thode Wie analysiert man philosophische Be

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Weder Philosophiegeschichte noch Begriffsanalyse. Genealogie als philosophische Methode
Wie analysiert man philosophische Begriffe, ohne deren Geschichte zu vernachlässigen? Wie
schreibt man die Geschichte philosophischer Begriffe, ohne diese auf eine Abfolge von Texten (alter) weißer Männer zu reduzieren? Wie also vermeidet man die Probleme sowohl einer
ahistorischen Begriffsanalyse (conceptual analysis) als auch einer antiquarischen Philosophiegeschichte? Diese Fragen möchte ich am Beispiel des Verantwortungsbegriffs diskutieren,
dessen derzeitige philosophische Analysen drei Gefahren philosophischer Begriffsanalysen
erliegen (I). Mein Vorschlag dagegen wird sein, Genealogie mit Foucault als Methode in der
Philosophie(geschichte) zu begreifen (II) – eine Methode, die zwar ebenfalls auf konzeptuelle
Hindernisse stößt, die aber zumindest am konkreten Fall einer Genealogie der Verantwortung
überwindbar sind (III).
I.
Drei Gefahren philosophischer Begriffsanalysen
Vier Zitate aus der Geschichte philosophischer Reflexionen auf Verantwortung, um die Vielfalt des Gebrauchs von Verantwortung anzudeuten:
(a)
Alexander Bain, The Emotion and the Will, 1859: »The term ›Responsibility,‹ is a
figurative expression, of the kind caned by writers on Rhetoric ›metonymy,‹ where a thing is
named by some of its causes, effects, or adjuncts, as when the crown is put for royalty, the
mitre for the episcopacy, &c. […] Instead, therefore, of responsibility, I shall substitute punishability; for a man can never be said to be responsible, if you are not prepared to punish him
when he cannot satisfactorily answer the charges made against him.«
(b)
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887: »Eben das ist die lange Ge-
schichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit. Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten,
das versprechen darf, schliesst, wie wir bereits begriffen haben, als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu machen.«
(c)
Johannes B. Schuster, Eintrag »Verantwortung« in Bruggers Philosophisches Wörter-
buch, 1947: »In der Verantwortung bekundet sich der Adel der menschlichen Person.«
(d)
Johannes Schwartländer, Eintrag »Verantwortung« in Krings et. al. Handbuch philoso-
phischer Grundbegriffe, 1974: »Die Erfahrung der Verantwortung ist für uns heute das ›Faktum der Vernunft‹, durch das uns die Welt als Welt der Freiheit, und zwar als unendliche Aufgabe, erschlossen wird.«
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Wie geht die philosophische Begriffsanalyse mit dieser Vielfalt um – und wie mit der zusätzlichen Schwierigkeit, dass »Verantwortung« auch jenseits der Philosophie verwendet wird?
Die derzeit verbreiteten Begriffsanalysen bewältigen diese Aufgabe nicht, sondern erliegen
drei Gefahren:
(1)
Retroaktive Projektion. Der Begriff der Verantwortung wird in Texte zurückgelesen,
in denen er nicht vorkommt. Die Verteidigung, er würde dort »der Sache nach« diskutiert,
muss auf ein eigenes Verantwortungskonzept zurückgreifen und begeht erneut denselben Fehler. Beispiel: Bernard Williams Scham, Schuld und Notwendigkeit (2000 [1993]). Wer den
Begriff Verantwortung analysieren möchte, ohne nur das eigene Verantwortungsverständnis
aus dem untersuchten Kontext herauszulesen, der muss die retroaktiven Projektion vermeiden.
(2)
Willkürliche Fixierung. Die Struktur von Verantwortung und ihre Bedingungen wird
aus Sätzen wie »Hans Mayer ist für seine Entscheidung gegenüber seinem Vorgesetzten verantwortlich« (Nida-Rümelin 2011: 23) abgeleitet. Doch diese Sätze geben nichts anderes wieder als die Vorurteile der Philosoph_innen in Bezug auf Verantwortung – davor bewahrt auch
das Sammeln von Sätzen aus Tageszeitungen o.ä. nicht, wenn nicht die Methode, welche
Sätze ausgewählt werden, auf irgendeine Art dafür sorgt, dass es nicht einfach diejenigen
Sätze sind, an denen sich vorab bekannte philosophische Sachverhalte gut zeigen lassen (so
schon Roberts 1965: Kapitel II).
(3)
Limitierte Selbstreflexion. Die Philosophie reflektiert ihr Verhältnis zum nichtphiloso-
phischen Verantwortungsgebrauch unzureichend. Entweder wird das Verhältnis für irrelevant
erklärt, indem ein »philosophischer Verantwortungsbegriff« einem bloß noch dem Laut nach
gleichen Alltagsgebrauch von Verantwortung gegenübergestellt wird. Oder das Verhältnis
wird zu einem kritischen stilisiert, indem die Philosophie das Ideal von Verantwortung vorgibt, dem der nichtphilosophische Gebrauch entsprechen sollte. Beide Varianten übergehen
die Frage nach den tatsächlichen Effekten philosophischer Reflexionen. In Bezug auf den historischen Gebrauch von Verantwortung in der Philosophie und in Bezug auf das Verhältnis
zum nicht-philosophischen Gebrauch erweisen sich die philosophischen Reflexionen auf Verantwortung als unaufgeklärt.
II.
Genealogie als philosophische Methode
Wer Genealogie als philosophische Methode nutzen will, muss mittlerweile zwischen sehr
verschiedenen Verständnissen von Genealogie unterscheiden:
(1)
Genealogie als rechtfertigende Ursprungserzählung. Mit Bernard Williams’ Wahrheit
und Wahrhaftigkeit (2003 [2002]) sowie Robert Brandoms Tales of the Mighty Dead (2002)
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liegen zwei Vorschläge vor, Genealogie als eine spezifisch philosophische Methode der
Rechtfertigung zu gebrauchen. Für Brandom besteht sie darin, retrospektiv eine progressive
Abstammungslinie der von ihm selbst für richtig erkannten Wahrheiten zu konstruieren. Für
Williams sind rechtfertigende Genealogien funktionale Erklärungen, die ebenso gut fiktive
Erzählungen wie historisch akkurate Rekonstruktionen sein können. Klar dürfte sein, dass
weder Brandoms noch Williams Genealogieverständnis geeignet ist, um eine Methode für die
Philosophiegeschichte zu finden, die den drei skizzierten Gefahren herkömmlicher Begriffsanalysen entkommt.
(2)
Genealogie als radikaler Historismus. Mark Bevir (2008, 2015) versteht Genealogie
als eine Form des radikalen Historismus, der sich insbesondere gegen Notwendigkeit und Einheit in der Geschichte wendet und die drei methodologischen Festlegungen Nominalismus,
Kontingenz und Bestreitbarkeit ins Zentrum stellt. In zwei Hinsichten bleibt Bevirs Verständnis von Genealogie unbefriedigend: in ihrer Wahrheitsorientierung (Bevir relativiert Wahrheit
statt ihre Machtförmigkeit zu analysieren) und ihrer Adressierungsweise (Bevir vernachlässigt
die Dimension der Subjektivierungskritik, die für Genealogien konstitutiv ist).
(3)
Genealogie als Praktikenanalyse. Mein Vorschlag orientiert sich an Foucaults Genea-
logien – des Wahnsinns, der Kriminalität oder der Sexualität –, die von gegenwärtigen Problematisierungen ausgehen und darauf abzielen zu verstehen, wie sie jene Gestalt gewonnen haben, in der sie uns heute beschäftigen. Seine »Geschichte[n] der Gegenwart« (Foucault 2004
[1975]: 43) sollen so das »historische Wissen der Kämpfe« (Foucault 2004 [1996]: 22) zurückgewinnen, das in diesen Kämpfen unterlag. Wissen meint hier die Existenzbedingungen
von Diskursen, nicht diese selbst oder einzelne Aussagen. Indem diese Existenzbedingungen
von Diskursen und die an ihnen haftende Gewalt sichtbar werden, wird unseren Wahrheiten
ihre politische Signifikanz zurückerstatten.
Als Alternative zu herkömmlichen Methoden in der Philosophiegeschichte stellt einen dieses Verständnis von Genealogie vor drei Schwierigkeiten: erstens zielt diese Genealogie statt
auf Texte (wie die Geschichte der Philosophie) auf Praktiken (welche?); zweitens muss man
klären, inwieweit die Philosophiegeschichte als Geschichte von Kämpfen (zwischen wem?
um was? mit welchen Mitteln?) beschrieben werden kann; drittens ist unklar, inwieweit eine
Genealogie in der Philosophie die von ihr erwartete Subjektivierungskritik leisten und inwiefern sie tatsächlich die Existenzbedingungen des gegenwärtigen Diskurses sichtbar machen
kann.
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III.
Zur Genealogie von »Verantwortung« in den philosophischen Reflexionen
Im Allgemeinen kann ich diese Fragen derzeit nicht beantworten. Aber am konkreten Beispiel
meiner Genealogie von Verantwortung möchte ich zeigen, dass sich diese Schwierigkeiten
zumindest fallweise überwinden lassen – und dass diese Form der Genealogie tatsächlich die
drei oben genannten Gefahren vermeiden kann.
(1)
»Verantwortung« in den Praktiken der Philosophie. Wenn die Genealogie mit Fou-
cault betrieben in erster Linie Praktiken betrifft, muss eine Genealogie von Verantwortung in
der Philosophie sowohl Verantwortung als auch Philosophie von vornherein praxeologisch
verstehen. Philosophie wird als Terrain miteinander ringender Praktiken betrachtet, die stets
sowohl um die jeweils spezifischen Gegenstände ihrer Reflexionen kämpfen – in diesem Falle
also um »Verantwortung« – als auch um ihre Zugehörigkeit zur Philosophie. Daraus folgt
eine Konzentration auf die Wirkung von Verantwortung in diesen Reflexionen. Die Genealogie geht also besonders den Fragen nach, welche Funktion Verantwortung für die philosophische Reflexion übernimmt und inwiefern die philosophische Reflexion auf Verantwortung
eine Funktion im Kampf um die Grenzen der Philosophie besitzt. Damit taucht erneut die Frage auf, wie sich »Verantwortung« in diesen Reflexionen identifizieren lässt, ohne sie bereits
mit einer philosophischen Position zu verbinden?
Indem man aus der Perspektive der foucaultschen Praktikenanalyse, die Praktiken entlang
der drei Achsen Macht, Wissen und Selbstverhältnisse untersucht, eine formale Heuristik für
Verantwortung entwickelt. So betrachtet ist Verantwortung eine in Praktiken aktive Kraft, die
Macht ausübt, Wissen schafft und Einfluss auf die Subjektivität derer hat, die »Verantwortung« gebrauchen oder von ihrem Gebrauch betroffen sind. Als Relation mit unbestimmt vielen Relata impliziert Verantwortung zwei Subjektpositionen: die erste, weil jede Relation
mindestens ein Relatum hat, und die zweite, weil die Relation von jemandem artikuliert werden muss. Damit wird kein zweistelliger Verantwortungsbegriff vorausgesetzt, sondern es
werden zwei Subjektpositionen als Existenzbedingungen jedes beliebigen Verantwortungsbegriffs bestimmt: Träger_innen und Zuschreiber_innen. Angeleitet von dieser Heuristik lassen
sich Praktiken darauf befragen, wie diese Subjektpositionen hergestellt werden, welche Form
von Subjekt sie verlangen, welches Wissen dafür benötigt und durch sie erzeugt wird sowie
welche Machtbeziehungen zwischen ihnen verlaufen.
Welche Praktiken sind zu untersuchen? Ich habe Praktiken analysiert, in denen Verantwortung explizit genannt wird, orientiere mich also am Gebrauch des Wortes Verantwortung –
responsibility, résponsabilité –, was die Gefahr der retroaktiven Projektion radikal beseitigt.
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Zweitens wird mit der formalen Heuristik die Gefahr abgewehrt, Verantwortung willkürlich
zu fixieren, denn sie leitet die Analyse der Praktiken entlang der drei Achsen von Macht, Wissen und Selbst nur insofern an, als sie deren Ausgangspunkt bei den beiden notwendigen
Existenzbedingungen des Verantwortungsgebrauchs festsetzt. Welcher Verantwortungsbegriff
jeweils zum Einsatz kommt und wie er sich verändert, ist damit Untersuchungsgegenstand
und gerade nicht vorausgesetzt.
Der limitierten Selbstreflexion ist damit, drittens, noch nichts entgegengesetzt. Dazu bedarf
es einer Untersuchung, die die Genealogie der philosophischen Reflexionen auf Verantwortung und damit des philosophischen Gebrauchs von Verantwortung mit aktuellen Verwendungsweisen von Verantwortung in nicht-philosophischen Praktiken konfrontiert. Erst mit
dieser doppelten Analyse lässt sich fundiert nach dem Verhältnis des philosophischen und des
nicht-philosophischen Gebrauchs von Verantwortung fragen. Dazu sage ich heute nichts, um
noch zu Genealogie von Verantwortung in der Philosophie zu kommen; interessant ist aber,
dass die nicht-philosophischen Praktiken die in der Philosophie übliche Zuschreibung von
Handlungsmacht als Voraussetzung für die Zuschreibung von Verantwortung nicht teilen.
(2)
Genealogie von Verantwortung in der Philosophie. Die Genealogie von »Verantwor-
tung« in den philosophischen Reflexionen verläuft über drei Stationen, in denen »Verantwortung« als Instrument, als Problem und schließlich als Gewissheit erscheint. Anfang des 19.
Jahrhunderts wird der eher marginale Rechtsbegriff in die Debatte um Freiheit und Notwendigkeit eingebracht; exemplarisch ist John Stuart Mills (1859) Gebrauch von Verantwortung
als begriffliche Waffe gegen Sir William Hamilton. »Verantwortlichkeit bedeutet Strafe«, so
Mills wirkmächtige Definition, und daher sei die Diskussion um Willensfreiheit im Kern eine
Frage der Gerechtigkeit, nicht der Metaphysik. Obgleich auch in der deutschen Philosophie
des 19. Jahrhunderts seit Schopenhauers ungekrönter Preisschrift Über die Freiheit des Willens (1839) vielfach verwendet, bleibt »Verantwortung« im »Kampf um die Willensfreiheit«
(Gutberlet) nur der Preis, den es in der Debatte zu erringen gilt, und übernimmt daher keine
eigenständige argumentative Aufgabe. Das konnte sich in der gegenwärtigen, von der analytischen Philosophie dominierten Diskussion um Willensfreiheit nur deshalb ändern, weil sie auf
den in der Moralphilosophie ausgearbeiteten Gehalt von »Verantwortung« zurückgreift. Denn
zum eigenständigen philosophischen Problem avanciert »Verantwortung« erst in der moralischen Problematisierung etwa ab 1880.
Diese moralische Problematisierung ist prägnant in Nietzsches Zur Genealogie der Moral
(1887) zu finden, in der er Verantwortung auf ganz neue Weise verwendet. Nietzsche führt
Verantwortung als Ergebnis einer langen »vorhistorischen Arbeit« (Nietzsche 2010 [1887]:
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II/2, 293) ein, die den Menschen auch für sich selbst berechenbar machen und damit zum Versprechen befähigen sollte. In seiner Figur des »souveränem Individuums« zeigt sich die Ambivalenz von Nietzsches Verantwortlichkeit, denn es ist einerseits ganz das Ergebnis der »socialen Zwangsjacke« Verantwortung und andererseits der souveräne »Herr des freien Willens«. Jeweils lässt sich Verantwortung als eine Interpretation des Faktum des eigenen Unterwerfens verstehen – zunächst des Faktums, sich mit den Qualen des gewaltsam internalisierten Willens zur Macht arrangieren zu müssen; doch sobald diese Interpretationen so stark geworden sind, dass sie die Individuen auch für sich selbst berechenbar und regelmäßig gemacht
haben, wird Verantwortung zu einer Interpretation des Faktums, über die daraus erwachsenden Kräfte frei verfügen zu können.
Nietzsche selbst löst die Ambivalenz dieses verantwortlichen Selbstverhältnisses nicht auf,
aber für die Genealogie der philosophischen Reflexionen ist das auch gar nicht nötig, denn
das ambivalente verantwortliche Selbstverhältnis gibt ein Raster ab, in das sich alle weiteren
moralischen Problematisierungen von »Verantwortung« einordnen lassen. So betrachtet, zeigt
die moralische Problematisierung eine Intensivierung des verantwortlichen Selbstverhältnisses, das immer häufiger auftritt und immer wichtiger wird. Zugleich wird Verantwortung auf
begrifflicher Ebene immer enger mit Handlungsmacht verknüpft.
Wie vertraut uns das inzwischen ist, zeigt die heutige Akzeptanz von H.L.A. Harts seinerzeit
heftig kritisiertem Versuch, den Handlungsbegriff über Verantwortung zu definieren. Sätze
wie »ich tat es« seien Äußerungen, »mit denen wir Verantwortung [liability] gestehen oder
einräumen, Anschuldigungen machen oder Verantwortung [responsibility] zuschreiben« (Hart
1949: 187, meine Übersetzung). Angesichts starker Einwände gegen diesen Vorschlag – insbesondere, dass er Handlungen moralisiere, Verantwortung fälschlicherweise auf Handlungen
statt auf ihre Folgen anwende und ernsthafte Schwierigkeiten mit dem prädikativen Gebrauch
von Handlungsverben habe – zog Hart den Vorschlag zurück, doch heute ist die Idee, Handlungen von Geschehnissen durch Verantwortung zu unterscheiden, weit verbreitet (siehe z.B.
Nida-Rümelin 2011: 29).
Damit sind wir schon beim Gebrauch von Verantwortung als Gewissheit angelangt, um damit andere Probleme zu klären. Das interessanteste Beispiel liefert Robert Brandoms Expressive Vernunft (2000 [1994]), in dem Verantwortung der nicht explizierte Grundbegriff ist, um
die Praktiken des Behauptens und damit der Sprache überhaupt explizit zu machen. Brandom
analysiert Behauptungspraktiken als Tätigkeit, bei der die Behauptende sich auf den behaupteten Satz festlegt und andere dazu autorisiert, den Satz unter Verweise auf sie erneut zu behaupten. Insofern entstehe der Sprechakt des Behauptens in einer »besonderen, sozial insti6
tuierten, autonomen Struktur aus Verantwortung und Autorität« (Brandom 1983: 640, meine
Übersetzung). Expliziert Inferenz als Grundbegriff den propositionalen Gehalt von Begriffen,
expliziert »Leistungs-Verantwortung [task-responsibility]« – ein Begriff von Kurt Baier
(1970) – die Bindungskraft oder Normativität von Begriffen. So wird »Verantwortung« zum
Paradigma von Normativität.
Die dreistufige Genealogie zeigt, wie sich Verantwortung in den philosophischen Reflexionen verändert und ausgebreitet hat. Außerdem liefert sie das Rohmaterial, um zu verstehen,
was sie so attraktiv macht. Denn auf jeder Stufe wird Verantwortung wichtiger für das Selbstverständnis großer Teile der Philosophie und dient zunehmend zur Abwehr rivalisierender
wissenschaftlicher (oder religiöser) Erklärungsansprüche. In der Diskussion um Freiheit und
Notwendigkeit sollen die biologischen und psychologischen Erkenntnisse abgewehrt werden;
»Verantwortung« zeigt hier beispielsweise, dass es »eigentlich« um die Gerechtigkeit von
Strafe geht, wozu diese Disziplinen nichts beizutragen haben (Mill). In der moralischen Problematisierung gelingt die Verteidigung des philosophischen Territoriums entweder kritisch,
indem Verantwortung (wie bei Habermas 2006) der naturwissenschaftlichen Vernunft ihre
eigenen Grenzen aufzeigt, die diese nicht überschreiten kann, weil sie im Aussprechen ihrer
Erkenntnisse sich immer schon in Verantwortungsrelationen wiederfindet. Oder Verantwortung sichert konstruktiv das philosophische Gebiet der Moral, indem diese auf »Verantwortung« gegründet wird (z.B. Darwall 2006; Buddeberg 2011).
Die anspruchsvollste Variante kommt mit Verantwortung als Explikation von Normativität
ins Spiel, ist doch Normativität dem Selbstverständnis eines großen Teils der Philosophie zufolge ein ihr allein vorbehaltenes Forschungsgebiet, das schon deswegen so kostbar ist, weil
es sich so ausgezeichnet gegen die Naturwissenschaften verteidigen lässt. Mit nur wenig polemischer Übertreibung lässt sich in »Verantwortung« als einem Paradigma von Normativität
das Erbe des Wertbegriffs aus dem 19. Jahrhundert sehen, besonders hinsichtlich dessen produktiver Funktion für das Reich des »Geltens« (vgl. dazu Beiser 2009).
Die Genealogie von Verantwortung in den philosophischen Reflexionen liefert mehrere Ergebnisse: Sie liefert erstens eine von den üblichen Ideengeschichten stark unterschiedene Historie von Verantwortung, die demonstriert, welche Arbeit es kostete, zu dem uns heute geläufigen philosophischen Verständnis von Verantwortung zu kommen. Sie kann zweitens erklären, wie es dazu kam, dass in der Philosophie Handlungsmacht zur Vorbedingung von Verantwortung wird, obgleich dies dem faktischen Gebrauch von Verantwortung jenseits der Philosophie zuwiderläuft. Drittens lieferte sie dank der Betrachtung von Philosophie als Feld agonaler Problematisierungen ein Erklärung dafür, dass große Teile der Philosophie in den Bann
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der Verantwortung geraten sind: von ihr bezaubert, weil es ungemein attraktiv ist, sich unter
ihren »Schutz« zu flüchten gegen die Infragestellungen der Philosophie.
Literatur
Baier, Kurt 1970: Responsibility and Action, in: Myles Brand (Hg.): The Nature of Human
Action. Glenview, IL: Scott, Foresman and Company, 100–116.
Beiser, Frederick C. 2009: Normativity in Neo-Kantianism. Its Rise and Fall, in: International
Journal of Philosophical Studies 17. 1, 9–27.
Bevir, Mark 2008: What is Genealogy?, in: Journal of the Philosophy of History 2. 3, 263–
275.
Bevir, Mark 2015: Historicism and Critique, in: Philosophy of the Social Sciences 45. 2, 227–
245.
Brandom, Robert B. 1983: Asserting, in: Noûs 17. 4, 637–650.
Brandom, Robert B. 2000 [1994]: Expressive Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Brandom, Robert B. 2002: Tales of the Mighty Dead. Cambridge, MA: Harvard University
Press.
Buddeberg, Eva 2011: Verantwortung im Diskurs. Berlin/Boston: Walter de Gruyter.
Darwall, Stephen 2006: The Second-Person Standpoint. Morality, Respect, and
Accountability. Cambridge, MA/London: Harvard University Press.
Foucault, Michel 2004 [1975]: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.
Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel 2004 [1996]: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am Collège de
France 1975/76. Übersetzt von Michaela Ott. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen 2006: Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der
Willensfreiheit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54. 5, 669–707.
Hart, H. L. A. 1949: The Ascription of Responsibility and Rights, in: Proceedings of the
Aristotelian Society 49, 171–194.
Nida-Rümelin, Julian 2011: Verantwortung. Stuttgart: Reclam.
Nietzsche, Friedrich 2010 [1887]: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Kritische
Studienausgabe, Band 5. Hg. von Giorgo Colli und Mazzino Montinari.
Berlin/München: dtv/de Gruyter.
Roberts, Moira 1965: Responsibility and Practical Freedom. Cambridge: Cambridge
University Press.
Williams, Bernard 2000 [1993]: Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung
antiker Begriffe der Moral. Berlin: Akademie Verlag.
Williams, Bernard 2003 [2002]: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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