Lateinische Syntax I

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Lateinische Syntax I
Modul Lateinische Sprache: Grundkurs I
Wintersemester 2014-15
Die grammatischen Relationen im Satz
Dieses Skript soll Ihnen helfen, sich die Syntax und Semantik der satzinternen Relationen des Lateinischen zu erarbeiten. Es setzt voraus, daß Sie die
entsprechenden Abschnitte bei Rubenbauer–Hofmann–Heine durchgearbeitet
haben.
Wir verwenden folgende Abkürzungen:
RH — = Rubenbauer – Hofmann – Heine: Lateinische Grammatik 121995 (die
Schulgrammatik, mit der wir arbeiten).
KS — = Kühner-Stegmann: Lateinische Syntax, 1918 (das deskriptive Standardwerk; da schauen Sie als erstes nach, wenn Sie mehr Information brauchen)
Kienpointner — = M. Kienpointner, Kontrastive Lateinisch-deutsche Syntax, 2010
HS — = J.B. Hofmann –A. Szantyr, Lat. Syntax, in: J.B. Hofmann – M. Leumann
– A. Szantyr, Lateinische Grammatik. Bd. 1: Laut- und Formenlehre 1977,
Bd. 2: Syntax 1965 (historisches Standardwerk)
Givón — = T. Givón, Syntax. 2000. Eine Syntax auf typologischer (sprachvergelichender) Basis. Wichtig als theoretische Grundlage.
MBS — = Menge – Burkard – Schauer: Lehrbuch der lateinischen Syntax und
Semantik, 2000. Das benutzt man als Nachschlagewerk für Fragen der dt.lat. Übersetzung, die in RH nicht beantwortet werden. Mehrere Ex. in der
Lehrbuchsammlung.
M — = Menge: Repetitorium der lat. Syntax: der Vorgänger von MBS, für Fragen
der Übersetzung, die von MBS nicht geklärt werden, nach wie vor sehr nützlich
LSS — = H. Pinkster, Lateinische Syntax und Semantik, Tübingen 1988 (das relativ ‘modernste’ der hier aufgeführten Bücher; als Begleitlektüre zu empfehlen)
Meiser — = G. Meiser, Historische Laut- und Formenlehre der lateinischen Sprache.
1999.
Baldi — = Ph. Baldi, Foundations of Latin. 1999.
Die beiden letzgenannten Titel ziehen wir heran, wenn es um die Klärung
sprachhistorischer Probleme geht.
Bußmann — = H. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft. 2006
Glück — = H. Glück, Metzler Lexikon Sprachwissenschaft. 1999
Hinweise für Ihre Arbeit:
1. Lesen Sie vor der Bearbeitung die angegebenen §§ bei Rubenbauer-Hofmann
2. Dann arbeiten Sie das Skript durch und übersetzen dabei alle Beispielsätze
so genau wie möglich. Ein Beispiel das mit eckigen Klammern numeriert ist
— [1] — ist neu, eines mit runden Klammern — (1) — ist vorher schon einmal
verwendet worden.
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
3. Neben dem Haupttext finden Sie Zusatzinformation in diesem Schriftgrad; die müssen
Sie nur passiv beherrschen.
4. in Zeilen, vor denen Sie das Zeichen ? finden, stehen Aufgaben, die Sie
lösen sollten. Wenn Sie das auch mit Hilfe von Wörterbuch, RH oder KS nicht
schaffen, notieren Sie sich bitte Ihr Problem und bringen Sie es im Kurs zur
Sprache
5. ↑ bedeutet, daß Sie einen Begriff bei Bußmann oder Glück klären sollten.
Die jeweils neueste Version dieser Skripten finden Sie an folgender Internetadresse:
http://www.ku-eichstaett.de/Fakultaeten/SLF/Philologie/Hinweise/Syntax/
KU Eichstätt
2
Latinistik
Inhaltsverzeichnis
A Grundbegriffe der Satzstruktur
11
A.1 Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
A.1.1 Relationale und absolute Ausdrücke . . . . . . . . . . . .
12
A.1.1.1
Inhärent relationale Ausdrücke . . . . . . . . .
12
A.1.1.2
Absolute Ausdrücke . . . . . . . . . . . . . . . .
14
A.1.1.3
Änderung der Relationalität . . . . . . . . . . .
15
A.1.2 Ausdrucksmittel der Relationalität . . . . . . . . . . . . .
15
A.2 Die Struktur des Satzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
A.2.1 Semantische und syntaktische Relationen . . . . . . . . .
17
A.2.2 Valenz und Satzstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
A.2.2.1
Situationstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
A.2.2.2
Determinationsgrade . . . . . . . . . . . . . . .
19
A.2.3 Semantische Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
A.2.4 Syntaktische Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
A.2.5 Komplexe und diskontinuierliche Satzglieder . . . . . .
23
A.2.5.1
Unterschiede zwischen Deutsch und Lateinisch
23
A.2.5.2
Formen komplexer Satzglieder . . . . . . . . .
24
A.2.6 Eine Liste wichtiger Satzstrukturen . . . . . . . . . . . .
25
A.3 Ausdrucksmittel satzinterner syntaktischer Relationen . . . . .
29
A.3.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
A.3.2 Kasus, Kongruenz und Präposition im Lateinischen . .
30
A.3.3 Charakteristika des lateinischen Kasussystems . . . . . .
31
A.3.3.1
Obliquer und kongruenter Kasus . . . . . . . .
31
A.3.3.2
Grammatische und konkrete Kasus . . . . . . .
31
A.3.3.3
Kasus und Präpositionen im klass. Latein . . .
34
A.3.3.4
Ableitung von Adverbien mittels Kasusformen
35
A.3.3.5
Die Entwicklung im Spätlatein . . . . . . . . .
35
3
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
B Direkte Partizipation: Subjekt und direktes Objekt
37
B.1 Das Subjekt und seine Sonderstellung . . . . . . . . . . . . . . .
37
B.2 Syntax des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
B.2.1
Nominale und satzförmige Subjekte . . . . . . . . . . . .
39
B.2.2
Mit dem Subjekt kongruierende Ausdrücke . . . . . . .
39
B.2.2.1
Kongruenz bei pronominalem Subjekt . . . . .
40
B.2.2.2
Syntax und Semantik der Prädikatsnomina . .
41
B.3 Das direkte Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
B.3.1
Transitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
B.3.1.1
Die Skala der Transitivität . . . . . . . . . . . .
44
B.3.1.2
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Transitivierung und Intransitivierung . . . . . . . . . . .
45
B.3.2.1
Obliquer Kasus wird direktes Objekt
. . . . .
45
B.3.2.2
Transitivierung durch Präverbierung . . . . . .
47
B.3.2.3
Transitivierung durch Bedeutungswandel . . .
48
B.3.2.4
Absoluter Gebrauch, Ellipse, Intransitivierung
50
Verben mit vager Diathese . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
B.4 Nominalisierung transitiver und intransitiver Sätze . . . . . . .
54
B.5 Nicht-transitive Verben mit einem Akkusativobjekt . . . . . . .
55
B.3.2
B.3.3
B.5.1
B.5.2
Unpersönliche Verben mit Akkusativ der Person . . . .
56
B.5.1.1
57
Ausdrucksformate . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sog. ‘Inneres Objekt’
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
B.5.2.1
Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
B.5.2.2
Abgrenzung gegen pronominale Objekte . . .
59
B.6 Doppelter Akkusativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
B.6.1
Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
B.6.2
Der Typ ‘doppeltes Objekt’ . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
B.6.3
Der Typ AkkObj + Prädikatsnomen . . . . . . . . . . . .
63
B.7 Weiterführende Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
C Indirekte Partizipation: Der Dativ und seine Konkurrenzausdrücke 67
C.1 Semantische Varianten indirekter Partizipation . . . . . . . . . .
67
C.2 Syntaktische Funktionen indirekter Partizipanten . . . . . . . .
69
C.2.1 Der adverbiale Dativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
C.2.1.1
KU Eichstätt
Der adverbiale Dativ bezeichnet eine Person .
4
69
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
C.2.1.2
WS 2014-15
Der adverbiale Dativ bezeichnet einen Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
C.2.2 Der Dativ als Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
C.2.2.1
Der Dativ als einziges Objekt . . . . . . . . . .
71
C.2.2.2
Indirektes Objekt bei Adjektiven . . . . . . . .
73
C.2.2.3
Kombination von Dativobjekt mit Akkusativobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Ein Spezialfall: indirekte Partizipanten als Secundum comparationis . . . . . . . . . . . . . .
74
C.2.2.4
C.2.3 Alternative Ausdrucksformate für indirekte Partizipation 76
C.2.3.1
Präposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
C.2.3.2
Nebensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
C.2.4 Wechsel der Kasuskonfiguration . . . . . . . . . . . . . .
77
C.2.4.1
Nutznießer vs. Patiens . . . . . . . . . . . . . .
77
C.2.4.2
Kombination von indirektem Objekt und Possessor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
C.2.5 Doppelter Dativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
C.2.5.1
Prädikatsnomen bei esse . . . . . . . . . . . . .
80
C.2.5.2
Objekt der Sache bei dare, tribuere, vertere . . . .
81
C.3 Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
D Kategorisierung
87
D.1 Partitiv-Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
D.1.1 Zwei Arten von Partitiv-Relationen . . . . . . . . . . . .
89
D.1.1.1
Echte Partitivkonstruktionen . . . . . . . . . . .
90
D.1.1.2
Pseudo-Partitivkonstruktionen . . . . . . . . .
93
D.1.2 Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
D.2 Possessiv-Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
D.2.1 Possession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
D.2.1.1
Semantik der Possessivkonstruktionen . . . . .
98
D.2.1.2
Pronomina in Possessivkonstruktionen . . . . .
99
D.2.2 Abstrakte Extensionen des possessiven Genitivs . . . . .
100
D.3 Qualitative und quantitative Kategorisierung . . . . . . . . . . .
101
D.3.1 Genitivus bzw. Ablativus »qualitatis« und »pretii« . . .
101
D.3.1.1
KU Eichstätt
Genitiv und Ablativ bei Verben für »Einschätzen« und »Kaufen« . . . . . . . . . . . . . . . .
5
102
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
D.4 Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
D.4.1 »Mnestische« Verben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
D.4.1.1
Ausdrucksformate . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
D.4.1.2
Satzförmige Objekte . . . . . . . . . . . . . . . .
106
D.4.2 Verben der Rechtssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
D.4.2.1
Ausdrucksformate . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
D.4.2.2
Metaphorische Ableitungen . . . . . . . . . . .
108
D.4.3 Unpersönliche Verba affectus . . . . . . . . . . . . . . . .
108
D.4.3.1
Alternative Ausdrucksformate . . . . . . . . . .
109
D.5 Das Genitivobjekt bei interest / refert . . . . . . . . . . . . . . .
110
E Konkomitanz
115
E.1 Polysemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
E.1.1
Kompensation der Polysemie . . . . . . . . . . . . . . . .
116
E.1.1.1
Semantische Variation . . . . . . . . . . . . . . .
116
E.1.1.2
Syntaktische Variation . . . . . . . . . . . . . .
117
E.1.1.3
Klassifikationskriterien . . . . . . . . . . . . . .
119
E.2 Der Soziativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
E.2.1
Der Prototyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
E.2.2
Semantische und syntaktische Variation . . . . . . . . .
120
E.2.3
Ausdrucksformate des Soziativs . . . . . . . . . . . . . .
122
E.3 Der Instrumental . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
E.3.1
Der Prototyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
E.3.2
Ableitungen durch lexikalische Variation des Instrumentals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
E.3.2.1
Das ‘Instrument’ ist ein Körperteil . . . . . . .
124
E.3.2.2
Das ‘Instrument’ ist ein Beförderungsmittel . .
124
E.3.2.3
Das ‘Instrument’ ist eine Masse . . . . . . . . .
124
E.3.2.4
Das ‘Instrument’ ist abstrakt oder wird figurativ verwendet . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
Das ‘Instrument’ bezeichet eine Eigenschaft der
Handlung: ‘Ablativus modi’ . . . . . . . . . . .
126
Kombination aus Ablativus modi und Secundum Comparationis . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
Ableitung durch Wechsel der Aktionsart: der ‘Ablativus
causae’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
E.3.2.5
E.3.2.6
E.3.3
KU Eichstätt
123
6
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
E.3.3.1
WS 2014-15
Der Ablativus causae bei RH §151 . . . . . . .
E.3.4
Lexikalische Spezialisierung des Hauptverbs: der »Ablativus pretii« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
E.3.5
Grammatikalisierung des Instrumentals als Objekt . . .
F Lokale Relationen: Separativ, Lokativ, Direktiv, Pfad
F.1
135
F.1.1
Ausdrucksformate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
F.1.2
Der Separativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
F.1.2.1
Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138
F.1.2.2
Zur Semantik und Syntax der Separativverben
138
F.1.2.3
Phraseologie und Idiomatik . . . . . . . . . . .
140
Extensionen des Separativs . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
F.1.3.1
Der Ablativus originis . . . . . . . . . . . . . .
141
F.1.3.2
Der Agentive Ablativ . . . . . . . . . . . . . . .
141
F.1.4
Lokativ und Direktiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142
F.1.5
Perspektivierung lokaler Relationen . . . . . . . . . . . .
143
F.1.5.1
F.1.5.2
Beispiele für unterschiedliche Perspektivierung
zwischen Deutsch und Latein . . . . . . . . . .
144
Änderung der Perspektive durch Präverbierung 145
Von der Orts- zur Zeitangabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146
F.2.1
Die Funktion von Zeitangaben . . . . . . . . . . . . . . .
146
F.2.1.1
Positionierung auf der Zeitachse . . . . . . . .
147
F.2.1.2
Zeitdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
F.2.2
F.3
129
Lokale Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
F.1.3
F.2
128
Die Rolle der Orts- → Zeit-Metaphorik in diesem System 148
F.2.2.1
Der Separativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
148
F.2.2.2
Der Direktiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
148
F.2.2.3
Der Lokativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
F.2.2.4
Zusätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
Separativ und Instrumental in der Komparation . . . . . . . . .
F.3.1
150
Die Funktionen des Separativs und Instrumentals in der
Komparation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
152
F.3.2
Der Ablativus comparationis . . . . . . . . . . . . . . . .
152
F.3.3
Der Instrumental als Spezifikator des Tertium comparationis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
KU Eichstätt
7
Latinistik
Warum beschäftigen wir uns mit lateinischer Grammatik?
Wir könnten auf diese Frage zunächst eine simple Antwort geben: die ‘Autoritäten’ wollen es so:
• die für uns maßgebliche Lehramtsprüfungsordnung verlangt in unannachahmlicher Kunstprosa (a) Beherrschung der Grammatik des klass.
Latein, (b) Kenntnisse auf dem Gebiet der Sprachgeschichte und (c) der
historischen Grammatik. Dem Punkt (a) gelten unsere Grammatikkurse,
die Punkte (b) und (c) werden durch sie teilweise abgedeckt; weitere
Lehrveranstaltungen erbringen den Rest
• Didaktik und auch die Lehrpläne führen als Begründung für den Lateinunterricht an, daß das Lateinische Reflexionssprache sei, wogegen Englisch natürlich als Kommunkationssprache gelehrt werde1 .
Nehem wir einmal ohne weitere Diskussion2 an, daß diese Forderungen und
Begründungen sinnvoll sind: dann stellt sich uns die Frage,
welche Kenntnisse wir selbst erwerben müssen, um das Lateinische als
Reflexionssprache zu lehren,
um also Schüler im bewußten Vergleich mit seiner Muttersprache einen Einblick in sprachliche Strukturen, Operationen und Entwicklungen zu geben3 .
Sprachunterricht in ‘Kommunikationssprachen’ kann sich mit der Vermittlung
intuitiver Sprachkompentenz begnügen und tut das oft auch (Motto: ‘Hauptsache sie können ihre Pizza auf Italienisch bestellen’). Sprachunterricht in einer
Reflexionssprache muß klärlich auch ein gewisses Maß an kognitiver Sprachkompentenz vermitteln. Damit stellen sich für uns von vorneherein höhere
Anforderungen. Denn natürlich müssen Lehrer in beiden Bereichen selbst
über kognitive Sprachkompetenz verfügen, aber nur das Lateinlehrer muß
diese auch dem Schüler vermitteln, wenn er den Begriff ‘Reflexionssprache’
ernst nimmt.
Wir müssen also imstande sein, zweierlei zu tun:
1. Aufgrund unserer kognitiven Sprachkompentenz im Lateinischen den Aufbau der intuitiven Sprachkompetenz beim Schüler unterstützen. Die relevanten Teilbereiche sind dabei
(a) Erwerb des Lexikons
(b) Kenntnis der Wortkategorien (Substantiv, Verb etc.)
(c) Kenntnis der syntakt. Kategorien und Relationen (Satzglieder; syntakt.
Konstruktionen)
(d) Nebensatz-Operationen
1 Guter
Überblick bei K. Westphalen, Basissprache Latein. Bamberg 1992.
Diskussion um die Funktion des Lateinunterrichts ist bekanntlich uferlos. Eine erste Orieentierung finden sie bei K. Westphalen, Latein oder Französisch?, Forum Classicum 46, 2003, 3ff.
3 Eine gute Einführung zum folgenden findet sich bei P. Portmann-Tselikas, Kognitive Linguistik und Spracherwerb, AU 46 4+5, 72ff
2 Die
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
(Die vorstehende Liste beschreibt den üblicherweise angenommenen Weg des
Erwerbs muttersprachlicher Kompetenz; für das Erlernen einer Zweitsprache
ist die Reihenfolge natürlich weniger wichtig).
2. Aufgrund unserer kognitiven Sprachkompetenz dem Schüler ebenfalls ein
möglichst hohes Maß an kognitiver Sprachkompetenz zu vermitteln, die ihn
zur Sprachreflexion befähigt.
Die traditionellen Verfahren des Lateinunterrichts, Übersetzen und Interpretieren, können dabei auch propädeutische Funktion für die der Sprachkompetenz übergeordnete kommunikative Kompetenz haben, d. h. einen Beitrag liefern
zur Entwicklung von
(a) soziolinguistischer Kompetenz: Kenntnis der Situationsangemessenheit
einer Äußerung (‘Aptum’)
(b) Textkompentenz: Befähigung zur Textmusterkenntnis (Erzählen, Beschreiben, Explizieren, Argumentieren) und zur Herstellung von Textkohärenz
(c) Kompentenz zur sprachlichen Problemlösung (‘wie mache ich was wem
am besten verständlich?’)
Diese Ziele lassen sich natürlich nur erreichen, wenn man nicht die Unterschiede zwischen Deutsch und Lateinisch glattbügelt, wie das manche Unterrichtswerke tun, sondern im Gegenteil hervorhebt und analysiert.
Da Entwicklung intuitiver Sprachkompentez an die muttersprachliche Kompentenz anschließt, ist das natürliche Operationsfeld der Sprachreflexion dort,
wo Sprachphänomene nicht auf der Basis muttersprachlicher Intuition verstehbar sind. Beispiele gibt es zuhauf; denken wir nur an die Konkurrenz
zweier Präterita (Pf. und Impf) im Lateinischen, wo Sprecher des Dt. nur eines benutzen; an den Konj. im Nebensatz; an die freie Wortstellung und das
Fehlen genuiner Satzglieder, was zu Problemen wie dem sog. ‘Prädikativum’
führt – vieles andere Derartiges wird uns in den Syntaxkursen noch begegnen.
Kurz: Um kognitive Sprachkompetenz zu erwerben und vermitteln zu
können, betreiben wir hier lateinische Grammatik.
KU Eichstätt
10
Latinistik
Kapitel A
Grundbegriffe der Satzstruktur
Bevor wir mit der konkreten Arbeit dieses Semesters, dem Ausdruck der grammatischen
Relationen im lateinischen Satz, beginnen, müssen wir vorab einige wichtige Grundbegriffe klären, nämlich (1) Relationalität, Valenz und Dependenz; (2) Semantische und
syntaktische Relationen.
Arbeiten Sie bitte dieses Kapitel sorgfältig durch, da wir keine Zeit haben, es im Kurs in
extenso zu besprechen. Überlegen Sie, ob Ihnen etwas unklar geblieben ist und stellen Sie
im Kurs dann entsprechende Fragen.
Literatur
Eine brauchbare Einführung in das vorliegende Thema findet man in keiner Lateingrammatik, wohl aber bei Givón (s. Lit.-vz. Kap. 1-3). Die beste Arbeit zu Relationalität und Valenz im Lateinischen ist: Chr. Lehmann, Latin valency in typological perspective. In: A.M.
Bolkestein, C.H.M. Kroon, H. Pinkster, H.W. Remmelink & R. Risselada (eds), ‘Theory
and description in Latin linguistics’. Amsterdam 2002. Die Unterschiede zum Deutschen
werden herausgearbeitet bei M. Kienpointner, Konstrastive Syntax Lateinisch–Deutsch,
Tübingen 2010.
A.1 Relationalität
Wir beginnen mit zwei Beispielen:
[1] Orgetorix M. Messala M. Pisone consulibus regni cupiditate inductus
coniurationem nobilitatis fecit
“Orgetorix, getrieben von seiner Herrschgier, machte unter dem Konsulat von
Messala und Piso eine Verschwörung des Adels . . . ”
[2] . . . et civitati persuasit, ut de finibus suis cum omnibus copiis exirent
“ . . . und überredete die Bürger, aus ihrem Gebiet mit all ihrer Habe auszuwandern” (Caes.Gal. 1,2,1).
Sie zeigen uns, daß ein Satz kein x-beliebiger Haufen von Wörtern ist, sondern
durch bestimmte Relationen organisiert wird. Wir legen für das folgende das
Strukturdiagramm von Bsp. [1] auf S. 12 zugrunde.
Erläuterungen:
11
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Abbildung A.1: Strukturbaum von Bsp. [1]
1. Pfeile von oben nach unten bedeuten Rektion, solchen von unten nach oben Modifikation. Da wir in §A.1 feststellen werden, daß nicht nur Verben, sondern auch bestimmte
Adj. und Subst. inhärent relational sind, haben wir bei den Attributen zwei Möglichkeiten:
(1) sie sind von ihrem Nukleus regiert: coniurationem nobilitatis, cupiditate regni (2) sie
modifizieren ihren Nukleus: Orgetorix inductus; das ist der Normalfall.
2. Der Ablativus Absolutus Messala . . . consulibus hat die semantische Funktion temporal (‘unter dem Konsulat des M. und P.’) und die synt. Funktion Adverbiale. Die synt.
Kategorie ist Nominalsatz, d.h. consulibus hängt nicht von . . . Pisone ab, sondern die
beiden Elemente sind iuxtaponiert.
A.1.1 Relationale und absolute Ausdrücke
Die Relation, die ein bestimmter Ausdruck mit einem anderen eingeht, kann
auf seiner Bedeutung beruhen (so etwa bei Verben); ein solcher Ausdruck
besitzt also inhärente Relationalität – er bedarf zu seiner Vervollständigung
eines anderen Ausdrucks. Neben diese relationalen Ausdrucken gibt es absolute
Ausdrücke, deren Bedeutung keine Relation zu einem anderen Ausdruck impliziert. Das gilt z.B. für die Namen in [1] und [2] und für civitas in [2]. Wir
beschäftigen uns zunächst mit den relationalen Ausdrücken.
A.1.1.1
Inhärent relationale Ausdrücke
Sie gliedern sich in zwei große Gruppen:
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Gruppe I: Der relationale Ausdruck ist Nukleus einer Struktur
1. Eine hervorstechende Eigenschaft der Wortart Verbum ist es offenbar, andere Ausdrücke an sich zu binden. Es bildet also eine Struktur, nämlich einen
Satz, deren Zentrum oder Nukleus das Verb ist ist: In [1] und [2] sind die Verben fett gedruckt und die vom Verb gebundenen Ausdrücke sind kursiv; dabei
handelt es sich in [1] um das Subjekt Orgetorix und das Akk.-Objekt coniurationem, in [2] um das Dat.-Objekt civitati und das Akk.-Objekt ut . . . exirent1 .
Ein einfacher, wenn auch unscharfer Test für diese ‘Bindungsfähigkeit’ ist die
Weglaßprobe: läßt man eines der Satzglieder weg, kollabiert die syntaktische
Struktur des Satzes. Das Satzgerüst von [1] lautet demnach:
Orgetorix coniurationem fecit.
Diese Eigenschaft des Verbs, aufgrund seiner Bedeutung andere Ausdrücke zu
binden oder, anders gesagt, ‘Ergänzungen’ zu fordern, nennt man die Valenz
des Verbs. Technisch ausgedrückt bedeutet Valenz, daß das Verb eine oder
mehrere Leerstellen eröffnet, die von Subjekt und Objekten besetzt werden;
Subjekt und Objekte sind also die Leerstellenbesetzer des Prädikats; in Abb. A.2
sind die Leerstellen mit | | gekennzeichnet.
↙
||fecit||
↘
Subjekt
Orgetorix
Akk.-Obj.
coniurationem
Abbildung A.2: Valenz
2. Auch andere Wortarten können Valenz besitzen. So impliziert coniurationem in [1] ebenso wie das zugehörige Verb coniurare die Existenz eines ‘Verschwörers’ (hier civitas). Und cupiditas im selben Satz impliziert ebenso wie
das zugehörige Adjektiv cupidus die Existenz eines Objekts, auf das sich die
Begierde richtet (hier regni). Regni und nobilitatis sind also durch die Valenz
von cupiditas bzw. coniuratio gebunden.
Auch diese Substantive sind Nukleus der von ihnen gebildeten Struktur, nämlich des Satzgliedes.
3. Weil relationale Ausdrucke der genannten Art die Existenz ihrer ‘Ergänzungen’ begründen, können wir sagen, daß sie diese Ergänzungen regieren,
daß sie das Regens sind. Von den Ergänzungen aus gesehen heißt das, daß sie
von den Valenzträger abhängen.
Gruppe II: Der relationale Ausdruck ist Modifikator einer Struktur:
1. Es gibt auch Wortarten mit inhärenter Relationalität, die keine Struktur
bilden, sondern eine Struktur voraussetzen, in die sie sich integrieren können.
1 Warum
dieser ut-Satz Akkusativobjekt ist klären wir weiter unten.
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Syntax I
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Typ. Beispiel dafür sind die Adjektive, wie inductus und omnibus in [1] und
[2].
inductus und omnibus sind zwar relational, weil sie eine Leerstelle für einen
Substantivbegriff eröffnen, den sie durch Aufnahme in diese Leerstelle näher bestimmen. Sie setzen aber die Existenz dieses Substantivbegriffs voraus
und sind somit nicht ‘strukturbildend’, sondern ‘strukturvoraussetzend’. Das
zeigt uns wieder die ‘Weglaßprobe’: inductus und omnibus können weggelassen werden, ohne daß die syntaktische Struktur des Satzes kollabiert. Daher
können wir sagen, daß inductus und omnibus von ihrem jeweiligen syntaktischen Nukleus, Orgetorix bzw. copiis, abhängig sind.
2. Die semantische Funktion solcher »attributiven« Adjektive ist die nähere
Bestimmung, technisch gesagt: die Modifikation des übergeordneten Nominals. Eine ähnliche Funktion, jedoch gegenüber dem Verb, haben die Adverbien und Adverbialien. Wir können beide daher unter dem Begriff Modifikatoren zusammenfassen und den übergeordneten Ausdruck das Modifikatum
nennen.
Ein weiteres Argument für die Abhängigkeit des Modifikators von Modifikatum ergibt sich
aus dem Umstand, daß nicht die Modifikatoren, sondern das Modifikatum die syntaktische
Kategorie des Gesamtausdrucks determiniert. In einem Satz wie Puella pulchra se in
speculo contemplatur hat puella pulchra dieselbe syntaktische Funktion wie puella alleine;
technisch gesagt: es hat dieselbe Distribution. Es bleibt also prinzipiell ein SubstantivAusdruck und wird nicht etwa zum Adjektiv, vgl. Tab. A.1:
Puella
Puella pulchra
Form
Substantiv
Substantiv-Gruppe
Synt. Kategorie
Substantivale
Substantivale
Tabelle A.1: Wortart und syntaktische Kategorie. Der Begriff ‘Substantivale’ ist analog zu dem
Begriff ‘Adverbiale’ gebildet von Chr. Lehmann, um den Unterschied zwischen Wortart und syntaktischer Kategorie erfassen zu können.
Der Unterschied auf den Begriff gebracht:
• Nuklei bilden Strukturen und regieren ihre Satelliten: Rektion.
• Modifikatoren dagegen setzen eine Struktur voraus und modifizieren ihren
Nukleus semantisch: Modifikation.
A.1.1.2
Absolute Ausdrücke
Sie bgründen keine Relation, und müssen deshalb auf andere weise in der
Struktur eines Satzes verankert werden; dafür gibt es zwei Techniken:
• Leerstellenbesetzung:
Orgetorix ist Subjekt, besetzt also, wie wir oben anhand von Abb. A.2 gesagt
haben, eine Leerstelle von fecit und wird so in die von fecit gebildete Struktur
aufgenommen
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• Relationalisierung durch syntaktische Abhängigkeit:
Ein absoluter Ausdruck wird ‘künstlich’, nämlich mit syntaktischen Mitteln,
relational gemacht. Die geläufigsten in Indoeuropäischen Sprachen hierfür
sind Versetzung in einen Kasus obliquus oder Kombination mit einer Präposition. Ein Beispiel für ersteres ist consulibus in [1], eines für letzteres cum
. . . copiis in [2]. Durch diese Mittel werden absolute Ausdrücke unselbstständig und signalisieren, daß sie eine Relation zu einem ‘syntaktischen Anker’
eingehen. Für die ‘Adverbialien’ consulibus und cum copiis ist der syntaktische
Anker fecit bzw. exirent.
A.1.1.3
Änderung der Relationalität
Relationalität kann durch grammatische Operationen erweitert oder reduziert werden.
1. Ein Beispiel für Erweiterung der Relationalität im Deutschen ist ist die sog.
Präverbierung mit be-, durch welche ein Intransitivum ein direktes Objekt erhält:
[3] Hans malt → Hans bemalt die Wand.
Solche Fälle besprechen wir in §B.3.2.
2. Beispiele für die Reduktion der Relationalität sind das Passiv und alle infiniten Verbformen:
[4] Hans deckt das Dach → Das Dach ist frisch gedeckt.
[5] Marcus legit librum ciceronis → iuvat librum Ciceronis legere
Beim Passiv wird der Agens aus der Relationalität des Verbs entfernt, beim
Infinitiv das Subjekt (daß sich diese Reduktion auf ddie syntaktische Ebene
beschränkt, klären wir andernorts).
A.1.2 Ausdrucksmittel der Relationalität
Wenn ein Ausdruck relational ist, kann das formal angezeigt werden; obligatorisch ist das aber nicht. Im Lateinischen und im Deutschen ist es die Regel,
im Englischen dagegen weniger häufig (vgl.u.). Im Lateinischen liegen die
Dinge so:
1. Inhärente Relationalität kann markiert werden
(a) bei Verben und Adjektiven durch die Kongruenz: Kongruenz wird am relationalen Element einer syntaktischen Konstruktion angezeigt, und zwar
durch Kongruenz-Affixe, nämlich Person/Numerus beim Verb, vgl. feci-t
und Kasus, Numerus und Genus beim Adj., vgl. induct-us in [1].
(b) bei Adverbien das Adverbialsuffix (-e, iter) oder – bei zu Adverbien erstarrten Substantiven – ein Kasus.
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2. Nicht-inhärente Relationalität kann markiert werden, wie oben schon gesagt,
(a) durch Versetzung eines Substantivs in den Kasus Obliquus, vgl. den Ablativ M. Messalla M. Pisone consulibus in [1]
(b) durch Kombination mit einer Präposition plus den von dieser verlangten
Kasus wie cum omnibus copiis in [2];
(c) schließlich durch Kasus-Kongruenz bei Substantiven: das sehen wir wieder an dem Ausdruck M. Messalla M. Pisone consulibus, von dem wir
gerade gesagt haben, daß er durch den Ablativ seine syntaktische Relation zum Satz (Adverbiale) anzeigt. Die interne Relation zwischen dem
Bezugswort Messala . . . Pisone und der Apposition consulibus wird durch
KNG-Kongruenz angezeigt: indem consulibus den Kasus von Messala . . . Pisone
‘kopiert’, zeigt es an, daß es zu diesem in syntaktischer Relation steht.
3. Die Relevanz dieser Ausdrucksmittel hängt davon ab, in welchen syntaktischen Relationen sie verwendet werden:
(a) Wenn ein Substantiv die Leerstelle eines Verbs besetzt (Subjekt oder Objekt ist), ist der Kasus als der Marker der Relation redundant, weil sich
die Relation zum Verb aus der semantischen Relationalität des Verbs
selbst ergibt. Dasselbe gilt für die Leerstellenbesetzung bei relationalen
Substantiven. Das zeigt unmittelbar der Unterschied zwischen Lateinisch
und Englisch:
[6] a. M. Messalla M. Pisone consulibus Orgetorix fecit conspirationem
b. Under the consulate of Mesalla and Piso, Orgetorix made a conspiracy
[7] a. expositio investigationum
b. research survey ( → survey of research)
Das Englische hat keine Kasus; daß conspiracy Objekt ist, ergibt sich einfach daraus, daß diese Relationen in der Bedeutung von made impliziert sind. Dasselbe gilt für research: die relationale Bedeutung von survey
reicht hin, um klar zu machen, daß es research bindet, also eine Konstruktion wie coniurationem nobilitatis in [1] vorliegt2 .
(b) Wenn ein absoluter Ausdruck dagegen modifizierende Funktion hat wie
etwa Messalla . . . consulibus wird die Relation von ihm alleine begründet
und deswegen muß sie auch bei ihm angezeigt werden. Deswegen finden
wir auch im Englischen hier einen formalen Ausdruck für die Relation,
nämlich die Präposition under, die dem lat. Ablativ entspricht.
2 In Sprachen wie em Deutschen besteht in solchen Fällen Tendenz zur Komposition: ‘Forschungsbericht’.
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A.2 Die Struktur des Satzes
A.2.1 Semantische und syntaktische Relationen
Kommen wir auf unser Beispiel [1] zurück:
Orgetorix coniurationem fecit
Wir haben gesagt, daß fecit kraft seiner Valenz die Grundstruktur dieses Satzes
determiniert. Diese Struktur können wir semantisch und syntaktisch beschreiben:
semantische Relation:
semant. Eigenschaft:
syntaktische Relation:
Orgetorix
Agens
+anim
Subjekt
coiniurationem
Patiens
-anim
Objekt
fecit
Grundlegend ist die semantische Relation Prädikat – Satzglied(er): fecit impliziert aufgrund seiner Valenz (1) zwei Ergänzungen (anderer Ausdruck: Partizipanten), davon (2) einen Agens, der also belebt sein muß (+anim), und
(3) einen Patiens, der unbelebt ist.
Nachrangig sind die syntaktischen Relationen, mit denen diese beiden Ergänzungen als Subjekt und Objekt ausgedrückt werden. Daß das die nachgeordnete Beschreibungsebene ist, können wir zeigen, indem wir den Satz manipulieren, z.B. in einen Abl.abs. umformen
[8] coniuratione ab Orgetorige facta . . .
Subjekt sowie Objekt sind verschwunden; Agens und Patiens aber bleiben.
Wir werden also in Zukunft die semantischen Relationen innerhalb eines Satzes von den syntaktischen Relationen genau unterscheiden.
A.2.2 Valenz und Satzstruktur
Wir haben oben gesagt, daß das Verb kraft seiner Valenz die Struktur des Satzes bestimmt. Wir sehen jetzt, daß das nicht nur die Zahl der Ergänzungen
betrifft, sondern, wenigstens im Prinzip, auch deren sematische und syntaktische Relation zum Verb: fecit determiniert die semantische Relation Agens –
Patiens und die syntaktische Relation Subjekt – Objekt.
Hinzu kommt nun noch ein letztes Kriterium, welches durch das Verb bereitgestellt wird, nämlich die Aktionsart: Verben können (1) im höheren oder geringeren Maße agentiv oder nicht-agentiv sein, anders gesagt: ihr Subjekt kann
die Situation mehr oder minder kontrollieren, (2) im höheren oder geringeren Maße dynamisch und telisch sein, d.h. eine Entwicklung der Situation und
ihren Abschluß implizieren oder nicht.
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A.2.2.1
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Situationstypen
Wenn man also Valenzbegriff mit seinen Komponenten (1) Zahl der Ergänzungen (oft ‘Wertigkeit’ oder ‘Stelligkeit’ genannt), (2) semantische und (3) syntaktischer Funktion der Ergänzungen kombiniert mit dem ebengenannten Kriterium der Aktionsart, ergibt sich eine einfache Typologie von semantischen
Situationentypen wie in Tab. A.2 dargestellt:
Situation
Bsp.
semant. Eigensch.
Aktion
+dynam.
Paul killt seine Schwiegermutter
Paul schreibt ein geniales Referat
Paul arbeitet
semant. Relationen
+tel.
+co
Agens
+co
Prozeß
-tel.
Agens
+tel.
-tel.
Recipiens
Ursache
Patiens
+dynam.
Paul bekommt einen Brief
Der Regen trommelt auf das Dach
-co
-co
Paul steht in der Ecke
Paul ist riesengroß
+co
-co
Zustand
-dynam.
-tel
Kontrolleur
Qualificatum
Tabelle A.2: Situationstypen: co = Situation vom Subjekt kontrolliert; dynam = dynamisch, tel =
telisch. Die Situationen sind von oben nach unten angeordnet von maximal agentiv (+co) und
dynamisch bis minimal agentiv und dynamisch (+co / + dyn). Dynamische Situationen können telisch (+tel) oder atelisch (-tel) sein, Zustände sind natürlich immer atelisch. Ganz rechts
Beispiele für semantische Relationen, welche in den Situationstypen typischerweise vorkommen.
Folgende Eigenschaften des Satzes können also durch die Valenz des Prädikats bestimmt werden:
1. Der Situationstyp: (1) Aktionen sind dynamisch und vom Subjekt kontrolliert Prozesse sind ebenfalls dynamisch, aber nicht vom Subjekt kontrolliert (2) Zustände sind nicht-dynamisch; sie können aber vom Subjekt
kontrolliert sein Aktionen und Prozesse können telisch sein (einen Abschluß der Situation implizieren), Zustände nicht.
2. Der Grad der Agentivität: wenn die Valenz des Verbs vorsieht, daß die
Situation kontrolliert ist (+co), impliziert das die semantische Relation
Agens für das Subjekt. Wenn nicht, besteht ein niederiger Grad an Agentivität, so in bekommt einen Brief ; hier ist das Subj. nicht Agens, sondern
Nutznießer (Recipiens).
3. Der Grad der Patientivität: der Patiens kann von der Handlung affiziert
sein, oder effiziert. Streicheln affiziert den Patiens nur in niederigem, killen
in hohem Grade; schreiben verleiht dem Patiens überhaupt erst Existenz.
All diese Parameter tragen zur Definition der semantischen Funktion (semantischen Relation) der Partizipanten in einem Satz bei; Beispiele: (1) Agens (+co
+ dyn) – Kontrolleur (+co) – Recipiens (-co + dyn) – Force (Naturkraft: -co +
dyn); (2) Patiens: kontrolliert.
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Patiens
Locus
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A.2.2.2
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Determinationsgrade
Nicht alle Prädikate determinieren die Eigenschaften ihrer Ergänzungen gleich stark; vielmehr gibt es eine Skala:
1. Der maximale Grad wird duch ein Verb wie dare illustriert:
Marcus
amico
librum
dat
+anim
Agens
Subj.
+anim
Nutznießer
Dat.-Obj.
± anim
Patiens
Akk.-Obj.
Präd.
dare impliziert
(a) die Zahl der ‘Situationsteilnehmer’, der Partizipanten, nämlich drei, einen Geber,
einen Empfänger und eine Gabe.
(b) bestimmte semantische Eigenschaften der Partizipanten: Geber und Empfänger haben die Eigenschaft ‘belebt’ (anim), dagegen ist die semant. Eigenschaft der Gabe
unbestimmt
(c) die semantische Relation dieser Teilnehmer zu sich, dem Verb: ‘Marcus’ ist Agens,
‘amico’ ist Nutznießer, librum ist Patiens.
(d) die syntaktische Relation dieser Teilnehmer zu sich: ‘Marcus’ ist Subjekt, ‘amico’
ist Dativobjekt, librum ist Akkusativobjekt.
2. Geringer ist der Determinationsgrad, wenn ein Verb zwar die Zahl der Ergänzungen determiniert, aber nicht deren semantische und syntaktische Relation; Beispiele sind donare
und persuadere in Tab. A.3 auf S. 19:
Marcus amico
donat
Agens
indir. Part.
...............................
Marcus amicum
donat
Agens
Patiens
equum
Patiens
Marcus amico
persuadet
Agens
indir. Part.
...............................
Marcus amico
persuadet
Agens
indir.Part.
persuadet
ut Romam iret
Ziel
equo
Instrument
terram esse sphaeram
Faktum
Tabelle A.3: Determinationsgrad von Verbvalenz
Donare läßt unterschiedliche Konfigurationen der semantischen Relationen zu3 , persuadere unterschiedliche semantische Relation des Ergänzungssatzes.
3. Auf der nächsten Stufe entfällt die Notwendigkeit, eine Ergänzung auszudrücken – sie
kann in der aktuellen Äußerung fehlen, weil sie kommunkativ unwichtig ist, und ist dann
nur implizit in der Situation vorhanden:
[9] Paula sieht einen schweeweißen Fesselballon.
[10] Paula sieht nur auf dem linken Auge.
Sieht in [10] impliziert natürlich auch, daß Paula physische Objekte wahrnehmen kann;
aber welche das sind, ist in [10] für den aktuellen Sprechakt völlig unwichtig.
3 Daß
sich dabei tatsächlich auch die Gesamtbedeutung ändert, erörtern wir weiter unten.
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4. Die semantische Relation von Adverbialien wird nicht vom Verb determiniert (von
Einzelfällen abgesehen wie z.B. »rühren«, das ein Instrument impliziert). Sie wird vielmehr
durch unterschiedliche Faktoren bestimmt, wie ihre lexikalische Bedeutung, ihre ‘optimale
Interpretation’ in Relation zum Restsatz, und ggf. weitere Faktoren.
Beispiele:
(a) Mesalla Pisone consulibus in [1]. Der Abl.abs. Mesalla Pisone consulibus in [1]
hat die SF temporal, weil seine nächstliegende Lesart die eines Temporalsatzes ist.
Dagegen ist beim Abl.abs. in
[11] Num ego Britannico vivo vivere potuissem
“Hätte ich überleben können, wenn Britannicus am Leben geblieben wäre”
die ‘optimale’ Interpretation die SF kondizional, was sich aus der Modalität des Hs.
(potuissem) ergibt.
(b) In dem Satzpaar
[12] Hostes captivos fame perdiderunt
[13] Captivi fame perierunt
entscheidet die Aktionsart des Satzes über die semantische Relation von fame. [12]
ist eine Aktion (Die Feinde vernichteten die Gefangenen durch Hungern), fame ist
deren Instrument; [13] ist ein Prozeß, und fame dessen Ursache (die Gefangenen
kamen durch Hungern ums Leben).
A.2.3 Semantische Relationen
Wieviele semantische Relationen wie Agens, Patiens etc. man annehmen soll,
ist durchaus umstritten. Wir machen hier keine Liste auf, sondern nennen
nur die Prototypen. Deren Varianten werden in den nachfolgenden Kapiteln
jeweils am Ort beschrieben4 .
Zur Terminologie: ein geläufigen Alternativausdruck zu »semantische Relation« ist semantische Funktion; wir verwenden aus Platzgründen im folgeden oft dessen Abkürzung:
SF.
4 Listen, die einen Mittelweg zwischen den in der Literatur vorgeschlagenen Minimal- und
Maximallösungen darstellen, finden sich bei Givón 106ff und Kienpontner.
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Semant. Funktion
Beschreibung
Agens
Partizipant, der eine Aktion ausführt und kontrolliert
Marcus librum scribit
Partizipant, der von Aktion affiziert oder effiziert wird
Marcus librum scribit
Partizipant, auf den hin eine Situation orientiert ist
Marcus amico librum donat / P. litori appellit
Partizipant, der Ort und Zeit einer Situation bezeichnet
Marcus Romae habitat
Partizipant der die Handlung begleitet oder als Instrument dient
Marcus venit cum amico / P. scribit stylo
Ursache einer Situation
Marcus abit propter tempestatem
Kategorie oder Geltungsbereich, in die eine Situation gehört
Marcus excellit virtute
Patiens
Indirekter Partizipant
Tempus / Locus
Konkomitanz
Grund / Folge
Kategorie
Tabelle A.4: Prototypische semantische Funktinonen
A.2.4 Syntaktische Relationen
Syntaktische Relationen sind
• auf Satzebene die Relation zwischen Satzgliedern, nämlich zwischen
Prädikat und Subjekt, Objekt(en), Adverbial(i)e(n)
• auf Satzgliedebene die Relationen Attribut / Apposition gegenüber dem
übergeordneten Nominal.
Wir unterscheiden folgende Satzglieder:
1. Das Prädikat
ist Nukleus des Satzes. Prädikate können durch Verben, Adjektive und Substantive gebildet werden. Letztere werden im Unterschied zum Deutschen nur
üblicherweise, nicht aber obligatorisch mit einer ‘Kopula’ verbunden (das Lateinische kennt also noch echte Nominalsätze):
[14] Omnia praeclara rara (sunt)
“Alles Hervorragende ist selten”
2. Der Rektion unterliegende Satzglieder – Subjekt und Objekte:
Sie unterliegen wegen der Valenz der Prädikats dessen Rektion. Substantivische Subjekte stehen im Nominativ, die Objekte in dem von der Rektion vorgesehenen Kasus. Zu nicht-substantivische Subjekte / Objekte s. u.
3. Modifikatoren
sind Satzglieder (oder Teile davon), welche nicht valenzgebunden sind; dazu
gehören (1) Adverbialie – es modifiziert Verben oder Sätze; (2) Attribute – es
modifiziert Nomina; (3) Apposition – sie bietet Zusatzinformationen zu einem
nicht weiter modifizierbaren Nominal (einzelnes vgl. u.)
Satzglieder bilden davon nur die Adverbialien; Attribute und Apposita sind
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Satzgliedteile.
(a) Adverbialien modifizieren je nach Bedeutung das Verb, den Satz oder den
Sprechakt:
[15] Erika hat Erich die Pizza schnell wegefressen.
→ schnelles Wegfressen
[16] Gestern hat Erika Erich die Pizza wegefressen.
̸= gestriges Wegfressen.
[17] Hoffentlich hat Erika die Pizza nicht weggefressen
Ein Modaladverb wie schnell modifiziert das Verb, ein Temporaladverb
wie gestern den ganzen Satz, wie die Tests mit dem Infinitiv zeigen. Ein
Adverb der Sprechereinstellung wie hoffentlich modifiziert den Geltungsgrad des ganzen Satzes.
Adverbialien werden nach ihrer semantischen Relation weiter unterteilt;
schnell etwa ist modal, gestern ist temporal. Weitere Beispiele am jeweiligen Ort.
(b) Attribut, Apposition und ‘Prädikativum’:
[18] Omnes mulieres amant filium Marci.
‘Alle Frauen mögen den Sohn des M.’
[19] a. Omnes mulieres amant viros pulchros.
b. Omnes mulieres amant viros, qui sunt pulchri.
‘Alle Frauen lieben schöne Männer’
[20] a. Juppiter amavit Ganymedem puerum. ‘J. liebte den Knaben G.’
b. Omnes amant te mulieres, qui sis tam pulcher. ‘Alle Frauen lieben
Dich, der Du / weil Du so schön bist’
[21] Aristides pauper mortuus est. ‘A. starb arm’
Marci in [18], pulchros in [19a] und der Relativsatz in [19b] sind Attribute
unterschiedlicher Form; puerum und der Relativsatz in [20ab] sind Appositionen; pauper in [21] ist nach schulgrammatischer Terminologie ein
‘Prädikativum’. Gemeinsam haben sie, daß sie eine Relation mit einem
Nominal eingehen. Der Unterschied ist folgender:
• Das Attribut in [18] sowie in [19ab] modifiziert das zugehörige Nominal, indem es seinen Begriffsumfang einschränkt (Restriktion).
• Eine Apposition wie puerum in [20a] bzw. der Relativsatz in [20b] tritt
zu einem bereits determinierten (↑ Determination) Nominal, einem sog.
Nominalsyntagma. Da dieses schon determiniert ist (in [20b] definit: ‘den
Knaben’), kann es in seinem Begriffsumfang nicht mehr eingeschränkt
werden. Appositive Substantive, Adjektive oder Relativsätze haben somit im Gegensatz zum Attribut nicht die Funktion der Begriffseinschränkung, sondern liefer deskriptive Zusatzinformation über das zugehörige
Nominalsyntagma.
• Ein Prädikativum wie pauper in [21] ist zunächst nichts weiter als ein
appositives Adjektiv. Es ist aber ein semantischer Spezialfall, weil es auf
die Geltung des Hauptsatzes beschränkt ist (technisch: der Zeitreferenz
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des Hauptsatzes unterworfen ist), was bei gewöhnlichen Apposita nicht
der Fall ist:
‘A. starb arm / A. war arm, als er starb’.
Der Unterschied gegenüber einem Attribut, dessen Geltung prinzipiell
nicht auf den Hs. beschränkt ist, wird deutlich, wenn wir pauper in [21]
mit (appositivem) Relativ-Satz übersetzten, was den Sinn verändert:
(21) Aristides pauper mortuus est:
‘Aristides starb arm / in Armut’
[22] Aristides, qui pauper erat, mortuus est:
‘Aristides, der arm war, starb’
A.2.5 Komplexe und diskontinuierliche Satzglieder
Satzglieder können formal einfach oder komplex sein, d.h. aus einem oder
mehreren Wörtern oder aus Sätzen bestehen. Beispiel: in [1], in deutscher
Übersetzung
[23] O. machte eine Verschwörung des Adels
bildet die kursiven Wörter zusammen das Satzglied ‘Akkusativobjekt’.
A.2.5.1
Unterschiede zwischen Deutsch und Lateinisch
Im Deutschen kann man nachweisen, daß mehrere Wörter zu einem Satzglied
gehören
1. durch Ersatz diese Wörter mittels Pronominalisierung:
[24] Orgetorix machte das
Das ist ein substantivisches Pronomen, welches ein komplettes Satzglied mit
all seinen Wörtern ersetzt.
Ein solcher Substitutionstest funktioniert nicht nur für nominale Satzglieder,
sondern auch für komplette ‘Kernsätze’ aus Verb + Ergänzungen. Dafür brauchen wir natürlich keine substantivische Proform sondern eine satzförmige:
[25] Orgetorix zettelte eine Verschwörung an. Das geschah unter dem Konsulat
von Mesalla und Piso.
‘Das geschah’ (oder ‘das tat er’ o.ä.) anaphorisiert den kompletten Kernsatz
aus Prädikat und Ergänzungen; alles was übrigt bleibt, gehört nicht zur Valenz
des Verbs.
2. durch den ‘Verschiebungstest’: ein Satzglied kann nur als ganzes verschoben werden, nach dem Motto ‘was zusammengehört steht auch beisammen’,
z.B.
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[26] Eine Verschwörung des Adels machte Orgetorix
nicht aber z.B.
[27] Eine Verschwörung machte Orgetorix des Adels
3. Im Lateinische sind nur die Substitutionstests nach dem Muster [24] und
[25], nicht aber der ‘Verschiebungstest’ anwendbar, denn im Lat. müssen die
Elemente eines Satzgliedes nicht beieinander stehen; so könnten wir etwa
schreiben
[28] coniurationem fecit Orgetorix nobilitatis.
Besonders am Satzanfang sind Satzglieder oft ‘gesprengt’, vgl.
[29] Liv. 24.41.11
Bigerra inde urbs a Carthaginiensibus oppugnari coepta est
“Von da an wurde die Stadt Bigerra von den karthagern belagert”
Das wäre im Dt. nicht nachzumachen:
[30] *Bigerra von da an die Stadt wurde von den Karthagern belagert.
4. Hieraus ergibt sich eine wichtige Folgerung: Das Lateinische hat keine Satzglieder im engeren Sinn, sondern nur Wortgruppen, deren Elemente autonome Stellung haben können. Diese Autonomie des Einzelworts ist ein archaischer Zug des Lateinischen, den es mit anderen indogermanischen Sprachen
gemeinsam hat.
Wenn wir im folgenden den Begriff ‘Satzglied’ oder das lat. Äquivalent ‘Konstituente’ verwenden, tun wir es mit der ebengenannten Einschränkung.
A.2.5.2
Formen komplexer Satzglieder
Wir illustrieren die mögliche Komplexität von Satzgliedern am Beispiel des
Subjekts und der Objekte.
Komplexe Subjekte:
• Das Subjekt in [31] ist ein subst. Partizip plus dessen Ergänzungen, das
in [32] ist eine »Ab-urbe-condita«–Konstruktion.
• Das Subjekt in [33] ist ein substantivischer Relativsatz, das in [34] ein
indirekter Fragesatz.
• Das Subjekt in [34ff] ist ein finiter oder infiniter Komplementsatz.
[31] Beatus esse poterit virtute una praeditus, carens ceteris.
“Glücklich kann einer sein, wenn er nur eine Tugend besitzt und die anderen
nicht hat”
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[32] Angebat Graecos Sicilia amissa.
[33] Maximum ornamentum amicitiae tollit, qui ex ea tollit verecundiam.
‘Das Schönste an der Freundschaft beseitigt der, der aus ihr die Aufrichtigkeit
beseitigt’
[34] Incertum est, utrum istam legem L. Lucullus tulerit.
‘Es ist ungewiß, ob Lucullus dieses Gesetz eingebracht hat’
[35] Accidit, ut una nocte omnes hermae deicerentur.
‘Es geschah, daß in einer einzigen Nacht alles Hermesstelen umgeworfen wurden’
Komplexe Objekte:
• Das Objekt in [36] ist ein substantivischer RS.
• Das Objekt in [37] ist ein finiter, das in [38] ein infiniter Komplementsatz.
[36] Facies, quod iussero
‘Du tust, was ich Dir sage’
[37] Orgetorix civibus persuasit, ut finibus suis exirent
‘O. überredete seine Mitbürger, aus ihrem Gebiet zu emigrieren’
[38] Homerus nobis perusasit terram esse orbem
‘H. hat uns davon überzeugt, daß die Erde eine Scheibe ist’
[39] Caesar curavit pontem faciundum
‘Caesar ließ eine Brücke bauen’
A.2.6 Eine Liste wichtiger Satzstrukturen
Auf der Basis unserer Beschreibung der Valenz des Prädikats und der syntaktischen Satzglieder können wir zum Schluß eine Liste von sieben grundlegende Satztypen beschreiben, die wir in den folgenden Kapiteln im Einzelnen
betrachten werden.
1. Subjektlose Sätze:
[40] Pluit, tonat etc.
Während im Dt. hier ein semant. leeres Subjekt präsent sein muß (es regnet),
sind diese Sätze im Lat. subjektlos.
2. Kopulasätze und Nominalsätze:
Aus Subjekt und einem nominalen Prädikat bestehende Sätze. Während im
Dt. die Kopula obligatorisch ist, kann sie im Lat. fehlen (das ist der ursprüngliche Zustand):
[41] Omnia praeclara rara (sc. sunt)
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F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
3. Einfache Intransitive Sätze:
Aus intransitivem Verb plus Subjekt bestehende Sätze. Dessen semantische
Funktion hängt von der Valenz des Prädikats ab:
[42] Marcus cantat (Agens)
[43] Marcus somniatur (Experiencer)
4. Intransitive Sätze mit indirektem Objekt:
Und zwar mit Ortsobjekt [44], mit indirektem Partizipanten [45] oder mit Konkomitanz [46]:
[44] Marcus Roma proficiscitur
[45] Cicero dicit ad populum
[46] Miles cum hoste pugnat
5. Einfache transitive Sätze:
Wir unterscheiden
(a) den Prototyp: Agens + Patiens in telischer Situation; der Patiens ist affiziert oder effiziert:
[47] Erika malte ein Bild (effiziert)
[48] Erika verhaut ihren Freund (affiziert)
Manchmal ist eine adverbiale SF wie Modus oder Instrument impliziert,
und manchmal ist der Satztyp eine Alternative zu zu einem bitransitiven
Satz (s.u.), so in [51] und [52]:
[49]
[50]
[51]
[52]
Brutus ermordet Caesar (tötet ihn absichtlich und heimtückisch)
Hans rüht die Suppe (sc. mit dem Kochlöffel etc.)
Cicero hat die Catilinarier eingekerkert (∼ in den Kerker gesperrt)
Hans füttert den Hund ( ∼ gibt dem Hund Futter)
(b) Typen mit semantischer Degradierung des Agens oder des Patiens:
[53] Hans sieht den rosaroten Elefanten (Experiencer, Patiens)
[54] Hans hat ein Auto (Possessor, Possessum)
6. Bi-transitive Sätze:
Das sind Sätze, die neben einem Ak.-Objekt noch ein weiteres Objekt haben,
und zwar
(a) ein Ortsobjekt:
[55] Romani nuntios Carthaginem miserunt
‘Die Römer schickten Boten nach Karthago’
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(b) einen indirekten Partizipanten:
[56] Cicero donavit Bruto librum
(c) ein Prädikatsnomen im Akk:
[57] Romani Ciceronem consulem creaverunt
7. Verben mit satzförmigen Komplementen:
Bei ihnen hat das Objekt bzw. das Subjekt (letzteres beim Passiv und bei unpersönlichen Verben) die Form eines finiten oder infiniten Nebensatzes. Hierher gehören v.a.
(a) Intentionsverben:
[58] Postulo, ut testis admittatur
‘Ich verlange, daß der Zeuge zugelassen wird’
[59] Spero amicum venturum esse
(b) Kognitions und Äußerungsverben5 :
[60] Video navem advernire / advenientem
[61] Nuntius narrat se cum Rhodiis egisse
[62] Nuntius narrat, quid cum Rhodiis egerit
‘Der Bote sagt, er habe mit den R. verhandelt / . . . worüber der mit den R.
verhandelt habe’
(c) Verba affectus:
[63] gaudeo amicum venisse
[64] gaudeo, quod amicus venit
‘Ich freue mich, daß der Freund gekommen ist’
(d) Geschehensausdrücke:
[65] Accidit, ut una nocte omnes hermae6 deicerentur.
‘Es geschah, daß in einer einzigen Nacht alle Hermesstelen umgeworfen
wurden’
5 Die
sog. PCU-Verben des Englischen: Perception, Cognition, Utterance.
d.i. ‘Wegnweiser’ in Athen
6 Hermessäulen,
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A.3 Ausdrucksmittel satzinterner syntaktischer Relationen
Grundlegende Informationen zum Thema bei Givón (s. Litvz.). Über das Kasussystem des
klass. Lateins informiert man sich bei LSS, Kap. 1-4 (s. Lit.-Vz.), über die Vorgeschichte
des lat. Kasussystems bei Baldi, Meiser (beide im Lit.-Vz) oder bei A. Shiler, A new
comparative grammar of Greek and Latin.
A.3.1 Übersicht
Wie wir in Kap. A.1 gesagt haben, wird die syntaktische Grundstruktur eines
Satzes durch die Valenz des Verbs festgelegt, welche die Relation zwischen
diesem und seinen Ergänzungen (Komplementen) determiniert. Wir fragen
uns nun, wie diese syntaktischen Relationen formal ausgedrückt werden.
1. Im simpelsten Fall haben sie keinerlei formalen Ausdruck, weil sie ja aus
der lex. Bedeutung des Verbs und der Satzglieder selbst erschlossen werden
können. Vgl. das englische Bsp.
[66] A baby can not eat a steak.
Hier gibt es keinerlei formale Kennzeichnung der syntaktischen Relationen.
2. Je komplexer ein Satz aber wird, desto größer wird die Notwendigkeit,
die syntaktischen Relationen im Satz zu kennzeichnen. Hierfür gibt es eine
Skala möglicher Mittel; wir ordnen sie hier nach dem Grad ihrer formalen
Komplexheit:
(a) Fixierung der Satzgliedstellung:
das tut etwa das Englische, das eine feste Stellung Subjekt – Verb – Objekt
hat (SVO)
(b) Kongruenz:
Das ist ein Verfahren, das zweierlei leisten kann:
• Person/Numerus-Kongruenz ist eine Technik, am Verb indirekt das
Subjekt zu kennzeichnen7 :
[67] A baby crie-s often
• (Kasus)-Numerus/Genus-Kongruenz ist eine Technik, Relationen zwischen nominalen Elementen zu kennzeichnen, und zwar entweder
(1) satzgliedintern wie in [68], wo die possessiven Attribute mit ihrem Bezugsnominal NG-kongruieren (Kasus gibt es im Frz. nicht),
oder (2) satzgliedextern wie in [69], wo das akk. Prädikatsnomen
einen Rostkarren im Kasus mit dem Ak.-Objekt den Wagen kongruiert.
[68] a. Paul aime son fils
b. Paul aime sa voiture
[69] Hans nannte den Wagen Egons einen Rostkarren
7 NB. Im Englischen gibt es sie nur bei Vollverben, nicht aber bei Modal- und Hilfsverben;
deswegen gab es in [66] oben keine PN-Kongruenz.
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(c) Kasus:
Sie sind formale Ausdrucksmittel für syntaktische Relationen:
[70]
Das Mondschaf
Subjekt
rauft
Präd.
sich
Dat.-Obj
einen Halm . . .
Akk.-Objekt
(d) Präpositionen:
Sie sind ebenfalls formale Ausdrucksmittel für syntaktische Relationen
und haben oft zusätzlich eine bestimmte semantische Funktion:
[71]
. . . und
geht dann heim
Präd.
auf seine Alm
Adverbiale-lokal
Deswegen sind ihr ursprüngliches Verwendungsgebiet die adverbialen
Relationen, d.h. Satzglieder die Zeit, Ort (so in [71]), Grund etc. bezeichnen. Im Dt. ist ihre Verbreitung weiter forgeschritten als im Lat., vgl. z.B.
[72] appelere litori ‘an der Küste landen’
A.3.2 Kasus, Kongruenz und Präposition im Lateinischen
Das Lateinische verwendet von den oben genannten Mitteln die morphologischen: Kongruenz, Kasus und Präpositionen, kennt aber nicht die beiden
simplen Verfahren, daß syntaktische Relationen gänzlich unbezeichnet bleiben oder nur durch Satzgliedstellung ausgedrückt werden.
Kongruenz — Verbale Kongruenz, d.h. Person/Numerus-Kongruenz zwischen
Verb und Subjekt, ist im Lat. voll ausgebildet,
ebenso Nominale Kongruenz, die bei Adjektiven alle drei nominalen Kategorien Kasus–Numerus–Genus (liber meus, amicam suam etc.) umfaßt,
bei Subst. natürlich nur den Kasus.
Das Kasus-System des Lateinischen — Es umfaßt 5 Kasus (der Vokativ bleibt
außer Betracht), von denen der Akk. schwach (vgl. S. 65), der Ablativ
stark ‘synkretistisch’ ist, d.h. die Funktion mehrerer ‘prähistorischer’ Kasus umfaßt, die im vorliterarischen Latein noch selbstständig waren, z.B.
beim Ablativ:
Instrumental
securi ‘mit dem Beil’
Separativ
Romā ‘von Rom her / weg’
Lokativ
Athenis ‘in Athen’
Wie in den mod. indoeuropäischen Sprachen ist also das lat. Kasussystem bereits in klass. Zeit einem Schwundprozeß ausgesetzt, der fortschreitet und zum letztlichen Verschwinden der Kasus im Spätlatein
führt (vgl.u.).
Präpositionen — Sie zunächst Ausdrucksmittel konkreter Relationen (z.B. lokal, temporal, modal), entwickeln sich dann aber generell zu dem Mittel,
das den Schwund der Kasus kompensiert. Sie sind daher zunächst in adverbialer Funktion beheimatet (in urbe, post prandium, legere cum studio),
entwickeln sich aber bald zu Konkurrenten des Genitivs in attributiven
(quis Romanorum : homo de plebe) und Objekt-Relationen (accusare furti : de
furto). Zu ihrem weiteren vordringen im Spätlatein s. u. §A.3.3.5.
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A.3.3 Charakteristika des lateinischen Kasussystems
A.3.3.1
Zwei Typen von Kasuskonstruktion: obliquer und kongruenter Kasus
Ein lat. Kasus kann ein Signal für zweierlei sein: entweder zeigt er autonom
die syntaktische Relation seines Satzglieds zum restlichen Satz an, oder er dupliziert den Kasus eines anderen Ausdrucks. Ersteres ist in den a.-Beispielen
von [73] und [74] der Fall, letzteres in den b.-Beispielen:
[73] a. Marcus mihi librum dono dedit
b. Marcus mihi librum donum dedit
[74] a. Chrysalus callido animo est
b. Chrysalus callidus est
[75] b. Servus callidus pecuniam domino parat
Im Fall der a.-Beispiele spricht man traditionell von Kasus obliquus, bei den
b.-Beispielen von Kongruenz des Kasus. Ein obliquer Kasus hat eine eigenständige syntaktische Funktion, ein kongruenter Kasus nicht, vielmehr bildet er die
Funktion des ‘Kontrolleurs’ der Kongruenz ab. Kongruenz kann über Satzgliedgrenzen hinweggehen wie in [73b], oder satzgliedintern stattfinden, wie
in [75].
Betrachten wir unsere Beispiele:
73a — hier steht mit dono ein Dativ, der signalisiert, daß sein Ausdruck das
Ziel der Handlung bezeichnet (dazu u. §A.3.3.2). In [73b] dagegen ‘kopiert’ donum den von librum und ist damit eine appositive Erweiterung;
die semantische Funktion Ziel wird nicht ausgedrückt, sondern muß
vom Hörer erschlossen werden.
74a — hier steht ein sog. »Ablatiuvs qualitatis« als Prädikatsnomen zu est,
der anzeigt, daß daß Prädikatsnomen Qualitätsausdruck ist; im b-Beispiel
wird durch die Kongruenz nur signalisiert, daß das Prädikatsnomen callidus eine Aussage über das Subjekt macht.
74b — hier zeigt die Kongruenz lediglich an, daß das Adjektiv callidus sein
Bezugsnominal modifiziert.
A.3.3.2
Grammatische und konkrete Kasus
Semantische und syntaktische Funktionen Wir haben in Kap. A gesagt, daß
wir die semantischen Funktionen wie Agens, Patiens, etc. von den syntaktischen Funktionen wie Subjekt, Objekt, Adverbiale etc. unterscheiden. Wir machen uns jetzt klar, daß es kein 1 : 1 – Verhältnis von semantischen und
syntaktischen Funktionen gibt (deswegen haben wir der Liste semantischer
Funktionen auf S. 21 auch keine syntaktischen Funktionen zugeordnet). Im
Lateinischen sind manchen Kasus völlig unabhängig von bestimmten semantischen Funktionen, daher nennt man sie grammatische Kasus; andere dagegen
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sind mit bestimmten semantischen Relationen assoziiert, daher nennt man sie
konkrete Kasus.
1. Zunächst sollten wir uns an das simpelste Beispiel dafür erinnern, daß es
keinen Parallelismus semantische : syntaktische Funktion gibt, nämlich das
Passiv. Wenn wir einen Satz mit transitivem Verb ins Passiv stellen (‘Passivtransformation’) ändert sich die Zuordnung von semantischer Funktion und
syntaktischem Ausdruck:
Brutus
Subj
Agens
rem publicam
Akk.-Objekt
Patiens
liberavit
→
res publica
Subj
Patiens
a Bruto
Adverbiale
Agens
liberata est
Im ersten Beispiel haben wir die Zuordnung Agens=Subjekt, Patiens=Objekt,
im zweiten Agens=Adverbiale, Patiens=Subjekt.
2. Prinzipiell existiert folgende Skala der Kasus von grammatisch nach konkret:
Kasus
Nominativ
Akkusativ
Genitiv
Funktion
grammatisch
grammatisch
grammatisch
synt. Funktion semant. Funktion
Subjekt
variabel
dir. Objekt
variabel
Attribut
variabel
Objekt
Kategorie
............................................................................
Dativ
Objekt /
konkret
indir. Partizipant /
Adverbiale
Referenzpunkt
Ablativ
konkret
Adverbiale
Konkomitanz — Separativ – Lokativ
Tabelle A.5: Das grammatisch → konkret – Kontinuum der lat. Kasus
Wenn wir den Genitiv als vorzugsweise ‘adnominalen’ Kasus (Attribut) einmal beiseite lassen und uns nur auf die ‘adverbalen’ (Subjekt, Objekt, Adverbiale) konzentrieren, dann sehen wir daß Nominativ und Akkusativ grammatische Kasus, Dativ und Ablativ dagegen konkrete Kasus mit einem bestimmten semantischen Funktionsspektrum sind. Das hängt zusammen mit dem unterschiedlichen Grad an Autonomie: Nom. und Akk. unterliegen (praktisch)
immer der Rektion durch das Verb, und Rektion impliziert, daß das Verb die
semantische Funktion dieser Kasus determiniert. Am unteren Ende der Skala
ist es umgekehrt: der Ablativ ist (fast) immer Adverbiale, unterliegt also nicht
der Rektion, sondern modifiziert das Prädikat und tut das mittels einer eigenständigen semantischen Relation8 . Der Dativ steht auf der Grenze zwischen
beiden Bereichen – er kann Objekt (Rektion) oder Adverbiale (Modifikation)
sein; im ersten Falle bezeichnet er eine semantische Relation, die durch das
Verb determiniert wird, z.B. Adressat / Nutznießer in dico tibi bzw. dono tibi,
im letzteren Fall drückt er Relationen wie Adressat / Referenzpunkt eigenständig aus, z.B. in emo tibi librum, entsprechend zum dt. ich kauf Dir ein Buch.
8 Wir konzentrieren uns hier auf die Hauptfunktionen der Kasus; natürlich gibt es auch marginale Fälle von adverbialem Akkusativ und regiertem Ablativ.
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Diese Skala ‘grammatisch → konkret’ widerspiegelt sich in den Kapitelüberschriften
des vorliegenden Skripts. Wir beginnen mit den grammatischen Relationen Subjekt
und direktes Objekt und gehen dann sukzessive zu konkreten Relationen wie z.B.
Partitiv und Konkomitanz weiter.
Einzelheiten
1. Der Nominativ
hat innerhalb des Kasussystems eine privilegierte Rolle, denn als Kasus des
Subjekts kontrolliert er die Kongruenz: Marcus legi-t : sorores legu-nt. Er markiert
also den kommunkativ wichtigsten Partizipanten in einem Satz.
2. Daß Nom./Akk. grammat. Kasus sind entspricht dem Dt.:
[76] a. Markus liest
b. Markus kriegt ein Buch geschenkt
[77] a. Markus schlägt seine Oma / Marcus aviam verberat
b. Markus kennt ein nettes Lokal / Marcus novit tabernam iucundam
In [76a] ist das Subjekt Agens, in [76b] ist es Nutznießer; in [77a] ist das Akk.Obj. Patiens, in [77b] ist es marginaler Partizipant (im Sinne unserer Liste von
S. 21). Nominativ und Akk. sind offenkundig an keine bestimmte semant.
Funktion gebunden und sind rein syntaktische Kasus, nämlich des Subjekts
und des direkten Objekts.
3. Der Dativ
ist ein konkreter Kasus, wie im Deutschen:
[78] a. Paul haut dem Nachbarshund auf die Schnauze.
b. ̸= Paul haut dem Klavier auf die Tasten.
Ein Dat. ist ein indirekter Partizipant, in [78a] liegt also ein ‘Dativus incommodi’ vor. Da ein Klavier nichts spüren kann, kann es diese SF nicht haben,
weswegen [78b] ungrammatisch ist. Der Dativ ist also mit einer bestimmten SF
assoziiert, die im Lat. unterteilt wird nach dem Kriterium ‘belebt / unbelebt’:
[79] amicus mihi librum dedit
[80] amicus litori appulit
‘Der Freund landet an der Küste’
Gemeinsam ist [79] und [80], daß der Dativ Referenzpunkt der Handlung, d.h.
derenige Partizipant ist, auf den hin die Handlung orientiert ist. Da der Dat.
im ersten Fall belebt ist, ergibt sich die Interpretation ‘Nutznießer’, da er im
2. Fall unbelebt ist, die Interpretation ‘Ziel’.
4. Der Ablativ
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Syntax I
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ist ebenfalls ein konkreter Kasus; er ist der typische Kasus für Adverbialien
und zwar wie oben §A.3.2 gesagt für die drei Gruppen Konkomitanz (Soziativ
und Instrumental), vgl. [81a.], Lokativ [81b.] und Separativ [81c.].
[81] a. Miles sagitta ictus est.
b. Paulus Romae (= Roma-i) habitat.
c. Paulus domo abiit.
Die Verwendung des Ablativs als Objektskasus, z.B. bei uti aliqua re ist marginal und als
Analogie zum Instrumental zu verstehen.
5. Der Genitiv
hat eine Sonderstellung, weil er in den meisten Fällen nicht eine Relation zum
Verb, sondern eine zu einem Nominal eingeht, nämlich als Attribut. Hier ist er
ein grammatischer Kasus, denn seine SF ist variabel (Partitiv, Possessiv, Qualitatis etc.). Ähnlich wie der Dativ kommt er als Objektskasus nur selten vor
(Typ memini Ciceronis); hier hat er eine konkrete SF: er zeigt, wie auf S. 21
gesagt, die Kategorie bzw. den Geltungsbereich an, in welche(n) die Verbalhandlung fällt:
[82] a. Haus des Vaters, Ein Teil der Studenten / domus patris, pars studiosorum
b. Er wird des Verrats angeklagt / accusatur proditionis
A.3.3.3
Kasus und Präpositionen im klass. Latein
Ihre Verteilung unterliegt folgender Tendenz: je mehr eine syntaktische Funktion zur Zentralität tendiert, desto eher wird sie durch bloßen Kasus markiert,
je mehr sie zur Peripherie tendiert, desto eher wird sie durch Präposition markiert. Demzufolge
• wird Rektion bei den zentralen Relationen Subjekt, direktes und indirektes Objekt nur mit Kasus markiert (Nom., Akk. und Dativ, vgl. Tab. A.6,
Nr. (1)–(3))
• kann Rektion bei den periphere Relationen, die der Genitiv ausdrückt,
auch durch Präposition ausgedrückt werden (ibid. Nr. (4))
• kann Modifikation teils durch Kasus, teils durch Präposition ausgedrückt;
das gilt für
– adnominale Modifikation (Attribute), vgl. ibid. Nr. (5)
– adverbiale Relationen im engeren Sinne, d.h. solche, die das Verb
unmittelbar modifizieren, wie Instrumental und modal, vgl. ibid.
Nr. (6)
• wird Modifikation durch adverbiale Relationen im weiteren Sinne, d.h.
solche die den gesamten Satz modifizieren (daher in Tab. A.6 Nr. (7)
adsentential genannt), vorzugsweise mit Präposition markiert.
Beispiele in Tab. A.6.
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Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
intr.
trans.
intr. + Obj.
(6)
adverbial
(7)
adsentential
adnominal
Gaius vapulat
Gaia Gaium verberat
Gaia nupsit Gaio
Gaius oblitus est amici / de amico
pars militum
homo de plebe
Gaius anatem dolabra occidit
Gaius anatem cum studio persequitur
Gaius cum amico rediit
Gaius multum praestitit in summo periculo
WS 2014-15
keine Präposition
↓
Präp. möglich
↓
Präp. notwendig
Tabelle A.6: Kasus und Präpositionen
A.3.3.4
Ableitung von Adverbien mittels Kasusformen
Kasusformen sind neben der regulären Derivation mit einem Adverbialsufix (-e, -ter) eine
produktive Quelle der Bildung von Adverb(iali)en. Vgl. z.B. dt.
[83] besten-falls, keines-falls; unter-tags, des nachts etc.
In diesem Falle spricht man auch von »erstarrten« Kasus.
1. Im Lat. ist der produktivste Kasus hierfür der Ablativ:
iure, iniuriā
necessario
silentio
merito, immerito
casu
vi
Näheres hierzu unten S. 131.
2. Der Akkusativ ist Basis für die Bildung von (1) quantifizierenden Adverbialien ([84])
(2) deiktischen Adverbien, die mit einem partitiven Genitiv kombiniert werden ([85]):
[84] magnam partem ‘großteils’, maximam partem ‘größtenteils’
[85] id aetatis, id temporis ‘zu dieser Zeit’
[86] Cic.fin.5.1
constituimus . . . , ut ambulationem post meridianam conficeremus in Academia,
quod is locus ab omni turba id temporis vacuus esset.
Beispiele für den deiktischen Typ bei KS 1,306, für den quantifizierenden
bei KS 1,280.
3. mit dem Genitiv werden Adverbien der indefiniten Quantifikation gebildet, wie
magni (pluris, plurimi) aestimare
nihili ducere
tanti – quanti
parvi (minoris, minimi) aestimare
nihili esse / fieri
[87] Quanti alios facis, tanti ipse soles fieri
A.3.3.5
Die Entwicklung im Spätlatein
Das Kasussystem kollabiert in der Spätantike; für die Entwicklung zum Frühromanischen
gilt:
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35
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
1. wo im klass. Latein Kasus und Präpositionen konkurrierten, setzen sich die Präpositionen durch. Als Folge davon schwinden
der Genitiv:
der adverbiale Dativ:
der Ablativ:
Lat.
Ital.
populi Europae
dono librum Corneliae
equo vehi
claudere portam clavi
praeterire aliquid silentio
populi dell’Europa
dono librum a Cornelia
andare a cavallo
chiudere la porta a chiave
passare qalcosa sotto silenzio
2. Wenn der Dativ aber einziges Objekt im Satz ist, fällt er mit dem Akkusativ zusammen:
servire
servire
patriae
la patria
3. die zentralen Funktionen Subjekt und direktes Objekt werden ‘nullmarkiert’ – sie verlieren den Kasus, erhalten aber keinen anderen Marker der syntaktischen Relation:
Paulus
Paulo
videt
vede
caballum
un cavallo
4. Im Deutschen ist dieser Ablösungsprozeß durch Präpositionen noch im Gang:
[88] a. schriftdt: Maxens Auto stand vor der Tür
c. dialektal: dem Max sein Auto stand vor der Tür
b. standard-umgangssprachl.: das Auto von Max stand vor der Tür
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36
Latinistik
Kapitel B
Direkte Partizipation: Subjekt und direktes Objekt
Subjekt und direktes Objekt sind Ausdrucksmittel derjenigen Partizipanten,
welche unmittelbar in die Verbalhandlung involviert sind:
1. die prototypische Funktion des Subjekts ist es, den Gegenstand zu definieren, über den das Prädikat ausgesagt wird, technisch gesagt den Topik.
2. die prototypische Funktion des direkten Objekts ist es, einen Partizipanten
anzugeben, der von der Verbalhandlung affiziert oder effiziert wird:
[1] Erika raucht → Erika raucht eine riesige Havanna
3. Die semantischen Relationen von Subjekt und direktem Objekt werden jeweils durch das regierende Verb determiniert. Für das Subjekt haben wir das
schon auf S. 31 illustriert. Wir lassen in Tab. B.1 auf S. 38 eine Liste der wichtigsten semantischen Relationen des Agens-Patiens–Kontinuums folgen. Die
Prototypen stehen in Kapitälchen, die Varianten sind vertikal nach abnehmenden Grad an Agentivität angeordnet.
4. Nominales Ausdrucksformat des Subjekts ist der Nominativ, des direkten
Objekts der Akkusativ. Subjekt und direktes Objekt können aber auch durch
Nebensätze ausgedrückt werden, vgl. z.B. amicum venire in Marcus audit amicum venire in Tab.B.1.
Ausnahmsweise kann der Subjektsgriff auch durch ein relationales Adverb konstituiert
werden:
[2] Satis frumenti ei tributum est.
B.1 Das Subjekt und seine Sonderstellung
Wenn wir eben gesagt haben, das Subjekt definiere den Redegegenstand (‘Topik’), über den das Prädikat – samt dessen Ergänzungen – ausgesagt wird,
dann bedeutet das, daß das Subjekt eine Sonderstellung im Satz hat, denn
dann es hat ja eine pragmatische Funktion, die von keinem anderen Satzglied
37
F. Heberlein
Partizipant
Syntax I
Situationstyp
Beschreibung / Beispiel
+anim
+co + dyn
Kausator
+anim
+co +dyn
Kontrolleur
+anim
+co
Possessor
+anim
+co
Experiencer
+anim
-co
Ursache
-anim
-co
–
-co
–
+co +dyn
initiiert und kontrolliert eine Aktion
Marcus librum scribit
löst Handlung eines anderen Agens aus
Marcus me venire iussit
kontrolliert eine Situation
Marcus in angulo stat
kontrolliert einen Besitz
Marcus duos equos habet
nimmt eine Situation wahr
Marcus audit amicum venire
Ursache, die einen Prozeß auslöst
Licht blendet die Augen
Gegenstand von Urteil oder Definition
Marcus callidus est
wird vom Agens affiziert oder effiziert
hic liber a Marco scriptus est
Marcus amicum salutat
Marcus librum scribit
Agens
Qualificatum
Patiens
ref. Eigensch.
WS 2014-15
Tabelle B.1: Das Agens- → Patiens–Kontinuum. anim = belebt, +co = vom Subjekt kontrolliert,
dyn = dynamisch.
erfüllt werden kann. Das zeigt sich in einer Reihe grammatischer Besondernheiten:
1. Das Subjekt kann in manchen Fällen alleine stehen, z.B. in Ausrufen oder
Ankündigungen (daher rührt der Name des Nominativs, ‘Nennkasus’):
[3] Feuer!; The President of the Republic of Erewhon!
Die anderen Satzglieder sind dagegen ohne den ‘Anker’ des Prädikats nicht
möglich (wenn ich rufe ‘des Feuers!’ kommt nicht die Feuerwehr, sondern allenfalls der Psychiater). Ein Subjekt unterliegt also einerseits der Valenz des
Verbs, anderseits hat es eine gewisse syntaktische Autonomie gegenüber dem
Restsatz.
2. Das Subjekt kontrolliert die Kongruenz des Prädikats in Person und verbalem
Numerus (PN):
Person
Numerus
tu legi-s
nos legi-mus
is legi-t
vos legi-tis
PN-Kongruenz findet im Lateinischen nur mit dem Subjekt und keinem anderen Satzglied statt.
3. Das Subjekt ist das kommunikativ zentrale Satzglied, der sog. Topik; daher
wird es bei Koordination nicht neu gesetzt: ein Subjekt bleibt solange konstant, bis es ausdrücklich gewechselt wird, vgl.
KU Eichstätt
38
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[4] Er fand einen Ring und trug ihn aufs Fundbüro.
[5] aber: Er fand einen Ring *und war aus Gold.
4. Aus demselben Grund kann das Subjekt in einer abhängigen Konstruktion
gesperrt werden:
[6] Marcusx ∅x abire constituit.
Markusx beschloß, ∅x wegzugehen.
[7] Marcusx timuit, ne ∅x ab amicis desereretur.
Markus fürchtete, daß er von seinen Freunden im Stich gelassen würde.
Wie [7] zeigt, geht im Lateinischen dieser Mechanismus weiter als im Deutschen, da er auch auf finite Nebensätze ausgedehnt ist, wo im Deutschen ein
pronominales Subjekt stehen muß.
Was würde bedeuten: . . . ne is . . . desereretur?
?
5. Nur die Syntaktische Funktion Subjekt, nicht die semantische Funktion
Agens kontrolliert die direkte Reflexivität1 :
[8] a. Der Hund hat seinen Herrn gebissen
b. ̸= Vom Hund wurde sein Herr gebissen
c. → Der Herr wurde von seinem Hund gebissen
B.2 Syntax des Subjekts
B.2.1
Nominale und satzförmige Subjekte
Wie eingangs schon gesagt, ist der prototypische Ausdruck für ein nominales
Subjekt der Nominativ.
Ein Prädikat kann aber nicht nur über Personen oder Gegenstände, sondern
auch über Sachverhalte ausgesagt werden; dann tritt das Subjekt in Form eines
mehr oder weniger stark nominalisierten Nebensatzes, eines sog. ‘Subjektsatzes’ auf:
[9] bene accidit, quod ad me venisti
[10] turpe est te aufugisse
[11] errare humanum est
Weitere Beispiele haben wir schon in §A.2.5.2 auf S. 24 genannt.
B.2.2
Mit dem Subjekt kongruierende Ausdrücke
Neben der Kongruenz des Prädikats kann das Subjekt auch noch die Kongruenz nominaler Ausdrücke kontrollieren. Das betrifft
1 Bei
sog. ‘indirekte’ Reflexivität liegen die Dinge anders; das klären wir im Skript ‘Pronomina’.
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Syntax I
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1. Das Prädikatsnomen, d.h. einen nominalen Bestandteil des Prädikats; er muß
mit dem Subjekt in Kasus, Genus und Numerus kongruieren:
statua pulchra est
:
statuae pulchrae sunt
Mögliche Wortarten des Prädikatsnomens sind Adjektiv und Substantiv, vgl.
[12] bzw. [13], Einzelheiten u. §B.2.2.2.
[12] Seneca praeceptor Neronis erat.
[13] Chrysalus callidus est.
2. Apposition und Prädikativum:
[14] Aristides, vir pauper, mortuus est
‘A., ein armer Mann, starb’
[15] Aristides pauper mortuus est
‘A. starb als armer Mann’
Apposition und Prädikativum können aber auch zu jedem anderen Satzglied
in Relation stehen.
B.2.2.1 Kongruenz bei pronominalem Subjekt
Diese ist anders geregelt als im Deutschen und bildet eine Ausnahme zur
Grundregel, daß das Subjekt die Kongruenz kontrolliert:
[16] a. Das ist mein Haus / Das ist meine Schwester / Das ist mein Bruder /
Das sind meine Eltern
b. Haec est casa mea
c. Questa e la mia casa
[17] Liv. 42.44.3
Thebae quoque ipsae, quod Boeotiae caput est, in magno motu erant,
aliis ad regem trahentibus ciuitatem, aliis ad Romanos
Wenn das Subjekt ein Pronomen ist und das Prädikatsnomen ein Substantiv,
verwenden das Lat. (und auch noch das Italienische) und das Dt. unterschiedliche Techniken.
• das Dt. verwendet die deiktische Technik: es wird deiktisches Pronomen
verwendet, das auf seine deiktische Funktion reduziert ist. Die Numerus/Genus-Kongruenz mit dem Bezugswort ist daher beseitigt (das . . . Schwester).
• das Lat. verwendet die anaphorische Technik, vgl. haec in [16a]. Ein Anaphoricum kongruiert nun aber normalerweise mit dem Substantiv, das
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es repräsentiert, und folglich muß in [16a] ausnahmsweise das Subjekt
mit dem Prädikatsnomen kongruieren.
Das ist also nur eine konsequente Anwendung des Kongrenzmechanismus: ein Pronomen repräsentiert den Inhalt eines Nomens, indem es
dessen grammatische Kategorien Numerus und Genus abbildet. Genau
das tut haec in [16a] und quod in [17].
Lernen Sie die Kongruenzregeln bei RH §108; dort finden Sie auch Ausnahmen von der o.g. Kongruenzregel.
B.2.2.2 Syntax und Semantik der Prädikatsnomina
Reiner Nominalsatz und »Kopula-Satz« Ein Prädikatsnomen wie praeceptor
in [12] oder callidus in [13] kann nicht wie ein verbales Prädikat das Subjekt
regieren, weil es keine Leerstelle für ein Subjekt hat. Dieser Mangel kann mit
zwei Techniken kompensiert werden:
1. Das Prädikatsnomen wird mit einem Hilfsverb, einer sog. ‘Kopula’ kombiniert. Ein Hilfsverb hat zwei Leerstellen, ein für ein Subjekt und eine für
ein Prädikatsnomen; durch deren Besetzung wird die syntaktische Relation
Prädikat – Subjekt hergestellt daher der Name ‘Kopula’.
Außerdem kann die Kopula Tempus und Modus des Prädikats anzeigen, was
ein substantivisches oder adjektivisches Prädikat ja nicht kann:
[18] a. Seneca philosophus est / erat
b. Si taceres, philosophus esses
2. Das Prädikatsnomen steht ohne Kopula und markiert seine Relation zum
Subjekt nur durch Kongruenz, z.B.
[19]
Omnia praeclara
Subjekt
‘Alles Gute
rara
Prädikat
ist selten’
Diese Markierung ist aber unterspezifiziert, denn sie wird ja auch für die
Relationen Apposition bzw. Attribut verwendet. Hier kommt es darauf an,
daß der Hörer / Leser die Struktur der Äußerung richtig analysiert – nicht als
‘alles seltene Gute’ sondern als ‘alles Gute ist selten’.
Dieser kopulalose Nominalsatz ist die ältere Variante. In diesem Fall von ‘Fehlen der
Kopula’ zu sprechen, wie es die Schulgrammatik tut, ist also unhistorisch.
Referierende und nicht-referierende Prädikatsnomina Wenn das Prädikatsnomen ein Substantiv ist, ergibt sich im Lateinischen wie im Deutschen der
Unterschied zwischen [20] und [21], ohne daß aber dieser Unterschied im Lat.
einen formalen Ausdruck hat:
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[20] a. Hans ist der geniale Lehrer, von dem ich Dir erzählt habe ↔ Wer ist
Hans?
b. Augustus primus imperator Romanorum erat ↔ Quis erat Augustus?
[21] a. Hans ist Lehrer an einer Zwergschule ↔ Was ist Hans?
b. Seneca philosophus erat. ↔ quid erat Seneca?
• In [20] ist das Prädikat referierend: es bezeichnet dieselbe Person wie das
Subjekt, lediglich mit anderen Worten.
• In [21] ist das Prädikat nicht-referierend: es bezeichnet nicht eine bestimmte Person, sondern es charakterisiert eine Eigenschaft des Subjekts,
das ‘Philosoph-’ bzw. ‘Lehrer-Sein’.
Dieser Unterschied im Dt. gekennzeichnet durch Anwesenheit bzw. Abwesenheit des Artikels beim Prädikatsnomen, im Dt. und im Lat. dadurch, daß
• [20] und [21] Antworten auf unterschiedliche Fragen sein können:
[22] Wer ist Hans / quis fuit Augustus?
[23] Was ist Hans / Seneca quid fuit?
Die dabei verwendeten Fragepronomina kongruieren im ersten, nicht
kongruieren im zweiten Fall (Wer / was; quis / quid).
• daß die Paraphrasemöglichkeiten unterschiedlich sind:
(20) Hans ist identisch mit dem genialen Lehrer, von dem . . .
(21) Hans hat die Eigenschaft, Lehrer zu sein / den Beruf des Lehrers
an einer Zwergschule
Wenn wir [17] und [20b.] einerseits zusammenfassen, ergibt sich, daß ein Pronomen in
Subjektsfunktion, egal ob Demonstrativ- oder Fragepronomen, immer dann mit einem
subst. Prädikatsnomen kongruiert, wenn es eine Identitätsbeziehung, also Koreferenz
ausdrückt. Aus [21b.] dagegen ergibt sich, daß die Kongruenz beseitigt wird, wenn das
Prädikatsnomen charakterisiert oder definiert (quid est virtus?).
B.3 Das direkte Objekt
Begriff Wie wir auf S. 37 schon gesagt haben, ist das ‘direkte Objekt’ eine
rein syntaktische Relation ohne semantische Eigenbedeutung (was sie vom
indirekten Objekt und von Adverbialen unterscheidet). Semantische Funktionen wie ‘Patiens’ (necare aliquem) oder ‘Empfindungsgegenstand’ (amare
aliquem) ergeben sich nicht aus einer Kasusbedeutung, sondern aus der lexikalischen Bedeutung des Verbs oder aus der Opposition zu einer alternativen
Konstruktionsmöglichkeit.
Die semantische Funktion des direkten Objekts beschränkt sich somit darauf,
den Verbalinhalt zu spezifizieren:
• Spezifikation durch Nennung eines Patiens:
[24] Erika raucht eine riesige Havanna (‘affiziertes Objekt’)
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[25] Erika schreibt ein geniales Referat (‘effiziertes’ Objekt)
• Spezifikation durch qualitative Eigenschaften, sog. ‘inneres Objekt’:
[26] Dei beatam vitam vivunt.
Ausdrucksformate
1. Prototypischer Ausdruck eines nominalen direkten Objekts ist der Akkusativ wie in [27]. Akkusativobjekte können auch doppelt gesetzt ([28]) oder
durch ein Prädikatsnomen erweitert werden ([29]):
[27] Equus currum trahit.
[28] Philosophus nos sapientiam docet.
[29] Romani Ciceronem consulem creaverunt.
In [27] ist der Akkusativ direktes Objekt; in [29] liegt Kombination von AkkObj der Person und AkkObj des Sachverhalts vor, in [29] Kombination von
AkkObj und Prädikatsnomen (zum Unterschied Sachobjekt vs. Prädikatsnomen im Akk. vgl. u. §B.6).
2. Satzförmige direkte Objekte treten in verschiedenen Formen auf, z.B. als
Infinitiv, AcI und in Form verschiedener Nebensätze:
[30] Marcus abire constituit ( → id constituit)
[31] Marcus dicit se abiturum esse
[32] Marcus sperat, ut abire possit
Den Akk. bei Ortsangaben behandeln wir unten §F.1.4
.
B.3.1
Transitivität
Zweistellige Verben, welche Sätze aus Subjekt und direktem Objekt konstituieren, heißen transitive Verben.
[33] Caesar exercitum traduxit.
[34] Galli murum collocaverunt.
Der durch [33] und [34] illustrierte Prototyp wird durch folgende Eigenschaften charakterisiert:
• das Subjekt hat die SF Agens: es ist belebt (+anim), Auslöser und Kontrolleur (+co) der Handlung; der Situationstyp (vgl. S. 17) ist in beiden
Fällen ‘Aktion’ (dynamisch + telisch).
• das Objekt ist Patiens der Handlung als affiziertes oder effiziertes Objekt
([33] bzw. [34]).
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• Der Satz kann in ein persönliches Passiv transformiert werden. Das entspricht den Verhältnissen im Deutschen, wo auch nur ein direktes, nicht
aber ein indirektes Objekt Subjekt eines Passivsatzes werden kann:
[35] a. Marcus schreibt einen Brief → Der Brief wurde von Marcus geschrieben
b. Hier helfen wir Ihnen! ̸= Hier werden Sie geholfen!
?
Setzen Sie [33] und [34] ins Passiv.
Aber nicht alle Verben mit Akk.-Obj. entsprechen diesem Prototyp; vielmehr
müssen wir eine Transitivitätsskala aufstellen, die illustriert, in welchen grammatischen Eigenschaften sich das Abnehmen von Transitivität manifestiert2 .
B.3.1.1 Die Skala der Transitivität
ergibt sich durch das Verfahren der lexikalischen Variation, entweder beim Verb oder bei
Subjekt / Objekt.
Degradierung des Subjekts wie oben in Tab. B.1 auf S. 38 illustriert. Durch schrittweise Degradierung der mit einem Agens prototypischerweise verknüpften Eigenschaften
»belebt / Kontrolleur / dynamische Situation« nimmt das Sujekt folgende semantischen
Relationen an:
1. Possessor in [36]. Hier ist das Subjekt nur Kontrolleur aber nicht Agens der Situation;
Folge: eine Passivtransformation ist nicht möglich (??duo equi habebantur ).
[36] Rusticus duos equos habebat.
2. Experiencer, als Träger einer Wahrnehmung wie in [37]. Hier ist das Subj. nicht mehr
Kontrolleur der Situation. Folge: es ist kein Imperativ mehr möglich (̸=fühle den Tod
nahen!).
[37] Sensit mortem advenientem.
3. ‘Ursache’ in [38] und [39].
[38] Der Hammer durchschlug die Scheibe
[39] claritas colorum aciem oculorum offendit
[38] und [39] sind metaphorische Extensionen des agentiven Subjekts, in [38] die Extension ‘Agens → Instrument’, in [39] ‘Agens → physische Eigenschaft’. Daher ist das Subj.
in [38] agensähnlicher als in [39], denn es löst einen Prozeß aus, aber kontrolliert ihn
aber nicht, wogegen in [39] weder Aktion noch Prozeß, sondern ein nicht-kontrollierter
Zustand vorliegt. Mangels Kontrolle ist in beiden Fällen kein Imperativ möglich.
Degradierung des Objekts es ist nicht Patiens, sondern (1) Posessum ([36]), (2) Ortsangabe ([40]); (3) es ist lediglich ein Ps.-Objekt, das sog. ‘inneres Objekt’ ([41])
[40] Epidamnum relinquimus
2
Vgl. Givon, Syntax.
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[41] Acerrimam pugnam pugnare
1. In [40] ist das Objekt von der Handlung nicht affiziert, hat also nicht die semantische
Relation ‘Patiens’. Daher wäre eine Passivversion (die ja sagt, was mit einem Patiens
geschieht) merkwürdig (Epidamnus a nobis relicta est); das Verb ist dennoch transitiv,
vgl. ↔ relinquimus.
2. In [41] erzeugt das ‘innere Objekt’ pugnam zwar eine Scheintransitivität (→ acerrima
pugna pugnatur ), aber es dupliziert nur den Stamm des Verbs und ist kein eigenständiger Partizipant, sondern beschreibt die Art und Weise (Modus) der Verbalhandlung
(Einzelheiten u. §B.5.2).
B.3.1.2 Zusammenfassung
Die beiden Extrempole der Transitivitätsskala sind das prototpyische direkte Objekt einerseits und das ‘innere Objekt’ andererseits. Bei ersteren ist das Objekt obligatorisch,
weil das Verb selbst zu wenig Informationsmenge für eine kommunkativ sinnvolle Äußerung bieten (vgl. [34] ̸=Galli collocaverunt); genau umgekehrt ist es bei Intransitiva mit
‘inneren Objekten’: hier haben die Verben soviel Informationsmenge, daß die Ps.-Objekte
nur eine modale Spezifikation des Verbinhalts erbringen (Einzelheiten in §B.5.2.).
B.3.2
Transitivierung und Intransitivierung
Transitivität und Intransitivität können mit grammatischen Operationen hergestellt werden (vgl. §A.1.1.3 auf S. 15). Im ersteren Falle braucht man einen
Mechanismus, um die Valenz eines Verbs durch ein Akkusativobjekt zu erweitern, im letzteren einen, um ein Akk.-Objekts aus der Verbvalenz zu entfernen.
1. Transitivierung erfolgt durch folgende Operationen:
• Umwandlung eines obliquen Kasus in ein direktes Objekt.
• die Valenzerweiterung durch ↑ Präverbierung, d.h. Kombination eines
Verbum simplex mit einem Adverb oder einer Präposition.
Einzelheiten nachstehend in §B.3.2.1 und §B.3.2.2.
2. Intransitivierung ist die Entfernung des Akk.-Objekts aus der Verbvalenz
durch die Operation Ellipse / absoluten Gebrauch / Uminterpretation des
Verbs zum Intransitivum. Einzelheiten in §B.3.2.4 auf S. 50.
B.3.2.1 Obliquer Kasus wird direktes Objekt
Exemplarisch illustrieren diesen Prozeß die Verba affectus, die ursprünglich
intransitiv sind. In
[42] doleo clade
ist clade syntaktisch gesehen ein Adverbiale; das ist typischerweise der Ausdruck für einen Grund (‘kausaler Ablativ’). Im Lauf der Entwicklung wird der
Grund aber zum Patiens uminterpretiert und deshalb syntaktisch nicht mehr
als Ablativ bzw. Präp. + Ablativ ausgedrückt, sondern als Akk. Objekt:
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Latinistik
RH §114
F. Heberlein
[43]
Syntax I
a. dolere
a. ‘trauern’
→
→
WS 2014-15
b. dolere morte alicuius
b. trauern über / wegen
→
→
c. dolere mortem alicuius.
c. betrauern
Im Einzelnen läuft folgender Prozeß ab: (1) dolere ist etymologisch ‘zerrissen
sein’, also intransitiv; (2) der Grund des Schmerzes kann dabei durch einen
adverbialen ‘Ablativus causae’ repräsentiert werden; (3) dieser Grund wird
sodann kognitiv als das Objekt, das von der Empfindung ‘affiziert wird’ erfaßt: das Verb bildet eine transitive Konstruktion aus.
Im Dt. ist Phase (3) dadurch von Lat. unterschieden, daß die Transitivierung obligatorisch
durch Präverbierung (Transitivierungspräfix ‘be-’) erfolgt. Dieser Mechanismus existiert
im Lateinischen ebenfalls (vgl. §B.3.2.2), aber parallel zu dem älteren in [43] illustrierten
Verfahren, daß einfach der Kasus gewechselt wird.
Unterschiedliche Grade des Transitivierungsprozesses bei den verschiedenen Verba affectus zeigen sich, wenn wir die bei RH §114 aufgeführten Verben anders anordnen, nämlich so wie Tab. B.2. Es ergeben sich dann folgende
Gruppen:
I. Das Verb bleibt intransitiv; allenfalls wird der Ablativ durch eine Präposition verdeutlicht.
II. Das Verb bildet die transitive Konstruktion alternativ zur intransitiven
aus und entwickelt damit die oben zu [43] genannte Bedeutungsdifferenzierung zwischen ‘Grund’ und ‘Objekt’ der Empfindung.
III. Das Verb hat die intransitive Konstruktion aufgegeben und nimmt (fast)
ausschließlich ein Akk.-Obj. zu sich.
Sie müssen die unterschiedlichen Transitivierungsgrade der Verben in RH
§114 aktiv beherrschen.
intransitiv
Ablativ de + Abl
I
II
gaudere
angi
laetari
+
+
+
+
+
dolere
+
+
+
+
+
+
+
+
+
queri
sperare
desperare
III
transitiv
Akkusativ
mirari
+
lugere
maerere
horrere
ridere
+
+
+
+
Tabelle B.2: Transitivitätsskala bei Verba affectus
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Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Die Verben in II. und III. erreichen aber nicht den Transitivitätsgrad prototypischer transitiver Verben (vgl. §B.3.1), denn sie werden nicht passivierbar, d.h.
das Akk.-Obj. kann nicht zum Subjekt eines Passivsatzes werden:
[44] Cic.Sest.33
Illi lugent casum proditoris ̸= lugetur ab illis casus proditoris
Prüfen Sie, ob Sie alle Verben in RH §114 beherrschen
Satzförmiges Objekt Unterscheiden müssen wir von der ebengenannten Transitivtätsskala die Frage, ob der Grund des Affekts auch satzförmig sein kann,
was naheliegt, da Gründe ja Sachverhalte sind. Das Objekt kann demzufolge
oft ein AcI oder ein quod-Satz sein (RH §168,2). Nachdem diese Objekt ja keine
Flexion haben, ist der Unterschied zwischen transitiver (Akk.) und intransitiver Konstruktion (Abl.) hier von vorneherein neutralisiert:
doleo
doleo
doleo
mortem amici
amicum mortuum esse
quod amicus mortuus est
Pronominales Objekt löst Transitivierung aus Bei allen obliquen Objekten
findet Transitivierung regulär statt, wenn die Objektstelle durch ein Pronomen
besetzt wird:
doleo morte → doleo hoc;
piget laboris → piget hoc;
obliviscor amici → obliviscor hoc
studeo libertati → id studeo
Nicht hierher gehören die bei RH §114 genannten (1) Komposita wie
illudere und (ad)mirari, die zu §B.3.2.2 gehören; (2) der Typ id gaudeo,
id laetor. Das id ist hier nicht Objekt, sondern ein Kataphoricum, das
auf einen folgenden Aci- oder quod-Satz vorausweist und dessen Objektfunktion im Hauptsatz lediglich repräsentiert. Hierzu vgl. u. §B.5.2.
B.3.2.2 Transitivierung durch Präverbierung
Ein Verbum simplex kann durch Kombination mit einer Präposition transitiviert werden:
[45] Paulus it ad templum → Paulus templum adit.
Aus dem einstelligen Verb ire wird hier also das zweistellige Verb adire, und
zwar dadurch, daß die Präposition ad ihre eigenes Komplement auf das Verb
überträgt und so dessen Valenz erweitert, vgl. Abb. B.13 .
?
Übersetzen Sie mit Hilfe einer solchen Konstruktion:
3 Nach Chr. Lehmann, Latin preverbs and cases. H. Pinkster (ed.): Latin linguistics and linguistic theory. 1983, 145ff.
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Latinistik
RH §112
F. Heberlein
Syntax I
Präd.: it
↓
Sj.:
Paulus
WS 2014-15
Relator: ad
↙
↘
Locatum:
Paulus
↘
Referenzpunkt:
templum
↙
adit
↙↘
Sj.:
Paulus
AkkObj:
templum
Abbildung B.1: Präverbierung: die beiden Komplemente der Präposition, nämlich der Referenzpunkt der Bewegung (templum) und das bewegte Element (das sog. Locatum, Paulus), werden
kombiniert mit dem Komplement von ire. Dabei werden das Locatum der Präp. und das Subjekt
des Verbs miteinander identifiziert (beide Paulus) und das Relatum der Präposition (templum) als
neues Objekt hinzugefügt.
[46] um das Lager herumgehen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[47] den Feind umzingeln: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[48] an der Stadt vorbeigehen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[49] die Stadt belagern: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[50] am Rhein wohnen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[51] Caesar führte seine Truppen über den Rhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wenn bei traducere zwei Ortsangabe stehen, nämlich passierter Bereich und Ziel, wird
die Präposition wiederholt4
[52] Caesar copias trans Rhenum in Galliam traduxit.
Lernen Sie die bei RH §112 verzeichneten Phrasen wie adire oraculum
.
B.3.2.3 Transitivierung durch Bedeutungswandel
Manche intransitive Verben haben neben ihrer Ausgangsbedeutung eine abgeleite Bedeutung entwickelt, die dann ‘regelwidrig’ ebenfalls zu einer transitiven Konstruktion geführt hat. Das führt dazu, daß diese Verben (vermeintlich)
unverträgliche Bedeutungen haben. Hier drei Beispiele:
1. tuēri:
zu tumeo ‘sich aufplustern’:
a gegenüber jemandem ∼ ihn (eindringlich) anschauen
b zugunsten von jemanden ∼ ihn schützen.
4 Soetwas nennt man »grammatische Hypercharakterisierung«: es werden mehr grammat. Mittel verwendet, als nötig, vgl. Baldi 360.
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Syntax I
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Übersetzen Sie:
?
[53] Ille transversa5 tuetur.
[54] Catul.64.53
Ariadna Thesea cedentem celeri cum classi tuetur
[55] Cic.n.d.2.219
Gallinae pullos ita tuentur, ut pinnis foveant
[56] Phaedr.3.7.10
Custos liminis domum a furibus tuetur
2. ulciscor:
zu ulcus ‘Geschwür’, also eigentlich ’eitern’ = metaphorisch ‘wüten’. Die Kombination mit einem Akkusativ der Richtung (vgl. S. 146) liefert die Bedeutung
»wüten im Hinblick auf jemand«; je nach lexikalischer Bedeutung des Objekts
wird diese als (a) »wüten gegen jemand« oder (b) »wüten zugunsten jemandes« oder (c) »wüten wegen einer Ursache« interpretiert:
a ulicisci inimicum ∼ ‘wüten gegen den Feind’ = Rache nehmen am Feind,
b ulcisci amicum ∼ ‘wüten zugunsten des Freundes’ = Rache nehmen für
den Freund6 .
c ulcisci dolorem ∼ ‘wüten wegen der Kränkung’ = sich rächen für die
Kränkung
Übersetzen Sie und bestimmen Sie, wo welcher Typ vorliegt:
?
[57] Pl.Am.1043
Illum ulciscar Thessalum veneficum, qui perturbavit familiae mentem
[58] Suet.Dom.32.1
miles sodalem occisum ultus est
[59] Liv.4.54.2
(die plebs hatte eine Niederlage einstecken müssen:) eum dolorem ulta
est plebs tunc primum plebeis quaestoribus creatis
3. defendere:
es bedeutet zunächst ‘(jemanden) wegschlagen, abwehren’ (vgl. of-fendere
‘dagegenschlagen’), hat also bereits eine transitive Ausgangskonstruktion wie
in [60] und [61]. Daraus abgeleitet ist der Typ [62]: aus ‘jemanden wegschlagen (sc. zugunsten eines Dritten)’ wird durch Besetzung der Objektstelle mit
dem Begünstigten ‘jemanden / etwas verteidigen’.
Übersetzen Sie:
?
[60] Enn.sc.6
serva cives, defende hostes
5 ‘schräg’,
d.h. neidisch
Das ist nur eine scheintransitive Konstruktion, denn der amicus ist weder affiziertes noch
effiziertes Objekt.
6
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Syntax I
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[61] Cic.off.3.74
iniuriam defendi a meis
[62] Liv.2.40.2
Viri urbem armis defendunt
B.3.2.4 Absoluter Gebrauch, Ellipse, Intransitivierung
RH 112 Vorbem. 2
Die gegenläufige Operation zur Transitivierung ist die Weglassung eines Akkusativobjekts. Hier gibt es drei Grade
• Ellipse: das Objekt wird weggelassen, seine Information bleibt jedoch
erhalten
• Absoluter Gebrauch: das Objekt wird weggelassen, seine Information
wird aber unspezifisch
• Intransitivierung: das Objekt wird gelöscht
Ellipse liegt vor, wenn das Objekt so spezifisch ist, daß auch bei Weglassung
‘mitverstanden’ wird. [63], [64] und [65] belegen die wichtigsten Varianten:
[63] a. Der alte Maier trinkt
b. Der Säugling trinkt.
[64] Der Bus hielt. Paul stieg ein.
[65] Anna liebte ihre Katze; ihr Mann nicht.
63 ist eine konventionalisierte Ellipse, die möglich ist, wenn das Subjekt bestimmte semantische Eigenschaften hat, welche die Bedeutung des ausgelassenen Objekts determinieren: in [63a] ist die nächstliegende Lesart ‘Alkohol’,
in [63b] dagegen ‘Milch’.
64 ist eine situative Ellipse; die Bedeutung des ausgelassenen Objekts (Zug,
Bus, . . . ) wird aus der Situation klar
65 ist eine anaphorische Ellipse; hier wird die Bedeutung des ausgelasssenen
Objekts aus dem vorhergehenden Text klar
Konventionalisierte und situativen Ellipsen gibt es auch im Lateinischen in
großer Zahl
[66] Caesar in Galliam duxit (sc. exercitum),
?
Schauen Sie sich Material hierzu bei KS 1, 94f an
Übersetzen Sie und benennen Sie die ausgelassenen Objekte:
[67] Caesar Brundisio conscendit: . . . . . .
[68] nondum pro vectura solvisti: . . . . . . . . .
KU Eichstätt
50
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[69] Hasdrubal clauso fluminis transitu ad Oceanum flexit: . . .
[70] Tiberius ab Armenia rediens Rhodum appulit: . . . . . .
Absoluter Gebrauch liegt vor, wenn ein Komplement weggelassen wird, weil
es kommunikativ nicht relevant ist, wie in dt.
[71] Paul ißt gerade, stör ihn nicht.
Das Objekt zu essen ist für den Äußerungszweck hier unerheblich. Präsupponiert bleibt der unspezifische Objektsinhalt ‘Eßbares’.
• Da wir §B.3 gesagt haben, daß der Akk. den Verbalinhalt spezifiziert, ist
es klar, daß die Weglassung des Objekts die Verbbedeutung etwas weniger spezifisch macht. Deshalb kann das Verb mit Adverbialien kombiniert werden, die sonst nicht möglich sind, vgl.
[72] Hannibal altero oculo minus videbat : ̸= Hannibal *altero oculo minus videbat Romanos aufugisse.
• Wenn die Informationsdichte des Verbs für eine Weglassung des Komplements nicht ausreicht, kann das Objekt dennoch weggelassen werden, wenn die fehelnde Information durch ein Adverb(iale) kompensiert
wird:
[73] Paulus Romae habitat : *Paulus habitat : Paulus luxuriose habitat.
Die Information des Verbs wohnen ist ‘trivial’, weil wir annehmen, daß
jemand irgendwo wohnt; kommunkativ relevant ist entweder wo oder
wie.
Intransitivierung Fälle wie o. [70] können Bildungsquelle für regelrechte neue
Intransitiva sein. Das Objekt wird gelöscht und damit ein neues intransitives
Verb gebildet ( ↑ Lexikalisierung):
[74] Suet.Tit.5
Titus Rhegium oneraria nave appulit
?
B.3.3
Welches Indiz für echte Intransitiverung (‘landen’) liegt hier vor?
Verben mit vager Diathese
Als Resultat der oben geschilderten Prozesse der Transitivierung und Intransitivierung gibt es eine ganze Anzahl von Verben mit ‘vager Diathese’, die
also sowohl transitiv als auch intransitiv sind. Sie treten neben eine andere,
altertümliche Verbgruppe, die von Haus aus vage Diathese hat, so auch im
Deutschen:
KU Eichstätt
51
Latinistik
RH 113
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[75] a. Die Suppe kocht
b. Erich kocht die Suppe
[76] a. das Brett bricht
b. Erika bricht das Brett
[77] a. aus der Schlacht fliehen
b. den Feind fliehen
?
Schauen Sie die folgenden Verben im Lexion nach und klären sie deren
transitive und intransitive Bedeutung:
as-/consuesco
cano
circumspicio
communico
concedo
conduco
convenio
debello
declino
deflecto
deploro
(ob)duro
effringo
festino
horreo
indulgeo
laxo
loquor
moveo
offendo
opperior
propero
prae-/antecedo
praecipito
teneo, obtineo
turbo
verto
Weiteres Material bei MBS §346-7. Eine vollständige Liste solcher Verben mit Einzelerklärungen bietet L. Feltenius, Intransitivizations in Latin, Upsala 1977.
Sonderfälle:
1. effugere:
[78] Niemand kann aus der Stadt fliehen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[79] Niemand kann dem Zorn seines Patrons enfliehen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bei konkreter lokaler Bedeutung ist nur die intransitive Version möglich, d.h.
der Referenzpunkt der Bewegung wird als Separativ markiert, bei übertragener ist auch die transitive Version möglich.
2. deficere:
Zu facere, eig. stellen, setzen7 . Deficere ist also eig. ‘(sich) losmachen von’.
Durchsichtig ist somit der Typ deficere ab aliquo, während die anderen Konstruktionen Ergebnis von Transitivierung und absolutem Gebrauch sind:
?
Intransitiv + Ref.-Punkt:
transitiv
absoluter Gebrauch
deficere ab aliquo
abfallen von
deficere aliquem
jemanden verlassen
deficio
abnehmen, schwinden
Übersetzen Sie:
[80] Das Heer fiel von Pompeius ab: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 Vgl.
fēci mit gr. ê-jhka (idg. -th- → lat. -f-).
KU Eichstätt
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Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[81] Als Hercules die Pfeile ausgingen, wurde er von Juppiter durch einen
Steinregen unterstützt:
Hercules, cum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a Iove lapidum imbre adiutus est.
[82] Die Kräfte verlassen mich: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[83] Die Zeit für einen Feldzug wurde knapp: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[84] Ich verliere den Mut: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. adaequare:
• Semantik:
Adaequare, zu Zu aequus »gleich«, ist ein Komparationsverb, mit dem zwei
Dinge auf ihre Gleichheit hin verglichen werden. Die verglichene Eigenschaft
ist dabei entweder implizit oder sie wird spezifiziert. Ersteres in [85a.] und
[85c.], wo die Dimension ‘Höhe’ impliziert wird, letzteres in [85b.], wo die
Qualität ‘facultas dicendi’ spezifiziert wird:
[85]
a.
b.
c.
intr.
trans.
Romani
Primum c.
Secundum c.
Tertium c.
Spezifikator
turris
Cato
moenia
murum
Caesarem
solo
adaequavit
adaequavit
adaequaverunt
facultate dicendi
• Syntax:
Wie [85] zeigt, gibt es von adaequare eine intransitive und eine transitive Variante.
– Der intransitive Typ [85] a. und b. ist zweistellig und bezeichnet einen
Zustand. Das Primum comparandum ist Subjekt, das Secundum ist Akk.Objekt. Dieser Akkusativ stammt von der Präposition ad; er macht also
das Verb nicht transitiv, denn er drückt das Secundum comparationis,
nicht einen Patiens aus. Daher ist die Konstruktion nicht ins Passiv umsetzbar.
– Der transitive Typ [85] c. ist dreistellig und bezeichnet eine Handlung.
Das Subjekt ist Agens, das Akk.-Objekt kombiniert die Funktionen Patiens
+ Primum comparandum, und das zusätzlich hinzutretende Dativobjekt
drückt das Secundum comparatum aus.
Dieser Typ kann natürlich (1) ins Passiv umgesetzt werden, vgl. [86], und
(2) statt des Dativobjekts findet sich auch ein Präpositionalobjekt, v.a. bei
übertragener Bedeutung, vgl. [87].
?
Übersetzen Sie:
[86] Die Mauern wurden von den Römern dem Erdboden gleichgemacht.
.......................................
[87] Cic.Arch.24
Pompeius hat seine äußeren Lebensumstände seiner Tüchtigkeit angeglichen:
Pompeius fortun . . . . . . . . . . . . . . adaequavit
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53
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
B.4 Nominalisierung transitiver und intransitiver Sätze
Wird ein Verb zum Substantiv, d.h. zu einem ‘Verbalabstraktum’, nominalisiert, behält es seine Relationalität, aber es ändert sich das Ausdrucksformat
der Ergänzungen zum sog. Genitivus subiectivus bzw. Genitvus obiectivus.
‘Subjekt’
‘Prädikat’
‘Objekt’
Intrans.:
parentum
↑
parentes
sapientia
↑
sapiunt
—
Trans.:
Caesaris
↑
Caesar
translatio
↑
transfert
pecuniarum
↑
pecunias
Tabelle B.3: Genitivus subiectivus und obiectivus
1. Die Namen besagen, daß aus dem Subjekt und dem Objekt Genitive werden, d.h. die Komplemente des Verbalabstraktums nehmen den üblichen Marker für die adnominale Relation eines Substantivs an, die des Attributs. Aus
Gründen der Deutlichkeit kann der ‘Genitivus obiectivus’ durch eine Präposition ersetzt werden: amor parentum → amer erga parentes.
Anmerkungen
(a) Der Genitiv war ursprünglich Marker der Kategorisierung, d.h. partitiver, possessiver und ähnlicher Relationen; ein Gen.subi. kann teilweise noch so interpretiert werden:
sapientiaPossessum parentumPossessor. Der Gen.er wurde aber schon sehr früh zum Marker adnominaler Relationen schlechthin grammatikalisiert.
(b) Statt eines Gen. obiectivus findet sich im Altlatein vereinzelt, daß ein Verbalabstraktum die normale Akkusativrektion hat; neben dem klass. Typ [89] steht also der Typ
[88]:
[88] Pl.Amph.519
Quid tibi hanc curatio est rem?
[89] Cic.Nat.deor.1,94
omnis cultus et curatio corporis erit eadem adhibenda deo, quae adhibetur homini
2. Bei jeder Nominalisierung eines Verbs wird das vormalige Subjekt syntaktisch prinzipiell entbehrlich, nicht aber das vormalige Objekt. Vgl. z.B.
[90] MarcusSj discit linguam Graecam
[91] MarcusSj constituit linguam Graecam ∅sj discere
Ähnliches gilt für den Genitivus subiectivus. Findet sich also bei einem transitiven Verbalabstraktum nur ein einziger Genitiv, ist dieser in der Regel der
Patiens (‘Gen. obiectivus’):
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Latinistik
F. Heberlein
poeta
Agens
Subj
Syntax I
laudat
Prädikat
Pisonem
Patiens
AkkObj
→
laus
Abstraktum
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Pisonis
Patiens
Attribut
Der Patiens kann nur dann weggelassen werden, wenn er aus dem Kontext
ergänzbar ist; nur in diesem Falle kann der einzige vorhandene Gentiv eines
transitiven Verbalabstraktums also auch ‘Genitivus subiectivus’ sein:
[92] Victoria Romanorum Carthaginienses gravissime afflixit.
Ausschlaggebend für die Interpretation ist dann die semantische Verträglichkeit mit dem Hauptsatzprädikat oder außersprachliches Wissen.
3. Kommunikativer Zweck einer solchen Satznominalisierung ist die Komprimierung einer als gegeben vorausgesetzten Information, welche in einen
anderen Satz eingegliedert werden soll:
[93] Die Verarbeitung von Pappe zu Trabis war eines der großen Industriegeheimnisse der DDR (← Wie man Trabis zu Pappe verarbeitet . . . ).
Die Konstruktion entspricht also funktional einem ‘faktischen’ Nebensatz und
kann auch vielfach durch einen solchen paraphrasiert werden:
[94] Ille admiratur propter animi multarum rerum brevi tempore percursionem.
→ Ille admiratur, quod animus (eius) brevi tempore multas res pecurrit.
Anwendung
• Übersetzen Sie [95] und formulieren Sie den lat. Nebensatz, mit translatio
+ Ergänzungen nominalisiert ist. Bestimmen Sie die semant. Funktion der
Genitive.
[95] Caesaris pecuniarum translatio a iustis dominis ad alienos non debet liberalis videri.
• Übersetzen Sie die kursiv gesetzte Passage mit Gen.obj.:
[96] Nur wenige hat die Furcht vor Bestrafung von einem Verbrechen abgehalten:
Paucos . . . . . . . . . . . . . a facinore deterruit.
B.5 Nicht-transitive Verben mit einem Akkusativobjekt
Hierher gehören zwei Gruppen, nämlich
• Unpersönliche Verben des Typs me iuvat, me fugit, me piget
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55
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Syntax I
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• das sog. ‘innere Objekt’ bei intransitiven Verben des Typs acerrimam
pugnam pugnare
Der ersten Gruppe fehlt das personale Subjekt, der zweiten ein vollwertiges
Objekt.
B.5.1
Unpersönliche Verben mit Akkusativ der Person
Diese Verben bilden zwei semantische Gruppen:
1. (Negative) Kognitionsverben:
RH §113,2
fallit, fugit, praeterit: das sind die negativen Gegenstücke zu den Verba sentiendi wie scio. Sie geben den Geltungsgrad der Äußerung an (scit ‘er weiß’, eum
fugit ‘er weiß nicht’); technisch gesagt: es sind epistemische Modalitätsverben8 .
[97] me fugit eum abiisse
2. Verba affectus: piget, pudet, paenitet, taedet, miseret; iuvat
RH 137
Das sind Verben die eine Einstellung gegenüber einem gegebenen Faktum
ausdrücken, vgl.
[98] eum piget peccati / pecavisse
Die Satzstruktur ist
Patiens
Akk.Obj.
Prädikat
Geltungsbereich
me
me
fugit
pudet
eum abisse
peccavisse / peccati
Tabelle B.4: Unpersönliche Verben mit Akk.-Objekt
Von prototypischen transitiven Konstruktionen unterscheidet dieses Muster sich dadurch,
daß ein personales Subjekt fehlt: (1) Beim Typ me fugit handelt es sich um eine Ableitung
aus dem persönlichen Muster aliquis me fugit / fallit, bei dem aus einem Handlungsverb
(‘fliehen, täuschen, vorübergehen’) dadurch ein Kongitionsverb abgeleitet wird, daß das
personale Subjekt durch einen Sachverhalt ersetzt wurde, (2) beim Typ pudet me peccati
handelt es sich um einen originär unpersönlichen Typ, bei dem der Geltungsbereich, sofern
er durch ein Substantiv auftritt, im Genitiv (der Kategorie, vgl. S. 108) steht. Der. Akk.
dagegen bezeichnet ganz normal den Patiens, eine Person die einem Affekt oder einer
Wahrnehmungstäuschung ausgesetzt ist.
Im Dt. ist die Situation ähnlich: der Wahrnehmungs- bzw. Empfindungsträger steht nicht
im Nominativ (mir entgeht, mich ärgert / freut, daß etc.), syntaktisches Subjekt ist der
Inhalt der Empfindung, der im Hauptsatz wegen des Zwangs zum Ausdruck des Subjekts
durch das Scheinsubjekt es repräsentiert wird, sofern das Hauptverb voransteht:
[99] Es freut / ärgert mich, das zu hören / das zu hören freut mich
8 Zu
diesen Begriffen näheres im Kapitel ‘Modus und Modalität’.
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Syntax I
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B.5.1.1 Ausdrucksformate
Tabelle B.5 stellt die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten für die Komplemente zu diesen Verben dar.
I.
II.
piget
pudet
paenitet
iuvat
fugit
fallit
praeterit
Gen.-Obj.:
Subst
+
+
+
Pro
+
+
+
+
Subjekt:
SubstNom Inf
+
+
+
+
+
+
+
Aci
NS:
quod
quod
+
+
+
Frage
Frage
Frage
Tabelle B.5: Unpersönliche Verben mit Akk.-Objekt der Person
Die Syntax der Komplemente entspricht mit den nachfolgend genannten Einschränkungen den anderen Verba affectus, sentiendi und Urteilsverben, und
wie bei diesen ist das Komplement natürlich pronominalisierbar (hoc me paenitat / iuvat / fugit):
I. Verba affectus: piget, pudet, paenitet; iuvat:
[100] Cic.div.1.63
eos peccatorum suorum maxime pudet
[101] Hoc me piget.
[102] Cic.Cato 84
non me paenitet vixisse
[103] Cic.Att. 11,13,2
eum paenitet, quod animum tuum offendit
– Diese Gruppe hat, wenn das Objekt ein Substantiv ist, ein Genitivobjekt
– im Gegensatz zu anderen Verba affectus.
– Wenn das Objekt satzförmig ist, steht bei diesen Verben statt des bei
anderen Verba affectus üblichen AcI eine Infinitivkonstruktion, weil das
semant. Subjekt des Infinitivs regelmäßig mit dem Akk. der Person identisch ist wie in [102] (Ausnahmen mit Aci bei KS 1, 702).
– Im Einklang mit den anderen Verba affectus findet sich aber der quodSatz (klass. meist bei paenitet).
II. Verba sentiendi: fugit, fallit, praeterit.
Das sind metaphorische Ableitungen von Bewegungsverben9 . Im Unterschied
zu den ‘normalen’ Verba sentiendi in RH §168 sind sie inhärent negativ (me
fugit ∼ non sentio), können aber durch ↑ Litotes positiven Sinn annehmen (non
me fugit).
9 fugere
‘fliehen’, praetire ‘vorübergehen’, fallere (kausativ) ‘stolpern machen’
KU Eichstätt
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Syntax I
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Ihr Sachobjekt wird demzufolge konstruiert wie das der anderen Verba sentiendi, d.h. eine satzförmige Ergänzung steht im Aci oder im indirekten Fragesatz:
[104] Cic.Verr.3,182
Non me fugit vetera exempla pro ficits fabulis iam haberi
[105] Cic.Quinct. 54
Non me fallit, quae sint consilia adversariorum
B.5.2
RH §116
Sog. ‘Inneres Objekt’
Der Begriff ‘inneres Objekt’ besagt, daß ein Ausdruck im Akkusativ zu einem
intransitiven Verb tritt (wo also ein Akk.-Objekt gar nicht möglich ist):
[106] Servire → miserrimam servitutem servire
Wie wir in §B.3.1.1 gesagt haben, ist das nur ein Pseudo-Objekt, weil es nicht,
wie ein echter Patiens, vom Verb unabhängige Referenz hat. Seine semantische Funktion es ist, den Verbalinhalt expressiv zu verstärken; aus diesem
Grund tritt es auch im Grundtyp (unten Nr. I.) regulär in der Konfiguration
‘Substantiv + Attribut’ (miserrimam servitutem) auf.
B.5.2.1 Typologie
Die bei RH genannten Beispiele gliedern sich in folgende Gruppen (zu §116,3
s. nächster Abs.):
1. Das Ps.-Objekt ist mit dem Verb stammverwandt:
[107] acerrimam pugnam pugnare
[108] verissimum iusiurandum iurare
[109] istam pugnam pugnare
Das ist der häufigste Typ10 . Die Bedeutungskompentente ‘Kampf’ wird durch
ein Attribut (acerrimam) oder ein Anaphoricum ([109]) spezifiziert. Dieser Typ
heißt traditionel ‘figura etymologica’ (zur Geschichte s. HS 38f).
Die volle Form [107] läßt sich problemlos durch ein Adverb(iale) paraphrasieren (acerrime pugnare). Das zeigt, daß das ‘innere Objekt’ kein Objekt, sondern
ein Modifikator des Verbs ist.
?
Versuchen Sie es:
[110] deorum vitam vivere: ∼ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[111] verissimum iusiurandum iurare: ∼ . . . . . . . . . . . . . . . .
10 Vgl. H. Rosén: On cognate complements. R. Risselada e.a. (eds.) On Latin. Fs H. Pinkster,
1996, 127-150.
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Syntax I
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2. Das Ps.-Objekt ist mit dem Verb nur semantisch verwandt:
Das ist eine Ableitung aus dem Grundtyp:
[112] Hor.carm.4.9.14
non pugnavit ingens Idomeneus . . . solus dicenda Musis proelia
3. Das Ps.-Objekt spezifiziert einen semantischen Sonderfall:
In [113] regnet es nicht, wie üblich Wasser, sondern Steine.
[113] Liv.28.27.16
lapides pluere et fulmina iaci de caelo . . . uos portenta esse putatis
Hier wird also ein dem Verb inkorporiertes Objekt (‘Wasser’) lexikalisiert, weil
es nicht die von der Verbbedeutung vorausgesetzte Bedeutung hat (technisch
gesagt: es liegt Objektexteriorisierung vor).
Daneben steht oft der ablativische Typ lapidibus pluere.
4. Sog. ‘Accusativus Graecus’ – ein griech. ‘Akk. der Beziehung’ wird nachgemacht:
[114] Enn.ann.374
vicit Olympia ∼
t€ >OlÔmpia ânÐkhse
B.5.2.2 Abgrenzung gegen pronominale Objekte
RH §116, 3 rechnen zum ‘inneren Objekt’ auch zwei Typen mit akkusativischen Pronomina, die nicht hierhergehören:
• id glorior / cetera tibi assentior / illud non dubito: hier steht ein pronominales
Objekt im Akkusativ statt im regulärem Abl.- oder Präp.-Obj. Wir haben auf
S. 47 schon darauf hingewesen, daß pronominale Objekte transitiviert werden.
Unten in §D.4.1 auf S. 105 wird uns das bei hoc memini / obliviscor statt huius
rei memini / obliviscor wiederbegegnen.
Zweck dieser Transitivierungen ist es, umständliche Paraphrasen wie memini
huius rei zu vermeiden; (huius alleine würde als Maskulinum interpetiert.
• id studeo, ut vincam: das ist eine Erweiterung des vorstehenden Typs: das
Objekt wird durch den ut-Satz ausgedrückt, der seinerseits durch das Kataphorikum id vorbereitet wird.
Wir stellen in der folgenden Tabelle alle obliquen und zusätzlich die satzartigen Objekten zusammen, die bei Pronominalisierung in der geschilderten
Weise ‘normalisiert’ werden:
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59
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
cogo te
prohibeo te
admoneo te
(1) Kasus obliquus
ad pugnam
a pugna
de ea re
celo te
studeo
eam rem/ de ea re
libertati
(2) Nebensatz
pugnare
ne pugnes
ut venias
eum adesse
me timere
abire
te liberum esse
ut discam
eum abisse
quid dixerit
pecavisse
me dixisse
fugit me
piget me
obliviscor
WS 2014-15
facinoris
amici
(3) Anaphoricum
id
id
id
id
id
id
id
id
B.6 Doppelter Akkusativ
RH §119ff; 121
B.6.1
Beschreibung
Im Lateinischen wie im Deutschen gibt es zwei Arten von ‘doppeltem Akkusativ’, nämlich A. ‘Objekt + Objekt’, B. ‘Objekt + Prädikatsnomen:
A(= RH §119)
Socrates
Platonem
philosophiam
docuit
‘Sokrates lehrte
Philosophie’
P.
B (= RH §121)
Romani
Akk.Obj.
Ciceronem
Akk.Obj.
consulem
creaverunt
‘Die Römer wählten
Cicero zum Konsul’
Akk.Obj
PN
In A hat der zweite Akkusative eine andere Referenz als der erste (Plato ̸= philosophia), in B dagegen bezeichnet der zweite Akkusativ eine Eigenschaft des
ersten (Cicero (est) consul).
Form: Das Muster B hat im Nhd. eine Präposition (zum Konsul); das ist eine jüngere
Variante eines doppelten Akkusativs, der im Frühnhd. noch existierte (vgl. [115]) noch
heute im Englischen üblich ist, vgl. [116].
[115] Darnach wollen wir all deutsche Bischoff Cardinel machen. (Luther)
[116] Napoleon appointed his stepson, Eugène de Beauharnais, viceroy
Funktion: Die Unterschiede zwischen A und B treten zutage, wenn wir auf folgende
Beispiele zwei kleine Tests anwenden:
1. Wir setzen den beide Muster ins Passiv:
A
B
parentes filium pecuniam poscunt
‘Die Eltern fordern von ihrem Sohn Geld’
Caesar Cavarinum constituit regem
‘Caesar setzt C. als König ein’
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60
→
filius a parentibus pecuniam poscitur
→
a Caesare Cavarinus constituitur rex
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
In A bleibt das Sachobjekt im Akkusativ, in B tritt das Prädikatsnomen analog zu seinem
Bezugswort in den Nominativ.
2. Wir versuchen, die Relation zwischen den beiden Akkusativen durch einen Kopulasatz
zu paraphrasieren – das funktioniert nur in B:
A
B
̸= Plato philosophia est
∼ Cavarinus rex est / fit
Die Unterschiede zwischen A und B ist der, den wir den wir §A.3.3.1 auf S. 31
zwischen kongruentem und obliquem Kasus gemacht haben:
1. beim Typ B hat der 2. Akkusativ alle Eigenschaften, die wir von einem
Prädikatsnomen des Typs Cavarinus rex est kennen (vgl. §B.2.2.2):
• Er kongruiert im Kasus mit seinem Bezugswort: daher Nominativ beim
Passiv (Test 1)
• er als ‘Prädikatsnomen plus Kopula’ paraphrasierbar (Test 3).
2. beim Typ A dagegen hat der 2. Akkusativ alle Eigenschaften eines Objekts:
• er verbleibt bei Passivtransformation im Akk., ist also ein echtes Objekt,
nämlich ein Sachobjekt neben einem Objekt der Person.
• er kann nicht Prädikat eines Kopulasatzes werden; stattdessen kann einen
ganzen Sachverhalt bezeichnen und ist dann durch einen Infinitiv oder
Nebensatz ausdrückbar: Socrates Platonem philosophiam docuit → Socrates
Platonem philosophari docuit.
• Der historische Kern dieses Typs ist eine Kausativkonstruktion des Musters iubere / sinere aliquem aliquid:
Marcus docet
te
musicam
Marcus läßt annehmen Dich die Musik
B.6.2
Der Typ ‘doppeltes Objekt’
steht wie oben gesagt bei Verben, die kraft ihrer Valenz zwei referenzverschiedene Ergänzungen haben:
docere, celare; poscere, rogare, flagitare aliquem aliquid.
1. Beim Prototyp
bezeichnet der erste Akk. ein Lebewesen, der zweite Akkusativ einen Sachverhalt, der aber nicht als Satz ausgedrückt wird, sondern auf ein Substantiv
oder anaphorisches Pronomen, das einen Sachverhalt repräsentiert, reduziert
ist. Das pronomen kann anaphorisch ([117]) oder kataphorisch ([118]) sein;
im letzteren Fall wird sein Inhalt durch einen nachfolgenden Explikativsatz
»nachgeliedert«.
[117] Quint. decl. 5.pr.8
Parentes filium alimenta poscunt
KU Eichstätt
61
Latinistik
RH §119
F. Heberlein
Syntax I
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[118] Cic. fin. 5.83
Quid me istud rogas? inquam. Stoicos roga.
Die Sachverhaltseigenschaft des zweiten Akk. zeigt sich, wie ebenfalls schon
gesagt, daran, daß er oft durch einen Inf. oder Nebensatz ersetzt werden kann:
[119] Tib.2.1.41
Dei tauros servitium docuerunt ∼ tauros servire docuerunt
[120] Sen. con. 1.1.10
Quisquis alimenta a medico rogatus est, . . . monstrat11 : » i ad fratrem, i
ad filium«
2. Alternative Ausdrucksformate bei poscere, rogare und flagitare
ergeben sich durch ↑ Analogie zur Konstruktion von postulare:
(a) das Objekt der Person wird durch ab + Abl. ersetzt:
[121] Cic. Verr. 2.117
Hoc a me munus universa provincia poposcit
[122] Vitr. 7.pr.6
Aristophanes vero, cum ab eo sententia rogaretur, respondit . . .
(b) das Objekt der Sache wird durch einen Finalsatz ersetzt:
[123] Liv.5.28.9
poposcerunt, ut confestim se ad castra hostium duceret
3. docere und celare sind in ihrer Grundbedeutung ‘lehren’ bzw. ‘verbergen’
Handlungsverben, in abgeleiteter Bedeutung (»informieren« bzw. »verheimlichen«) sind sie Informationsverben.
(a) Als Handlungsverben haben sie den doppelten Akkusativ:
[124] Damon unterrichtete Perikles in der Musik:
[125] Colum. 11.2.36
Pridie Kalendas Maias Canis stella se uespere celat
‘Am 30. April geht der Sirius am Abend unter’
Bei docere gibt es für den 2. Akkusativ als alternatives Ausdrucksformat den
Infinitiv:
[126] Damon lehrte Perikles das Flötenspielen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bei Passivtransformation wird das Verb gewechselt, nämlich docere → discere,
ein Fall von lexikalischer Bildung der ↑ Diathese:
[127] Perikles wurde von Damon in der Musik unterrichtet: . . . . . . . . . . . . . . . . .
(b) Als Informationsverben (‘informieren’ bzw. ‘verschweigen, verheimlichen’)
11 hier:
»zu verstehen geben«
KU Eichstätt
62
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
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haben sie alle Konstruktionsmöglichkeiten, die Informationsverben (‘Verba dicendi’) im Lateinischen haben, nämlich
i. Das Sachobjekt steht im AcI:
[128] Sall.I.68.3
Is milites docet oppidum non amplius mille passum abesse
[129] Cic.Att.11.24.2
Eam celo me hoc timere
ii. Das Sachobjekt steht im indirekten Fragesatz:
[130] Cic.fam.3.6.5
Litterae me docebant, quid ageres
[131] Cic.off.3.52
Tu celabis homines, quid iis adsit commoditatis?
iii. Das Sachobjekt wird durch eine Themaangabe mit de + Ablativ ersetzt
(Muster: dixit de . . . ):
[132] Caes.civ.2.3.3
Nasidius praemissa navicula Massilienses de suo adventu certiores
facit
[133] Cic.Deio.10 De insidiis celare te noluit
B.6.3
Der Typ AkkObj + Prädikatsnomen
Hier ist, wie oben gesagt, der 2. Akk nicht-referierend und nennt eine Eigenschaft des ersten:
[134] Caesar Cavarinum constituit regem ∼ Cavarinus rex fit
Bei RH §121 finden sich drei Verbgruppen, die hierher gehören. Sie unterscheiden sich wie folgt:
1. Die Gruppe haben, nehmen, geben
betrifft Verben, bei denen der Akkusativ lediglich ein appositiver Zusatz zu
einem transitiven Verb ist; er weglaßbar, ohne daß sich die Verbbedeutung
ändert:
[135] a. habeo servum : b. habeo servum comitem ‘haben als’
[136] a. dare amico servum : b. dare amico servum comitem: ‘geben als’
?
Weitere Bedeutungen von habere:
[137] habeo te amicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[138] Plato Graeciae praeceptor habebatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[139] habeo incerta pro veris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
KU Eichstätt
63
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
2. se praebere gehört etymologisch zur habere-Gruppe und kann daher durch
einen zweiten Akk. erweitert werden, se gerere dagegen nicht; es hat statt des
2. Akk. ein Adverb .
?
Übersetzen Sie dementsprechend mit beiden Verben:
[140] Verres führte sich sehr übel (turpis) auf.
3. Bei den anderen Verben mit doppeltem Akkusativ ist der zweite Akk. obligatorisch geworden (↑ Erweiterung der Realtionalität). Das betrifft
(a) Verben für halten für, beurteilen als:
[141] a. appello eum: . . . . . . . . . . . . . . .
b. appello eum amicum: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[142] a. putare numerum: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. putare aliquem tristem: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[143] a. senatores sententiam dicunt: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b. senatores dicunt Ciceronem patrem patriae: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(b) Verben für machen zu, wählen zu12 .
Das sind Erweiterungen von Verben mit effiziertem Objekt; die Erweiterung macht aus dem effizierten ein affizierten Objekt, denn das zweite
Akk.-Objekt bezeichnet den Zustand, in den das erste Objekt überführt
wird.
[144] a. facio pontem / coniurationem ̸= facio amicum
b. facio amicum heredem
[145] a. stercus herbas creat
b. Romani Ciceronem consulem creaverunt.
[146] Pl. Capt. 326
lucrum multos homines lutulentos reddidit
Zur Geschichte der Konstruktionen mit facere in [144] ist zu folgendes ergänzen:
1. Die auf der Basis von facere entwickelten kausativen Konstruktionen in den romanischen Sprachen wie
[147] it. fare sapere qcs. a qcn ‘jemand etwas wissen lassen’; fare ridere qcn. jemanden
zum Lachen bringen
[148] frz. faire lire un texte aux élèves ‘die Schüler einen Text lesen lassen’
beruhen auf Ausdrücken, die im Altlatein vorhanden sind (vgl. [149]), im klass. Latein
aber verpönt sind und erst im Spätlatein wieder zum Vorschein kommen.
[149] Ter.Heau.873
Te scientem faciam quiquid egero
‘ich werde Dich wissen lassen, was ich getan habe’
2. Im klass. Latein gibt es diesen Typ nur in fachsprachlicher Verwendung:
12 Den
Typ appellare, nominare etc. haben wir zur vorigen Gruppe gestellt.
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[150] Xenophon facit Socratem disputantem de immortalitate animi.
‘X. läßt Sokrates über die Unsterblichkeit der Seele vortragen’
Facere meint hier ‘jemand in einer bestimmten Rolle auftreten lassen’, d.h. im fiktionalen
Kontext der Literatur. Darauf kommen wir beim Partizip in Syntax IV zurück.
3. Ein generelles Kausativverb wie dt. lassen gibt es im klass. Latein nicht. Je nach
Kontext muß ein spezielles Kausativverb gewählt werden:
[151] (a) iubeo te venire
‘ich lasse dich kommen (= ich befehle, daß . . . )’
(b) sino te abire
‘ich lasse Dich gehen (= ich lasse zu, daß . . . )’
(c) patior te abire
‘ich lasse Dich gehen (= ich nehme es hin, daß . . . )’
(d) efficio ut rideas
‘ich bringe Dich zum Lachen’
Zusatz: Die Kongruenz bei pronominalem Objekt ist geregelt wie beim Prädikatsnomen im Nominativ, vgl. §B.2.2.1 auf S. 40:
[152] a. Paul nennt das Freiheit
b. Paulus hanc appellat libertatem
Wie wir an [152] sehen, gilt die Regel von der Kongruenz eines proninalen Subjekts mit einem substantivischen Prädikatsnomen analog bei einem doppelten
Akkusativ aus pronominalem Objekt und substantivischem Prädikatsnomen.
?
Übersetzen Sie dementsprechend:
[153] Das verstehe ich unter ‘Idee’ (intellego; idea): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[154] Es ist klar, was Platon unter der Idee versteht (apparet):
.................................
B.7 Weiterführende Information
Kasussynkretismus
Daß der Akkusativ zwei Relationen umfaßt, die synchron anscheinend nichts miteinander
zu tun haben, nämlich den Akk. als Objekt und den Akk. als Ortsangabe, zeigt, daß wir
auch beim Akk., ähnlich wie im viel bekannteren Fall des Ablativs, mit einem Zusammenfall, einem ‘Synkretismus’ ursprünlich unabhängiger Funktion zu rechnen haben.
1. Wenn müssen zunächst voraussetzen, daß (1) konkrete Relationen älter sind als abstrakte, (2) appositionelle Konstruktionen älter sind als rektive. Demnach müßten im
Bereich des Akkusativs folgende die beiden Typen die ältesten sein:
[155] irem Romam
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[156] iurare verissimum iusiurandum
Das Akkusativobjekt in seinen beiden Variaten als ‘affiziertes’ und ‘effiziertes’ Objekt
müßte demnach aus diesen beiden Typen entwickelt sein.
2. Diese Entwicklung könnte, in Anlehnung an Schwyzer, Griech. Grammatik 2,67ff so
verlaufen sein:
(a) Beim Akk. der Bewegung tritt als Referenzpunkt statt eines Ortes ein bewegliches
Objekt ein:
[157] sequor bestiam
Damit entsteht ein von der Bewegung sequi ‘affiziertes’ Objekt.
(b) beim appositionelle Akk. des Inhalts treten neben dem Typ acerrimam pugnam
pugnare, der den Modus des pugnare spezifiziert, Substantive wie iusiurandum in
[156] auf, die als ‘Resultat’ interpertiert werden können, d.h. als ‘effiziertes’ Objekt.
Nach diesen beiden Prototypen können dann durch Analogie und Generalisierung
weitere Muster mit ‘affizierten’ und ‘effizierten’ Objekten gebildet werden.
(c) Gemeinsam haben sie die ‘inagentive’ Endung -m, die auch beim Nominativ des
Neutrum vorhanden ist (ein Neutrum ist per definitionem ein ‘Nicht-Agens’), die in
Opposition zum ‘agentiven’ -s / ∅ dominus / nauta, consul des Nominativs steht.
(d) Durch fortschreitende Grammatikalisierung entsteht so der Typ ‘transitives Prädikat’:
Akk d. Bewegung
Akk des Inhalts
ire Romam
pugnam pugnare
↓
↓
sequi aliquem
Patiens, ‘affiziert’
iusiurandum iurare
Patiens, ‘effiziert’
↘
↙
-m
‘inagentiv’
vgl. Neutrum
↓
‘Transitivierung’
Literatur
Zur Präverbierung: Chr. Lehmann, Latin preverbs and cases. H. Pinkster (ed.): Latin
linguistics and linguistic theory. 1983, 145ff.
Zur ‘Figura etymologica’: H. Rosén, On cognate complements. R. Risselada e.a. (eds.)
On Latin. Fs H. Pinkster, 1996, 127-150.
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Kapitel C
Indirekte Partizipation: Der Dativ und seine
Konkurrenzausdrücke
Als ‘indirekte Partizipanten’ haben wir in §A.4 diejenigen Teilnehmer einer
Situation bezeichnent, die in die Situation involviert sind, ohne aber effiziertes
oder affiziertes Objekt zu sein, z.B.
Ich
Agens
gebe
Dir
indir.
Partizipant
ein Buch
Patiens
Allgemein ausgedrückt, bezeichnet ein indirekter Partizipant den Referenzpunkt, auf den hin die Situation orientiert ist. So wird etwa in [1] die Lage der
Belgier durch den Referenzpunkt ‘Germanen’ bestimmt, in [2] eine Äußerung
auf einen Adressaten orientiert.
[1] Caes.Gal.1.1.3
Belgae proximi sunt Germanis
[2] Cic.fam.8.1.2
In Kal. Iun., ut mihi ipse dixit, eam distulit relationem
Das bevorzugte Ausdrucksformat für indirekte Partizipanten ist im Lateinischen der Dativ. Konkurrierende Ausdrucksformate sind Präposition und fallweise der Akk; Einzelheiten nachstehend.
C.1 Semantische Varianten indirekter Partizipation
Der Grundtyp ‘indirekter Partizipant’ kann durch zwei Operationen variiert
werden, nämlich
• semantische Variation durch (1) den Wechsel belebt ↔ unbelebt, (2) durch
Metapher, Metonymie und Abstraktion
• syntaktische Variation: ein indirekter Partizipant kann der Rektion unterliegen – am häufigsten als Dativ-Objekt – oder Adverbiale sein. Im
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ersteren Falle wird seine Interpretation durch das Verb, von dem er regiert wird, definiert, im letzteren durch die semantische Relation zum
Gesamtsatz.
Beispiele:
[3] Catul.14.7
hoc munus dat tibi Sulla litterator
[4] Petr.62.5
mihi anima in naso esse (=erat), stabam tamquam mortuus.
In [3] besetzt tibi die Stelle des Dat.-Objekts zu dare, wird also durch diese
Abhängkeit als Empfänger definiert; in [4] ist mihi Adverbiale; seine semantische Funktion als ‘Betroffener’ wird somit nur dadurch definiert, daß diese
semantisch zum Hs. ‘paßt’, technisch gesagt: die nächstliegende Lesart ist.
Tabelle C.1 stellt die häufigsten semantischen Variationen indirekter Partizipation zusammen.
belebt:
Objekt
Nutznießer
Betroffener
Adressat
do vestem pauperi
noceo tibi
persuadeo tibi ut venias
Adverbiale
Nutznießer
Betroffener
Perspektiventräger
emo vestem pauperi
anima mihi in naso stetit
ad sinistram intrantibus
canis erat
unbelebt:
Objekt
lokaler Referenzpunkt
konkret
abstrakt
turris proxima castris
religio superstioni proxima
est
comparare dicta factis
providere saluti sociorum
Secundum comparationis
Zweck
Adverbiale
Zweck
non vitae sed scholae discimus
Tabelle C.1: Semantische Varianten indirekter Partizipation
?
Analysieren sie die folgenden Beispiele gemäß Tab. C.1 (Objekt / Adverbiale? belebt / unbelebt konkret / abstrakt ?):
[5] Cic.div.2.46
quid tibi hic tandem nocet?
[6] Caes.Gal.1.3
Orgetorix persuadet Castico Sequano, . . . ut regnum in civitate sua
occuparet
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[7] Petr.29.12
ad sinistram intrantibus . . . canis ingens, . . . in pariete erat pictus
superque quadrata littera scriptum ’cave canem’.
[8] Cic.Lael.102
Mihi quidem Scipio, quamquam est subito ereptus, vivit . . . semperque
vivet
[9] bell.Afr.38.2
turris proxima fuit castris adversariorum
[10] Caes.Gal.1.16
dies instabat, quo die Caesar frumentum militibus metiri oportebat
[11] Sen.clem.1.11
Conparare nemo mansuetudini tuae (cum mensuetudine tua) audebit
divum Augustum
[12] Sen.ep.106.12
non vitae sed scholae discimus
C.2 Syntaktische Funktionen indirekter Partizipanten
Das bevorzugte Ausdrucksformat indirekter Partizipation, der Dativ, ist, wie
wir in der Einführung auf S. 31 gesagt haben, ein konkreter Kasus, und daher
sind Bedeutungsvarianten prinzipiell unabhängig von seiner syntaktischen
Funktion als Objekt oder Adverbiale. Wir haben oben aber gesagt, daß das
Interpretationsspektrum eines adverbialen Dativs größer ist als das eines Dativobjekts, weshalb wir den Objektsdativ und den adverbialen Dativ samt ihren Konkurrenzausdrücken im folgenden getrennt behandeln.
C.2.1
Der adverbiale Dativ
Aus dem eben Gesagten ergibt sich, daß schulgrammatische Begriffe wie ‘Dativus ethicus, Dativus possessivus’ keine syntaktischen Begriffe, sondern nur
Bezeichnungen für semantischen Varianten des prototypischen Funktion ‘indirekter Partizipant’ sind, die sich aus der Opposition belebt : unbelebt und
der Relation zum Restsatz ergeben.
Wir gliedern das Material zu adverbialen Dativ im folgenden nach unserem
Kriterium aus Tab. C.1 zusammen, nämlich (A) der Dativ bezeichnet eine Person, (B) der Dativ bezeichnet eine Sache:
C.2.1.1 Der adverbiale Dativ bezeichnet eine Person
Die Person ist indirekter Beteiligter (‘Nutznießer, Betroffener, Referenzpunkt’),
insofern
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• die Handlung in ihrem /gegen ihr Interesse geschieht: ‘Dativus in-/commodi’,
s. [13].
• sie als Betroffener in die Handlung involviert ist: ‘Dativus sympatheticus’, s. [16].
• ein Gegenstand zu ihren Gunsten existiert: ‘possessiver Dativ’, s. [18].
• die Handlung aus ihrer Perspektive gesehen wird: ‘Dativus iudicantis’,
s. [19].
Der Dativus commodi / incommodi:
[13] Philippus Aristotelem Alexandro filio accivit.
[14] Consuli adsurrexerunt omnes.
Der Dativus sympatheticus entspricht dem im Deutschen:
[15] ‘Wir machen Musik, da geht dir der Hut hoch; wir machen Musik, da
fliegt dir der Bart weg’
Diese Konstruktion ist eine Alternative zum possessiven Genitiv bzw. Adjektiv:
[16] a. Paul ist der Hut davongeflogen ↔ b. Pauls Hut ist davongeflogen.
[17] a. Demeas Sostrato caput diffregit.
b. Demeas Sostrati caput diffregit.
Das zugrundeliegende Genitivattribut (Teil eines Satzgliedes) wird hier durch
»syntaktische Aufwertung« zum adverbialen Dativ (eigenständiges Satzglied)
in den Vordergrund gerückt und damit der »Betroffene«.
Der possessive Dativ ist historisch gesehen nichts weiter als ein normaler
Dativus commodi neben dem Vollverb esse. Das Muster
[18] amico domus est ‘der Freund hat ein Haus’
bedeutet ursprünglich: ‘Es existiert ein Haus zugunsten des Freundes’, im
Gegensatz zu domus amici est, ‘das Haus ist des Freundes → . . . gehört dem
Freund’. Den Unterschied zwischen amico domus est : domus amici est : amicus
domum habet besprechen wir im Kap. ‘Possession’ in §D.2.1.1.
Der Dativus iudicantis bezeichnet den Referenzpunkt der Perspektive, aus
welcher eine Situation betrachtet wird. Muster sind [7] und [8] aus unserer
Beispielssammlung auf S. 69.
?
Setzen Sie die die passende Verbform ein:
[19] Epidamnos ist die erste Stadt, wenn man in den Golf von Korfu einfährt
Epidamnos urbs prima est . . . . . . . (intrare) sinum Cercyraeum.
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C.2.1.2 Der adverbiale Dativ bezeichnet einen Sachverhalt
Wenn unsere semantische Definition des Dativs ‘Referenzpunkt, auf den hin
die Handlung orientiert ist’, (1) auf eine Situation angewandt wird, (2) diese
Situation syntaktisch Adverbiale ist, ergibt sich regulär eine finale Relation:
‘finaler Dativ’.
RH §128.3
[20] Legati colloquio diem dixerunt: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[21] Galli Germanos auxilio arcesserunt: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[22] Caes.Gal.1.51
Caesar praesidio castrorum, quod satis esse visum est, reliquit
C.2.2
In §C.2.5 wird uns dieser Dativ in Verbindung mit esse, z.B. praesidio
esse, wieder begegnen. Dort hat er seine finale Relation fast vollständig eingebüßt, weil er zur Bidlung des Prädikats neben der Kopula esse
benötigt wird.
Der Dativ als Objekt
Sobald ein indirekter Partizpant Objekt zu einem Verb ist (»indirektes Objekt«), wird
seine semantischen Funktion (zusammengestellt in Tab. C.1 durch das Verb determiniert. Eine Zusammenstellung der einzelnen semantischen Funktionen indirekter Objekte
erübrigt sich daher; somit wir können uns auf die wichtigsten syntaktischen Verwendungsweisen konzentrieren.
Indirekte Objekte kommen am häufigsten in zwei der Satztypen vor, die wir
auf S. 25 aufgelistet haben, nämlich:
• in intransitiven Sätzen als einziges Objekt, z.B. subvenio amico ‘ich helfe
dem Freund’.
• in ‘bitransitiven’ Sätzen kombiniert mit einem Akk.-Objekt (z.B. dare alicui panem); Einzelheiten in §C.2.2.3.
Häufigstes Ausdrucksformat des indirekten Objekts ist der Dativ, zu dem es
aber öfters Alternativen gibt. Wir besprechen zunächst den Dativ als Objekt,
danach die alternativen Ausdrucksformate.
C.2.2.1 Der Dativ als einziges Objekt
Er steht bei Verbklassen, die einen Nutznießer, dessen Antonym oder einen
Referenzpunkt in ihrer Valenz vorsehen: z.B.
(1) nützen, schaden; (2) gefallen, mißfallen; (3) befehlen, gehorchen; (4) begegnen, sich nähern
1. In vielen Fällen entspricht die lat. Syntax der deutschen:
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RH §124
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[23] a. patriae subvenire debemus
b. non licet sui commodi causa nocere alteri
[24] Cic.Tusc.4.56
(Cic. grenzt aemulatio von obtrecatio ab:) obtrectare vero alteri aut . . .
eum aemulari quid habet utilitatis . . . ?
[25] Cato agr.142.1
vilicus domino dicto audiens sit
[26] navis litori appropinquabat
2. zu manchen dt. Verben mit Dativ-Objekt existieren lexikalische Varianten
mit anderer Syntax; sie werden bei der Übersetzung ins Lateinische
[27] a. jemanden schädigen: nocere alicui,
b. auf jemanden hören: oboedire alicui,
c. sich annähern ad etwas: appropinquare alicui rei
3. Bei folgenden Verben ist im Lat. ist das Objekt nicht wie im Deutschen als
Patiens (Akkusativ), sondern, wegen der Etymologie der Verben, als Adressat
oder Nutznießer (Dativ) konzipiert:
[28] mederi aegro: ‘Rat wissen für den Kranken’ → . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[29] nubĕre alicui: ‘sich verschleiern für jemanden’ → . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[30] favēre alicui: ‘jemandem gegenüber günstig gestimmt’ → . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[31] parcĕre alicui: ‘sich einschränken zugunsten jemandes’ → . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[32] maledicere alicui »jemandem Übles sagen« → . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Suppletion
(vgl. Anm. u.) tritt dabei auf bei den Verben
1. medēri:
[33] Der Arzt heilt meine Krankheit: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[34] Der Arzt hat meine Krankheit geheilt (Perfekt): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. nubĕre:
[35] Julia, die Tochter Caesars, war mit Pompeius verheiratet. Nach ihrem
Tode heiratete dieser eine Tochter des Metellus.
Julia, filia Caesaris, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Quae cum mortua esset, ille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fälle von morphologischer oder semantischer / syntaktischer ‘Defektivität’ sind sehr häufig. In diesem Fall treten andere Formen oder andere Wörter als Ersatz ein: Suppletion.
Ein Beispiel morphologischer Suppletion bieten die idg. Verben für ‘sein’, vgl. lat. sum
vs. est, dt. bin vs. ist vs. sind, eines für semantische die Verben für ‘besitzen’, vgl. Hans
besitzt ein Haus : ̸= das Haus wird von Hans besessen → das Haus befindet sich im
Besitz von Hans.
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C.2.2.2 Indirektes Objekt bei Adjektiven
1. Manche Adjektive haben ein indirektes Objekt zur Angabe von Referenzpunkt oder Zweck. Neben dem Dativ tritt hier auch Präposition auf (vgl. dazu
§C.2.3.1).
RH §129
Setzen Sie die richtigen Formen ein:
?
[36] (Mit Dat.:) Dieser Platz ist geeignet zum Bau eines Hauses:
Hic locus idoneus est1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(Mit Präposition:) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Angabe bei RH §129 »bei Sachen nur mit Akk.« stimmt nur für
sein Corpus
2. Bei einigen Adjektiven findet sich Konkurrenz von Dativ und Genitiv im
Positiv und Superlativ, jedoch nicht im Superlativ. ?
Übersetzen Sie:
[37] Brutus war für Caesar der vertrautetste Freund (familiarissimus).
[38] Brutus war Cicero vertrauter als Caesar.
Der Genitiv erklärt sich daher, daß das Adjektiv substantiviert wird; beim
Komparativ ist das nicht möglich (Substantive sind nicht gradierbar), sodaß
sich hier der Dativ erhalten bleiben muß
Zur Kasuskonkurrenz bei sacer, proprius, superstes, communis, similis
etc. lernen Sie bitte RH §135,2.
3. Bei manchen Adjektiven wie utilis, noxius ist ein Referenzpunkt (Nutznießer) impliziert, der aber unausgedrückt bleiben oder ausgedrückt werden
kann, vgl. [39] vs[40]:
[39] Utile est officia sua novisse
[40] Utile est consuli officia novisse
Wenn bei dem Typ [39] das semant. Subjekt des Infinitivs spezifiziert wird,
steht der AcI:
[41] Utile est consulem officia novisse
C.2.2.3 Kombination von Dativobjekt mit Akkusativobjekt
Wenn ein Verb in seiner Valenz einen Referenzpunkt (Empfänger, Nutznießer,
Adressaten . . . ) vorsieht, wie in
[42] Da nobis Falernum
[43] Narra nobis, quid factum sit
1
Hier brauchen Sie eine Gerundivkonstruktion.
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RH 129
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hat der Dativ eine der semantischen Funktionen Adressat / Nutznießer während das direkte Objekt (Akk. bzw. indir. Fragesatz) den Patiens bezeichnet.
Einzelbelege erübrigen sich wegen der Häufigkeit dieses Typs.
C.2.2.4
Ein Spezialfall: indirekte Partizipanten als Secundum comparationis
Eine Komparativkonstruktion des Typs »x ist größer als y« kann auch mit
Komparationsverben gebildet werden, Verben, welche einen Vergleich bedeuten oder implizieren und die dabei das Tertium comparationis ausdrücken.
Bei diesen Verben wird das Secundum comparationis, der »Referenzpunkt«
des Vergleichs, oft durch einen Dativ oder einen Konkurrenzausdruck ausgedrückt:
Primum comparationis
Tertium comparationis
Secundum comparationis
murum
homo
Marcus
adaequare
antecellit prudentia
anteit virute
dicta
comparare
Marcus
superat virtute
solo
bestiis
ceteris
ceteros
factis
cum factis
ceteros
Diese Komparationsverben sind aus Handlungsverben abgeleitet; der jeweilige Ableitungsweg bestimmt den Ausdruck des Secundum comparationis:
• Der Dativ ist ursprünglich bei transitivem adaequare »etwas einem (lokalen) Referenzpunkt gleich machen« und bei ante-/excellere alicui »hervorragen« über einen (belebten) Referenzpunkt
• der Dativ ist Analogie bei
– comparare, von urspg. compar cum aliqua re »gleich mit einer Sache«
– ante-/praeire, ante-/praecedere (s. nachstehend)
• der Akk. bei superare ist Ergebnis von Transitivierung: intr. superare ex mari
»herausragen« → superare aliquem »jemanden übertreffen«
Bewegungsverben als Komparationsverben
1. Intransitive Bewegungsverben mit ante und prae, nämlich anteire, antecedere,
praeire, praecedere »vor jemandem (einher)gehen« sind implizte Komparationsverben, da sie ja die Lage eines Objekts (eines »Locatums«) relativ zu einem
Referenzpunkt angeben. So können aus ihnen einfach Komparationsverben
abgeleitet werden, und zwar durch Metapher, indem das Verb durch einen
hinzutretenden Modifikator, der eine Qualität bezeichnet (virtute in den folgenden Bspp.), umdefiniert wird (»x kommt vor y hinsichtlich eines bestimmten Parameters«):
Marcus
Marcus
Marcus
anteit
anteit virtute
anteit virtute
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Lucium
Lucium
Lucio
»Marcus geht vor Lucius«
»Marcus übertriff L. an Tüchtigkeit«
74
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2. Als genuine Bewegungsverben haben haben sie den Akkusativ d bei sich.
Dieser erklärt sich, wie wir in §B.3.2.2 auf S. 47 gesehen haben, daher, daß die
Präposition ihren Kasus in die Valenzstruktur des Kompositums einbringt:
Marcus it ante carrum → Marcus carrum ante-it.
3. Wenn sie als Komparationsverben verwendet werden, kann das (muß aber
nicht) dadurch gekennzeichnet werden, daß das Secundum comparationis in
den Dativ des Referenzpunkts tritt.
4. Beispiele für genuine Bewegungsverben mit Akkusativ sind [44]–[45], Beispiele für Bewegungsverben als Komparationsverben, also mit Secundum comparationis im Akkusativ oder Dativ sind [46]–[49] bzw. [50]–[52]:
[44] Curt.3.3.15
doryphorae (Speerträger) currum regis antebibat
[45] Stella Veneris solem antecedit
[46] Caes.Gal.3.8.1
Veneti ceteros antecedunt scientia atque usu nauticarum rerum
[47] Ov.met.13.366
quantoque ratem qui temperat (‘Steuermann’), anteit remigis officium,
. . . tantum ego te supero.
[48] Caes.Gal.1.1.4
Helvetii reliquos Gallos virtute praecedunt
[49] Cic.fin.5.93
hominis natura omnes animantes anteit
[50] Pl.As.629
vostrae fortunae praecedunt longe meis
[51] Cic.fin.593
animi praestantia omnibus corporis bonis anteit
[52] Cic. off. 2.37.1
Admiratione autem adficiuntur ii, qui anteire ceteris virtute putantur
Da prae- den Ablativ regiert, müßten nach unserer obigen »Präverbierungsregel« die
entsprechenden Komposita wie praeire, praecedere eigentlich einen Ablativ des Referenzpunkts haben. Den gibt es aber nirgends, sondern die Komposita mit prae- haben dieselben Ausdrucksformate wie die mit ante, offenbar in ↑ Analogie zu den ante-Komposita.
Ursache ist, daß ante ungleich häufiger ist als prae (klass. 85%:15%).
5. Anders liegen die Dinge natürlich bei den transitiven Komposita wie ante/praeferre ‘jemanden einem anderen vorziehen’, ‘jemand höher schätzen als
einen anderen’. Hier ist der Akk. schon für den Patiens verbraucht, und deswegen steht der Referenzpunkt immer im Dativ:
[53] Cic.orat.23
longe omnibus unum Demosthenem antefero
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C.2.3 Alternative Ausdrucksformate für indirekte Partizipation
C.2.3.1
Präposition
1. Wir haben o. S. A.3.3.5 darauf hingewiesen, daß oblique Kasus im Spätlatein wegen des Zusammenbruchs des Kasussystems durch Präpositionen verdrängt werden. Wir beobachten hier die Anfänge dieser Entwicklung: die Bezeichnung des Referenzpunkt mittels Präposition wird oft als expliziter empfunden als der reine Dativ:
[54] Col. 7.3.19
[55] matres oves pratis (→ ad prata) admovendae sunt
Formulieren Sie jeweils die beiden Versionen für:
?
[56] Die Stadt liegt am Meer (Kompositum von iacere): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[57] Am Kampf teilnehmen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Eine entgegengesetzte Entwicklung findet in der Dichtersprache statt, die
oft ↑ Archaismen verwendet, und damit auch den Dativ des Referenzpunktes
dort hat, wo in Prosa die Präposition verwendet wird:
[58] Verg.A.5.451
(Bei einem Wettkampf:) it clamor caelo → . . . . . . . . . .
[59] Verg.A.6.178
aram sepulchri2 caelo educere certant
C.2.3.2
Eine Übersicht darüber, wie verbreitet dieser Archaismus in der Dichtersprache ist, bietet G. Maurach, Lat. Dichtersprache.
Nebensatz
Wenn der Referenzpunkt nicht ein Gegenstand, sondern ein Sachverhalt ist,
kann dieser natürlich in als Nebensatz ausgedrückt werden. Das wichtigste
Beispiel ist studēre:
[60] Alle Menschen streben nach Freiheit :
Omnes homines student
Substantiv:
Infinitiv:
Nebensatz:
. . . . . . . (libertas)
. . . . . . . . . (liber sum)
. . . . . . . . . . . . (dto.)
Studere ist wtl. ‘auf etwas (ab)zielen’, Der Dativ bezeichnet den Referenzpunkt, dem die
Handlung ‘zustrebt’, also eine finale Relation. Da diese Finalität aber vom Verb studere
selbst impliziert wird, ist das Ausdrucksformat des Nebensatzes prinzipiell frei, und so
gibt es eine Konkurrenz zwischen zwei Varianten:
2 Scheiterhaufen
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76
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Syntax I
WS 2014-15
• Die finale Relation bleibt unmarkiert — es steht eine Infinitivkonstruktionen. Ein
Infinitiv hat weder Subordinator noch Modus; die Finalität ergibt sich hier lediglich
aus der Bedeutung des Hauptverbs.
• die finale Relation wird markiert — es steht ein ut-Satz
Bei der Infinitivkonstruktion müssen wir zwei Varianten unterscheiden:
• Wenn das semant. Subjekt des Infinitivs identisch mit dem übergeordneten Subjekt ist, steht eine einfache Infinitiv-Konstruktion ([61])
• Wenn das semant. Subjekt des Infinitivs vom übergeordneten Subjekt
verschieden ist, steht der AcI, der ja mit dem ‘Subjektsakkusativ’ ein
eigenes semantisches Subjekt einführt ([62])
Setzen Sie die richtigen Formen ein:
?
[61] Schlaue Menschen trachten danach, Sprachen zu lernen:
Homines callidi . . . . . . . . . . . . . . . student.
[62] Schlaue Menschen trachten danach, daß ihre Kinder Sprachen lernen:
Homines callidi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . student.
C.2.4
Wie so oft, fehlt bei RH §124 ein Querverweis, nämlich auf den §169.
Wechsel der Kasuskonfiguration
Wenn der Dativ zusammen mit einem anderen Objekt auftritt, gibt es oft syntaktische Alternativen, mit denen ein bestimmter Bedeutungsunterschied verbunden ist:
RH §125
C.2.4.1 Nutznießer vs. Patiens
Ein Partizipant wird wahlweise als Nutznießer / Geschädigter (Dativ) oder
als Patiens (Akkusativ) konzipiert:
[63]
a. Valerius Procillo civitatem donat
a. luna terrae rorem aspergit
b. Valerius Procillum civitate donat (Caes.Gal.1.47.)
b. luna terram aspergit rore (∼Plin.nat.18.282)
Auf den semantischen Unterschied der damit verbunden ist, kommen
Sie, wenn sie überlegen, warum [64b] seltsam ist:
?
[64]
?
a.
b.
‘Was bekommst Du für den Kaffee’
‘Was bekommst Du für den Kaffee’
::
::
‘Den schenk’ ich Dir’
‘Damit beschenk ich Dich’
Geben Sie solche Alternativlösungen für:
[65] Ich schenke dem Freund ein Buch: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[66] Der General (imperator) umgab die Stadt mit einer Mauer:
...................................................
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F. Heberlein
C.2.4.2
Syntax I
WS 2014-15
Kombination von indirektem Objekt und Possessor
Bei Mustern wie wie
[67] a. Ich antworte Dir auf Deinen Brief
b. Ich verzeihe Dir Deinen Leichtsinn
c. Ich beneide Dich um Dein Auto
ist der Adressat gleichzeitig Possessor eines konkreten oder abstrakten Gegenstands (dir . . . deinen). Das prinzipielle Ausdrucksformat ist hier anders als
im Dt., denn beim Dat.-Obj. findet Metonymie Person → Sache statt:
Deutsch:
Paul verzeiht
dem Freund seinen Leichtsinn
Possessor
Possessum
Dat.-Obj.
Akk.–Obj.
................................................................
Latein:
Paulus ignoscit
levitati
amici
Paulus invidet
divitiis
amici
Paulus respondet epistulae
amici
Ego respondeo
epistulae
tuae
Possessum
Possessor
Dat.-Obj.
Gen.-Attr.
Tabelle C.2: Indirektes Objekt mit Possessor
Invidere behält diese Konstruktion auch im Passiv, bei respondere und ignoscere
dagegen findet Normalisierung statt:
[68] Crassus wurde um seinen Reichtum beneidet: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[69] Cic. Caec. 86
mihi respondetur ad illud . . . hoc interdictum ita esse compositum ut
nihil commutandum videretur
[70] Auct.Herenn. 2.25
tali de causa aliis quoque ignotum est
Beachte bei respondere in [69] auch den Ausdruck für »antworten auf «: respondere ad illud, ad epistulam etc.
Konstruktionen mit Dativobjekt der Person
Die »Normalkonstruktion« mit Objekt der Person muß in folgenden Fällen
eintreten:
1. Das Possessum ist ein Demonstrativpronomen: dann tritt die übliche syntaktische Normalisierung ein und das Pron. tritt in den Akk.:
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Latinistik
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Paulus ignoscit
Paulus respondet
Paulus invidet
Syntax I
hoc
hoc
hoc
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amico
amico
amico
Bei invidere ist diese Konstruktion selten3 .
2. Das Sachobjekt ist satzförmig:
[71] Cic. Att. 7.12.3
Interim velim mihi ignoscas quod ad te scribo tam multa totiens
[72] Cic. fam. 10.31.6
invideo illi tamen quod ambulat et iocatur tecum
Bei respondere sind unterschiedliche Kombinationen von Partizipanten möglich; entsprechend ändern sich die Konstruktionsmöglichkeiten:
[73] (Adressat + Antwort:) Ich antworte Dir, daß ich gesund bin (valere):
..........................
[74] (Adressat + Possessor + Antwort:) Ich antworte auf Deinen Brief, daß ich
gesund bin (valere): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[75] (Possessor + Antwort, s. Tab. C.2:) Ich antworte auf Deinen Brief / auf den
Brief des Freundes, daß ich gesund bin (valere):
.......................................................
3. Absoluter Gebrauch:
Paul beneidet den Freund
Paul antwortet dem Freund
Paulus invidet amico
Paulus respondet amico
Ignoscere wird kaum absolut verwendet, stattdessen steht veniam dare
Anmerkung zur Konstruktion von invidere:
Ausgangspunkt ist der Typ
[76] ‘invideo aliquid alicui’ = ‘ich besehe einem etwas mißgünstig’ (d.h. mit dem bösen
Blick): Patiens (Akk.) + indir. Partizipant (Dat.)
Durch Weglassung des direkten Objekts ergibt sich sich das Muster invideo tibi (‘ich
schaue mißgünstig zu deinem Nachteil’), das wiederum zum Muster invideo divitiis tuis
/ divitiis amici erweitert wird (‘ich schaue mißgünstig zum Nachteil Deines Reichtums /
zum Nachteil des Freundes’).
Daß diese Entwicklung auch von den Römern als irregulär empfunden wurde, zeigt eine
Äußerung Ciceros, der bei invidere eher ein Akk.-Objekt erwartet:
[77] Cic.Tusc.3.20
quod verbum (= invidere) ductum est a nimis intuendo fortunam alterius, ut est
in Melanippo:4 ‘quisnam florem liberum invidit meum?’ Male Latine videtur, sed
praeclare Accius; ut enim ‘videre’, sic ‘invidere florem’ rectius quam ‘flori’.
‘Das Verbum ‘invidere’ ist abgeleitet von ‘allzu mißgünstigen Schauen auf das Glück
3 Cic.Mur.
4
88, fam. 9,1.6., fam. 8.4.1 (Caelius)
Ein Drama des altlat. Dichters Accius
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79
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F. Heberlein
Syntax I
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eines anderen’; ein Beispiel findet sich in der Tragödie Melanippus: ‘wer schaut da
mißgünstig auf mein Glück? ’ Das scheint schlechtes Latein zu sein, aber Accius
hat ganz recht: wie nämlich ‘videre florem’, so wäre auch ‘invidere florem’ richtiger
als ‘invidere flori’.”
C.2.5 Doppelter Dativ
RH 128
Kombinationen aus Dativ der Person und Sache kommen in zwei Varianten
vor nämlich bei esse und und den Verben dare, tribuere, vertere:
Hoc tibi vitio do
‘Ich mache dir das zum Vorwurf’
Hoc tibi laudi verto
‘Ich rechne dir das als lobenswert an’
→
→
→
→
hoc tibi vitio est
‘das gereicht dir zum Vorwurf’
Hoc tibi laudi est
‘das gereicht dir zum Lob’
• Die beiden Muster stehen in ↑ kausativer Beziehung: der ‘esse’-Typ ist
das Resultat des ‘dare’-Typs.
• In beiden bezeichnet der erste Dativ einen ‘Betroffenen’ (Nutznießer /
Benachteiligter), der zweite dient zur Bildung eines kompleen Prädikats
mit esse bzw. als zweites Objekt bei dare, tribuere, vertere; Einzelheiten im
folgenden.
C.2.5.1
Prädikatsnomen bei esse
Der Dativ der Sache bildet mit dem Hilfsverb ein komplexes Prädikat:
[78] Haec res tibi usui est: Diese Sache ist nützlich
∼ haec res utilis est
[79] Haec res est laudi / honori tibi: ‘Diese Sache gereicht Dir zum Lob / zur
Ehre’
Der Dativ der Sache steht hier statt der seltenen Adjektiva auf -(b)ilis wie
laudabilis oder honorabilis.
[78] ist ursprünglich ‘Diese Sache existiert für Dich, für deinen Nutzen’, der zweite Dativ
war also eine Apposition, durch die der Zweck spezifiziert wurde. Er wurde dann zusammen mit esse zu einem Prädikatskomplex grammatikalisiert, bei dem esse zur Kopula
und der Dativ zum charakterisierenden Prädikatsnomen wurde5 . Folge davon ist, daß der
Dativ (1) auf den Singular beschränkt ist, (2) nicht referenzfähig ist (man kann nicht
sagen ea res *huic usui est), (3) nicht attribuierbar ist (haec res honori *sororis est),
außer durch eine Gradangabe (magno honori esse), (4) durch ein Adjektiv auf -(b)ilis
paraphrasiert werden kann, sofern eines vorhanden ist (∼haec res tibi utilis est).
?
Solche Dative müssen oft mit freieren Wendungen übersetzt werden;
versuchen Sie es:
5 Den
Begriff ‘charakterisierendes Prädikatsnomen’ haben wir S. 41 eingeführt
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Latinistik
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Syntax I
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[80] Cic.Lael.15
amicitiae nostrae memoriam sempiternam fore mihi est cordi (∼mea
magni interest)
[81] Caes.Gal.1.133
Caesar Gallorum animos verbis confirmavit pollicitusque est sibi eam
rem curae futuram
[82] Cic.Ver.2.1.153
Magno praesidio fuit Anniae mater, femina primaria.
[83] Cic.Verr.2.5.19
Non sic hanc rem agemus ut crimini aut invidiae6 reo sit, si quo de
homine severius iudicaverit
[84] Cic. de orat.1.34.5
‘Quam ob rem pergite . . . atque in id studium, in quo estis, incumbite,
ut et vobis honori et amicis utilitati et rei publicae emolumento esse
possitis.’
C.2.5.2 Objekt der Sache bei dare, tribuere, vertere
Der Dativ der Sache wird zur Ableitung von Urteilsprädikaten aus Handlungsprädikaten verwendet bei:
dare
tribuere
vertere
‘geben’
‘zuweisen’
‘umwenden’
→
→
→
dare vitio
tribuere ignaviae
vertere laudi
‘als Fehler anrechnen’
‘als Feigheit anrechnen’
‘als lobenswert anrechnen’
Bei dare und tribuere wird das Dativobjekt, bei vertere ein urspgl. adverbialer
Dativ (»ich wende etwas zu Deinen (Un)gunsten um«) mit einem finalen Dativ kombiniert und so aus einem Handlungsverb (semantischer Kern ist die
‘Bewegung eines Gegenstands’ ist) ein Urteilsverb abgeleitet.
1. Die beiden Dative sind für diese Bedeutung obligatorisch; bei der Zielkonstruktion handelt sich also um eine doppelte Objektkonstruktion. Die Konstruktion
ist damit stereotyp folgende:
Iudex
Sj.
id
AkkObj
reo
DatObj Person
crimini
DatObj Sache
dedit
V
2. Der Übergang vom Handlungs- zum Urteilsprädikat spiegelt sich außerdem darin, daß
(a) das Akk.-Objekt durch einen fakt. quod-Satz besetzt werden kann, da Urteilsprädikate sich ja auf Tatsachen richten:
[85] Illi vitio mihi dant, quod mortem hominis necessarii graviter fero
6 Wir
sehen hier, daß RHs (§128,1) Angabe ‘individae esse = Ersatz des Passivs’ zu eng ist.
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81
Latinistik
RH §128,3
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Syntax I
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(b) der Nebensatzinhalt bei Negation wahr bleibt7 :
[86] → Non mihi vitio dant, quod mortem . . . graviter fero.
Bei RH §128 werden die obigen Typen zum Dativus finalis gerechnet. Final war aber, wie
wir gesagt haben, nur die Ausgangskonstruktion, z.B. hoc mihi curae est ‘das existiert
für mich, für meine Sorge’ ∼das existiert, damit ich mich darum kümmere’. In der Zielkonstruktion ist der Dativ jedoch Prädikatnomen eines komplexen Prädikats ‘darum will
ich mich sorgfältig kümmern’. Anders ist es, wo der Dativ neben einem Vollverb adverbial
bleibt, vgl. u. §C.2.1.2.
Anhang: Verben mit unterschiedlicher Relationalität
RH §126
Manche Verben, die ein indirektes Objekt haben, können auch andere Objekt
regieren, woraus natürlich eine andere Satzbedeutung entsteht, z.B. cavere ‘Vorsorge treffen’
[87] cavere amico (Dat.): . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[88] cavere canem: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[89] ab hoste, ab inimicitiis: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Solche Erscheinungen sind im Lat. häufiger als im Dt., weil das Lateinische eine der sog.
‘grammatischen’ Sprachen ist, die ein relativ kleines Lexikon durch eine relativ ‘große’
Grammatik kompensieren müssen (Gegensatz: ‘lexikologische Sprachen’, z.B. das Englische).
Wir unterscheiden folgende Gruppen:
Verben mit intransitiver und transitiver Verwendung
Neben cavere gehört hierher:
1. temperare (wtl. ‘einteilen’, ‘eine Grenze setzen’):
[90] temperare sociis — ab iniuria — rem publicam
2. consulere (wtl. ‘ein consilium veranstalten’):
[91] consulere saluti suae: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[92] consulere in adversarium crudeliter: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[93] consulere patrem: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. convenire (wtl. ‘zusammenkommen’):
Der Dat. steht hier nur bei unpersönlichem Gebrauch:
7
Vgl. hierzu das Skript zum Infinitv, verba affectus.
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82
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
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[94] Suet.Aug.25.
nihil autem minus perfecto duci quam temeritas convenit
Bei persönlicher Konstruktion steht der Akk. alternativ zu Präpositionalausdrücken:
[95] convenire amicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[96] convenire cum amico . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[97] convenire ad amicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Lernen sie die convenire-Bsp. bei RH §126 a.E.
4. imperare (wtl. ‘jemand etwas anschaffen’)
hier wird ein Bedeutungsunterschied durch Besetzung oder Nichtbesetzung
der Stelle des Akk.-Objekts (‘absoluter Gebrauch’, vgl. u. §B.3.2.4) erzielt:
[98] Caesar befahl den Helvetiern, Geiseln zu stellen: Caesar Helvetiis . . . . . .
imperavit.
[99] Die Römer geboten über die ganze Welt: Romani . . . . . . . . . . . . . imperaverunt.
Intransitive Verben mit unterschiedlichen Konstruktionen
1. interesse:
[100] Am Abendessen teilnehmen (2 Konstruktionen):
........................................
[101] Zwischen seinem ersten und sechsten Konsulat lagen 46 Jahre:
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLVI anni interfuerunt.
[102] Welcher Unterschied ist zwischen Loben und Schmeicheln?
.......................................
Zu interest ‘es ist wichtig’ vgl. o. §D.5
2. imponere:
[103] Dem Stamm Gesetze auferlegen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[104] Truppen auf die Schiffe verladen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. vacare:
[105] Cic.div.1.11
philosophiae semper vaco: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[106] Cic.fam.7.3.4
Vacare culpā magnum est solacium
...........................................
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Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Bitransitive Verben mit unterschiedlichem direkten Objekt
Bei manchen Verben kann das direkte Objekt alternative Ausdrucksformate
haben, woraus ein Unterschied der Gesamtbedeutung resultiert:
1. Bei Verba dicendi wie dicere und respondere:
[107] Nuntii dicunt Caesari legatos Sueborum venturos esse
[108] Caesar nuntio dixit, ut legati Sueborum venirent
[109] Cicero antwortete, daß jener kommen solle: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Lesen Sie dazu RH §234,3.
2. Bei persuadēre:
[110] Paul überredete seinen Freund zu kommen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.................................
[111] Paul überzeugte seinen Freund von seiner Glaubwürdigkeit8 : . . . . . . . . .
........................................
Was im Deutschen durch unterschiedliche Verben ausgedrückt wird, wird im
Lat. durch unterschiedliche Syntax ein und deselben Verbs ausgedrückt.
?
Zusatz: Unterscheide
[112] Id ei persuasit.
[113] Id sibi persuasit.
Für Beispiel [113] sind zwei Alternativen denkbar, welche?
.......................................
Anm.: Suadēre ‘einreden’ ist eig. ‘schmackhaft machen’, zu suavis mit verstärkendem Präverb per- wie etwa in percupio, perdoleo. Das Engl. hat diesen Konstruktionsunterschied aus dem Lat. geerbt: (a) Felipe persuades Manuel to leave; (b) Alicia
perusades Carlos that a theory of syntax is possible.
C.3 Übung
?
Setzen Sie die richtigen Formen ein:
[114] Epaminondas leugnete nichts von dem, was ihm seine Gegner zum Vorwurf gemacht hatten.
Epaminondas nihil negavit earum rerum, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[115] Kaum zu Recht hat man es dir als Hochmut ausgelegt, daß du Eichstätt
(Dryopolis) ein Dorf genannt hast:
Vix iure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , quod Dryopolim vicum appellavisti.
8 glaubwürig
= sincerus
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84
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[116] Die Freundschaft des römischen Volkes müßte für mich von Nutzen,
nicht von Schaden sein.
Amicitia populi Romani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . esse deberet.
[117] Die Germanen waren angeblich von den Belgiern zur Hilfe herbeigeholt
worden: Germani a Belgis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dicebantur.
[118] Ein Kaufmann hat meiner Mutter eine Sklavin zum Geschenk gemacht:
Mercator matri servam . . . . . . . . . . . . . . . dedit (2 Konstruktionsmöglichkeiten!).
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85
Latinistik
Kapitel D
Kategorisierung
1. Kategorisierung ist die Zuordnung eines Elements zu einer Kategorie. Prototypen solcher Relationen sind
• Partitiv – Zuordnung einer Untermenge zu einer Obermenge
• Possessiv – Zuordnung eines Besitzes (Possessum) zu einem Besitzer
(Possessor)
• Qualität und Quantität: Zuordnung eines Elements zu einer qualitativen
oder quantitativen Kategorie
• Geltungsbereich: Zuordnung eines Sachverhalts zu einem Geltungsbereich
Beispiele:
Partitivrelation:
Possessivrelation:
qualitative / quantitative
Kategorisierung:
Geltungsbereich:
pars servorum
servus patris
servus magni ingenii
servus magni pretii
kognitiv: memini patris
affektiv: piget me laboris
iuristisch: accusare proditionis
Tabelle D.1: Prototypen von Kategorisierung
2. Die Kategorisierung kann vom Sprecher aktuell vorgenommen, d.h. ‘assertiert’ werden oder als Faktum präsentiert werden. Im ersteren Falle ist das
Ausdrucksformat ein Satz, im letzteren ein Nominal:
[1] Hic miles Romanorum est ‘dieser Soldat gehört zu den Römern’
[2] Miles Romanorum ‘ein Soldat der Römer’
3. Das älteste Ausdruckformat für Kategorisierung sind Konstruktionen mit
dem Genitiv, der eine Konstruktion entweder mit dem Verb wie in [1] oder
mit einem Nominal wie in [2] bildet, also entweder eine ‘adverbale’ der eine
‘adnominale’ Konstruktion.
Der semantische Prototyp der »Kategorisierung« ist der Partitiv (Zuordnung
von untermenge zu Obermenge). Durch semantische und syntaktische Variation
87
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
werden aus diesem eine Reihe von Varianten abgeleitet, die Tab. D.2 zeigt.
Diese einzelnen Varianten besprechen wir weiter unten.
Partitiv
Gen. = Obermenge
harum Baccarum est
pars Baccarum
↙
Metapher
↙
Possession
pes Marci
domus Marci
↓
Abstraktion d. Possessum
↓
Gen. subi./obi.
amor parentum
↘
Abstraktion
↙
↘
Geltungsbereich
accusare furti
memini patris
piget laboris
Quantität / Qualität
servus magni pretii / ingenii (est)
emere tanti
Tabelle D.2: Der semantische Zusammenhang zwischen den verschiedenen Funktionen des Genitivs
4. Vielfach gibt es zum Genitiv konkurrierende Ausdrucksmodelle. Beispiele
sind
D.1
Relation
Ausdrucksmodell
Beispiel
Partitiv
Possessiv
Geltungsbereich
Separativ
Nutznießer
Grund
Nominalsatz
homo de plebe
patri domus est
accusare propter vim
piget me dicere
Partitiv-Konstruktionen
1. Partitiv-Relationen ordnen eine Untermenge einer Obermenge zu. Einer
der beiden Ausdrücke, die in Partitivrelation stehen, muß also entweder (1) als
Obermenge interpretierbar sein oder (2) eine Obermenge implizieren. Ersteres
ist der Fall beim Gen. Baccharum in [3], letzteres beim Subst. pars in [4]: ‘Teil’
impliziert eine Obermenge, im Gegensatz etwa zu ‘Haus’.
RH §130
[3] Pl.Mil.1016
Cedo signum, si harum Baccharum es. ‘Das Paßwort bitte, wenn Du zu
den Bacchantinnen hier gehörst’
[4] Pars Baccharum ↔ domus Baccharum
2. Partitiv-Relationen können ‘informell’ sein wie in [5]; oft haben solche Relationen aber ein bestimmtes Ausdrucksformat, d.h. ihre Elemente bilden eine
Partitivkonstruktion wie in [6].
KU Eichstätt
88
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[5] Isti homines similes non sunt; alter est Aethiops, alter galbus1 (∼ Varr.l.L.8.41.3)
[6] Caes. civ. 3.15.6
loquuntur cum M’. Acilio et Statio Murco legatis, quorum alter oppidi
muris, alter praesidiis terrestribus praeerat.
Im folgenden beschränken wir uns auf Partitivkonstruktionen.
D.1.1 Zwei Arten von Partitiv-Relationen
Wir unterteilen im folgenden die Partitivrelationen nach einem semantischen
Kriterium in echte Partitivrelationen und Pseudopartitivrelationen (Begründung unten).
Dieser Unterschied wird bei RH §130 vernachlässigt, was für einen Teil der verwirrenden
Darstellung dort verantwortlich ist. Wir werden unten sehen, daß der Unterschied zwischen beiden Typen im Lateinischen zwar nicht so eindeutig formal ausgedrückt wird wie
im Dt., aber dennoch klar hervortritt2 .
Partitiv-Konstruktion
Pseudo-Partitivkonstruktion
manus
fortissimus
homo
duo mei
fabrorum
Gallorum
de plebe
libri
multum
multa
harenae
harena
Untermenge
Obermenge
Untermenge
Kategorie
Echte Partitivrelationen sind Teil-Ganzes-Relationen, bei denen aus einer (im
Diskurs oder im Vorwissen des Hörers) gegebenen Obermenge eine Untermenge abgegrenzt wird.
[7] Cic.Lael.71.1
Plerique inferiorum3 queruntur semper aliquid
[8] Caes. Gal. 1.1.1
horum omnium (= die Bewohner Galliens) fortissimi sunt Belgae
Pseudo-Partitivrelationen sind solche, wo statt einer echten Obermenge nur die
Kategorie genannt wird, in welche die Untermenge gehört.
Den Unterschied illustriert am besten ein dt. Beispiel wie [9], weil im Deutschen der Unterschied zwischen echten und Pseudo-Partitivkonstruktionen
einen formalen Ausdruck hat: Ps.-Partitive werden als Appositionen ([9a.]),
echte Partitive aber mit einem Partitivmarker (Genitiv, Präposition) konstruiert:
1 gelb
2 Grundlage des folgenden ist Koptjevskaja-Tamm, M.: ’A lot of grammar with a good portion
of lexicon: towrads a typology of partitive and pseudo-partitive nominal constructions. In: Helmbrecht, J. e.a. (eds.), Form and Function in language research. FS Chr. Lehmann. Berlin 2009.– Zur
Terminologie: MBS unterscheiden zwischen einem Genitivus totius und Gentitivus quantitatis, was
offenbar aus KS §84 abgeleitet ist. Diese Terminologie ist unglücklich, denn die Operation der
Quantifikation ist bei beiden Mustern da.
3 ‘Kleine Leute’
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89
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[9] a. Ich nehm ein Glas Wein
b. Ich nehm ein Glas von dem Wein da
In [9a.] wird nur die Kategorie bzw. Gattung genannt, der das Getränk zugehört, in [9b.] dagegen ist eine echte Obermenge vorhanden.
D.1.1.1 Echte Partitivkonstruktionen
In der folgenden Tabelle stehen links die wichtigsten semantischen Arten von
Untermengenbegriffen, rechts die möglichen Ausdrucksformate. Eine semantische Klassifizierung der Obermengenbegriffe erübrigt sich: semantisch kommen alle Ausdrücke in Frage, die eine gegebene Obermenge bezeichnen können.
Untermenge
Ausdrucksformat der Obermenge
Kongruenz
Präposition
Genitiv
Teilmengen/
Bruchteile
pars domorum
maior Neronum
plerique militum
alter consulum
uterque nostrum
primus oratorum
domus (Nom.Pl.) pars
plerique milites
alter consul
uterque consul
plerique ex militibus
primus ex oratoribus
Kardinalzahlen
quattuor ex essedariis
Obermenge mit Poss.-Pro.
Pronomina
– definite
– indefinite
Qualitätsbegriffe
duo mei libri
nullus meus liber
idem consilii
quis hominum
nemo civium
quidam militum
quidam noster amicus
quis de plebe Romana
nemo ex decem
quidam ex militibus
fortissimi Gallorum
Tabelle D.3: Die Tabelle enthält auch Konstruktionen, die bei RH §130 nicht bezeugt sind; Beispiele folgen unten.
Ausdrucksformate echter Partitivkonstruktionen:
1. Konstruktion mit Genitivattribut oder dem alternativen Ausdrucksformat
»Präpositionalattribut ex / de mit Ablativ«:
plerique militum / plerique ex militibus.
Der Genitiv ist hier das ursprüngliche ‘Partitivmodell’, die Präpositionen das
jüngere ‘Separativmodell’ (welches den Genitiv bis zum Spätlatein weitge-
KU Eichstätt
90
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WS 2014-15
hend verdrängt). In Partitivkonstruktionen mit obliquen Kasus oder Präposition ist die Untermenge der übergeordnete, die Obermenge der abhängige
Ausdruck.
2. Konstruktion mit Kongruenz:
Hier gibt es
(a) den ‘Normaltyp’ plerique milites, bei dem die Obermenge Regens, die Untermenge adjektivisches Attribut ist.
(b) den archaischen Typ der ‘Partitivapposition’ domus pars corruerant, wtl.
‘die Häuser ein Teil’, bei dem die Obermenge Nukleus einer Apposition,
die Untermenge Appositum ist.
3. Die Wahl des Ausdrucksformats hängt von eine Reihe von Faktoren ab,
die wir im folgenden zunächst einfach zusammenstellen, wobei die folgende
Zusammenstellung zusammen mit Tabelle D.3 zu lesen ist. Im nächsten Schritt
leiten wir aus diesem schwer überschaubaren Befund eine Faustregel für die
deutsch-lateinische Übersetzung ab.
Mögliche Syntaktische Faktoren:
1. Die Untermenge ist ein Substantiv, Bsp. pars domorum:
dann ist natürlich nur der Typ mit Genitiv oder Präposition möglich, weil die Obermenge
ja ebenfalls ein Substantiv ist und zwei Substantive nur dann eine Nominalgruppe bilden
können, wenn eines zum Genitiv- oder Präpositionalattribut wird (Ausnahme: die o.g.
archaische ‘Partitivapposition’).
2. Die Obermenge ist indeklinabel; dann bleibt nur die Konstruktion mit Präposition.
nemo ex decem
3. Die Untermenge kann zwischen Substantiv und Adjektiv wechseln; in diesem Fall kann
auch die Konstruktion prinzipiell zwischen Genitiv und kongruenter Konstruktion wechseln:
pleriqueSubst. civium / ex civibus
vs.
pleriqueAdj. cives.
4. Der Wechsel kann aber durch grammatische Zwänge eingeschränkt sein: bei uterque
steht die kongruente Konstruktion bei Substantiven, bei Personalpronomina muß der
Genitiv stehen, der dort Ausdrucksformat des Partitivs ist4
uterqueAdj. consul
vs.
uterqueSubst. nostrum
Mögliche Semantische Faktoren:
1. die Untermenge bedeutet ‘Bruchteil’, z.B. pars.
Hier wird also die Partitivrelation bereits durch die lexikalische Bedeutung der Untermenge
konstiuiert, denn Wörter wie ‘Teil’, ‘die meisten’, ‘der ältere’ etc. implizieren immer eine
definite Obermenge. Daraus folgt, daß
4 Nostrum, vestrum (mit archaischem Genitiv Pl. auf -um) ist partitives Substantiv, nostrorum,
vestrorum ist possessives Adjektiv, vgl. RH §54
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Syntax I
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(a) jedes Ausdrucksformat zulässig ist, das syntaktisch möglich ist: plerique militum /
ex militibus / milites;
(b) aber Wechsel in die kongruente Konstruktion natürlich nur dann geht, wenn die
Untermenge Wortartwechsel zwischen Substantiv und Adjektiv erlaubt, wie das oben
genannte plerique.
2. Im Gegensatz dazu ist bei allen anderen in Tab. D.3 genannten Ausdrücken der Untermenge keine gegebene Obermenge impliziert; hier muß die Partitivrelation also grammatisch, nämlich durch Genitiv bzw. Präposition ausgedrückt werden.
Daher ist multi civium bzw. multi ex civibus eine Partitivkonstuktion, ‘viele von den
Soldaten’, dagegen multi cives, ‘viele Soldaten’ nicht. Einzelheiten:
(a) Die Obermenge ist eine Gruppe von Individuen:
Dann steht sie im Plural und läßt freie Variation zwischen Genitiv und Präposition
zu: quattuor essedariorum : quattuor ex essedariis
(b) Wenn die Untermenge durch einen Superlativ gebildet wird, ist der Genitiv Ausdruck des Partitivs: fortissimi Gallorum = die tapfersten der Gallier; dagegen ist
die kongruente Kosntruktion Ausdruck des Elativs: fortissimi Galli = sehr tapfere
Gallier.
(c) Die Obermenge ist ein Kollektiv:
Dann steht sie natürlich im Singular; hier wird die Präposition verwendet: quis de
plebe Romana?
(d) die Obermenge enthält ein Possessivum:
Dann steht die kongruente Konstruktion, während ohne Possessivum Genitiv oder
Präposition steht:
quattuor mei amici
vs. quattuor amicorum / ex amicis
nullus meus liber
nullus librorum
aber: quattuor amici eius
Die kongruente Konstruktion (also die nicht partitiv markierte) kann hier stehen,
weil das Possessivum die Obermenge definit macht ‘vier von meinen Freunden’
(quattuor amici dagegen hätte (auch) die Lesart ‘vier miteinander befreundete Personen’).
Daß hier fast regelmäßig die kongruente Konstruktion steht, hat mit der häufigen
Präsenz von Kardinalzahlen zu tun, die von Haus aus Adjektive sind5 .
Die Faustregeln für die Übersetzung ins Lateinische lauten bei echten Partitivkonstruktionen in ihrer einfachsten Form somit:
• verwende prinzipiell den Genitiv (multi civium etc.)
• Ausnahmen:
– Präposition, wenn die Obermenge (i) indeklinabel (z.B. nemo ex decem) ist, oder (ii) ein Kollektiv (z.B. homo de plebe) ist
– kongruente Konstruktion, wenn die Obermenge ein Possessivum
enthält (duo mei libri)
5 Einzelheiten
bei RH §65.
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D.1.1.2 Pseudo-Partitivkonstruktionen
Wie Tab. D.4 zeigt, gliedern sich die Untermengen-Ausdrücke hier in zwei
Gruppen, nämlich
• quantifizierende Ausdrücke: Maße, Quanten, Quantoren
• nicht-quantifizierende Ausdrucke, v.a. Pronomina; sie bezeichnen qualitative Relationen (Gegenstück zu dem o.g. Typ fortissimus Gallorum)
Untermenge
Genitiv
Maße
modius tritici
Quantum
gutta olei
abstr. Quantoren
– subst. Adjektive
multum ligni
Ausdrucksformat der Kategorie / Gattung
Kongruenz
̸= modius de tritico
multum lignum
multo ligno
tantum ingenium
tanto ingenio
tantum ingenii
̸= multum de ligno
magnus numerus militum
parum cibi
satis praesidii
satis magna copia
..............................................................
– subst. Adverbien
Pronomina
– indefinite
aliquid boni
– definite
idem consilii
aliquid bonum
aliquid utile
̸= idem consilium
Tabelle D.4: Ps.-Partitivkonstruktionen. Auch hier stehen in der Tabelle links die geläufigsten
Untermengenbegriffe.
Die Kategorie-Ausdrücke (die ‘Pseudo-Obermenge’) zu den quantifizierenden Untermenge-Ausdrücken bestehen überwiegend aus zwei semantischen
Typen, nämlich
• Massenbegriffe wie Wein, Sand, Milch, Holz / vinum, harena, lac, lingum
• Abstrakta wie Freiheit, Faulheit etc. / libertas, pigritia etc.
Beide haben gemeinsam, daß sie nicht in Individuen teilbar sind; es besteht
also der Unterschied
• multum harenae ‘eine große Masse aus der Kategorie Sand’
vs.
• multi militum ‘viele Individuen aus der Obermenge Soldaten’
Das hat Konsquenzen für das
Ausdrucksformat von Pseudo-Partitivkonstruktionen:
1. Der Wechsel zwischen Genitiv und Präposition ist bei Pseudo-Partitivkonstruktionen prinzipiell ausgeschlossen, denn durch Wechsel zur Präposition
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ändert sich der Sinn: es ergäbe sich eine definite Obermenge, vgl.
modius tritici
‘ein Scheffel Weizen’
vs.
‘
modius de tritico
ein Scheffel von dem Weizen’
M.a.W.: aus der Ps.-Partitivkonstruktion würde eine echte Partitivkonstruktion.
2. Aus syntaktischen Gründen ist somit beim Pseudo-Partitiv der Genitiv immer dann erforderlich, wenn Untermenge und Kategorie Substantive sind,
vgl. modius tritici, gutta olei etc.
Da der Genitiv also ebenso in Pseudo-Partitiv- wie in echten Partitivkonstruktionen auftritt und nicht wie im Deutschen ein formaler Unterschied zwischen beiden Typen besteht
(vgl. o. [9] ein Glas Wein vs. ein Glas von dem Wein), sollte uns klar sein, daß der Genitiv
prinzipiell ambig zwischen echter und Pseudo-Partitivkonstruktion ist: modius tritici kann
bedeuten ‘ein Scheffel von dem Weizen’ oder ‘ein Scheffel Weizen’; das hängt davon ab,
ob der Oberbegriff schon in den Diskurs eingeführt ist oder nicht. Im ersteren Falle haben
wir es also mit einer echten Partitivkonstruktion zu tun.
RH 130,4
3. Untermengenbegriffe aus substantivierten Adverbien wie parum und satis
lassen natürlich nur den Genitiv der Obermenge zu: parum cibi, satis pecuniae.
Wenn dagegen der Kategoriebegriff ein adj. Attribut beinhaltet, z.B. magnum
praesidium, wird satis als Adverb und Modifikator des Adjektivs verwendet.
Der Konstruktionsunterschied ist also:
satis
Subst.
praesidii
Gen.-Attr.
vs.
vs.
[satis magnum]
Adj.-Attr.
praesidium
Subst.
4. Wenn die Untermenge als Substantiv oder als Adjektiv fungieren kann,
ist freier Wechsel zwischen Genitiv und kongruenter Konstruktion möglich:
multum ligni ↔ multum lignum, vgl.
[10] Caes. Gal. 4.13.3
quibus ad consilia capienda nihil spatii dandum existimabat.
[11] Caes. Gal. 7.42.2
Haedui primis nuntiis ab Litavicco acceptis nullum sibi ad cognoscendum spatium relinquunt.
Hierbei gibt es wieder zwei Besonderheiten:
RH 130,2
(a) Untermengenbegriffe, die durch Substantivierung von Adjektiven gewonnen werden (multum, parum, etc.) sind immer indeklinable Substantive
im Neutrum; sie können also nur in den beiden unmarkierten Kasus des
Neutrums, dem Nom. und Akk. stehen; bei den obliquen Kasus muß
kongruente Konstruktion stehen (die Untermenge wird dabei Adjektiv):
Nom.Akk.:
habet multum ligni
mihi est multum pecuniae
Obliquus:
utitur multo ligno
implere arcam multā pecuniā
Im Deutschen ist das ähnlich: ‘viel’ in ‘viel Wein’ wird nicht dekliniert, wie sich beim
obliquen Kasus zeigt:
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[12] Den Bratensatz mit viel Wein (< Weines) ablöschen
̸= mit *vielem Wein
(b) Kategoriebegriffe, die durch Adjektive der 3. Dekl. wie utilis gebildet
werden, sind ambig zwischen Nom. und Gen.; sie stehen daher nur in
der kongruenten Konstruktion, vgl. den Unterschied:
Flexionsklasse des Kategoriebegriffs ist
2. Dekl.:
3. Dekl.:
aliquid boni aliquid utile
5. Wenn die ‘Untermengen’-Ausdrücke nicht-quantifizierende Pronomina sind
wie z.B. is, idem, quis, fokussiert der Genitiv die Zugehörigkeit zur Kategorie:
[13] Ter. Hec. 639
quid mulieris uxorem habes
‘Was für eine Sorte Frau hast denn Du zur Gemahlin?’
[14] Cic. fam. 9.2.2
Tibi autem idem consilii do quod mihimet ipsi
‘Ich gebe dir dieselbe Art von Rat wie mir selbst’
Die Faustregeln für die dt.-lat. Übersetzung bei Ps.-Partitivkonstruktionen
lauten somit:
• Genitiv, wenn die Untermenge ein echtes Substantiv oder ein substantiviertes Adjektiv ist (modius tritici)
• kongruente Konstruktion, wenn die Untermenge ein Quantitätsadjektiv
oder ein Indefinitum est (multum lingnum geht in allen Kasus und Flexionsklassen; multum ligni nur im Nom. und Akk.)
D.1.2 Übung
Klassifizieren Sie die folgenden Beispiele nach den Begriffen in Tabelle D.3
bzw. Tab. D.4:
?
[15] Caes. Gal. 5.19.1
Cassivellaunus . . . milibus circiter quattuor essedariorum relictis itinera nostra servabat
[16] multitudo pars ruit in vias, pars prospicit de tectis
[17] Varro r.r.1.17
plerique pauperes colunt agros ipsi
[18] Caes.civ.3.69.3
plerique ex his se in fossas praecipitabant
[19] Liv. 42.5.2
Eumenis beneficiis muneribusque plerique principum obligati erant
[20] Cic. Ver. 1.1.22
Ex quibus quidam . . . eadem illa nocte ad me venit
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RH S. 148, e
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[21] Caes.Gal.5.22.4
multum aestatis supererat
[22] Caes.civ.1.49.1
multum erat frumentum provisum superioribus temporibus
[23] Cic.Att.1.24.3
tantum est reliquum de argento.
[24] Cic. Brut. 82
Galba . . . princeps ex Latinis (auctoribus) illa oratorum . . . opera tractavit
?
Setzen Sie die richtigen Formen ein und begründen Sie das durch Verweis auf die einschlägige RH-Regel:
[25] Cic.Brut.110
De Scauro ac Rutilio breviter licet dicere, . . . . . . . . . . . . . . . summi oratoris habuit laudem —Über Scaurus und Rutilius kann ich mich kurz fassem,
da keiner von beiden das Ansehen eines Spitzenredners genoß
[26] Caes.Gal.1.1
Gallia es omnis divisa in partes tres, . . . . . . . . . . . . . . incolunt Belgae
— Gallien in seiner Gesamtheit gliedert sich in drei Teile, von denen einen die
Belgier bewohnen
[27] Nep.2.4.3
Themistocles . . . . . . . . . . . . . quem habuit fidelissimum ad regem misit
— Th. schickte von seinen Sklaven den treuesten, den er hatte
[28] Cic.off.1.151
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (omnes res), quibus aliquid acquiritur, nihil est agri cultura melius — Von allen Arten des Erwerbs ist keine
besser als die Landwirtschaft
[29] Sall.Cat.5.4
Erat Catilinae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . — C. hatte genug Redegewandtheit, aber zu wenig Klugheit
[30] Cic.fin.2.114
In animis doctissimi illi veteres inesse quiddam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . putaverunt. — Jene alten Philosophen meinten, daß dem Geist etwa Himmelisches
und Göttliches innewohne.
[31] Welche der beiden Konstruktionen ist falsch und warum:
a. Silius Italicus tantum librorum habuit, ut novam villam emeret. / (‘S.I.
hatte soviel an Büchern, daß er ein neues Haus kaufen mußte’).
b. Plinius Martialem tanto pecuniae instruxit, ut in Hispaniam redire posset. / (‘P. hat Martial mit soviel Geld ausgestattet, daß er nach Spanien
zurückkehren konnte.’)
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F. Heberlein
D.2
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Possessiv-Konstruktionen
D.2.1 Possession
ist die Zuordnung eines Besitzes zu einenem Besitzer; technisch gesagt: eine
Relation zwischen Possessum und Possessor.
Diese Relation kann adverbal oder adnominal sein; als Ausdrucksformate für
den Possessor sind dabei möglich:
bei adverbaler Konstruktion:
bei adnominaler Konstruktion:
Gen.-Obj.
Domus patris est
Dat.-Obj.
Patri domus est
Subjekt
Pater domum habet
.................................
Gen.-Attribut Domus patris
adj. Attribut
Domus patria
Tabelle D.5: Possessiv-Konstruktionen
1. Der possesive Genitiv beruht historisch auf einer metaphorische Ableitung aus dem
Partitivus: ‘Teile sind Besitztümer’:
[32] Pes Marci laesa est
Ausgangspunkt dieser Ableitung ist die sog. ‘inalienable Possession’ wie in [32]: pes ist
relational, setzt also eine ‘Obermenge’ voraus; diese ist aber ihrerseits ‘Besitzer’ des pes.
Pes ist also gleichzeitig Teil der ‘Obermenge’ und deren unveräußerliches (»inalienables«)
Besitztum: die partitive Relation kann so possessiv interpetiert werden.
‘Inalienable Possessa’ sind solche, von denen sich der Eigentümer normalerweise nicht
trennen kann, vgl. (1) *Hans läßt seinen Kopf zuhause vs. (2) Hans läßt seinen Hut
zuhause.
2. Der possessive Dativ dagegen beruht auf einer Existenzkonstruktion: mihi domus est
∼ ‘es existiert ein Haus für mich’.
3. In beiden Fällen war esse somit ursprünglich ein normales Existenzverb, wie es heute
noch im Russischen ist:
[33]
u
menja Kniga
bei mir
Buch
‘Ich habe ein / das Buch’
Durch Uminterpretation des Gen. / Dat. zum Komplement von esse (↑ Valenzerweiterung) entsteht die Possessivkonstruktion.
4. Die Konkurrenz des des (jüngeren) habere+Akk. mit dem (älteren) possessiven Dativ
ist im klass. Latein noch nicht voll ausgebaut, denn der habere-Typ ist noch weitgehend
auf Sachen beschränkt (im Einkläng mit der Etymologie von habere ‘in der Hand halten’).
Nachklassisch setzt er sich aber durch, weil er flexibler ist (das Possessum kann beliebig
determiniert werden, vgl. nachstehend).
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Syntax I
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D.2.1.1 Semantik der Possessivkonstruktionen
Wenn man die Bsp. in Tab. D.5 auf S. 97 exakt ins Deutsche übersetzt (Artikelverwendung beachten!); kann man verifizieren, daß possessiver Dativ und
possessiver Genitiv Typen in semantischen Opposition stehen:
1. beim possessiven Genitiv ist das Possessum definit (‘das Haus’) und kann
daher auch durch ein definites pronomen bezeichnet werden (vgl. [34]), beim
possessiven Dativ ist es indefinit (‘ein Haus’) und kann daher ein Indefinitpronomen enthalten (vgl. [35]):
[34] Plaut. Trin. 521
ne tu illum agrum siveris fieri gnati tui
[35] Plaut. Cas. 37
est ei quidam servos, qui in morbo cubat
Bei der habere-Konstruktion ist die Determination des Possessums frei (indefinit oder definit).
2. in pragmatischen Begriffen bedeutet das: bei der Genitiv-Konstruktion ist
das Possessum ↑ Topik und der Possessor ↑ Fokus, bei der Dativ- und der
habere- Konstruktion ist es umgekehrt.
Nr. 2 besagt informell: Der possessive Genitiv ist eine Aussage über das Possessum,
der Dativ eine über den Possessor. Technisch umformuliert: der Gen. ist ‘possessumorientiert’, der Dat. und der Akk. sind ‘possessor-orientiert’.
Die Assozierung von Indefinitheit mit Fokusfunktion und Definitheit mit Topikfunktion
ist universal, vgl. im Dt.:
[36] a. Da kommt der Zug!
b. Da kommt ein Zug!
In a. ist der Zug im Diskurs bereits vorhanden, in b. ist der neu.
?
Was bedeutet demzufolge:
[37] filiusne apud parentes habitat an ei domus est?
[38] filiusne apud parentes habitat, an domus eius est?
Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Übersetzung ins Lateinische: Wenn
wir den Unterschied zwischen definitem und indefinitem Possessum beachten, ist klar, daß auch bestimmte Sätze, die im Deutschen den possessiven
Dativ mit gehören haben, ins Lateinische mit possessivem Genitiv übersetzt
werden müssen.
?
Für welches von den beiden folgenden gilt das?
[39] Marcus hat ein Auto (carrus): . . . . . . . . . . . . . . . .
[40] Das Auto gehört dem Marcus: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D.2.1.2 Pronomina in Possessivkonstruktionen
Der Possessor kann natürlich auch durch ein Pronomen bezeichnet werden.
Dann gibt es einige Unterschiede zwischen possessivem Dativ und possessivem Genitiv:
Dativ
(1)
(2)
(3)
(4)
Patri
Mihi
Tibi
Illi
(5)
(6)
(7)
Marcus dixit:
sibi
domum esse
illi
domum esse
Genitiv
domus est
haec domus
patris est
mea
tua
illius
hanc domum
hanc domum
suam esse
illius esse
Tabelle D.6: Pronomina in der Possession
1. Beim Dativ sind die Dinge simpel:
(a) es wird ein Personalpronomen für die 1. und 2. Person verwendet (Zeile
2 u. 3); das ist ein normales Substantiv
(b) bei der dritten Person steht ein Demonstrativpronomen für den nichtreflexiven Fall (Zeile 4), denn ein nicht-reflexives Personalpro. der 3. Person gibt es nicht; für den reflexiven Fall steht dagegen das Reflexivpronomen (Zeile 6). Beide Pronomina sind Substantive, weswegen die DativKonstruktion immer beibehalten werden kann.
2. Beim Genitiv
(a) wird als Pronomen der 1. und 2. Person das Possessivpronomen verwendet. Das ist ein Adjektiv und unterliegt daher dem Zwang zur Kongruenz
mit dem Possessum (Zeile 2/3 in Tab. D.6); es muß sich also die Konstruktion ändern
(b) bei der 3. Person muß unterschieden werden zwischen dem reflexiven
Fall und dem nicht-reflexiven Fall. Für den reflexiven Fall existiert ein
adjektivisches Possessivpronomen suus, -a, -um (Zeile 6 in D.6). Für den
nicht-reflexiven Fall existiert keines; ersatzweise wird ein substantivisches (!) Demonstrativpronomen (hic, is, ille) verwendet (Zeile 4 u. 7);
das tritt dann natürlich wieder in den Genitiv.
(c) Ein Possessivpronomen kann (zur Fokusbildung) mit ipse kombiniert
werden; dann ergibt sich eine Kombination aus adjektivischem Attribut
(das Possessivpronomen) und substantivischem Genitivattribut (ipse ist
Substantiv):
[41] tuam ipsius epistulam recitabo
‘Ich werde Deinen eigenen Brief vorlesen’ (∼ Apul.apol.86)
Wann Reflexiva verwendet werden müssen, klären wir andernorts
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?
Syntax I
WS 2014-15
Setzen Sie die richtigen Formen ein:
[42] das ist der Hund des Professors : das ist mein / dein Hund
Haec canis . . . . . . . . . . . est : Haec canis est . . . . . . . . . . .
[43] Marcus sagte, er habe kein Auto, aber jener habe eines.
.......................................................
[44] Marcus sagte, dieses Buch gehöre ihm:
.....................................
[45] Marcus sagte, das Buch gehöre nicht ihm, sondern jenem:
...................................................
D.2.2 Abstrakte Extensionen des possessiven Genitivs
Das Grundmuster (1) domus patris est kann durch lexikalische und syntaktische Variation des Possessors oder des Possessums verändert werden. In (2)
ist das Possessum durch einen Sachverhalt ersetzt, in (3) ist das Possessum
durch einen Sachverhalt und der Possessor durch ein abstraktes Substantiv
ersetzt:
Possessum
Possessor
Prädikat
(1) domus
(2) disputare
(3) aufugere
patris
mathematicorum
ignaviae
est
est
est
1. Das Possessum, das ja normalerweise ein Gegenstand ist, wird durch einen
Sachverhalt ersetzt. Dann entstehen je nach Kontext Bedeutungen wie ‘es ist
Aufgabe / Pflicht / Gewohnheit / Merkmal von’:
[46] deorum est Pompeium populo Romano servare
[47] De hac re disputare mathematicorum est
[48] Est miserorum ut malivoli sint: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Auch der Possessor wird durch ein Abstraktum ersetzt, und zwar durch
eine Metoymie des typs stulorum est → stulititiae est. Dann ergibt sich nur die
Bedeutung ‘es ist Zeichen von’, ‘es ist typisch für’:
[49] Stultitiae est de hac re disputare
Nun befinden wir uns bereits im Bereich der qualitativen Kategorisierung, die
wir im nächsten Abschnitt besprechen.
KU Eichstätt
100
Latinistik
F. Heberlein
D.3
Syntax I
WS 2014-15
Qualitative und quantitative Kategorisierung
D.3.1 Genitivus bzw. Ablativus »qualitatis« und »pretii«
adverbal:
puer
magni ingenii est
puer
magno ingenio est
servus
magni pretii est
→
adnominal:
puer
magni ingenii
puer
magno ingenio
‘Gen. qualitatis’
»Abl. qualitatis«
servus
‘Gen. pretii’
magni pretii
Tabelle D.7: Gen. / Abl. qualitatis und Gen. pretii
1. Semantik:
Diese Konstruktionen drücken die Einordnung eines Elements in eine qualitative oder quantitative Kategorie aus. In der Schulgrammatiken werden sie
daher ‘Genitivus / Ablativus qualitatis’ bzw. ‘Genitivus pretii’ genannt (einen
»Ablativus pretii« gibt es nur im semantischen Spezialfall der »Kauf-Verben«,
vgl. u. §D.3.1.1).
Der Unterschied zwischen qualitativer und quantitativer Kategorisierung ist
fließend, denn ein ‘Gen.pretii’ kann jederzeit metaphorisch als ‘Gen. qualitatis’
interpretiert werden; vgl. unten Bspp. [53] und [54].
2. Ausdrucksformate:
Die semantische Gleichwertigkeit von qualitativem Genitiv und Ablativ zeigt
sich an Fällen, wo beide in Koordination auftreten, wie in [50] (weitere Bsp.
bei KS 1,456f).
[50] Cic. leg. 3.45
Uir magni ingenii summaque prudentia, L. Cotta, dicebat nihil omnino
actum esse de nobis.
Da »Einordnung in eine qualitative Kategorie« auch als Possessivrelation konzeptualisiert werden kann, konkurriert mit dem adverbalen Gen. qualitatis der
possessive Dativ:
[51] puer magni ingenii est → puero magnum ingenium est
(Der possesive Dativ, nicht der Genitiv, weil der Fokus auf dem Possessum liegt, vgl. o.
S. S. 98.)
3. Syntax:
Der qualitative / quantitative Genitiv und Ablativ kommen adverbal (am häufigsten als Prädikatsnomen zu esse) und adnominal vor.
Beispiele:
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Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
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[52] Plaut. Mos. 782
habeo homines clitellarios (»Lastträger«); magni sunt oneris: quidquid
imponas vehunt
[53] Petr.58.14
(früher gab es noch Kerle:) at nunc . . . nemo dupondii evadit.
[54] Cic.fam.5.10a.1
simius, non semissis homo, contra me arma tulit et eum bello cepi.
[55] Nep. 24.3.1
Cato singulari fuit prudentia et industria
[56] Caes. Gal. 5.14.2
Britanni capillo sunt promisso atque omni parte corporis rasa praeter
caput et labrum superius.
[57] Cic. Tusc. 1.7.
Aristoteles, vir summo ingenio, scientia, copia, prudentiam cum eloquentia iunxit
1. Semantisches Ableitungsverhältnis:
(a) Genitivus ‘qualitatis’ und ‘pretii’ sind Ableitungen aus dem Pseudo-Partitivus (vgl.
S. 93) durch lexikalische Erweiterung; die Relation Quantum : Kategorie wird zur
Relation Individuum : Kategorie weiterentwickelt. Der Unterschied zwischen Gen.
qualitatis und Gen. pretii beruht rein auf lexikalischen Spezialisierung – der Gen.
bezeichnet eine Kategorie der Qualität oder Quantität.
(b) der ‘Ablativus qualitatis’ dagegen ist eine Ableitung aus dem ‘Begleiter-’ bzw ‘Zubehörmodell’, das wir unten S. 115 beim Kapitel Konkomitanz besprechen. Das ist
das historisch früheres Modell, das durch den Genitiv erst allmählich Konkurrenz
bekommt. Zur Illustration: in adnominaler Funktion besteht noch bei Cicero ein
Verhältnis von Ablativus qualitatis zum Genitiv von 445 : 27.
2. Syntaktisches Ableitungsverhältnis:
Ausgangspunkt ist, wie in Tab.D.7 dargestellt, sowohl beim Genitiv als auch beim Ablativ
die adverbale Konstruktion, Endpunkt die adnominale.
D.3.1.1 Genitiv und Ablativ bei Verben für »Einschätzen« und »Kaufen«
RH 139,2
Bei diesen Verben gibt es im klassischen Latein eine ‘Arbeitsteilung’ zwischen
Genitiv und Ablativ, die aus Tabelle D.8 auf S. 103 ersichtlich ist: der Gentiv
steht bei indefiniten Wertangaben, der Ablativ bei spezifischen und definiten.
1. Die Kasusopposition erklärt sich aus den oben genannten unterschiedlichen Ableitungsquellen. Der Ablativ ist mit der semantischen Funktion ‘Instrumental’ assoziiert,
‘Instrumente’ aber sind definit. Der Genitiv dagegegen ist mit der semantischen Funktion
‘Kategorie’ assoziiert, die auch ein abstrakter, indefiniter Quantitäts- oder Qualitätsbegriff sein kann.
2. Durch die Kombination des Genitivs bzw. Ablativs mit einem Vollverb (statt wie beim
Gen. / Abl. pretii mit der Kopula esse) werden die betreffenden Ausdrücke syntaktisch
zu Adverbialien.
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102
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Genitiv:
indef
spez
def
indef
aestimat
bovem pluris quam capram
bovem tanti quanti capram
bovem magni
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Ablativ:
bovem magno
bovem ducentis denariis
emit
bovem pluris quam capram
bovem tanti quanti capram
spez
def
bovem magno
bovem ducentis denariis
Tabelle D.8: Gen. und Ab. mit Verben für ‘Einschätzen’ und ‘Kaufen’
Indefiniter Wertangaben stehen im Genitiv Die häufigsten Verwendungsweisen sind:
1. Komparativkonstruktionen:
[58] Cic.fam.7.23.3
quanti ego genus signorum omnium non aestimo, tanti ista quattuor aut
quinque sumpsisti.
[59] Cic.Ver.2.4.10
Heius id, quanti aestimabat, tanti vendidit
[60] Cic.Ver.2.3.41
Pluris decumas vendidisti quam ceteri.
2. Ergänzungsfragen:
[61] P.Rud.1272
Quanti censes?
3. Konsekutivgefüge des Typs
[62] Plin.ep.8.9.2
Nulla studia tanti sunt, ut amicitiae officium deseratur
4. Kurzformen des Typs
[63] Cic.fam.8.14.1
tanti non fuit Seleucean expugnare
Indefinitheit ist eine semantische Eigenschaft aller Komparations- und Fragewörter wie
pluris, tanti und quanti: ‘mehr’ ist nicht eine Steigerung von ‘viel’, denn in einem Satz
wie Anna wiegt mehr als Erika, ist, unter der Voraussetzung daß beide Babies sind, mehr
dennoch nicht besonders viel, und auch in . . . wiegt soviel wie Erika und wieviel wiegt
Anna? ist über Annas Gewicht überhaupt nichts gesagt.
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103
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Definite Wertangaben stehen im Ablativ. Muster wie aestimare / emere ducentis denariis sind eine abstrakte Form des Instrumentalis (‘kaufen mit 200
Denaren’); der Begriff ‘Instrument’ ist natürlicherweise mit ‘definit’ assoziiert.
Spezifischen Wertangaben stehen teils im Ablativ, teils im Gentiv. Spezifität ist eine Zwischenkategorie zwischen definit und indefinit; z.B. ist »teuer
kaufen« spezifischer als »teurer kaufen«, aber nicht definit (wie es »für 2 Euro
kaufen« ist). Prinzipiell steht hier ebenfalls der Ablativ: magno aestimare, magno emere. Bei der aestimare–Gruppe (nicht aber bei der emere–Gruppe) gibt es
zusätzlich den Genitiv magni aestimare.
Der Genitiv ist offensichtlich nur durch Analogie hierher verschleppt, weil so eine komplette Komparationsreihe gebildet werden kann:
magni
spezifisch
maximi
pluris plurimi
indefinit
Zu beachten ist, daß die Komparationswörter teils der ‘Groß–’, teils der ‘Viel’–Gruppe
entnommen sind (technisch: teils dimensional, teils quantitativ sind).
D.4
Die Faustregel für die Übersetzung ins Lateinische lautet somit: ‘Indefinite Wertangaben stehen im Genitiv, alle anderen im Ablativ’
Geltungsbereich
Die Angabe des Geltungsbereichs ist eine Möglichkeit der Kategorisierung
von Sachverhalten: es wird ausgesagt, wofür der Sachverhalt relevant ist:
[64] a. Max wurde des Unterschleifs überführt
b. Max wurde wegen Unterschleifs verurteilt
c. Schwimmen ist wichtig für die Stärkung der Rückenmuskulatur
Wie [64bc] zeigen, besteht (teilweise) Konkurrenz zwischen dem semant. Modell »Geltungsbereich« und den Modellen »Grund« bzw. »Ziel«.
Im Lateinischen gehören drei Verbgruppen hierher:
(1)
(2)
(3)
unpersönliche Verba affectus
Verben der Rechtssprache
mnestische Verben (erinnern / vergessen)
pudet
accuso
memini
me
eum
facinoris
proditionis
eius calamitatis / amici
Semantisch unterscheiden sie sich dadurch, daß bei den Gruppen (1) und (2)
der Geltungsbereich ein Sachverhalt ist, bei (3) er dagegen auch ein physisches
Objekt sein kann (»ich erinnere mich noch an mein erstes Auto«).
Der Geltungsbereich gehört zur Valenz des Verbs, ist syntaktisch also Objekt.
Ausdrucksformate sind (1) Genitiv, (2) Präposition, (3) nominale und verbale
Nebensätze.
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104
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Nicht hierher gehört der irreguläre Genitiv bei interest und refert (vgl. u.
§D.5).
D.4.1 »Mnestische« Verben
Verben, die »mnestische Prozesse« wie Erinnern und Vergessen bezeichnen,
sind so organisiert, daß ‘erinnern’ und ‘denken an’ in kausativer Relation stehen (moneo → memini), und ‘erinnern’ vs. ‘vergessen’ in antonymer Reation
stehen:
kausativ →
jemanden erinnern
sich erinnern / denken an
vergessen
← antonym →
D.4.1.1 Ausdrucksformate
»Menstische« Verben drücken das Objekt der Erinnerung im Lateinischen wie
im Deutschen ähnlich aus, nämlich mit Genitiv, Präposition oder Nebensatz
[65] a. Wir gedenken der Toten
b. ich erinnere mich eines Vorfalls / an einen Vorfall im Jahre 2000
c. ich erinnere mich nicht, ihm das erlaubt zu haben / daß ich . . . erlaubt
habe
TabelleD.9 zeigt die Einzelheiten für das Lateinische:
Gen.-Obj.
memini amici
obliviscor amici
venit mihi in
mentem amici
mentionem facio
amici
Präp.-Obj.
Akk.-Obj.
memini verba amici
memini hoc
obliviscor hoc
venit mihi in
mentem hoc
→ mentionem facio
de Caesare
admoneo te de
Caesare
recordor de amico ←
admoneo te hoc
recordor verba amici
recordor hoc
reminiscor verba amici
reminiscor hoc
Tabelle D.9: Genitiv bei Verben für ‘sich/jemand erinnern’ und ‘vergessen’
Sie zeigt,
1. wann der Genitiv durch das ‘normale’ Akk.-Objekt abgelöst wird, nämlich:
(a) sobald das Objekt ein Pronomen ist (memini hoc); das dient der Vermeidung der Paraphrase huius rei (vgl. o. S. ??).
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105
Latinistik
RH §136
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Syntax I
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(b) sobald ein zweiter ‘Partizipant’ hinzutritt (memini verba amici). Was
könte der Grund hierfür sein?
2. die zunehmende Konkurrenz, die der Genitiv durch die Präposition de +
Abl. erhält: bei mentionem facio steht beides nebeneinander, bei admoneo gibt es
nur noch die Präposition.
3. daß bei recordor (< re-cord-or) der Akkusativ ‘normal’ ist und die Präposition auf ↑ Analogie zu admoneo beruht. Das hat mit der Etymologie von
recordari zu tun: inwiefern?
4. daß die Variante mit Akk.-Obj. sich nicht entwickelt bei mentionem facio.
Auch das läßt sich aus der Etymologie erklären; inwiefern?
D.4.1.2 Satzförmige Objekte
Wie oben gesagt, können natürlich auch Sachverhalte Gegenstand von Erinnern und Vergessen sein; die Syntax ist dann folgende:
RH 169
• Verben für »erinnern« haben wie alle Kognitionsverben den AcI bzw.
den indirekten Fragesatz, vgl. [66] und [67]
• Verben für vergessen haben
– wenn sie als negative Kognititionsverben verwendet werden (oblivitus sum ∼ non memini), den Aci oder den indirekten Fragesatz,
vgl. [68] u. [69]
– wenn sie als Handlungsverben verwendet werden (∼ unterlassen),
den Infinitiv, vgl. [70]
[66] Cic. de domo sua 27
res publica summisque in periculis eius viri auxilium implorat, a quo
saepe se et servatam esse meminit
[67] Cic. reg. Deiot. 35
Quid retineat per te meminit, non quid amiserit
[68] Cic. de orat. 2.15
me senem esse sum oblitus fecique id, quod ne adulescens quidem feceram
[69] Cic. Planc. 57
Is, unde audierit, oblitus est
[70] Plaut. Mos. 487
lucernam forte oblitus eram exstinguere
»Mnestische« Adjektive. Neben ein o.g. Verben gibt es eine Reihe verwandter Adjektive wie memor, die ebenfalls einen Genitiv bei sich haben. Dieser Genitiv ist als »echt«,
im Gegensatz zum Genitiv bei anderen Adjektive wie sciens. Sie finden diese Adjektive
zusammengestellt bei RH §135; bitte überprüfen Sie, ob sie sie beherrschen.
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F. Heberlein
Syntax I
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D.4.2 Verben der Rechtssprache
(1) Cleophon accusat
Phocionem
proditionis
(2) Iudex
damnavit feneratorem ob annonam compressam pecunia
..............................................................................
Agens
Präd.
Patiens
‘Kategorie’ : Tatbestand
‘Strafmaß’
Subj.
Akk.Obj.
Gen.Obj./Präp.Obj.
Tabelle D.10: Verben der Rechtssprache
Verben für (1) ‘anklagen’ sind maximal dreistellig, die für (2) ‘verurteilen’
sind maximal vierstellig, weil sie zusätzlich noch einen Partizipanten für das
Strafmaß haben.
Ein Repertorium von Verben der Rechtssprache findet sich bei MBS s.v.
accusare.
D.4.2.1 Ausdrucksformate
1. Tatbestand und Urteilsgrund:
Das ist derselbe Partizipant in unterschiedlicher Perspektive. Anklagen und
verurteilen kann man jemand wegen eines Verstoßes gegen eine iuristische Kategorie oder aus einem bestimmten Grund. Daher ist es verständlich, daß die
einschlägen Ausdrücke nach zwei Muster gebildet werden können:
• nach dem Prototyp ‘Einordnung in eine Kategorie’
– mit einer Abstraktionsform des partitiven Genitivs (vgl. Tab. D.2 auf
S. 88),
– mit einem anderen Ausdrucksformat des Partitivs, der Präposition
mit de + Abl.
Beides findet sich nebeneinander in [71].
• nach dem Prototyp ‘Grund’ mit einem Kausal-Ausdruck, nämlich
– den Präposition propter und ob
– einem quod-Satz, der deswegen regulär möglich ist, weil der Klagegrund ja einen Sachverhalt bezeichnet.
[71] Cic. Clu. 114
illi debuerunt potius accusari de pecuniis repetundis quam ambitus.
[72]
Liv.38.35.5
duodecim clipea aurata ab aedilibus curulibus sunt posita ex pecunia,
qua frumentarios ob annonam compressam damnarunt
[73] Caes. Gal. 1.16.6
Caesar graviter eos accusat quod tam necessario tempore, tam propinquis
hostibus ab iis non sublevetur
2. Das Strafmaß hat mehrere Ausdrucksformate, die von verschiedenen Prototypen abgeleitet sind:
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RH §138
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Syntax I
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• Vom Instrumental:
[74] a. Zum Exil verurteilen: damnare . . . . . .
b. Zu einer Geldstrafe (pecunia) verurteilen: damnare . . . . . . . (vgl.
[72]).
• Vom Lokativ (Richtung):
[75] a. Zur Bergwerksarbeit verurteilen: . . . . . . . . . .
b. Zu Arbeitslager verurteilen: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[76] Plin. ep. 10.31.2
In plerisque ciuitatibus quidam uel in opus damnati uel in ludum similiaque genera poenarum publicorum seruorum officio funguntur,
atque etiam ut publici serui annua accipiunt.
• Vom Gen. pretii bei aestimare / emere (vgl. §D.3.1):
[77] Cato agr. pr.1
maiores nostri sic habuerunt: furem dupli condemnari, feneratorem
quadrupli.
Der Wechsel von Ablativ und Genitiv in [74] vs. [77] entspricht dem zwischen Abl. und
Gen.pretii, vgl. S. 102: spezifisches und definites Strafmaß stehen im Ablativ, indefinites
steht im Genitiv.
D.4.2.2 Metaphorische Ableitungen
sind bei Verben der Rechtssprache häufig, z.B.
[78] a. Der Redner klagte die Inkompetenz der Politiker an ∼ ‘anprangern’.
b. Der Künstler verurteilt die Ignoranz des Publikums ∼ ‘(scharf) kritiseren’
Diese metaphorische Ableitung widerspiegelt sich in der alternative Konstruktionsmöglichkeit, die Objektsstelle mit dem ‘Straftatbestand’ zu besetzen:
[79] Petr.41.5
(jemand kapiert etwas erst im zweiten Anlauf:) damnavi ego stuporem
meum et nihil amplius interrogavi
?
Formen Sie entsprechend um:
[80] Consul cives inertiae arguit → . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
D.4.3 Unpersönliche Verba affectus
RH §137
Die Verba
piget, pudet, paenitet, taedet, miseret
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108
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sind unpersönliche Verba affectus, also Verben, welche eine emotionale Einstellung (Freude, Trauer, Ärger etc) gegenüber einem Sachverhalt ausdrücken.
[81] Piget me laboris »Plackerei widert mich an.«
Gegenüber den ‘normalen’ Verba affectus wie gaudere victoriā, dolere iniuriā etc.
haben sie zwei syntaktischen Besonderheiten:
Verb
Träger d. Einstellung
Sachverhalt,auf den sich d. Einstellung richtet
piget
dolet
dominum
dominus
nequitiae servi
nequitiā servi
• der Träger der Empfinung steht im Akk. statt im Nominativ; er ist also
nach dem Prototyp ‘Patiens’ konzipiert – wie in dt. das reut mich, das
ärgert mich
• der Sachverhalt, auf den sich die Empfindung richtet, ist nicht wie bei
dolere als Grund – Ablativ – konzipiert, sondern als ‘Kategorie’, als Geltungsbereich, in welchen der Affekt fällt
Diese Verbgruppe weist also Verbindungen zu zwei anderen Verbgruppen auf:
1. semantisch zu den persönlichen Verba affectus wie dolere, gaudere, deren Grammatik
wir in §E.3.3 §B.3.2.1 auf S. 45 behandeln
2. syntaktisch, wegen des Akk. der Person, zu den unpersönlichen Kognitionsverben wie
me fallit / fugit, die wir in §B.5.1 auf S. 56 behandeln. Dort findet sich auch eine
Gesamtübersicht.
D.4.3.1 Alternative Ausdrucksformate
Der mit dem Verb ausgedrückte Affekt richtet sich, wie bei Verba affectus
immer, auf eine faktische Situation; technisch gesagt: Geltungsbereich ist faktisch präsupponiert. Daraus folgt, daß statt des Gen.-Objekts jeder andere
Ausdruck vorkommen kann, der eine faktische Situation ausdrücken kann:
[82] Diese Tat reute ihn nicht:
Non eum paenitet
.......... /
Gen.
.......... /
Inf.
..............
Ns.
Pronomen als Objekt In [83] liegt ein Wechsel vom Gen. zum Pronomen
vor, der uns so ähnlich bei den Vb. für ‘erinnern’ in §D.4.1 begegnet ist. Weil
das Verb unpersönlich ist, hat allerdings das Pronomen hier nicht Objektssondern Subjektsfunktion, und das hat wiederum Konsequenz für die Kongruenz, wie sich in [84] zeigt:
[83] Das widert mich an: Piget me . . .
[84] Schämst du dich nicht für diese Dinge? (Plural beachten!)
Non te haec . . . . . . .
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Zusatz: Der Genitiv als Komplement der Postpositionen causā und gratiā
causā und gratiā sind zu ‘Postpositionen’ grammatikalisierte Substantive im Ablativ. Sie
vermitteln eine gute Anschaung davon, wie ein Grammatikalisierungsprozeß laufen kann:
1. Als ‘normale’ Substantive verwendet werden, können sie einen possessiven Genitiv bei
sich haben:
[85] causā rei publicae: ‘aufgrund der Angelegenheit des Staates’
2. Bei der Grammatikalisierung zur Postposition ‘wegen, um. . . willen’ wurde dieses Genitivattribut zum Komplement (Ergänzung) der Postposition uminterpretiert, also:
[86] rei publicae causa → ‘um des Staates willen’
3. Reflex dieser Vorgeschichte ist, daß der Wechsel des ‘possessiven’ Genitivs mit dem
Possessivpronomen erhalten bleibt:
[87] Um des Staates willen habe ich das getan: . . . . . . . . . . . . . . . . hoc feci.
[88] Um deinetwillen habe ich das getan: . . . . . . . . hoc feci.
D.5
RH §140
Das Genitivobjekt bei interest / refert
Während bei allen bisher behandelten Verbgruppen der Genitiv regulär ist und Entsprechungen in den anderen idg. Sprachen hat, gilt das für den bei interest und refert nicht.
Deshalb stellen wir ihn als Nachtrag an das Ende der Genitivkonstruktionen.
Die Bedeutung von rēfert und interest, ‘es ist jmd. gelegen an’, ‘es ist wichtig
für’, wird durch vier Komponenten konstituiert.
intererat
Romanorum
multum
populos regere
ad gloriam
mea / tua / sua plurimi
id
....................................................................................
(Verb)
‘Interessent’
Interesse-Grad Interesse-Objekt Geltungsbereich
Während die Bedeutung ‘es ist wichtig’ bei interest aus der konkreten Bedeutung ‘es ist ein Unterschied’ ableitbar ist, so z.B. in [89], ist die Entstehung
dieser Bedeutung bei refert ebensowenig klar, wie der Genitiv der Person bei
beiden Verben.
[89] interest, lapidem deorsum an sursum mittas ( ∼Cl.Quadr.hist.85)
Eine weit verbreitete Hypothese (Walde-Hofmann, s.v., skeptisch HS 84) zur histor.
Herleitung von interest und refert ‘es ist wichtig für jmd’ besagt
1. daß rēfert (nicht verwechseln mit rĕfero) Kontraktion aus res fert ist. Ausgangstyp
wäre damit id (ad) meas res fert ‘das führt zu meinen Angelegenheiten’, mit regulärem
Wechsel des Poss.-Pro meas mit dem poss. Gen. eines Substantivs (vgl. §D.2.1.1): id
patris res fert.;
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110
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2. daß durch die Kontraktion ein unpersönliches Verb refert entsteht,
3. daß schließlich das Kontraktionsprodukt rēfert falsch als Abl. rē + fert reanalysiert
wurde, weswegen Pronomina, die den Interessenten bezeichnen, in den Abl. treten (!):
meā, tuā, suā refert
4. daß der Genitiv der Person patris refert dann durch Analogie auf interest übertragen
wurde, wo er sonst nicht erklärbar wäre,
5. daß der adverbiale Genitiv, der den Grad des Interesses angeben kann (z.B. plurimi),
und der in Konkurrenz mit gewöhnlichem Adverb steht (z.B. multum), Analogie zu den
Verben für ‘einschätzen, kaufen’ (vgl.§D.3.1.1) ist.
?
Übersetzen Sie folgende Sätze und tragen sie die Formen Formen für die
einzelnen semant. Komponenten in die untenstehenden Tabelle ein:
[90] Daran liegt mir viel.
[91] Es liegt mir sehr viel daran, daß du kommst.
[92] Es liegt im Interesse aller, die Wahrheit zu kennen.
[93] Ob die letzte Silbe (syllaba) lang oder kurz ist, ist nicht einmal im Vers
(versus) von Bedeutung.
interest
‘Interessent’
Interesse-Grad
Interesse-Objekt
Geltungsbereich
90:
91:
92:
93:
...........
...........
...........
...........
.............
.............
.............
.............
........................
........................
........................
........................
........................
........................
........................
........................
KU Eichstätt
111
Latinistik
Konkomitanz- und Ortsrelationen: Einleitung
In den folgenden Kapiteln besprechen wir zwei Gruppen von Relationen,
welche die formale Gemeinsamkeit haben, daß der Ablativ in ihnen als Ausdrucksformat eine prominente Rolle spielt, nämlich
• Konkomitanz mit den Subklassen Soziativ und Instrumental: venire cum
amico / occidere aliquem securi
• Lokale Relationen, mit den Subklassen Separativ, Lokativ und Direktiv:
proficisci Romā, habitare Romae / in Graecia, ire Romam.
Die wichtige Rolle des Ablativs bei diesen Relationen hat sich erst spät herausgebildet, denn noch im Altlatein können hatten die Konkomitanz, Separativ
und Lokativ jeweils ein eigenes Ausdrucksformat haben:
Instrumental / Soziativ
Separativ (»woher?«)
Lokativ (»wo?«)
gladi-ō
‘mit dem Schwert’
*Corinth-ōd
‘von Korinth’
Corinth-ī
‘in Korinth’
Im klassischen Latein sind diese Ausdrucksformate weitgehend vom Ablativ
absorbiert worden:
• Separativ und Instrumental sind formal zusammengefallen
• der Lokativ behält seine Endung nur bei Ortsnamen -ī im Singular (Typ
‘Corinthi’, und das auch nur in der 1./2. Dekl. Singular.
Wir haben es also mit einem Frühstadium des Kasussynkretismus zu tun,
der erst im Spätlatein mit dem Zusammenbruch des Kasussystems sein Ende
findet. Der Kasusschwund wird kompensiert: (1) morphologisch durch die
Verwendung von Präpositionen, (2) syntaktisch durch unterschiedliche Ausdrucksformate für die prototypischen Relationen nach folgendem Prinzip:
Konkomitanzrelationen
Instrumental Soziativ
Ablativ
Ablativ + cum
occidere securi
venire cum amico
mit dem Beil
mit dem Freund
Separativ
Ortsrelationen
Lokativ
Ablativ /
Ablativ + ab
arcere hostem urbe
separare alqm ab alqo
von der Stadt
Lokativ -i b. Ortsnamen
Abl. + in
habitare Corinthi
habitare in Graecia
in Korinth / Griechenl.
• Instrumental und Soziativ stehen in syntaktischer Opposition: der Prototyp
113
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Syntax I
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des Instrumentals steht prinzipiell im reinen Kasus, der prototyp. Soziativ
steht mit cum
• beim Separativ stehen reiner Ablativ und Präposition ab alternativ nebeneinander; da der Separativ (fast immer) Komplement zu einem Separativverb
ist, besteht zwischen beiden kein Bedeutungsunterschied
• der Lokativ steht, abgesehen von den Reliktformen bei Ortsnamen (Corinthi), mit Ablativ plus Präposition in.
Separativ und Lokativ stehen Kasusopposition zum Direktiv (»wohin?«), der
durch Akkusativ bzw. Akk. + Präposition ausgedrückt wird.
KU Eichstätt
114
Latinistik
Kapitel E
Konkomitanz
Der Begriff Konkomitanz umfaßt das ganze Spektrum semantischer Relationen von der Begleitung durch einen Menschen über den Instrumental (sozusagen ein »sächlicher« Begleiter) bis zur begleitenden Situation, dem sog. Begleitumstand. Die Überschrift dieses Kapitels heißt deswegen »Konkomitanz«
und nicht »Instrumental«, weil der Begriff der ‘Begleitung’ der übergeordnete
ist und in vielen europ. Sprachen ‘Begleiter’ und ‘Instrument’ dasselbe Ausdrucksfomat haben1 .
Auch im Deutschen haben »Begleiter« und »Instrument« dasselbe Ausdrucksformat; der
»Begleitumstand« kann es als eines von mehreren haben:
[1] Hans geht mit seinem Hund spazieren
[2] Hans bohrt mit seinem Bleifstift in der Nase
[3] Die Fans feierten den Sieg mit großem Geheul
So war es ursprünglich auch im Lateinischen, das für beides den Instrumental verwendete,
und erst im klassischen Latein zwischen ‘Begleiter’ (Ablativ + cum) und ‘Instrument’
(bloßer Ablativ) differenzierte, vgl. u. [4].
Dieser Zusammenfall der beiden Relationen ist der ‘europäische Normalfall’, vgl. Th.
Stolz e.a. On Comitatives and Related Categories, 2006.
Ausdrucksformate Das klass. Latein hat den Bereich der Konkomitanz in
zwei formale Modelle differenziert, nämlich
• das Modell ‘Instrument’, das in prototypischer Verwendung den bloßen
Ablativ als Ausdrucksformat hat,
• das Modell ‘Begleiter’, das in prototypischer Verwendung die Präposition cum + Abl. als Ausdrucksformat hat:
[4] a. Marcus fodit nasum stilo
b. Marcus ambulat cum cane
Die abgeleiteten Varianten richten sich wahlweise nach dem ‘Instrumental’oder nach dem ‘Begleiter’-Modell, vgl. z.B. [5] mit [6]:
1 Theoretische Basis dieses Abschnitts ist Christian Lehmann & Yong-Min Shin, Concomitance,
Erfurt: Univ. Erfurt 2006.
115
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[5] Cic. rep. 2.38
Servius ius dixit regio ornatu
‘S. saß zu Gericht im Königsornat’
[6] Cic. Verr. 2.5.31
Verres cum pallio purpureo versabatur in conviviis muliebribus
‘V. verkehrte im Purpurpallium bei den Gastmählern der Frauen’
Einzelheiten besprechen wir weiter unten.
E.1 Polysemie
Die Ausdrucksmittel für Konkomitanz, Kasus und Präposition, sind natürlich sehr beschränkt und damit von vorneherein polysem. Wenn man die bunte Palette von Varianten
des instrumentalen Ablativs bei RH §147ff betrachtet könnte man im Vergleich mit der
Verwendung von Präpositionen in den mod. Sprachen meinen, man habe es mit einem
Fall von archaischer Unterspezifizierung zu tun. Wir sollten uns daher vorab klarmachen,
daß die dt. Präpositionen keineswegs expliziter sind als der lat. Ablativ, vgl.
Klaus kam
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
mit
mit
mit
mit
mit
einem Nachschlüssel
einem Sprung
seiner Freundin
einem Rausch
Sonnenaufgang
ins Institut hinein
instrumental
modal
soziativ
prädikativ
temporal
Dementsprechend können die Präpositionalausdrücke unterschiedlich paraphrasiert werden: (1) . . . unter Verwendung eines Nachschlüssels, (2) . . . indem er sprang, (3) . . . und
seine Freundin (4) . . . hatte einen Rausch, als (5) . . . als die Sonne aufging.
E.1.1
Kompensation der Polysemie
Kompensiert wird die Polysemie durch zwei Verfahren, nämlich die semantische und die syntaktische Variation:
E.1.1.1 Semantische Variation
1. Die wichtigste Art der semantischen Variation ist natürlich die lexikalische:
[7] a. Marcus venit cum amico
b. Marcus venit cum hasta
c. Marcus venit cum febri
[7a] ist der Prototyp, denn der Konkomitant ist eine Person; in [7b] ist er ein
Gegenstand, das Muster steht also auf der Grenze zwischen den Prototypen
‘Begleiter’ und ‘Instrument’, in [7c] ist er eine Eigenschaft des Subjekts, das
Muster gehört also zur Subklasse ‘Begleitumstand’.
Auf dem Übergang ‘konkret’ → ‘abstrakt’ beruhen z.B.
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(a) das Tertium comparationis bei Komparationsverben:
[8] aliquem superare virtute
(b) der sog. ‘Ablativus mensurae’:
[9] aliquem multo superare
In [8] haben wir einen Typ mit abstraktem Instrumental, der in Kombination mit dem Komparationsverb superare das Tertium comparationis, den Geltungsbereich auf den sich der Vergleich erstreckt, bezeichnet. In [9] ist der
Instrumental durch einen reinen Quantor ersetzt, der lediglich den Grad des
superare spezifiziert. Damit ist eine neue Variante aus dem Prototyp ausgegliedert; das zeigt [10]: beide Typen können nebeneinanderstehen, was bedeutet,
daß verschiedene semantische Funktionen vorliegen.
[10] multo aliquem superare virtute
‘Jemanden bei weitem an Tüchtigkeit übertreffen’
Anm.: In indogermanischen Sprachen kann eine semantische oder syntaktische Funktion in einem Satz nur jeweils einmal vorkommen (‘1-pro-Satz’-Prinzip; Erscheinungen wie der ‘doppelte Akkusativ’ machen keine Ausnahme, da die beiden Akk., wie
wir gesehen haben, unterschiedliche semant. und synt. Funktion haben). Wenn also
zwei Ausdrücke unkoordiniert bzw. nicht-asyndetisch nebeneinanderstehen, haben
sie unterschiediche semantische oder syntaktische Funktion.
2. Daneben spielt die Variation des Verb- bzw. Sitationstyps ein wichtige Rolle:
[11] Paulus anatem dolabra occidit
[12] a. Syracusani captivos fame perdiderunt
b. captivi fame perierunt
occidere in [11] und perdere in [12a] sind Handlungsverben; das Subjekt kontrolliert die Handlung, der Situationstyp ist ‘Aktion’. Der Unterscheid liegt
nur darin, daß dolabra ein konkreter, fame ein abstrakter Instrumental ist. In
perire in [12b] dagegen wird die Situation nicht vom Subjekt kontrolliert; dieses ist folglich nicht Agens, sondern Patiens der Handlung und fame ist der
Grund des perire – die Relation ist kausal.
E.1.1.2 Syntaktische Variation
Die prototypische syntaktische Funktion von Konkomitanten ist die adverbiale.
[13] Paulus antem dolabrā occidit → P. anatem occidit2
Daß sie selten als Objekt auftreten, liegt daran, daß es nur sehr wenige Verben
gibt, die einen Begleiter oder ein Instrument implizieren (ein Beispiel wäre dt.
rühren).
2 Weglaßtest,
vgl. §A.1.1 auf S. 12.
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117
Latinistik
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Durch syntaktische Reanalyse kann die adverbiale Relation in eine prädikative
oder attributive überführt werden; aus der syntaktischen Variation resultiert
dabei eine semantische Variation:
1. ‘Instrument’ → transiente Eigenschaft → stabile Eigenschaft:
[14] Britanni essedariis3 pugnant → Britanni pugnabant. essedariis utuntur.
‘Die Britannen kämpfen mit Streitwagen’
[15] Britanni capillo promisso pugnant. ̸= capillo promisso utuntur. / Britanni capillo promisso sunt, cum pugnant.
‘Die B. kämpften mit aufgelöstem Haar’
[16] Videsne illic mulierem funesta veste? → videsne illic hanc mulierem?
‘Siehst du da die Frau in Trauerkleidung’
• [14] ist der prototypische Instrumental: der Ablativ nennt das Mittel des
pugnare; seine adverbiale Funktion wird durch den Abspaltungstest (‘sie
verwendeten dabei Kampfwagen’) nachgewiesen.
• Dagegen kommt capillo in [15] als Instrument des pugnare nicht in Betracht. Es bezeichnet vielmehr einen Zustand, in dem die Britanni sich
beim pugnare befinden, s. den Paraphrasetest, bei dem capillo promisso zu
Hauptsatz wird. Nach schulgrammatischen Begriffen ist [15] somit ein
Prädikativum: ein P. bezeichnet den physischen oder psychischen Zustand, in dem sich das Bezugswort (hier der Possessor) zum Zeitpunkt
der Prädikatshandlung befindet4 .
• Auch in [16] kann der Abl. funesta veste nicht Instrument von videre sein,
vielmehr modifiziert er mulierem, d.h. er ist ein Attribut.
2. ‘Begleiter’ → transiente Eigenschaft → stabile Eigenschaft:
[17]
[18]
[19]
[20]
Marcus redit cum Paulo. → Marcus et Paulus redeunt
conspexi iuvenem cum equo albo
Marcus redit cum febri. ̸=Paulus et febris redeunt
Cato fuit summa sapientia ∼fuit sapientissimus.
• In [17] bezeichnet Paulo einen ‘Begleiter’ mit eigenständiger Referenz;
dasselbe gilt für equo in [18]. Unterschiedlich ist nur die syntaktische
Relation, nämlich adverbial in [17] und attributiv in [18].
• In [19] und [20] hat der ‘Begleiter’ dagegen keine eigenständige Referenz,
sondern ist Eigenschaft des Subjekts: in [19] bezeichnet cum febri den
Zustand des Subjekts zum Zeitpunkt des redire, ist also Prädikativum.
• In [20] schließlich ist summo ingenio klar Bestandteil des Prädikats, d.h. es
ist Prädikatsnomen und bezeichnet eine stabile Eigenschaft des Subjekts.
Von beiden Prototypen her, Instrument und Soziativ, kann sich also eine Variante ‘transiente Eigenschaft’ entwickeln. Aus diesem Grund findet sich, wie o. mit [5f] schon
illustriert, dieser Typ gleichermaßen mit oder ohne Präposition cum. Aus praktischen
Gründen ordnen wir im folgenden diesen Typ dem ‘Begleiter-Modell’, dem Soziativ, zu.
3 Streitwagen
4 Zum
‘Prädikativum’ vgl. Pinkster, LSS Kap. 8.
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118
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F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
E.1.1.3 Klassifikationskriterien
Zur Differenzierung der einzelnen Varianten von Komkomitanz verwenden
wir folgende Parameter:
• Zahl der Partizipanten: Konkomitanz im prototypischen Sinn setzt zwei
voraus (x kommt mit y), »Instrument« meistens drei (x tut y mit z);
«begleitende Eigenschaft« (Marcus redit cum febri) und »Modus« (Marcus
legit summo studio) setzen nur einen Partizipanten voraus: im ersten Fall
ist der vermeintliche »Begleiter« ja nur eine Eigenschaft des »Begleiteten«, im zweiten Falle ist er eine Eigenschaft der Prädikatshandlung.
• Semant. Eigenschaft des 1. Partizipanten: menschlich > belebt > Kontrolleur (±hum, ±anim, ±co)
• Semant. Eigenschaften des ‘Konkomitanten’: hum > anim > Gegenstand
> Masse > Situation > Eigenschaft; bis einschließlich »Situation« sind die
Konkomitanten vom Agens referenzverschieden, bei »Eigenschaft« sind
sie referenzidentisch
Daraus ergeben sich die in Tab. E.1 auf S. 119 verzeicheten Unterarten von
Konkomitanz.
Begleiter
Begleitumstand
1. Partizipant
2. Partizipant
+hum, +co
+hum +co
+anim
+anim
Gegenstand
Situation
Marcus redit cum amico
Marcus redit cum libro
Verres abiit cum ingenti clamore civitatis
–
–
Cato fuit summo ingenio
Marcus redit cum febri
Marcus pugnat capillo promisso
Marcus anatem occidit dolabrā
Marcus dolium vino implet
Marcus venit celeriter
Eigenschaft
– stabil
– transient
Instrument
+anim, +co
Gegenstand
Material
Modus
+co
+co
Masse
–
3. Part.
Patiens
Beispiel
Tabelle E.1: Semantische Varianten von Konkomitanz (+anim = belebt)
E.2 Der Soziativ
Dieser Begriff umfaßt Begleiter und Begleitumstand.
Paulus redit cum amico
Paulus rediit pura mente
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119
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E.2.1
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Der Prototyp
Er bezeichnet eine Situation, in der eine Person zusammen mit einem ‘Begleiter’ auftritt:
[21] Paulus rediit cum Marco.
Hier haben wir zwei referenzverschiedene Partizipanten, den zentralen Partizipanten und den Begleiter, beide mit der Eigenschaft ‘belebt’. Diese Situation
ist reziprok und symmetrisch, wie die Transformationsmöglichkeiten zeigen:
[22] Paulus rediit cum Marco → Marcus redit cum Paulo; → Paulus et Marcus redeunt
Das unterscheidet den Prototyp von allen anderen Konkomitanz-Relationen.
E.2.2
Semantische und syntaktische Variation
Wie wir in §E.1 schon gesagt haben, werden aus dem Prototyp durch semantische und syntaktische Abwandlung verschiedene Varianten abgeleitet. Die
ersten drei sind Possesivrelationen, da der ‘Begleiter’ gleichzeitig ‘Besitz’ des
Begleiteten ist, die vierte ist die begleitende Situation.
Begleiter → begleitender Gegenstand Der ‘Begleiter’ wird semantisch degradiert zum ‘Begleitgegenstand’, wodurch eine Possessivrelation entstehnt:
[23] Paulus cum hasta rediit
[24] Conspexi iuvenem cum equo albo.
[23] und [24] zeigen gleichzeitig syntaktische Variation, den ersteres ist Adverbiale, letzteres Attribut (vgl. S. 117.
Begleiter → transiente Eigenschaft Auch das ist eine Possessivrelation, bei
der der ‘Begleiter’ aber kein eigenständiger Partizipant mehr ist, sondern ‘Bestandteil’ des Begleiteten ist. Es gibt zwei Varianten:
1. Der ‘Begleiter’ bezeichnet einen physischen Zustand des ‘Begleiteten’, z.B.
seine Kleidung:
[25] Cic.rep.2.37
Servius ius dixit regio ornatu
[26] Cic.Verr.2.5.86
(Verres nimmt sturzbetrunken die Flottenparade ab:) Stetit . . . praetor
populi Romani cum pallio purpureo . . . muliercula nixus in litore.
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Syntax I
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2. Der ‘Begleiter’ bezeichnet einen psychischen Zustand des ‘Begleiteten’:
[27] Paulus rediit cum febri.
[28] Paulus rediit sincera mente.
In beiden Fällen bezeichnet der ‘Begleiter’ eine transiente Eigenschaft; es ergibt sich der Typ, den wir oben S. 118 Bsp [15] und [19] schon kennengelernt
haben und als ‘Prädikativum’ bezeichnet haben.
In Konkurrenz dazu stehen Prädikativa in Form von Adjektiven, Partizipen
oder Substantiven:
[29] Paulus rediit sincera mente ↔ Paulus rediit sincerus
[30] Paulus rediit tristi animo ↔ Paulus trdiit tristis
Diese Besprechen wir in Syntax IV.
Begleiter → stabile Eigenschaft Das das ist der sog. Ablativus qualitatis. Er
kommt in den syntaktischen Varianten Prädikatsnomen ([31]), Attribut ([32])
und Apposition ([33]) vor.
[31] Cato fuit summo ingenio.
[32] Cic.fam.4.6.19
Cato, qui summo ingenio, summa virtute filium perdidit, iis temporibus fuit ut eius luctum ipsius dignitas consolaretur . . .
[33] Cic.Tusc.1.7
Aristoteles, vir summo ingenio, scientia, . . . cum motus esset Isocratis
rhetoris gloria, dicere docere etiam coepit adulescentes
Der Ablativus qualitatis ist eine Alternativkonstruktion zum sog. Genitivus
qualitatis ist (vgl. o. S. 101).
Der Abl.qual. gehörte ursprünglich nur zum ‘Zubehörmodell’ des Typs mulier funesta
veste, d.h. bezeichnete temporäre Eigenschaften. Im klass. Latein hat er aber auch die
Funktion des Genitivus qualitatis, übernommen (Cato fuit summi ingenii / summo ingenio), von dem wir auf S. 101 gesagt haben, daß er eine Relation der Kategorisierung ist,
also stabile Eigenschaften bezeichnet.
Begleiter → begleitende Situation Der ‘Begleiter’ ist hier eine komplette
Situation, die den Hauptsatz ‘begleitet’, mit anderen Worten: ein äußerer Begleitumstand, der eine Hintergrundssituation zu einer Vordergrundssituation
beschreibt:
[34] Cic.Verr.2.1.49
Verres signum abstulit magno cum gemitu civitatis.
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[35] Cic.Verr.2.1.63
Accidit, . . . ut (Verres) illo itinere veniret Lampsacum5 cum magna
calamitate et prope pernicie civitatis.
[36] Caes.Gal.3.1.1
Mercatores itinere per Alpes magno cum periculo ire consueverant
E.2.3
Ausdrucksformate des Soziativs
1. Der prototypische Soziativ des Typs [21]
(21) Paulus redit cum amico
steht immer mit cum. Wir haben auf S. 113 schon gesagt, daß er in formaler
Opposition zum prototypischen Instrumental steht, der keine Präposition hat.
Ausnahmen von dieser Regel gibt es, wenn eine besondere Konzeptualisierung vorliegt.
Der wichtigste Fall findet sich in der militärischen Fachsprache, wo Personengruppen als
militärische ‘Instrumente’ konzeptualisiert sein können ([37]):
[37] Caesar omnibus copiis in Sequanos proficiscitur.
2. Ebenfalls mit cum steht der Soziativ, wenn er einen äußeren Begleitumstand
des Hauptsatzes bezeichnet, wie oben in [34]–[36].
3. Wenn der Soziativ eine transiente Eigenschaft des Possessors bezeichnet,
also entweder eine eine physische (pallio purpureo; cum febri) oder eine psychische (pura mente) Disposition des Possessors, gibt es ohne Bedeutungsunterschied die oben [27] illustrierte Alternative Paulus redit cum amico : Paulus
rediit pura mente, d.h. diese Variante des Soziativs
• kann sich am – soziativen – ‘Begleitermodell’ orientieren und steht folglich mit Präposition cum
• kann sich am – instrumentalen – ‘Zubehörmodell’ orientieren und steht
folglich im präpositionslose Ablativ.
4. Wenn der Soziativ eine stabile, inhärente Eigenschaft bezeichnet, also beim
Ablativus qualitatis des Typs [31] –[33], steht der bloße Ablativ.
Faustregeln für die Übersetzung ins Lateinische brauchen wir also für die
Übersetzung eines Soziativs, der transiente Eigenschaften bezeichnet. Wir können dieselben verwenden wie später auch beim modalen Ablativ (S. 126):
• ‘ohne Attribut ↔ mit cum’ (Begleitermodell)
• ‘mit Attribut ↔ ohne cum’ (Zubehörmodell)
Übersicht zu den Ausdrucksmitteln des Soziativs
5 Lampsacus,
Stadt am Hellespont, Heimat des Priap
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Begleiter
begleitende Situation
transiente Eigenschaft
stabile Eigenschaft
cum
cum
bloßer Ablativ
cum amico
cum gemitu civitatis
-Attr ↔ +cum
+Attr ↔ -cum
cum febri
pura mente
vir magno ingenio
Übung
Mit oder ohne cum? (Welche semantische Funktion liegt vor – manchmal sind
mehrere Möglichkeiten denkbar)?
[38] ambulare . . . . amico.
[39] Paulus . . . . febri domum rediit.
[40] Consul agrum . . . caedibus et incendiis populatus est.
[41] Mulier . . . crinibus passis deos adorabat.
[42] Caesar . . . . . omnibus copiis subsecutus est.
[43] Caesar . . . . exercitu accurrit.
[44] Fictas fabulas . . . . voluptate audimus.
[45] Cic.Pis.92
Piso domum se abdidit; inde . . veste servili navem conscendit
E.3 Der Instrumental
Paulus anatem dolabra occidit
Der Instrumental bezeichnet ein Mittel, das ein Agens zur Ausführung einer
Handlung an einem explizit oder implizit vorhandenen Patiens benutzt.
E.3.1 Der Prototyp
Der prototypische Instrumental des Musters Paulus anatem dolabra occidit ist
durch folgende Eigenschaften charakterisiert:
• Die Aktionsart ist agentiv (zur Definition vgl. S. 17), das Verb ist demzufolge ein Handlungsverb, und das Subjekt hat Kontrolle über die Handlung;
• der Instrumental bezeichnet einen Gegenstand mit dem die Handlung
ausgeführt wird.
• das Ausdrucksformat ist stets der präpositionslose Ablativ
Im Deutschen wird dieselbe Situation oft nicht mit instrumentaler, sondern einer anderen
Relation ausgedrückt, vgl. z.B.
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RH §147
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[46] Lat. instrumental: tibiis canere, wörtlich: . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dt. lokal: . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[47] Lat. instrumental / lokal: exercere se armis / in armis, wörtlich: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Dt.: lokal . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Lernen Sie die Liste bei RH S. 167 o.
Aus diesem Prototyp wird wiederum eine Anzahl von Varianten abgeleitet:
E.3.2
Ableitungen durch lexikalische Variation des Instrumentals
E.3.2.1 Das ‘Instrument’ ist ein Körperteil
Wenn Körperteile, die ja keine ‘Instrumente’ im eigentlichen Sinn, sondern
↑ inalienable Possessa sind, als ‘Instrument’ verwendet werden, ist das Ausdrucksformat der normale Instrumental (wie im Deutschen auch):
[48] Mit dem Fuß stampfen: . . . . . . . . . . . . .
Daß es sich hier nur um Ps.-Instrumentale handelt, stellt sich heraus, wenn man versucht,
das Instrument zu negieren oder es einem anderen Possessor zuzuweisen:
[49] a. Hans schlug den Nagel mit dem Hammer ein → . . . ohne Hammer
b. Hans schlug den Nagel mit seinem Hammer ein → . . . mit Pauls Hammer
[50] a. Hans schlug den Nagel mit der Faust ein ̸= ohne Faust
b. ̸= Hans schlug den Nagel mit Pauls Faust ein.
E.3.2.2 Das ‘Instrument’ ist ein Beförderungsmittel
Wie im Deutschen wird hier der Instrumental verwendet.
[51] nave vehi
[52] equo vehi
Im Dt. ist alternativ auch lokative Auffassung möglich (auf / mit dem Pferd
reiten, das Holz auf / mit dem Wagen transportieren).
E.3.2.3 Das ‘Instrument’ ist eine Masse
Der Ausganspunkt ist hier das Muster
[53] Instruere milites frumento
Wie im Deutschen schließen sich daran andere Verben für ‘ausrüsten’ und
‘anfüllen’ an:
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[54] implere dolium vino
Ebenso Adjektive für ‘ausgerüstet’, ‘voll’:
[55] plenus copiis
Konkurrierend dazu kann bei Adjektiven der partitive Genitiv des Typs [56]
stehen.
[56] plenus irae
vgl. dt. sie sind voll süßen Weines
E.3.2.4 Das ‘Instrument’ ist abstrakt oder wird figurativ verwendet
1. Das »Instrument« ist nicht ein Gegenstand, sondern ein Abstraktum:
RH 147
[57] iudicare veritate
2. Häufig ist er in Verbindungen mit afficere, einem semantisch fast leeren
Handlungsverb (‘anmachen’).
[58] Aliquem honore afficere.
Solche Verbindungen können zur Übersetzung ganz verschiedener dt. Phrasen dienen; der lexikalische Inhalt des dt. Verbs wird dabei durch den lat. Abl.
wiedergegeben.
Übersetzen Sie mit afficere:
?
[59] Jemanden beleidigen (‘jemanden mit Kränkung versehen’) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[60] Über jemanden Strafe verhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[61] Jemanden hinrichten lassen (‘jemand mit Hinknieen versehen’) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[62] Jemanden belohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[63] In eine schwere Krankheit verfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Weitere Bsp. bei MBS 495.
3. Als Metonymie wird der Instrumental verwendet bei sacrificare:
[64] Die Konsuln opferten Jupiter zwei Ziegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Diese Verwendung ergibt sich die Etymologie von sacrificare; [64] ist wlt. ‘die
K. verrichteten eine heilige Handlung für J. mittels zweier Ziegen’.
?
Wie wird dagegen [64] mit immolare übersetzt (was ist dessen Etymolo-
gie)?
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E.3.2.5 Das ‘Instrument’ bezeichet eine Eigenschaft der Handlung: ‘Ablativus modi’
RH 146
Der ‘Ablativus modi’ des Musters [65] hat wie sein deutsches Gegenstück [66]
mit dem Instrumental die Aktionsart gemeinsam: das Subjekt ist Agens und
kontrolliert die Handlung.
[65] milites castra summo studio defendebant
[66]
Der Dieb entkam
mit einem Sprung über die Mauer
∼ indem er über die Mauer sprang
Der Unterschied ist, daß
• der modale Ablativ eine Eigenschaft oder eine Handlung des Subjekts
bezeichnet und somit obligatorisch ‘Partizipantensharing’ vorliegt: der
implizite Possessor des Modalausdrucks in [65] und der implizite Agens
des Modalausdrucks in [66] ist jeweils identisch mit dem grammatischen
Subjekt.
• ein Modalsatz daher notwendigerweise gleichzeitig mit dem Hs. ist.
Ausdrucksformate Im Lateinischen gibt es kein Äquivalent für den dt. Modalsatz mit indem. Stattdessen gibt es folgende Ausdrucksformate:
1. Der Modalsatz ist nominalisiert wie in [67]—[69]:
[67] Caes. Gal. 4.31.3
hoc summo studio a militibus administrabatur ( ∼ milites studebant)
[68] Bell.Alex. 61.2
Longinus noctu silentio ex castris proficiscitur (∼ Longinus silebat)
[69] Apul. met. 10.34
(Beschreibung einer Theaterszene:) Postquam finitum est Paridis iudicium,
. . . Venus . . . laetitiam suam saltando . . . professa est. (∼ Venus saltabat)
[70] Cic. Lael. 51
quod ab amico est profectum, iucundum est, si cum studio6 est profectum
[71] Suet. Iul. 82
(Caesarem) assidentem conspirati specie officii circumsteterunt7
2. Der Modalsatz besteht aus einer Kombination aus (1) Kataphoricum wie eo/
hoc modo, ea / hac ratione und (2) Nebensatz mit ut, bei der das Kataphoricum
die Relation ‘Modus’ ausdrückt und der Nebensatz den Inhalt von ‘Modus’:
[72] Sall.63.4
deinde alium magistratum, post alium sibi peperit, semperque . . . eo
modo agitabat, ut ampliore . . . dignus haberetur.
6 »freundschaftliches
Gefühl«
officium ist hier die Ehrenpflicht gemeint, um den Thron des Diktators herum eine ‘Ehrenwache’ zu bilden.
7 Mit
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126
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Übersetzung ins Lateinische Die vorstehenden Bsp. zeigen folgende Tendenz:
• ist der Modalausdruck zweigliederig, steht er ohne Präposition ([67],
[71])
• ist der Modalausdruck eingliederig, kann er mit ([70]) oder ohne ([68])
Präposition stehen
Wir können daher dieselbe »Zweigliederigkeitsregel« verwenden wie oben
S. 122 beim Soziativ der Sache:
mit Attribut
summo studio defendere
ohne Präposition
ohne Attribut
cum studio defendere
mit Präposition
E.3.2.6 Kombination aus Ablativus modi und Secundum Comparationis
Sie liegt vor in Wendungen wie in [73] (aus RH §146,1) und more maiorum in
[74].
[73]
more ferarum maiorum
ritu deorum
RH 146,1
modo servorum
[74] Caes.Gal.6.44
Caesar de coniuratione Carnutum quaestionem habere instituit et de
Accone, qui princeps eius consilii fuerat, . . . more maiorum supplicium
sumpsit.
Der Unterschied zum Prototyp ist, daß der implizite Possessor von more maiorum
nicht mit dem Hs.-Subjekt identisch ist und sich so die Interpretation ergibt
sicut erat mos maiorum, ‘wie es die Vorfahren taten’, also ein Vergleich vorgenommen wird. Deswegen tauchen solche Wendungen auch in Form eines
Komparativsatzes auf, wie in [75]:
[75] Cic.Verr.2.1.40
Tu cum . . . particeps omnium rerum consiliorumque fueris, . . . sicut
mos maiorum ferebat, repente . . . deseras, ad adversarios transeas?
Diese Fälle gehören also zur Komparation.
Anm.:
1. Die anderen Bsp. aus §146,2 gehören nicht zum Abl. modi. Wir stellen diese mit
anderen Quasi-Adverbien u. S. 131 zusammen.
2. Der bei RH §146,2 sog. ‘Ablativ der äußeren Erscheinung’ und der ‘Ablativ der
begleitenden Umstände’ gehören zum Soziativ, der in §E.2 behandelt wird.
E.3.3 Ableitung durch Wechsel der Aktionsart: der ‘Ablativus causae’
Wie wir bereits oben auf S. 117 gesagt haben, ist ein kausaler Ablativ durch
Wechsel der Aktionsart aus dem prototypischen Instrumental abgeleitet. Wäh-
KU Eichstätt
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RH §151
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WS 2014-15
rend jener agentive Aktionsart hat, das Subjekt somit die Handlung kontrolliert, hat dieser inagentive Aktionsart: der Grad an Kontrolle, den das Subjekt
über die Handlung hat wird herabgesetzt oder ganz beseitigt: fame perdere
aliquem → fame perire.
Kausale Relationen
Wir müssen prinzipiell zwei Gruppen von kausalen Relationen unterscheiden, nämlich
Grund–Folge und Grund–Folgerung:
1. Grund-Folge—Relationen:
[76] Erika war vom Regen durchnäßt /durchnäßt, weil es geregnet hatte.
[77] Erika verließ den Hörsaal aus Langeweile.
In beiden Varianten liegt ein ‘objektives’, empirisch verifizierbares Grund-Folge-Schema
vor; der Unterschied ist
(a) In [76] nennt der Kausalausdruck einen äußeren Grund, der den Hauptsatz veranlaßt (‘Kausator’); das Subjekt (Erika) hat dabei keine Kontrolle über die Hauptsatzhandlung. Das zeigt sich an den möglichen Paraphrasen wie Der Regen hatte
Erika durchnäßt / fames Paulum perdidit.
(b) In [77] nennt der Kausalausdruck den inneren Beweggrund, das Motiv des Subjekts; die Kontrolle des Subjekts über die Hauptsatzhandlung ist reduziert, sodaß es
gleichzeitig Patiens des Kausalausdrucks ist: Die Langeweile veranlaßte Erika, den
Hörsaal zu verlassen.
2. Grund-Folgerung—Relationen:
Der Hs. ist hier eine subjektive Folgerung des Sprechers aus dem Kausalausdruck ([78])
oder umgekehrt ([79]):
[78] Weil er Erika liebt, wird Erich wohl bald zurückkommen
[79] Erich kehrte zurück, weil er Erika anscheinend liebt
In [78] lautet die Folgerung ‘Erich wird zurückkommen’ – aufgrund des Faktums seiner
Liebe; in [79] lautet die Folgerung ‘Erich liebt Erika’ – aufgrund des Faktums seiner Rückkehr. Typisch ist, daß solche Kausalsätze muß nicht notwendig auf derselben Zeitstufe
stehen müssen wie der Hauptsatz.
Andere wichtige Ausdrucksmittel kausaler Relationen sind kausale und
konsekutive Nebensätze. Diese behandeln wir bei den Adverbialsätzen.
E.3.3.1 Der Ablativus causae bei RH §151
Dieser Paragraph vereinigt heterogene Erscheinungen, von denen manche
eher woandershin gehören.
1. Die Verben in §151,2 entsprechen den in §114 aufgeführten Verba affectus
(die wegen ihrer Transitiverbarkeit in §114 stehen, vgl. o. S. 45); hier ist der
Abl. Objekt.
KU Eichstätt
128
Latinistik
F. Heberlein
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WS 2014-15
[80] Doleo tanta calamitate miseriaque
2. Die Ausdrücke in §151,1 lassen sich wie folgt unterteilen:
Äußerer Grund:
Innerer Beweggrund (Motiv):
fame perire
fessus bello
spe impulsus
metu coactus
timore perterrritus
ira incensus
aviditate inflammatus
3. Nicht zum kausalen Ablativ gehören
(a) Der Typ more maiorum / ex consuetudine sua: sie gehören zum modalen
Ablativ, vgl. o. S. 126.
(b) Der Typ mea sententia / meo iudicio:
Das sind Modalitätsausdrücke, die den Geltungsgrad des Satzes bezeichnen (sog. epistemische Modaladverbialien). Sie zeigen an, daß der Satz
nicht objektive, sondern subjektive Geltung hat. Sie entsprechen damit
einem Verbum sentiendi wie sentio, puto, censeo, iudico. Sätze, die solche
Modalausdrücke enthalten, können oft in eine Aci-Konsturktion umgeformt werden:
[81] Meo iudicio Verres damnari debet.
[82] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
E.3.4 Lexikalische Spezialisierung des Hauptverbs: der »Ablativus pretii«
Der Ablativus pretii ist ein Instrumental, bei dem das Hauptverb lexikalisch
spezialisiert ist auf auf Verben der Kaufhandlung und damit semantisch verwandten Verben:
[83] Hunc bovem duobus denariis emit. ‘ . . . mit zwei Denaren’
Einzelheiten beim Vergleich mit dem Gen. pretii auf S. 102.
E.3.5 Grammatikalisierung des Instrumentals als Objekt
Daß ein ursprüngliches Adverbiale zum Objekt uminterpretiert werden kann
haben wir schon beim Akk. und dort bei den Verba affectus kennengelernt
(dolere ‘Schmerz empfinden’ → dolere iniuria → dolere iniuriam.)
Wir tragen hier einige Verben nach, bei denen die Existenz eines Abl.-Objekts
aufgrund dieses Prozesses noch nachvollziehbar ist, und einige andere, die
offenbar durch Analogie zu jenen den Ablativ zu sich genommen haben:
1. potiri:
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129
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Syntax I
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z.B. urbe potiri < potis esse, ‘mächtig sein / werden’ plus Instrumental, also
potiri oppido ∼ ‘mächtig werden mittels der Stadt’
2. uti:
z.B. uti armis. uti ist ein Verb, das eine instrumentale Relation lexikalisch ausdrückt: utor gladio ad pugnandum → pugno gladio. Daher dürfte der Ablativ auf
der Analogie pugno armis → utor armis beruhen.
Entsprechend dann bei usus est:
[84] Plaut. Most. 250
Mulier quae suam aetatem spernit, speculo ei usus est
Analog hierzu wiederum opus est, wörtlich ‘es ist Bedarf an’, das seinen alten
partitiven Genitiv zugunsten des Ablativs aufgegeben hat.
RH 150
Überprüfen Sie, ob Sie die Konstruktionen mit opus est beherrschen:
?
[85] Ich brauche Bücher: . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[86] Ich brauche vieles: Mihi . . . . . . . . . . . . . . . . opus . . . . . . . . .
[87] Themistokles erkannte schnell, was nötig war: Themistocles celeriter, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
cognovit
Hier tritt wieder die ‘Normalisierung’ des Kasus bei Pronomina und neutralen Adjektiven auf, die wir auf S. ?? behandelt haben.
Schließlich gibt es auch noch eine Reliktform mit Supin (auf -o):
[88] Ubi consulueris, facto opus est
3. fungi, frui:
fungi, frui aliqua re < ‘Genuß haben durch etwas’; die Entwicklung des Abl.
zum Objekt geht also wie bei dolere.
Akkusativobjekt statt Ablativobjekt findet sich schon im Altlatein bei uti,
frui, fungi, also analog zu dem Transitivierungsprozeß dolere iniuria → iniuriam.
Diese Transitivierung ist im klass. Latein weitgehend rückgängig gemacht
(↑ Restitution); ein Relikt davon ist aber, daß diese Verben zur Bildung einer Gerundivkonstruktion verwendet werden können, die ja regulär nur bei
transitiven Verben möglich ist (vgl. RH §175).
[89] ein Amt verwalten: . . . . . . . . . . . . .
[90] Bei der Verwaltung von Ämtern war er sorgfältig: In . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
diligens erat.
Lernen Sie die Liste bei RH S. 167 o.
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Syntax I
WS 2014-15
Phraseologisierung von Konkomitanz
Neben den Suffixen auf -e und -(i)ter sind ‘erstarrte’ Kasus die wichtigste Quelle der
Bildung von Adverbien. Der Ablativ ist hier besonders produktiv. Das Resultat kann außer
einem ‘echten’ Adverb, wie z.B. casu ‘zufällig’, noctu ‘nachts’, manchmal auch eine
(Mehrwort-)Phrase sein.
Bei RH §146 und §151 werden solche Ausdrücke, den Rubriken ‘modaler’ bzw. ‘kausaler’
Ablativ zugeordnet, semantisch nicht immer passend. Diese zu Averbien erstarrten Ablative bezeichnen nämlich ganz verschiedene semantische Relationen. Der Ablativ selbst
drückt hier nur noch die adverbiale syntaktische Funktion aus. Die semantische Relation
selbst dagegen ergibt sich erst aus der Interpretation des Verhältnisses von lexikalischer
Bedeutung des Ablativs und der Hs.-Bedeutung.
Deswegen ist die Zuordnung solcher Quasi-Adverbien zu einer bestimmten semantischen
Relation zwecklos; vielmehr ist ist es leicht möglich, daß ein und derselbe Ablativ unterschiedliche Relationen bezeichnen kann; man muß dazu ja nur den Hs. austauschen.
Einige Beispiele (Verweise in der Tabelle auf Fälle, die wir schon besprochen haben):
Modus
Secundum comparationis
Instrumental
Soziativ
Lokativ
Kausal
Final
Resultat
Aktionsart
Urteil
Epistemische
Modalität
aequo animo; silentio; tanta celeritate; hoc modo, hac ratione
more maiorum / ferarum / servorum wie die Vorfahren‘/ Tiere
/ Sklaven’; arbitratur alicuius
dolo / fraude ‘mit List’ , vi ‘mit Gewalt’
abiit sine querela
noctu
iussu alicuius
eo consilio, ut; ea lege, ut;
tuo commodo / incommodo
casu ‘zufällig’, voluntate ‘willentlich’
iure, iniuria
mea sententia, meo iudicio;
s. §E.3.2.5
s. §E.3.2.5
s. §E.3.1
s. [92]
s.
s.
s.
s.
s.
s.
Die Relationen von ‘Modus’ bis ‘Kausal’ haben wir am einschlägigen Ort schon besprochen. Beispiele für adverbiale Ablative mit anderen Relationen sind:
1. Instrumental:
[91] Caes.civ.2.22.1
Massilienses . . . sese dedere sine fraude constituunt.
Der Typ fraude steht bei RH §146 unter dem Ablativus modi. Unsere Definition von
‘Modus’, nämlich ‘Art und Weise des Vollzugs der Hs.-Handlung’, impliziert, daß ein
modaler Abl. nicht negiert werden kann. Ein Instrumental kann das durchaus (vgl. [49]
auf S. 124). Deswegen rechnen wir Fälle wie [91] zum Instrumental. Dagegen sind Fälle
wie
[92] per tot annos vectigalia sine querela toleraverunt ( ∼ Tac.Ann.13.50)
eher zum Soziativ zu rechnen. Es handelt sich um einen negativen Begleitumstand (‘ohne
zu’-Satz), der vom Instrumental dadurch unterschieden ist, daß er nicht als – intentionales
– Mittel zur Erfüllung der Hs.-Handlung interpretierbar ist.
2. Final:
KU Eichstätt
131
Latinistik
§E.3.3
[93]
[94]
[96]
[95]
[99]
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[93] Caes.Gal.1.48.1
(Ariovistus) . . . milibus passuum duobus ultra Caesarem castra fecit eo consilio,
uti frumento commeatuque . . . Caesarem intercluderet.
Eo consilio, ut . . . wird bei RH §146,1 zum Abl. modi gerechnet. Aber dieser Ausdruck
bezeichnet hier klar die Intention des Subjekts, nicht die Art und Weise von castra fecit.
3. Resultat:
[94] Caes. Gal. 6.44.1
Tali modo vastatis regionibus exercitum Caesar duarum cohortium damno . . . reducit
RH S. 165 u. rechnet solche Phrasen zum Soziativ. Von dem unterscheiden sie sich
aber dadurch, daß sie nicht den Aspekt des Begleitumstands, sondern den des Resultats
hervorheben.
4. Urteil:
[95] Cic.Caecil.62
si iure posses eum accusare, tamen . . . id pie facere non posses ∼ si ius esset te
eum accusare, tamen pium non esset
Hier wird ein Urteil über einen (hypothetischen) Sachverhalt gefällt, nicht aber, wie bei
S. RH §146, 2 angenommen die Art und Weise des accussare bezeichnet.
5. Aktionsart:
Wir haben auf S. 18 gesagt, daß ein Kriterium zur Klassifikation von Aktionsarten der
Grad an Kontrolle bzw. Intention ist, den das Subjekt über die Handlung hat. Durch
Adverbien wie casu in [96] wird dieser herabgesetzt, durch Adverbien wie consilio oder
. . . voluntate wird er erhöht.
[96] Caes.Gal.6.37.1
Hoc ipso tempore casu Germani equites interveniunt protinusque . . . in castra
inrumpere conantur
‘Genau zur selben Zeit taucht zufällig die Germanische Reiterei auf und versucht
sofort ins Lager einzubrechen’
[97] Caes.Gal.144.2
obsides voluntate dati sunt
Erweiterte Formen können dagegen eine kausale Interpretation erhalten:
[98] Caes.Gal.5.27.1
Ambiorix dicit . . . neque id quod fecerit de oppugnatione castrorum, . . . voluntate
sua fecisse, sed coactu civitatis ( ̸= non quod voluerit sed quod coactus sit)
‘ . . . und was er wegen der Belagerung des Lagers unternommen habe, habe er nicht
aus eigenem Willen, sondern unter Zwang des Stammes unternommen’
6. Epistemische Modalität:
[99] Cic.Phil.13.32
Omnino mea quidem sententia legem illam appellare fas non est, et, ut sit lex,
non debemus illam Hirti legem putare. (∼ sentio fas non esse . . . )
‘Meiner Meinung nach wenigstens darf man das gar nicht Gesetz nennen; und,
angenommen es ist ein Gesetz, dürfen wir es nicht als Gesetz des Hirtius ansehen’
KU Eichstätt
132
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Wie wir auf S. 129 gesagt haben, entsprechen solche Ablative derjenigen Subklasse der
‘Verba sentiendi’ (RH §168,1), welche den Geltungsgrad eines AcI bzw. die subjektive
Einstellung des Sprechers gegenüber dem AcI-Inhalt anzeigen.
KU Eichstätt
133
Latinistik
F. Heberlein
KU Eichstätt
Syntax I
134
WS 2014-15
Latinistik
Kapitel F
Lokale Relationen: Separativ, Lokativ, Direktiv, Pfad
F.1
Lokale Relationen
Lokale Relationen sind solche, bei denen ein Gegenstand oder eine Situation
(das sog. »Relatum«) im Hinblick auf einen lokalen Referenzpunkt eingeordnet wird. Im Lateinischen sind dieselben Relationen grammatikalisiert wie im
deutschen, nämlich
• Lokativ (wo / ubi?)
• Separativ (woher / unde?)
• Direktiv (wohin / quo?)
und zusätzlich »Pfad«, die Referenzlinie, an der entlang eine Bewegung stattfindet (qua?):
Relation:
lokativ
separativ
direktiv
Pfad
Relatum
ubi?
unde?
quo?
qua?
Marcus
Marcus
Marcus
Marcus
Referenzpunkt
versatur
proficiscitur
proficiscitur
it
Romae / in urbe
Romā / ab urbe
Romam / ad forum
viā Sacrā
Der Referenzpunkt wird meist durch ein Substantiv ausgedrückt, kann aber
auch durch Adverbien ausgedrückt werden. Sofern diese von Pronomina abgeleitet werden, wird das Feld der Ortsrelationen wesentlich komplexer, weil
sie ja dann durch die von den Pronomina hic : iste : ille übernommene deiktische Opposition ‘proximal : medial : distal’ (nahe : entfernt : weitentfernt)
untergliedert werden kann. In Tab. F.1 auf S. 136 sind im oberen Teil die adverbialen, im unteren die substantivischen Ortsangaben zusammengestellt:
F.1.1
Ausdrucksformate
Die lokalen Relationen im klass. Latein zeigen ein Nebeneinander älterer und
jüngerer Ausdrucksformate:
1. Bei Ortsnamen ist das alte Ausdrucksformat, der bloße Kasus, erhalten:
(a) beim Lokativ (‘wo?’) ist (1) im Singular der 1. und 2. Deklination die alte
135
RH §122, §141, §154
F. Heberlein
Syntax I
Separativ
hinc »
istinc, »
inde
illinc »
Lokativ
WS 2014-15
Direktiv
daher«
von dort«
hic
istic
»hier«
»dort«
huc »hierher«
istuc »dahin«
von dort (drüben)«
illic
ea via
»dort (drüben)«
»da entlang«
illuc »dorthin(über)«
Romā
Athenis
via sacra
in urbe
ex urbe
Romam
in urbem
Tabelle F.1: Lokale Relationen mit Pronomina
Lokativendung -i erhalten: Corinthi, Romae (< Roma-i; bei den anderen Deklinationen wird der Ablativ verwendet, s. RH §8 L8); (2) im Plural wird
bei allen Deklinationen der Ablativ verwendet: Athenis (»in Athen«), Gadibus (»in Cadix«).
(b) beim Separativ (‘woher’?) steht der Ablativ: Romā
(c) beim Direktiv (‘wohin’?) steht der Akkusativ: Romam
Dasselbe gilt für einige adverbiale Reliktformen: (1) domi – domo – domum,
(2) ruri – rure – rus, (3) humi – humo
Ländernamen dagegen stehen mit Präposition:
[1] habitare in Graecia
[2] redire e Graecia
[3] abire in Graeciam
2. Für allen anderen Ortsangaben gelten folgende Tendenzen:
(a) beim Lokativ und Direktiv werden Präpositionen verwendet:
[4] vivere in urbe
[5] proficisci in urbem
Das gilt schon dann, wenn der Ortsname in einer Apposition steht:
[6] vivere Corinthi → vivere in urbe Corintho
(b) beim Separativ, der in den meisten Fällen Objekt ist, wird die Alternative
bloßer Ablativ : Ablativ mit Präposition durch das Verb bestimmt. Einzelheiten im nächsten Abschnitt.
(c) die Relation Pfad, die Referenzlinie, an der entlang eine Bewegung stattfindet, ist nur schwach grammatikalisiert und zeigt viele verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten:
i reiner Ablativ: ire via Sacra
ii Kompositum + Akk: praeterire urbem, transire Rhenum
iii Präposition, je nach Semantik des Pfades:
[7] praesidia disponere per urbem
KU Eichstätt
136
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[8] exire per portam nigram
[9] ambulare in silva (das ist im Gegensatz zu den anderen eine multidirektionale Bewegung)
3. Wir stellen in folgender Tabelle die Ausdrucksmittel für alle Relationen mit
Ortsnamen zusammen (vgl. RH §§122, 141, 154):
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Lokativ: ubi?
Separativ: unde?
Direktiv: quo?
Bereich: qua?
habitare Corinthi
habitare in Sicilia
pugna ad Cannas facta
in oppido Citio
Citii, in oppido parvo
Roma abire
abire ex Sicilia
a Brundisio discedere
ex oppido Gergovia abire
Roma, ex urbe clara abire
Romam ire
via Sacra ire
ire in Graeciam
in silva ambulare
ad Genavam pervenire
in urbem Romam venire
Romam, in urbem claram,
venire
Einzelheiten:
• Wenn wie in (3) eine Präposition bei einem Ortsnamen steht, wird die Umgebung
des Ortes bezeichnet, wie in
[10] Caesl. Gal. 1.7.2
Caesar ad Genavam pervenit
‘Caesar gelangte vor Genf’
A Brundisio meint regelmäßig den Hafen von Brundisium.
• Wenn wie in (4) der Ortsname mit einer Apposition eine syntaktische Einheit bildet,
steht ebenfalls Präposition; wenn die Apposition aber segmentiert ist wie in (5),
steht der reine Kasus, da ja hier der Ortsname für sich steht.
?
Welche Ortsvorstellungen werden in den beiden folgenden Beispielen
kombiniert:
[11] Pl.Amph.795
venisti huc alia via
[12] Pl.Persa 444
abi istac travorsis angiportis (Gasse) ad forum
Setzen Sie die richtigen Formen ein:
?
[13] Paul verließ das Haus des Freundes: Paulus . . . . . . . . . . . . profectus est.
[14] Paul verließ das alte Haus: Paulus . . . . . . . . . . . . . . . profectus est.
RH 154,1
[15] Dieser Satz steht nicht am rechten Platz: Haec sententia non . . . . . . . .
posita est.
F.1.2
Der Separativ
Der Separativ zeigt folgende Varianten:
• das Relatum bewegt sich vom Referenzpunkt weg: ab urbe proficisci
• das Relatum wird vom Referenzpunkt wegbewegt: expellere aliquem ex
urbe
KU Eichstätt
137
Latinistik
RH §141ff
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
• das Relatum befindet sich in Distanz vom Referenzpunkt: arcere aliquem
ab urbe
Im ersten Fall ist das Verb intransitiv, in den beiden anderen transitiv.
F.1.2.1
Syntax
Der Separativ ist syntaktisch entweder (1) Objekt zu inhärenten Separativverben, also solchen mit implizitem Referenzpunkt wie z.B. solvere, oder (2) Adverbiale bei sonstigen Bewegungsverben, die keinen Referenzpunkt implizieren, wie z.B. movere.
Tabelle F.2 auf S. 138 gliedert das Material aus RH §143 nach den oben genannten semantischen Gruppen.
RH §143
A. Relatum bewegt sich – Ablativ oder Präposition + Ablativ:
excedere (ex) urbe
decedere*
abire*
proficisci
desistere
B. Relatum wird bewegt – bloßer Ablativ
kausativ:
→
resultierender Zustand:
(de-, ex)pellere aliquem urbe
solvere
movere
privare, spoliare, exuere
fraudare, levare
orbare
nudare
liberare
carere, egere, indigere,
vacare
orbus
nudus
liber
C. Relatum wird distanziert – Ablativ oder Präposition + Ablativ:
arcere aliquem (ab) facinore
prohibere
Tabelle F.2: Separativverben und -adjektive.
F.1.2.2
Eine einfach Faustregel für die dt.-lat. Übersetzung leiten wir aus dieser
Aufstellung auf S. 140 ab.
Überpüfen Sie in RH §143, ob Sie die Bedeutung dieser Verben beherrschen. Zu den mit * gekennzeichneten lernen Sie die in §F.1.2.3
aufgeführten Phrasen.
Zur Semantik und Syntax der Separativverben
Die folgenden Hinweise beziehen sich auf Tab. F.2.
KU Eichstätt
138
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
1. Inhärente und nicht-inhärente Separativverben:
Die Separativverben in Tabelle F.2 haben ihre separative Bedeutung entweder
aufgrund inhärenter Bedeutung (z.B. liberare), oder weil sie Bewegungsverben
mit einem Präverb sind, durch welches der Ausgangspunkt einer Bewegung
impliziert wird: ire ist ‘gehen’, abire ‘weggehen von einem Referenzpunkt’.
Dagegen sind zwei Verben in Tabelle F.2, nämlich movere und pellere, weder
genuine Seperativverben noch implizieren sie einen Referenzpunkt qua Präverb. Die Kombination mit einem Separativ ist bei ihnen also nur eine von
mehreren Möglichkeiten, und wir müssen folglich unterscheiden:
• Das Verb steht ohne Ortsangabe:
[16] Pl.Am.1034
istas pepuli fores
[17] Var.r.r.2p3
Multi manus movere malunt in theatro quam in segetibus
[18] Pl.Ps.955
transvorsus, non provorsus cedit, quasi cancer solet
• Das Verb steht mit Separativ (Ausgangspunkt):
[19] Cic.Sest.85
Magistratus templis pellebantur, alii omnino . . . foro prohibebantur:
nemo resistebat.
[20] Sall.Cat.23.1
Curium censores senatu probri gratia moverant
[21] Cic.dom.5
hunc tu civem ferro et armis . . . domo et patria . . . cedere coegisti
• Das Verb steht mit Direktiv (Zielpunkt):
[22] movere in Indiam
[23] cedere in tutum
[24] pulsus in exsilium
2. Die Bewegungsverben in Spalte A. kommen in konkreter und übertragener
Bedeutung vor.
(a) Bei konkreter Bedeutung kommen sie naturgemäß oft mit Ortsnamen vor
(Romā decedere etc.). Dann stehen sie, wie S. 135 gesagt, mit bloßem Ablativ. Bei anderen Referenzpunkten können sie auch mit Präposition stehen
(excedere ex oppido).
(b) Bei übertragener Bedeutung steht unterschiedslos reiner Ablativ oder Ablativ mit Präposition: desistere (ab) iniuria. Jedoch steht bei Personen immer
die Präposition: manus abstinere ab adversario.
3. Kausative Relationen zwischen Transitivum und Intransitivum:
Die transitiven Verben in Spalte B. können zu bestimmten Intransitiva und
Adjektiven in kausativer Relation stehen:
Brutus rem publicam dominatu liberat
KU Eichstätt
→
139
res publica liber est dominatu
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Die Intransitiva bzw. Adjektive bezeichnen den durch die Kausativa herbeigeführten Zustand: »machen, daß x frei ist« → »x ist frei«.
4. Aspektuelle Relation zwischen Intransitivum und Adjektiv:
Diejenigen Adjektive, die zu Intransitive gehören, stehen zu diesen in aspektueller Beziehung: vacare negotiis ist ein temporärer, vacuus negotiis ein permanenter Zustand.
5. Komposita mit dis-, se- reRH 143,3
haben eine Sonderstellung: sie werden immer mit Präposition verwendet: separare alium ab alio
Als Faustregel für die Übersetzung ins Lateinische läßt sich formulieren:
• Separative Relationen lassen sich prinzipiell mit bloßem Ablativ übersetzen; obligatorisch ist das bei Ortsnamen
• Ausnahmen sind die Komposita mit dis-, re-, die mit Präposition konstruiert werden
F.1.2.3
Phraseologie und Idiomatik
Bei den in Tab. F.2 mit * gekennzeichneten Verben gibt es folgende Phrasen:
[25] abeo magistratu (= me abdico magistratu)
‘ein Amt niederlegen’
[26] decedo de scaena
‘Von der Bühne abtreten’; dagegen: decedere ex urbe, decedere domum, ad
somnum etc.
[27] dissideo ab (cum) aliquo ‘eine andere Meinung haben als’, auch: dissident inter se ‘sie sind unterschiedlicher Meinung’.
Nicht aufgenommen in die Tabelle ist die Phrase interdicere aliqui aqua et igni ‘jemand
verbannen’, weil hier kein echtes Separativverb mehr vorliegt:
[28] Plin.ep.4.11.3
carent togae iure, quibus aqua et igni interdictum est
?
Lesen Sie RH §143, 1+2 und füllen Sie die Lücken aus:
[29] Medicus aegrum rogavit, ut . . . . abstineret
(sich des Weines zu enthalten).
[30] Gladiator rogatus est, ut manus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . abstineret
(nicht Hand an seinen besiegten Gegner zu legen)
?
Für folgenden Satz gibt es zwei Konstruktionsmöglichkeiten; welche?
KU Eichstätt
140
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[31] Die Gallier schnitten Caesar die Versorgung (res frumentaria) ab (intercludere).
................................................ /
...............................................
[32] Der Schauspieler trat von der Bühne ab:
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (trat von der Bühne ab).
[33] Der Konsul trat von seinem Amt zurück:
....................... .
?
Übersetzen Sie unter Beachtung von RH §143,3:
[34] Die Eltern von den Kindern trennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[35] Wahres vom Falschen unterscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[36] Ein vom Tyrannen freies Volk ist noch nicht frei von Sorgen
...............................................
F.1.3
Extensionen des Separativs
hierher gehören (1) Herkunftsangaben, (2) der agentive Ablativ (3) der Separativ als Secundum comparationis (letzteren behandeln wir mit dem Instrumental als Spezifikator des Tertium comparationis unten auf S. 150).
F.1.3.1
Der Ablativus originis
Er beruht auf der Metapher ‘Ort’ → ‘Sozialer Rang’. Den Übergang zeigt gut
RH §142
[37] summo loco natus → nobili genere natus
Präpositionen werden bei diesem Typ zur Bezeichnung eines entfernteren Verwandtschaftsgrades verwendet:
[38] Caes.orat.29.1
Amitae meae Iuliae maternum genus a regibus ortum est
F.1.3.2
Der Agentive Ablativ
Caesar a Bruto occisus est
Der Ablativ als Ausdruck des Agens im Passivs ist die produktivste Grammatikalisierung des Separativs. Man findet sie genauso im Deutschen, aber mit
einem wichtigen Unterschied:
KU Eichstätt
141
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
1. Das Lat. unterscheidet zwischen belebtem Agens und unbelebten Ursachen
einer Situation; ersterer steht mit Präposition ab + Ablativ, letztere mit bloßem
Ablativ
2. Im Deutschen dagegen werden Ursachen als metonymische oder metaphorische Ableitungen des agentiven Prototyps behandelt und daher wie dieser
mit der Präposition von ausgedrückt:
[39] Paul wurde von seinem Freund erschlagen: Paulus . . . . . . . . . occisus est
[40] Paul wurde von einem Blitz erschlagen: Paulus . . . . . . . occisus est
[41] Paul wurde von einem Schiff aufgenommen: Paulus . . . . receptus est.
Anm.: Dieser Unterschied ist ein typologisches Unterscheidungsmerkmal zwischen
Sprachen. Weltweit gibt es (1) Sprachen, welche den Agentiv besonders kennzeichnen (2) Sprachen, die den Agentiv und den Instrumental zusammenfassen
F.1.4 Lokativ und Direktiv
Die grundlegenden Ausdrucksformate haben wir schon oben auf S. 135 aufgeführt:
lokativ:
direktiv:
habitare in urbe
habitare Corinthi / Romae (<Roma-i)
habitare Athenis
ire in urbem
ire Romam
• Ausdrucksformat lokativer Relationen ist in + Abl., außer bei Ortsnamen
Bei Ortsnamen steht die Reliktform des Lokativ auf -i, sofern diese Form
gebildet werden kann (nämlich im Singular der 1./2. Deklination); wo
sie nicht gebildet werden kann (3.-5. Dekl), steht der reine Ablativ
• Ausdrucksformat direktiver Relationen ist Präposition in / ad + Akk.,
außer bei Ortsnamen, bei denen der bloße Akkusativ steht.
RH §117
Der Direktiv wird auch zur Quantifizierung von Strecken verwendet:
[42] Vicus ab urbe passus sescentos abest.
Hier wird die durch abest ausgedrückte Distanz zwischen zwei Punkten quantifiziert.
Diese quantifizierenden Ausdrücke sind syntaktisch Adverbiale; daher tendieren sie zur Phraseologisierung (wie die S. 131 aufgeführten Konkomitanzausdrücke):
[43] magnam partem, maximam partem ‘großteils, größtenteils’
Im Deutschen sind solche Ausdrücke oft vollkommen lexikalisiert, d.h. regelrechte Adverbien geworden
KU Eichstätt
142
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[44] ’größten-teils’ (vgl. besten-falls, keines-falls; des nachts etc.)
Aus diesen Ausdrücken werden Angaben der Zeiterstreckung abgeleitet,
s. §F.2.1.2.
Zu unterscheiden von diesen Ausdrücken sind deiktische Phrasen auf der Basis des Direktivs, die mit einem Partitiv kombiniert werden, wie id temporis ‘zu dieser Zeit’, id (hoc,
illud) aetatis ‘in diesem Alter’ ‘zu dieser Zeit’:
RH §118
[45] Cic. Flac. 106
id aetatis est, ut sensum iam percipere possit ex maerore patrio,
[46] Cic.fin.5.1
constituimus . . . , ut ambulationem post meridianam conficeremus in Academia,
quod is locus ab omni turba id temporis vacuus esset.
F.1.5
Beispiele für den deiktischen Typ bei KS 1,306, für den quantifizierenden
bei KS 1,280.
Perspektivierung lokaler Relationen
Eine Situation die eine Ortsangabe beinhaltet, kann in verschiedenen Sprachen
unterschiedlich perspektiviert sein.
Perspektive
Wir empfinden es im Deutschen als ‘normal’, Orts- und Raumangaben aus unserer Perspektive, vom Referenzpunkt ‘Sprecher’ aus, zu präsentieren, genauso wie wir es mit
Zeitangaben tun, und wie wir es als normal empfinden, unseren Kalender linear ‘vorwärts’
aufzubauen.
Die Römer empfanden das als nicht so zwingend; wir wissen ja
• daß die Römer ihre Entfernungsangaben auf Meilensteinen vom Ausgangspunkt,
und nicht vom Zielpunkt der Straße her rechneten z. a legione X MP ‘vom Legionslager her 10 Meilen’
• daß die Römer, wenn sie einen Brief geschrieben haben, die Ereignisse oft nicht
zeitlich auf den Referenzpunkt des Schreibers, sondern den des Adressaten bezogen
haben (↑ ‘Brieftempus’),
• daß die Römer ihren Kalender durch Rückrechnung von Fixtagen strukturierten,
• daß es so etwas wie ‘relatives Tempus’ gibt, wo der Referenzpunkt eben nicht der
Sprecher ist,
• daß es schließlich, wie wir im vorliegenden Skript lesen, im Lateinischen ‘Possessumorientierte’ Possessiv-Konstruktionen und Komparativkonstruktionen gibt, die vom
Secundum comparationis her perspektiviert sind (§D.2.1.1 und §F.3).
Wir können also nicht einfach davon ausgehen, daß Raum- und Zeitinformation in einer
anderen Sprache aus der für uns gewohnten Perspektive erfolgt.
Solche Perspektivierungen können kulturell determiniert und damit dem Wandel unterworfen sein. Ein Beispiel hierfür ist die Repräsentation von Himmelsrichtungen. Wir neigen
dazu, beeinflußt durch die Tradition der Geographie und Kartographie, Nord – Süd für die
räumliche Hauptorientierungsachse zu halten und ‘oben’ mit ‘Norden’ und ‘Süden’ mit
‘unten’ zu assoziieren. Diese Tradition ist nicht sonderlich alt: mittelalterliche Karten wie
KU Eichstätt
143
Latinistik
RH §155
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
etwa die ↑ Ebsdorfer Weltkarte, sind geostet, weil der heilgeschichtlich wichtigste Ort,
Jerusalem, im Osten liegt. Auch für Naturvölker ist die Ost-West-Orientierung (Sonnenaufgang, -untergang) wichtiger, und deshalb sind Ost und West in ihren Sprachen meist
eindeutig lexikalisiert, wogegen die Bezeichnungen für Nord und Süd vage bleiben.
Wir befinden uns hier in dem großen Zusammenhang der kognitiven Grundlagen von
Grammatik und Lexikon. Mehr dazu bei B. Heine, Cognitve Foundations of Grammar.
1997.
F.1.5.1
Beispiele für unterschiedliche Perspektivierung zwischen Deutsch und Latein
Dt. direktiv ↔ Lat. lokativ
[47]
eine Statue
statuam
auf die Mauer
in muro
stellen
ponere
(wohin?)
(wo?)
Eine Bewegung kann kognitiv in drei Komponenten zerlegt werden: Ausgangspunkt, durchmessener Raum, Endpunkt. Sprachen können hier beim
Ausdruck einen unterschiedlichen Fokus setzen:
• im Deutschen ist der Sachverhalt vom Ausgangspunkt der Bewegung
her perspektiviert: ‘wohin wird die Statue gestellt?’
• im Lateinischen liegt der Fokus auf dem Endpunkt: ‘wo kommt die Statue zu stehen?’.
Dt. lokativ ↔ Lat. direktiv
[48] Cic.Pis.34
Ganz Italien
tota Italia
kommt zusammen
convenit
in Rom
Romam
Hier ist es umgekehrt wie in [47]: im Deutschen liegt der Fokus auf dem
Endpunkt (wo?), im Lateinischen auf dem Ausgangpunkt (wohin?).
Dt. lokativ oder direktiv → Lat. separativ
Das ist der auffälligste Perspektivenunterschied zwischen Deutsch und Lateinisch; im folgenden die wichtigsten Beispiele; weiteres Material bei bei KS
1,493 und MBS 531.
KU Eichstätt
144
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
incipere a Iove
cavere a veneno
defendere aliquem a periculo
pharetra pendet ab umero
ligare funem a bracchio
‘bei Iuppiter anfangen’
‘Vorkehrungen gegen einen Giftanschlag treffen’
‘jemand gegen eine Gefahr verteidigen’
‘der Köcher hängt ihm um die Schultern’
‘einen Strick am Arm anbingen’
a fronte
a tergo
a mea parte
‘vorne’
‘hinten’
‘auf meiner Seite’
ab epistulis (sc. servus)
a manu
a libellis
‘Sekretär’
‘Sekretär’
‘Bearbeiter von Gesuchen’
F.1.5.2
Änderung der Perspektive durch Präverbierung
ist möglich, wie das folgende Beispiel zeigt (zum Mechanismus der Präverbierung vgl. o. §B.3.2.2):
[49] statuam in inferiorem locum transponunt (∼ Gell. 4,5,3)
Das Präverb trans- hat zwei semant. Komplemente: x trans y, wobei x die Statue, und y das Ziel ist. Trans- determiniert damit die Perspektive des Kompositums und den Kasus des Ortsobjekts1 .
Übung
Setzen Sie die richtigen Konstruktionen ein:
RH §155
[51] Kaum war im punischen Lager gemeldet worden, daß die römischen
Gesandten in Spanien angekommen seien, als Hannibal sich ihr Kommen verbat:
Vix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . nuntiatum erat legatos advenisse, cum Hannibal
eos ad se venire vetuit.
[52] Als die Theatertruppe in der Stadt angekommen war, strömte eine Menge
von Leuten auf dem Forum zusammen:
Cum histriones . . . . . . . . . advenissent, magna hominum multitudo . . . . . . . .
confluxit.
[53] Aiax rühmte sich, daß auf seinem Flügel niemals die Phalanx durchbrochen worden sei:
Aiax gloriatus est . . . . . . . . . . . aciem numquam perruptam esse.
1 Bei [48] ist das nicht so, weil con- nicht den Ort, sondern die andere Person als Argument hat,
die ja im Ablativ hinzugefügt werden kann:
[50] Paulus cum amico convenit (apud amicum)
.
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145
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[54] Karthago war gegen das Land und gegen das Meer hin vorzüglich befestigt:
Carthago . . . . . . . . . . . . . . . . . . egregie munita erat.
F.2
Von der Orts- zur Zeitangabe
Wie in vielen Sprachen werden auch im Lateinischen Angaben zu Beginn,
Zeitpunkt und Zeitdauer einer Situation metaphorisch aus Lokalangaben abgeleitet auf der Basis der Orts- → Zeit–Metaphorik. Dabei wird ein konkreter
‘Punkt’ oder eine Strecke im physischen Raum durch einen ‘Punkt’ oder eine
‘Strecke’ auf der Zeitachse ersetzt.
Separativ →
Terminus a quo
Lokativ →
Zeitpunkt
Zeitraum
Direktiv →
Terminus ad quem
a pueritia
meridie /
paucis diebus
(usque) ad vesperem
Alle drei zusammen finden sich etwa in
[55] Caes. Gal. 1.26.2
hoc toto proelioZeitraum,
cum ab hora septimaTerminus a quo ad vesperumTerminus ad quem pugnatum sit,
aversum hostem videre nemo potuit.
Das Nebeneinander von ursprünglich lokaler und abgeleiteter temporaler Angabe zeigen Verbindungen wie [57].
[56] Romae obiit → hieme obiit.
‘Er starb in Rom → er starb im Winter’
[57] domi militiaeque
‘Im Frieden (‘daheim’) und im Krieg ’
Wir verschaffen uns erst einen Überblick über Zeitangaben und beschreiben
dann die Rolle von Separativ, Lokativ und Direktiv in diesem System.
F.2.1 Die Funktion von Zeitangaben
ist prinzipiell eine der drei folgenden:
• Positionierung einer Situation auf der Zeitachse, d.h. Angabe von Zeitpunkt oder Zeitraum:
[58] Gestern hat Kanzlerin Merkel eine Erleuchtung gehabt
[59] Seit gestern ist Winterzeit
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146
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
• Bestimmung der Dauer einer Situation:
[60] Er arbeitete den ganzen Nachmittag
• Kombinationen von beidem:
[61] Er arbeitete bis zum Sonnenuntergang
F.2.1.1
Positionierung auf der Zeitachse
Sie kann mit einer deiktischen oder einer nicht-deitkischen Technik erfolgen.
1. Das deiktische Verfahren ist die Einordnung einer Situation vom Referenzpunkt des
Sprechers. Ausdrucksmittel dafür sind
(a) die Hauptsatztempora veni, vidi, vici
(b) deiktische Adverbien wie gestern, heute, morgen
(c) genuine Zeitbegriffe wie Morgen, Abend, Nacht
2. Das nicht-dektische Verfahren ist die Einordnung einer Situation von einer anderen
Situation aus. Ausdrucksmittel sind
(a) das bezogene Tempus. In [62] wird durch das Tempus des 1. Hs., traduxerant,
signalisiert, daß der Satz vor dem 2. Hs. . . . populabantur liegt.
[62] Caes.Gall.1.11.1
Helvetii iam per . . . in Haeduorum fines pervenerant eorumque agros populabantur.
‘Die H. waren bereits in das Gebiet der Haeduer gelangt und verwüsteten deren
Äcker’
(b) relative Adverbien wie pridie, postridie, postea etc.
(c) eine andere Situation, die die Hauptsituation (den Hauptsatz) zeitlich einordnet,
nämlich
– Temporalsätze: cum Caesar in Galliam venisset, legati omnium gentium ad eum
convenerunt: Das Zusammenströmen der Gesandten liegt zeitlich nach Caesars
Ankunft in Gallien.
– deverbale Situationsausdücke: nach meiner Ankunft; während der Verhandlungen
– Situations-Substantive wie ‘nach dem Krieg’, ‘im Frieden’, ‘in meiner Kindheit’
3. Schließlich kann zeitliche Einordnung auch durch Bezug auf kulturell determinierte Systeme wie Kalender (gregorianischer K., Heiligenkalender etc.) kalendarische Zeitbegriffe
erfolgen: An den Iden des März / am 15. März.
F.2.1.2
Zeitdauer
verwenden wir als weiten Oberbegriff für alles was die interne Zeitstruktur einer Situation
betrifft, wie stativ, dynamisch, telisch, also Informationen die mit mit den Begriffen ↑ Aktionsart und ↑ Aspekt assoziiert sind. Das ist eine prinzipiell nicht-deiktische Information.
Zu den Ausdrucksmittel gehören
1. Tempus, im. Lat. in erster Linie das Imperfekt, vgl. Romam veniebam vs. Romam
veni
2. lexikalische Zeitangaben zu Dauer und Frist: lange, kurz, zwei Stunden; binnen drei
Tagen
3. Kombination mit einer anderen Situation, die ausgedrückt wird z.B. durch
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147
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(a) bestimmte temporale Nebensätze wie ‘solange als, solange bis’ (rusticus exspectat,
dum defluat amnis);
(b) deverbale Nominalkonstruktion (bis zum Eintritt des Waffenstillstandes).
F.2.2 Die Rolle der Orts- → Zeit-Metaphorik in diesem System
F.2.2.1
Der Separativ
wird metaphorisch zur Angabe des Terminus a quo (»seit wann?« bzw. »nach
welchem Zeitpunkt?«) verwendet. Ausdrucksformat ist immer ab / ex + Ablativ:
1. sehr häufig in Formeln wie:
[63] ab adulescentia, ab ineunte adulescentia, ab iuventute, a pueritia, ab ineunte aetate, ab urbe condita.
[64] Caes. Gal. 1.42.3
dies conloquio dictus est ex eo die quintus.
2. in Relativkonstruktionen:
[65] Sen. contr.exc. 33
aetas, a qua aliquis filius esse desinit
3. in nominalisierten Sätzen:
4. Caes. Gal. 2.25.1
Caesar ab decimae legionis cohortatione ad dextrum cornu profectus est
F.2.2.2
Der Direktiv
wird metaphorisch zur Messung der Zeitdauer einer Situation verwendet (»
wie lange?«, sog. Accusativus temporis):
[66] Cic. Tusc. 5.57
Duodequadraginta annos tyrannus Syracusanorum fuit Dionysius, cum
quinque et viginti natus annos dominatum occupavisset
Der Quantor kann eine Kardinal- oder eine Ordinalzahl sein:
[67] annos iam triginta tres in foro versaris
[68] annum iam tricesimum quartum in foro versaris
Mit der Kardinalzahl wird die Länge der verstrichenen Zeit gemessen, mit der Ordinalzahl
der zur Sprechzeit erreichte Endpunkt bestimmt. Daher wird bei Ordinalzahlen der Wert
um 1 erhöht.
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148
Latinistik
F. Heberlein
F.2.2.3
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Der Lokativ
wird verwendet zur Angabe
• von Zeitpunkten bzw. Zeiträumen (»wann?«):
• des Terminus ad quem, d.h. der Frist, binnen welcher die Hs.-Situation
vollendet ist (»bis wann?«, »binnen welcher Frist?«)
Zeitpunkte / Zeiträume:
RH §156
[69] vesperi, noctu, hieme
[70] in bello : bello Punico
Ausdrucksformat: Das Lateinische grammatikalisiert den Unterschied zwischen
originalen und abgeleiteten Zeitangaben durch unterschiedliche Verwendung
von bloßem Ablativ und Ablativ + in:
1. originale Zeitangaben stehen im Lokativ bzw. Ablativ vgl. [69].
2. abgeleitete Zeitangaben richten sich nach der vom modalen Ablativ (vgl.
S. 126) her bekannten Faustregel ‘mit Attribut ↔ ohne Präposition’, ‘ohne
Attribut ↔ mit Präposition’, vgl. [70].
3. Ausnahme: wenn nicht Zeitpunkte bestimmt, sondern Zeitumstände, also
Eigenschaften von Situationen, charakterisiert werden sollen, stehen auch originale Zeitangaben mit der Präp. in.
[71] Ter.Andr.819
me nolo in tempore hoc videat senex
4. Zeitpunkte können natürlich auch multiplikativ (‘iterativ’) sein; das Ausdrucksformat ist »Ordinalzahl + quisque«:
[72] Quinto quoque anno Olympia aguntur.
Terminus ad quem Ein Terminus ad quem wird ausgedrückt durch Ablativ
+ Quantor (diebus paucis / viginti); ersetzt dynamisch-telische Aktionsart des
Verbs voraus:
[73] Caes.Gal.6.9.5
magno militum studio paucis diebus opus efficitur.
[74] Caes.Gal.7.24.1
diebus viginti quinque aggerem exstruxerunt.
Ein alternatives Ausdrucksformat ist die Präposition intra + Akk.:
[75] Plaut. Curc. 442
Persas, Arabes, Cares . . . : dimidiam partem nationum subegit solus intra
viginti dies
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149
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Konkurrenz von Direktiv und Lokativ ergibt sich bei dynamischen Situationen. Der Endpunkt solcher Situationen kann bestimmt werden
(1)
(2)
durch Messung ihrer Ausdehnung:
durch Angabe ihres Endpunkts:
Alexander tringinta tres annos natus mortuus est
Alexander tricesimo quarto anno vitae suae mortuus est
(1) basiert auf dem Direktiv (Akk. temporis) und beantwortet die Frage »wie
lange lebte A.?«, (2) basiert auf dem Lokativ (Abl. temporis) und beantwortet
die Frage »wann starb A.?«
Die Verwendung der Kardinal- / Ordinalzahlen geschieht wie in §F.2.2.2.
F.2.2.4
Zusätze
Bezug auf die Gegenwart des Sprechers mit hic: Mit einem deiktischen Pronomen hic
kann hervorgehoben werden, daß die Gegenwart des Sprechers der Bezugspunkt ist, von
dem ab ein Zeitpunkt oder eine Frist bestimmt wird.
[76] Cic.rep.1.58.6
Ancus his annis quadringentis Romae rex erat
‘A. war jetzt vor 400 Jahren König in Rom’
[77] me hoc triduo exspecta ∼ intra dies tres
‘Erwarte mich heute in drei Tagen’
Zeitangaben mit Multiplikativa: Wenn gesagt werden soll, daß innerhalb eines Zeitraums
sich ein Vorgang wiederholt, steht auch bei echten Zeitbegriffen in:
[78] bis in nocte
‘zweimal pro Nacht’
Kalenderangaben: Informieren Sie sich bei RH §276,2 wie man übersetzt:
[79] Am 28. Januar.
F.3
Separativ und Instrumental in der Komparation
Der Separativ und der Instrumental werden in abgeleiteter Funktion innerhalb
von Komparativkonstruktionen verwendet:
• der Separativ dient dem Ausdruck des Secundum comparationis ([80])
• der Instrumental ist beteiligt am Ausdrucks des Tertium comparationis
([81]).
[80] Marcus est prudentior Paulo
[81] Marcus superat Paulum sapientia
Wir beschreiben zunächst die Operation der Komparation.
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150
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Komparation
besteht aus drei Elementen, die in der folgenden Tabelle genannt werden; in der zweiten
Zeile stehen die traditionellen, in der dritten die derzeit in der Linguistik üblichen Termini2 :
Erika
Primum comparationis
Comparee
ist größer
ist so groß
Tertium comparationis
Parameter
als Erich
wie
Secundum comparationis
Standard
• Das Secundum / der Standard ist die ‘Meßlatte’, also der vorgegebene Wert, an
dem
• das Primum / der Comparee gemessen wird.
• Das Tertium / der Parameter ist der Maßstab, mit dem gemessen wird; er betrifft
entweder Dimension (groß, breit) oder Qualität (schlau, dumm).
Ein Komparativ weist einem Begriff keine absolute Eigenschaft zu, sondern nur einen
Gradunterschied gegenüber der Eigenschaft eines anderen Begriffs. Es wird keinesfalls
vorausgesetzt “Erika ist groß & Erich ist groß”, denn Erika könnte durchaus ein Baby
sein.
Haupttypen der Komparation
1. Komparation der Ungleichkeit (»inäquative Komparation«): ‘Erika ist größer als Erich’.
Ausdrucksmittel sind im Lateinischen
• der Abl.comp: Marcus est maior Paulo
• der Partikel-Komparativ mit quam: Marcus est maior quam Paulus.
• das Komparationsverb: Marcus superat Paulum magnitudine
2. Komparation der Gleichheit: ‘Erika ist so schlau wie Erich’.
Ausdrucksmittel sind im Lateinischen:
• beim Vergleich von gradierbaren Eigenschaften (»äquative Komparation«) (1) der
Partikel-Komparativ mit quam + Adjektiv (vgl. [82f]), (2) das Komparationsverb +
Substantiv im Ablativ (vgl. [84]):
[82] Marcus est tam magnus quam Paulus.
[83] Marcus currit tam celeriter quam Paulus
[84] Marcus adaequat Paulum magnitudine
• beim Vergleich von (nicht-gradierbaren) Situationen (»similative Komparation«) der
Partikel-Komparativ mit ut, sicut, tamquam + Verb:
[85] Nep.Hann.7.4
ut Romae duo consules, sic Carthagine annui bini reges creantur
Das Ausdrucksformat mit quam ist das produktivste da es in beiden Subklassen der
Komparation verwendbar ist; daher verdrängt es bis zum Spätlateinischen den Abl.comp.
Wie beim Ersatz des Kasus durch Präposition haben wir hier also den Übergang von einer
synthetischen zu einer analytischen Ausdrucksweise.
2 Die exakten, hier vereinfachten, traditionallen Termini lauten primum comparandum – secundum comparatum – tertium comparationis.
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151
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F.3.1 Die Funktionen des Separativs und Instrumentals in der Komparation
sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt:
Primum
Tertium
Secundum
(1)
(2)
Marcus
Marcus
fratre
amicum
(3)
Mons
Corinthus
maior est
superat virtute
adaequat virtute
excellit altitudine
est dimidio minor
quam Roma
‘Abl. comparationis’ (RH §144)
‘Abl. limitationis’ (RH §152)
dto.
dto.
‘Abl. discriminis’ (RH §153)
• In (1) basiert das Secundum comparationis auf dem Separativ
• In (2) und (3) wird das Tertium comparationis, das durch die Komparationsverben superare und adaequare ausgedrückt wird, durch Ableitungen
des Instrumentals spezifiziert. Die Spezifikation betrifft Qualität (virtute), Dimension (altitudine) oder Quantität (dimidio).
F.3.2 Der Ablativus comparationis
des Typs
[86] Paulus est prudentior fratre
ist also ein Ausdrucksmittel der Komparation der Ungleichheit. Er ist eine Abstraktionsform des Separativs, bei dem der konkrete Ausgangspunkt einer
Bewegung durch den Referenzpunkt einer Perspektive ersetzt ist: maior sum fratre
= ‘vom Bruder her gesehen bin ich älter’.
Dieser Typ kommt in vielen Sprachen vor und wird kurz ‘Separativmodell’
genannt. Er grammatikalisiert die Perspektive des Secundum comparationis
(‘Standard’), während der Typ maior sum quam frater, das ‘Partikel-Modell’, die
Perspektive des Primum comparandum (‘Comparee’) grammatikalisiert3 .
Syntaktische Verwendungsbeschränkungen: Der Abl. comp. ist weit weniger explizit als ein komparativischer quam- Satz und kann deshalb nur verwendet werden, wenn der Hörer den zugrundeliegenden Komparativsatz rekonstruieren kann, d.h. wenn der Abl.comp. dem Subjekt oder Objekt eines
zugrundeliegenden Komparativsatzes mit quam entspricht:
[87] Quid est ratione divinius? ← Quid est divinius quam ratio (sc. est)?
[88] Neminem magis diligit matre → neminem magis diligit quam matrem
(sc. diligit).
3 Ein ähnlicher Unterschied ist uns beim possessiven Dativ vs. habere mit Akk. begegnet, vgl. o.
S.70. – Daß die Perspektive, aus der ein Sachverhalt betrachtet wird, anders ist als im Deutschen,
ist uns beim Lokativ schon begegnet. Besonders instruktiv ist Beispiel [54].
KU Eichstätt
152
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
Vgl. dagegen:
[89] Cur mihi magis suscensetis quam fratri ̸=Cur mihi magis suscensetis
fratre.
Wie würde sich in [89] der Sinn beim Ablativ ändern?
?
Semantische Verwendungsbeschränkungen: das typische Anwendungsfeld
des Abl.comp. sind hyperbolische Vergleiche des Typs stultior est stulto ‘er
ist stockdumm’, bei denen also der Standard eigentlich die verglichene Eigenschaft schon im Höchstmaß besitzt. Daher eigent er sich auch zur Übersetzung
entsprechender dt. Superlative wie in [91] und [92]:
[90] Von den Sklaven ist einer schlitzohriger (nequam) als der andere.
..............................
[91] Das Kleid ist schneeweiß (∼ weißer als der Schnee).
..............................
[92] Agamemnon opferte Iphigenie, das schönste Mädchen, das es gab.
....................................................................
Die Apposition »das schönste Mädchen . . . gab« in [92] muß in eine
Relativkonstruktion umgeformt werden ∼ im Vergleich zu welcher . . .
F.3.3
Der Instrumental als Spezifikator des Tertium comparationis
Wir haben S. 116 schon darauf hingewiesen, daß Abstraktionsformen des Instrumentals zur Spezifikation des Tertium comparationis verwendet werden
können. Es gibt folgende Varianten:
Das Tertium comparationis ist ein Adjektiv im Komparativ – es wird durch
einen Quantitätsausdruck spezifiziert:
[93] Corinthus est dimidio minor quam Roma
Während im Normaltyp Corinthus est minor quam Roma nur gesagt wird, daß
Korinth auf einer Größenskala unter dem Fixpunkt Rom steht, ohne daß die
Distanz zwischen der Größe Roms und Karthagos spezifiziert wird, wird in
[93] durch Ausdrück wie dimidio ebendas geleistet.
Das Tertium comparationis ist ein Komparationsverb und kann daher durch
ein subst. Adverbiale im Ablativ spezifiziert werden:
[94] Marcus superat / adaequat Paulum magnitudine
KU Eichstätt
153
Latinistik
F. Heberlein
Syntax I
WS 2014-15
[95] Marcus excellit magnitudine
[96] Cicero ceteris oratoribus multo praestitit.
Hierher gehören die Beispiele aus RH §152 (‘Abl. limitationis’) und §153,2
(‘Abl. discriminis’).
Das Tertium comparationis ist hier auf zwei Satzglieder verteilt: das Verb signalisiert den Komparationstyp (Gleichheit / Ungleichheit), und der Ablativ
enthält den semantischen Nukleus des tertium comparationis. Bei den Typen
[94] und [95] liegt eine abstrakte Variante des Instrumentals vor (Übergang
Instrument → Grund → Geltungsbereich, vgl. o. §E.3), bei [96] ist sie auf auf
einen Quantor reduziert.
Das Secundum comparationis bei Komparationsverben. Wir dürfen das Secundum comparationis in Fällen wie [94]—[96] nicht konfundieren mit dem Secundum
comparationis im Typ [86], das auf dem Separativmodell beruht. Dort steht es immer
im Ablativ, hier dagegen steht es in dem Kasus, den die Valenz des Komparationsverbs
vorsieht; in [94] ist das etwa der Akkusativ, in [96] der Ablativ. Außerdem kann das
Secundum comparationis unausgedrückt bleiben, wenn es, wie in [95], eine nicht weiter
spezifizierte ‘Allgemeinheit’ ausdrückt.
?
Wir haben auf S. 75 gesagt, daß bei Komparationsverben, die auf Bewegungsverben beruhen, das Secundum comparationis teils im Dativ teils im
Akkusativ steht. Übersetzen Sie mit den Verben superare, antecellere, praestare und ante-/praecedere:
[97] Crassus übertraf alle an Reichtum.
Lernen sie die Ausdrücke in §152, 2.
?
Andere Beispiele bei RH §152 wie
[98] deficere animo
[99] iudicare opinione ‘nach seinem Gutdünken beurteilen’
[100] stare promissis
gehören nicht in den Bereich der Komparation, da die oben §F.3 beschriebene Komparations-Struktur nicht gegeben ist. Es handelt sich um
Varianten des: [98] Separativs, [99] Instrumentals, [100] Lokativs.
Weiterführende Information
Zum Kasussynkretismus beim Ablativ
Übersicht:
KU Eichstätt
154
Latinistik
F. Heberlein
Instrumental
hast-ā
↓
hast-ā
cum febri
Syntax I
Vokalische Stämme
Lokativ
Separativ
Roma-ĭ
Rom-ād / mar-īd
↓
↓
Roma-e
Rom-ā / marī
in Graeciā
ex Graeciā
WS 2014-15
Konsonantische Stämme
Lokativ
Carthagin-ĭ
↓
Carthagin-e
ex urbe praeclara
Die Ursachen für diesen Kasussynkretismus sind folgende:
• Lautentwicklung: Hier muß man die vokalischen Stämme und die konsonantischen
auseinanderhalten, weil sie unterschiedliche Entwicklungen genommen haben4 :
– Vokalische Stämme:
(a) Der Separativ hatte in den italischen Sprachen bei allen vokalischen Stämmen die Form ‘Stammvokal +d’, also ōd ād, ı̄d, ūd. Durch Abfall des -d wird
daraus ō, ā, ī, ū: Romād → Romā.
(b) Der Instrumental wurde durch einfache Längung des Stammvokals gekennzeichnet, also durch ō, ā, ī, ū, z.B. hastā. D.h.: nach Verlust des -d beim
Separativ waren Instrumental und Separativ lautidentisch. (c) Der Lokativ auf
ı̆ war schon im frühen Latein durch Präpositionen verdrängt worden und hat
sich nur in erstarrten Wendungen wie domi militiaeque und bei Ortsnamen
erhalten.
– Konsonatische Stämme: Diese hatten mangels Stammauslaut keine Möglichkeit, einen Instrumental oder Separativ nach dem obigen Muster zu bilden
(der Separativ war vielmehr mit dem Genitiv identisch). Die Endung beruht
daher auf dem Lokativ -i, das am Wortende zu ĕ verdumpft wird: consuli
→ consule. Analog zu den vokalischen Stämmen hat diese Endung dann die
Funktion des Instrumentals und des Separativs mit übernommen.
• Redundanz des Kasuszeichens: die separative oder lokative Bedeutung eines Nomens wird in erster Linie durch die lexikalische Bedeutung des übergeordneten
Verbs vermittelt; So folgt etwa aus der Bedeutung von excedo, daß das Subjekt
sich von einem Ort ‘trennt’. Damit erübrigt sich eine Kennzeichnung der semantischen Funktion durch den Kasus.
• Verdrängung durch Präpositionen: diese werden als expliziter empfunden, so daß
der Separativ (Romā) teilweise, der Lokativ (Roma-ī) fast zur Gänze verdrängt
wird. Auch das begünstigt die formale Zusammenfassung der Restklassen.
Literatur: Zur Morphologie: G. Meiser, Historische Laut- und Formenlehre, 1999.– Zum
kausalen Ablativ: H. Pinkster, On Latin Adverbs, 1972, 84ff.– Zum instrumentalen, modalen und soziativen Ablativ.: E. Vester, Instrument and Manner Expressions in Latin,
1983, 47ff. –
4
Vgl. HS I, 407ff
KU Eichstätt
155
Latinistik
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