicum (3) Mons Corinthus maior est superat virtute adaequat virtute excellit altitudine est dimidio minor quam Roma ‘Abl. comparationis’ (RH §144) ‘Abl. limitationis’ (RH §152) dto. dto. ‘Abl. discriminis’ (RH §153) • In (1) basiert das Secundum comparationis auf dem Separativ • In (2) und (3) wird das Tertium comparationis, das durch die Komparationsverben superare und adaequare ausgedrückt wird, durch Ableitungen des Instrumentals spezifiziert. Die Spezifikation betrifft Qualität (virtute), Dimension (altitudine) oder Quantität (dimidio). F.3.2 Der Ablativus comparationis des Typs [86] Paulus est prudentior fratre ist also ein Ausdrucksmittel der Komparation der Ungleichheit. Er ist eine Abstraktionsform des Separativs, bei dem der konkrete Ausgangspunkt einer Bewegung durch den Referenzpunkt einer Perspektive ersetzt ist: maior sum fratre = ‘vom Bruder her gesehen bin ich älter’. Dieser Typ kommt in vielen Sprachen vor und wird kurz ‘Separativmodell’ genannt. Er grammatikalisiert die Perspektive des Secundum comparationis (‘Standard’), während der Typ maior sum quam frater, das ‘Partikel-Modell’, die Perspektive des Primum comparandum (‘Comparee’) grammatikalisiert3 . Syntaktische Verwendungsbeschränkungen: Der Abl. comp. ist weit weniger explizit als ein komparativischer quam- Satz und kann deshalb nur verwendet werden, wenn der Hörer den zugrundeliegenden Komparativsatz rekonstruieren kann, d.h. wenn der Abl.comp. dem Subjekt oder Objekt eines zugrundeliegenden Komparativsatzes mit quam entspricht: [87] Quid est ratione divinius? ← Quid est divinius quam ratio (sc. est)? [88] Neminem magis diligit matre → neminem magis diligit quam matrem (sc. diligit). 3 Ein ähnlicher Unterschied ist uns beim possessiven Dativ vs. habere mit Akk. begegnet, vgl. o. S.70. – Daß die Perspektive, aus der ein Sachverhalt betrachtet wird, anders ist als im Deutschen, ist uns beim Lokativ schon begegnet. Besonders instruktiv ist Beispiel [54]. KU Eichstätt 152 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 Vgl. dagegen: [89] Cur mihi magis suscensetis quam fratri ̸=Cur mihi magis suscensetis fratre. Wie würde sich in [89] der Sinn beim Ablativ ändern? ? Semantische Verwendungsbeschränkungen: das typische Anwendungsfeld des Abl.comp. sind hyperbolische Vergleiche des Typs stultior est stulto ‘er ist stockdumm’, bei denen also der Standard eigentlich die verglichene Eigenschaft schon im Höchstmaß besitzt. Daher eigent er sich auch zur Übersetzung entsprechender dt. Superlative wie in [91] und [92]: [90] Von den Sklaven ist einer schlitzohriger (nequam) als der andere. .............................. [91] Das Kleid ist schneeweiß (∼ weißer als der Schnee). .............................. [92] Agamemnon opferte Iphigenie, das schönste Mädchen, das es gab. .................................................................... Die Apposition »das schönste Mädchen . . . gab« in [92] muß in eine Relativkonstruktion umgeformt werden ∼ im Vergleich zu welcher . . . F.3.3 Der Instrumental als Spezifikator des Tertium comparationis Wir haben S. 116 schon darauf hingewiesen, daß Abstraktionsformen des Instrumentals zur Spezifikation des Tertium comparationis verwendet werden können. Es gibt folgende Varianten: Das Tertium comparationis ist ein Adjektiv im Komparativ – es wird durch einen Quantitätsausdruck spezifiziert: [93] Corinthus est dimidio minor quam Roma Während im Normaltyp Corinthus est minor quam Roma nur gesagt wird, daß Korinth auf einer Größenskala unter dem Fixpunkt Rom steht, ohne daß die Distanz zwischen der Größe Roms und Karthagos spezifiziert wird, wird in [93] durch Ausdrück wie dimidio ebendas geleistet. Das Tertium comparationis ist ein Komparationsverb und kann daher durch ein subst. Adverbiale im Ablativ spezifiziert werden: [94] Marcus superat / adaequat Paulum magnitudine KU Eichstätt 153 Latinistik F. Heberlein Syntax I WS 2014-15 [95] Marcus excellit magnitudine [96] Cicero ceteris oratoribus multo praestitit. Hierher gehören die Beispiele aus RH §152 (‘Abl. limitationis’) und §153,2 (‘Abl. discriminis’). Das Tertium comparationis ist hier auf zwei Satzglieder verteilt: das Verb signalisiert den Komparationstyp (Gleichheit / Ungleichheit), und der Ablativ enthält den semantischen Nukleus des tertium comparationis. Bei den Typen [94] und [95] liegt eine abstrakte Variante des Instrumentals vor (Übergang Instrument → Grund → Geltungsbereich, vgl. o. §E.3), bei [96] ist sie auf auf einen Quantor reduziert. Das Secundum comparationis bei Komparationsverben. Wir dürfen das Secundum comparationis in Fällen wie [94]—[96] nicht konfundieren mit dem Secundum comparationis im Typ [86], das auf dem Separativmodell beruht. Dort steht es immer im Ablativ, hier dagegen steht es in dem Kasus, den die Valenz des Komparationsverbs vorsieht; in [94] ist das etwa der Akkusativ, in [96] der Ablativ. Außerdem kann das Secundum comparationis unausgedrückt bleiben, wenn es, wie in [95], eine nicht weiter spezifizierte ‘Allgemeinheit’ ausdrückt. ? Wir haben auf S. 75 gesagt, daß bei Komparationsverben, die auf Bewegungsverben beruhen, das Secundum comparationis teils im Dativ teils im Akkusativ steht. Übersetzen Sie mit den Verben superare, antecellere, praestare und ante-/praecedere: [97] Crassus übertraf alle an Reichtum. Lernen sie die Ausdrücke in §152, 2. ? Andere Beispiele bei RH §152 wie [98] deficere animo [99] iudicare opinione ‘nach seinem Gutdünken beurteilen’ [100] stare promissis gehören nicht in den Bereich der Komparation, da die oben §F.3 beschriebene Komparations-Struktur nicht gegeben ist. Es handelt sich um Varianten des: [98] Separativs, [99] Instrumentals, [100] Lokativs. Weiterführende Information Zum Kasussynkretismus beim Ablativ Übersicht: KU Eichstätt 154 Latinistik F. Heberlein Instrumental hast-ā ↓ hast-ā cum febri Syntax I Vokalische Stämme Lokativ Separativ Roma-ĭ Rom-ād / mar-īd ↓ ↓ Roma-e Rom-ā / marī in Graeciā ex Graeciā WS 2014-15 Konsonantische Stämme Lokativ Carthagin-ĭ ↓ Carthagin-e ex urbe praeclara Die Ursachen für diesen Kasussynkretismus sind folgende: • Lautentwicklung: Hier muß man die vokalischen Stämme und die konsonantischen auseinanderhalten, weil sie unterschiedliche Entwicklungen genommen haben4 : – Vokalische Stämme: (a) Der Separativ hatte in den italischen Sprachen bei allen vokalischen Stämmen die Form ‘Stammvokal +d’, also ōd ād, ı̄d, ūd. Durch Abfall des -d wird daraus ō, ā, ī, ū: Romād → Romā. (b) Der Instrumental wurde durch einfache Längung des Stammvokals gekennzeichnet, also durch ō, ā, ī, ū, z.B. hastā. D.h.: nach Verlust des -d beim Separativ waren Instrumental und Separativ lautidentisch. (c) Der Lokativ auf ı̆ war schon im frühen Latein durch Präpositionen verdrängt worden und hat sich nur in erstarrten Wendungen wie domi militiaeque und bei Ortsnamen erhalten. – Konsonatische Stämme: Diese hatten mangels Stammauslaut keine Möglichkeit, einen Instrumental oder Separativ nach dem obigen Muster zu bilden (der Separativ war vielmehr mit dem Genitiv identisch). Die Endung beruht daher auf dem Lokativ -i, das am Wortende zu ĕ verdumpft wird: consuli → consule. Analog zu den vokalischen Stämmen hat diese Endung dann die Funktion des Instrumentals und des Separativs mit übernommen. • Redundanz des Kasuszeichens: die separative oder lokative Bedeutung eines Nomens wird in erster Linie durch die lexikalische Bedeutung des übergeordneten Verbs vermittelt; So folgt etwa aus der Bedeutung von excedo, daß das Subjekt sich von einem Ort ‘trennt’. Damit erübrigt sich eine Kennzeichnung der semantischen Funktion durch den Kasus. • Verdrängung durch Präpositionen: diese werden als expliziter empfunden, so daß der Separativ (Romā) teilweise, der Lokativ (Roma-ī) fast zur Gänze verdrängt wird. Auch das begünstigt die formale Zusammenfassung der Restklassen. Literatur: Zur Morphologie: G. Meiser, Historische Laut- und Formenlehre, 1999.– Zum kausalen Ablativ: H. Pinkster, On Latin Adverbs, 1972, 84ff.– Zum instrumentalen, modalen und soziativen Ablativ.: E. Vester, Instrument and Manner Expressions in Latin, 1983, 47ff. – 4 Vgl. HS I, 407ff KU Eichstätt 155 Latinistik