Dimitri Schostakowitsch Das neue Babylon Rekonstruktion der Musik Die hier vorgestellte rekonstruierte Musikfassung zu Das Neue Babylon beruht auf dem im Glinka Museum, Moskau, überlieferten persönlichen Manuskript von Dimitri Schostakowitsch (DSCH), das bisher nicht zugänglich war, sowie auf dem für die Uraufführung gedruckten Orchestermaterial plus Klavierdirektionsstimme (aus dem russischen Institut für Kunstgeschichte, St. Petersburg). Das Manuskript enthält sämtliche Striche und Umstellungen, die Schostakowitsch für die gekürzte Filmfassung vornehmen musste, und stellt damit die einzige authentische Quelle der ursprünglichen Konzeption des Komponisten dar. Ursprünglich als op. 17 von DSCH gezählt, wird es jetzt im Werkverzeichnis als op. 18 geführt. Dieses Manuskript wurde vom Verlag D-S-C-H in Moskau sorgfältig ediert und mit einem Korrekturexemplar aus dem persönlichen Besitz von Dimitri Schostakowitsch (Zentrale Musikbibliothek, St. Petersburg) abgeglichen, wobei offensichtliche Notationsfehler korrigiert wurden. Das neu editierte Notenmaterial wurde vom Dirigenten der Einspielung, Frank Strobel, in Zusammenarbeit mit den Hamburger Sikorski Musikverlagen auf die überlieferte Filmfassung hin synchron eingerichtet; filmische Referenz ist die Uraufführungsfassung vom 18.03.1929, die von Leonid Trauberg in den 70er Jahren als die einzig gültige autorisiert wurde. Gespräch Frank Strobel/Burkhard Egdorf (SWR) B.E.: Welchen Stellenwert nimmt die Filmmusik zum Neuen Babylon im Filmmusikschaffen Dimitri Schostakowitschs ein? F.S.: Eine herausragende Stellung! Es war ein Werk aus der Frühphase – aber ein sehr ausgeprägtes. Ich würde es künstlerisch durchaus in eine Reihe mit der Oper Die Nase stellen. Insgesamt ist es ja so gewesen, dass das Komponieren für den Film immer eine besondere Rolle im Schaffen Schostakowitschs gespielt hat. Hier nun ist das Besondere, dass es sich um einen Stummfilm handelt, wo der Musik eine andere Rolle zukommt als im Tonfilm. Zugleich ist dies der Beginn der Zusammenarbeit von Kosinzew/Trauberg, die ja bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein dauerte. Überdies ist die ironische Überhöhung, das Groteske, hier noch stärker ausgeprägt als zum Beispiel in der einige Jahre vorher entstandenen ersten Sinfonie. B.E.: Der Film Das neue Babylon entstand ja schon zu Beginn der Stalin-Zeit, kurz vor der ersten »Großen Säuberung«. Wie »linientreu « erscheint Ihnen die Komposition? F.S.: Gar nicht linientreu! Deswegen ist die Musik ja auch ins scharfe Kreuzfeuer gerade der Kritik geraten. Volkstümlichkeit, Einfachheit, also der »Proletkult« – für diese sozialistischen ästhetischen Normen, ist die Musik erstens zu komplex und zweitens viel zu doppelbödig, als dass sie diesen Vorgaben entsprechen könnte. Das ständig Antithetische innerhalb der Musik und auch die Kontrapunktik zum Bild wiederspricht der Forderung nach dem Banal-Illustrativen. »Illustrieren« wollte Schostakowitsch gerade nicht! B.E.: Was ist das Besondere an Ihrer CD-Einspielung, die ja die Urtextausgabe verwendet? F.S.: Erstmals wurde die Filmmusik zu Das Neue Babylon auf Grundlage der rekonstruierten Musikpartitur eingespielt. Sie beruht auf dem persönlichen Manuskript von Dimitri Schostakowitsch, das bisher nicht zugänglich war, sowie auf dem für die Uraufführung gedruckten Orchestermaterial plus Klavierdirektionsstimme. Das Manuskript enthält sämtliche Striche und Umstellungen, die Schostakowitsch für die gekürzte Filmfassung vornehmen musste, und stellt damit die einzige authentische Quelle der ursprünglichen Konzeption des Komponisten dar. Dieses Manuskript wurde vom Verlag D-SC-H in Moskau sorgfältig ediert und mit einem Korrekturexemplar aus dem persönlichen Besitz des Komponisten abgeglichen, wobei offensichtliche Notationsfehler korrigiert wurden. Dieses neu editierte Noten-Material wurde von mir, in Zusammenarbeit mit den Hamburger Sikorski Musikverlagen, auf die überlieferte Filmfassung hin synchron eingerichtet. Filmische Referenz ist die Uraufführungsfassung vom 18.03.1929, die von Leonid Trauberg in den 70-er Jahren als die einzig gültige autorisiert wurde. B.E.: Was war das Spannende in der Begegnung mit dem neu gesichteten Material? F.S.: Gerade bei einem bekannten Werk ist es spannend, wenn man erstmals zugängliche Originalmaterialien in die Auseinandersetzung mit dem Werk einbeziehen kann. Und so haben sich mir im Vergleich mit den Fassungen, die ich bisher dirigiert habe, die Intentionen Schostakowitschs geschärft dargestellt. Das betrifft besonders Phrasierungen und Dynamik und natürlich das zusätzliche kompositorische Material, das hier verfügbar wurde. B.E.: Wie überlebensfähig ist diese hier eingespielte Filmfassung? F.S.: Es ist die Fassung, die man zukünftig verwenden sollte, weil sie die Intentionen von Dimitri Schostakowitsch am genauesten wiedergibt. SCHOSTAKOWITSCH UND DER TONFILM Neues Babylon als neues Babylon und Karl Marx auf dem Wege nach London Filmmusiken machten ein Drittel von Schostakowitschs Werk aus; sie ernährten ihn und hielten ihn in Berufsverbotszeiten über Wasser (wie später zu Breschnews Zeiten seine Komponistenkollegen Alfred Schnittke oder Nikolaj Karetnikov). Die Filmproduktion als Massenmedium unterstand nicht dem Kulturministerium; der eifersüchtige Komponistenverbandssekretär Tichon Chrennikov hatte hier nicht dreinzureden. Stalin selbst hatte jenen belehrt: Schostakowitsch kann und soll Filmmusiken schreiben. Seine Kontakte mit dem neuen Medium »Kino« datierten in seine und des Mediums Jugendzeit: Als mittelloser Werkstudent begleitete er improvisierend Stummfilme am Klavier, wie das derzeit nicht nur in Russland gängig war, und musste schließlich sein Honorar vor Gericht einklagen. Eine Idee von »Tonfilm« gab es noch nicht! Sie wird sich eben aus Entwürfen wie Das Neue Babylon im Sinne einer Einheit von Bild, Handlung und Musik Sinne herausbilden, aber doch erst in Stufen entwickeln. Ungeachtet seiner Erfahrungen hatte dieses Medium mit seinen neuartigen Abläufen – literarischen, bildlichen, assoziativen, psychologischen – den jungen Komponisten gefesselt. Mit Filmen von Grigorij Kosinzew, Leonid Trauberg, Juri Tynjanow, Leo Arnstam oder Viktor Sklowski (Futuristen und Theoretiker der »Fomalen Schule« der 20er Jahre) war er vertraut und nahm innerlich an allen seinen Stadien teil. An Entwürfen geregelter musikalischer Szenarien waren mit Schostakowitsch befreundete Kommilitonen aus dem Konservatorium beteiligt wie Georgi RimskiKorsakow, Neffe des Opernkomponisten (der mit seinem »Vierteltonensemble« Schostakowitsch ebenso interessierte): auch im Film gebe es ja Rhythmen, Kontrapunkte, Stimmführungen, Leitmotive und dergleichen Musikalisches, erläuterte noch zu Schostakowitschs Lebzeiten seine Biografin Sofia Chentowa. Statt einen improvisierenden Pianisten oder aber – und das gab es inzwischen! – ein ganzes Lichtspieltheater-Orchester eine passende Hintergrundmusik aus gängigen »Kino-Alben« das Filmerlebnis begleiten zu lassen, nun einen Komponisten mit einer realistischen Musik zu einem bestimmten Film Szene für Szene zu betrauen, diese Idee Adrian Piotrowskis wurde seitens der Leningrader Filiale der staatlichen Filmfirma »Sowkino« bei der Moskauer Zentrale durchgekämpft. Der Ausersehene war jener 22-jährige Dimitri Schostakowitsch, der gerade den ersten Akt seiner experimentellen Gogol-Oper Die Nase vollendet hatte und mit seiner Zweiten Sinfonie (Auftrag zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution) in Spuren von Skrjabins Prometheus eine völlig wiederholungslose »epische« Form erschlossen hatte. Die Zentrale gab grünes Licht, und im Dezember 1928 erhielt Schostakowitsch den Auftrag die Partitur und den Klavierauszug zum Neuen Babylon, im März 1929 abzuliefern, den er schon im Februar 1929 erfüllte. Gleichwohl geriet daraus ein neues Babylon. Schostakowitsch hatte gewissenhaft Filmszene für Filmszene studiert und umgesetzt. Aber Filmemacher kürzen, ändern, stellen um – so musste auch der grippekranke Komponist in Nachtschichten seine Partitur ändern. Und wie das Aufführungsmaterial schließlich fertig war, zur Verteilung an die Lichtspielhäuser, war der Uraufführungstermin auf drei Tage herangerückt – Zeit für ausgedehnte Proben? Auch heute gelänge solches nicht bruchlos, eine noch so sekundengenau komponierte Musik einem laufenden Bildstreifen einzupassen, es sei denn, das Orchester wäre mit dem Film vertraut und auf improvisatorisches Reagieren trainiert. Obschon sich der anwesende Komponist um Vermittlung mühte, klappte bei der Uraufführung und auch weiterhin in Russland nichts. Nach vergeblichen Versuchen der Synchronisation gaben die Kinoorchester-Dirigenten den Versuch auf und kehrten zu ihren »Kino-Alben« aus stimmungstragenden Versatzstücken zurück (die mechanische Verbindung von Bild und Ton im »Soundtrack« wird erst danach zustandkommen) und fanden, der Komponist verstünde nichts von Orchestration. Der Hörer dieser CD kann sich dazu selbst ein Bild machen: Die satirisch zeichnende Solotrompete, die munteren, karikaturistisch leicht verzerrten Zitate, auch die dramatischen »Leerräume«, neue Melodieformen im Zwölftonraum gäben Beispiele. Er erlebt eigentlich in diesem Opus 18 schon all die melodischen und rhythmischen Elemente seiner späteren dramatischen Sprache in einem durchaus »sinfonischen«, dabei wiederholungslosen, erzählenden Zusammenhang, der hier nur realistisch der Filmhandlung folgt. Auch Schostakowitschs Zweite und Dritte Sinfonie sind in diesem experimentellen Sinne wiederholungslos: einmalige Versuche, von denen er wieder zugunsten traditioneller Satzstrukturen abkam, freilich in fröhlicher Skepsis. Man könnte Das Neue Babylon als Schostakowitschs Sinfonie 2a empfinden. Der Hörer erlebt hier aber auch – dem Sujet »Pariser Commune« gemäß – die erste folgenreiche Begegnung Schostakowitschs mit jenem Köln/Pariser utopischen Frühromantiker Jacques Offenbach, dessen Schöne Helena seit dem Zaren Alexander II. in Russland höchst geschätzt war, und dessen Einfluss bis in Schostakowitschs Neunte Sinfonie oder in seine Operette Moskau- Tscherjomuschki nachwirkt. Schostakowitsch schockierte immer seine Mitwelt, indem er »Bach und Offenbach« in einem Atem nannte. Aber für die vielgerühmte satirische Ader seiner Musik war und blieb jener, der nächst Chopin und Verdi die schönsten Melodien seines 19. Jahrhunderts ersann, Anstoß und Vorbild mehr als die Schwermüter Wagner, Skrjabin und selbst Tschaikowsky. Unangepasster, frecher Melodiker wollte Schostakowitsch immer sein, riet dies seinen Schülern, war und blieb es selbst. Ein Jahr wie ein Leben op. 120a beschäftigt sich 1965, nach Jahrzehnten fruchtbarer Filmproduktionen, wieder mit einem Pariser Sujet: Karl Marx auf dem Wege von dort nach England – und auch in seiner Ouvertüre erklingt wieder wie im »Neuen Babylon« die Marseillaise. Zur Orchestersuite bearbeitet hat diese Musik Schostakowitschs bewährter Freund Levon Atowmjan sowie Dutzende weitere Film-, Ballett- und Theaterkompositionen, mit den Sätzen Ouverture – Barrikaden – Intermezzo – Abschied – Szene – Kampf und Finale. Dies ist es, was von jenen »angewandten« Kompositionen Schostakowitschs »bleibt« – die Sujets jener Filme, Ballette und Theaterstücke sind meist auf alberne Weise »linientreu«, doch man musste so überleben – es wäre denn, Schostakowitsch hätte sich in einen Shakespeare-Stoff als Herzensangelegenheit verbissen, und die derzeitige russische Forschung unterscheidet zwischen dem einen und dem anderen sehr genau. Detlef Gojowy