DEPRESSION IM ALTER Prof. Dr. med. Manfred Wolfersdorf Arzt für Psychiatrie – Psychotherapie Arzt für Psychosomatische Medizin Ärztlicher Direktor Bezirkskrankenhaus Bayreuth Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Abteilung Depressionszentrum/ Psychotherapeutische Medizin D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 1 Gliederung • Allgemeines zur Depression heute • Epidemiologische Anmerkungen zur Depression im Alter • Psychopathologie und Anmerkungen zur Psychodynamik bei der Depression im Alter • Therapeutische Aspekte bei der Depression im Alter D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 2 TABELLE : Psychosoziale Faktoren, die wahrscheinlich Einfluss auf die Auslösung und den Verlauf mit Wiedererkrankung, Chronifizierung bzw. Remission ausüben • klinische Aspekte • körperliche Gesundheit versus somatische Komorbidität • kognitive Leistungsfähigkeit versus hirnorganische Einschränkung • soziale Integration versus Isolation und erlebte Vereinsamung • Lebenskonzeption (Daseinsthematische Struktur nach THOMAE 1983, 1996) versus Altern als Defizitmodell, Perspektiveverlust, chronische narzisstische Kränkung • ausreichende materielle Sicherung versus Not / entwertende Armut und Abhängigkeit [in Anlehnung an Thomae 1983, 1996, Kruse 1997, Denihan et al. 2000, Murphy 1983, Post 1962, Wolfersdorf und Heindl 2003] D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 3 TABELLE : Depression heute *aktuelle gesundheitspolitische Aspekte • „The global burden of disease“ (Murray & Lopez 1996): im Jahre 2020 die „unipolare Depression“ weltweit führende Erkrankung (DALY) • World Health Report 2001. Mental Health: New Understanding, New Hope. WHO Genf 2001: Unipolare Depression weltweit führend Ursache der durch Behinderung beeinträchtigten Jahre, bezogen auf die gesamte Lebensspanne (YLLs) • Bundesgesundheitssurvey 1998 (Wittchen & Jacobi 2001): 12-Monatsprävalenz psychischer Störungen in Deutschland 31,1% (Frauen 37,0%, Männer 25,3%), für affektive Störungen [582 Mill. der Bevölkerung] 1,3% bipolare, 8,3 unipolare Depression und 4,5 Dysthymia • Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Gutachten 2000/2001: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Band III. Über-, Unter- und Fehlversorgung: Kap. 13 Depressive Störungen. Abschnitt 13.3.3 Alte depressive Menschen D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 4 Fortsetzung: • „Gesundheitsziele.de“: AG 9 Depression“ der GVG (Gesellschaft für Versicherungswissenschaften und –gestaltung e.V.) gemeinsam mit dem BMG: Verbesserung der Diagnostik und Therapie der Depression bei alten Menschen ein besonderes Ziel • AWMF/ÄZQ Leitlinien unipolare Depression (S3/NV-Leitlinie): alte Depressive • 1. deutsche „Depressionsstation“ (alle Altersgruppen) 1976 vor 30 Jahren im ZfP Weissenau, Ravensburg gegründet • Kompetenznetzwerk Depression/Suizidalität (Hegerl, Möller) seit mehreren Jahren, insbes. Nürnberger Bündnis gegen Depression u. a. • AK Depressionsstationen Deutschland/Schweiz gegründet 1984 (Wolfersdorf 1997) heute ca. 90 Depressionsstationen. (Sprecher M. Wolfersdorf). AK Altersdepressionsstationen, gegründet 2005 (derzeitiger Sprecher M. Schüler, Bayreuth) • „Greenbook“ der EU (2005): Prävention von Depression, Drogenmissbrauch und Suizidmortalität als Ziele • 3. Europäischer Depressionstag 05. Oktober 2006 (erstmals in Deutschland 2004)der European Depression Association (EDA) D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 5 TABELLE 3: Bezeichnung (nach DSM-III-R) Depressive Symptomatik gesamt Major Depression Dysthymie Anpassungsstörung Demenz mit Depression Angstsymptomatik gesamt Psychische Erkrankungen im Alter: ausgewählte Ergebnisse der Berliner Altersstudie (BASE, Helmchen et al. 1996) bei den 70jährigen und älteren Berlinern (1990-93) Häufigkeit Diagnosen % (n) subdiagnostisch (n) %NNB % Symptomebene 9,1 4,8 2,0 0,7 1,0 (48) (23) (11) ( 5) ( 6) 17,8 (85) 5,2 (24) 1,9 ( 8) 2,5 ( 9) 6,0 (17) Organisch bedingte psychische Symptomatik, kognitiv Demenz 13,9 (109) nicht def. 2,8 (20) Psychische Symptomatik durch psychotrope Substanzen gesamt Alkohol 1,1 ( 9) -Medikamente 0,7 ( 3) -- 2,0 ( 9) --- Schizophrenie und paranoide Symptomatik Schizophrenie, 0,2 ( 1) residual, chronisch wahnhafte Störung 0,5 ( 2) gesamt mindestens 1 spezifizierte Diagnose 23,5 (166) D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc -- -- -- -- mindestens eine NNBDiagnose 16,9 (72) Symptome 16,0 (74) 6 ABBILDUNG 1: Genetischerbbiologisch Skizze der Depressionsgenese Soziokulturelles Umfeld Leistungsorientiertheit, „Jugendlichkeitswahn“, Ohnmacht, Entwurzelung, Familientradition Erziehungsstile Intergenerationen Transfer, Modelle religiöse Einengung „psychologische Disposition“ individuelle psycho-sozio-biologische Entwicklung, kognitive Stile, Attributionen Hilflosigkeit Hoffnungslosigkeit Selbstentwertung, Insuffizienz, Schuld, Aggressionshemmung Hyperoralität Verstärkerabhängigkeit körperliche Erkrankung/ Einschränkung (Neurobiochemie: serotonerges Defizit, noradrenerge Störung, Stressreaktion) Aggression Impulsivität Persönlichkeitszüge Persönlichkeit mit erhöhter Vulnerabilität eingeschränkte Adaptation/Bewältigung „final common pathway“/ gemeinsame neurobiologische Endstrecke Bewältigungsstrategien depressive Persönlichkeitszüge/ Typus melancholicus Beziehungsgestaltung Normorientiertheit Überverpflichtung aktuelle psychosoziale Belastungen/ Traumata aus Verpflichtungsbereich Reaktivierung von Verlusterlebnissen chronische Kränkungen. Verlust von Soziotropie und Autonomie Depression D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 7 TABELLE 17: Therapie und Rezidivprophylaxe bei der rezidivierenden depressiven Störung (unipolare Depression) 1) Akutbehandlung Ziel * Symptombesserung * Stabilität * Belastbarkeit * Arbeitsfähigkeit 2) Erhaltungstherapie Ziel * Rückfallprophylaxe 3) Langzeittherapie Ziel * Rückfallprophylaxe * Verbesserung der Lebensqualität * Antidepressiva (mono oder kombiniert) * bei Bedarf dazu (meist) atypisches Neuroleptikum * andere biologische Therapieverfahren * Psychotherapie/ Psychoedukation * Soziotherapie/ Angehörigenarbeit * Antidepressiva * bei Bedarf dazu (meist) atypisches Neuroleptikum * „mood stabilizer“/Phasenprophylaxe: Lithium, Valproat, Lamotrigen, Carbamazepin * Psychotherapie/ Psychoedukation * Soziotherapie/ Angehörigenarbeit * Antidepressiva * „mood stabilizer“/Phasenprophylaxe: Lithium, Valproat, Lamotrigen, Carbamazepin * Psychotherapie (langfristig begleitend) * Soziotherapie/ Angehörigenarbeit * Selbsthilfegruppen D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 8 Tabelle : Psychotherapie in der Depressionsbehandlung • Ziele • hilfreiche Beziehung, Suizidprophylaxe, Therapiemotivation • Lebensbelastungen erkennen • Anteile der Persönlichkeit, die depressionsfördernd sein können, erkennen, Wechselwirkung • Selbstwertgefühl fördern • positive Beziehungserfahrungen machen • auslösende Konflikte erkennen • Wiedererkrankungsgefahr erkennen • Belastungsfaktoren beheben D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 9 Tabelle 41: Organisch bedingte depressive Syndrome bei depressiven Störungen bzw. depressive Anpassungsstörungen bei körperlicher Krankheit im höheren Lebensalter (nach Müller-Spahn 2002) Organisch bedingte depressive Störungen wurden gefunden bei • 30 % - 60 % der Patienten mit Alzheimer-Demenz (major depression bei 10 % - 20 %) • 60 % - 80 % der Patienten mit Vitamin B12- bzw. Folsäuremangel, mit Cushing-Syndrom 5 % - 15 % der Patienten mit Hypothyreose, mit Leber- und Nierenerkrankungen 30 % - 70 % der Patienten mit vaskulären Erkrankungen des Gehirns, bei 30 – 50 % mit Gehirntumoren oder der Parkinsonschen Erkrankung, bei 40 – 50 % mit Multipler Sklerose, bei 30 – 40 % mit Morbus Huntington, bei 30 – 70 % mit Morbus Pick oder Hirninfarkten. Depressive Anpassungsstörungen wurden gefunden bei • 50 – 70 % der Patienten mit Seh- und Hörstörungen • 40 – 70 % mit degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparates • 30 – 50 % mit kardiovaskulären Erkrankungen • 40 – 70 % mit Krebserkrankungen • 30 – 60 % mit chronischen Schmerzsyndromen [Müller-Spahn F. Depressionen im höheren Lebensalter. In: Gaebel W, MüllerSpahn F (Hrsg). Diagnostik und Therapie psychischer Störungen. Kohlhammer, Stuttgart 2002; 448 463, insb. 450] D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 10 TABELLE 15 : Psychopathologische Akzentuierungen der depressiven Symptomatik im höheren Lebensalter • depressive Herabgestimmheit häufig eher im Hintergrund, als Erstarrtheit (muss nachgefragt werden), , Gefühl der Gefühllosigkeit, Freudlosigkeit (oft nicht angesprochen „was soll im Alter noch freuen“, eigenes Defizitmodell des Patienten) • Neigung zu ängstlicher Klagsamkeit (bis hin zur perseverierenden „Jammer-Depression“), aber auch zu apathischem Rückzug • häufig körperbezogene Klagen (mit Überbewertung von vorhandenen Beschwerden bzw. der dadurch bewirkten Einschränkungen i. S. von Hypochondrie), aber auch somatoforme Störungen („larvierte Depression“) • vermehrt episoden-überdauernde Restsymptomatik und Befindlichkeitsstörungen (häufig noch rezidiviert Antrieb und Stimmung oder auch z. B. Schwindel als Symptom oder Klage über Schwindel, Schlafstörungen, Spannungszustände) • häufiger depressiver Wahn bei Ersterkrankungen im höheren Lebensalter (ungeklärt ob zutreffend, häufig dann psychodynamisch ableitbare Schuld- und Verarmungswahninhalte; stimmungskongruente paranoide Idee bzw. akustische Halluzinationen z. B. Stimme des verstorbenen Partners, der ins Grab ruft oder zur Lebensbewältigung hilft) • vermehrt direkt oder indirekt selbstdestruktives Verhalten (z. B. erhöhte Suizidrate im Alter, „stiller Suizid“, „Lebensverweigerung“; Regressionsneigung und Rückzug; unzureichende Compliance) • Vermischung mit dementieller Symptomatik sowie Pseudodemenz (Differentialdiagnostik wichtig!) [Wolfersdorf 1999] D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 11 TABELLE 6 : Therapie mit älteren Depressiven: Grundprinzipien 1. Kombination von antidepressiver Medikation und psychotherapeutisch fundierten Gesprächen / methodischer Psychotherapie 2. Tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie, kognitive Verhaltenstherapie sowie modifizierte Interpersonelle Psychotherapie scheinen bei älteren Depressiven im Einzelund Gruppengespräch im ambulanten und stationären Settings am ehesten geeignet zu sein. 3. Spezielle Gesprächsgruppen für alte Depressive („Altengruppen“, „Seniorengruppen“, „Depressionsgruppen für Ältere“, evtl. in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen z. B. Gymnastik) für altersspezifische Themen (meist im stationären Rahmen) 4. Einbeziehung von Angehörigen (Partner, sofern vorhanden, bei Kindern spezifische Interaktion beachten), psychoedukative Gruppen für Angehörige 5. Soziotherapie, lebenspraktische Trainings, konkrete sozialarbeiterische Hilfen (Versorgung, Wohnen, Finanzen, Altenheim etc.) 6. Organisation von Pflege (ambulant psychiatrische und somatische Pflege) und Hilfen für Alltag 7. Regelmäßige Arzt/Psychiater-Termine (evtl. Organisation von Transport) 8. Sicherstellung der Therapie mit Antidepressiva und auch einer evtl. internistischen Medikation 9. Organisation von Kontakten in der Gemeinde, zu Alteneinrichtungen, Seniorentreffs u. ä. 10. Langfristige Therapieplanung von Anfang an D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 12 Modelle stationärer psychiatrisch-psychotherapeutischer Depressionsbehandlung in Deutschland • Behandlung depressiver Patienten in diagnose-gemischten allgemeinen Akutstationen bzw. Psychotherapiestationen von Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (Typ Fachkrankenhaus, Typ Abteilung) • Stationsübergreifende Depressionsgruppen (z. B. in Abteilungen) • Störungsbezogene Behandlungseinheiten: „Depressionsstationen“ [derzeit ca. 90 DSt in Deutschland, meist am FKH], zunehmend auch „Altersdepressionsstationen“ in der Gerontopsychiatrie und – psychotherapie • Störungsbezogene bzw. gemischte Behandlungseinheiten in (akut-) psychosomatischen Kliniken D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 13 TABELLE 3 : 1-Jahresprävalenz1 depressiver Störungen in der Bundesrepublik Deutschland [nach Wittchen et al. 2000] Diagnose Alter 18 – 35 Jahre F% M% T% Alter 36 – 65 Jahre F% M% T% Gesamt F% M% T% • irgendeine depressive Episode 9,6 6,2 7,9 12,1 5,1 8,5 11,2 5,4 8,3 • einzelne depressive Episoden 3,8 4,3 4,0 5,9 3,0 4,4 5,1 3,4 4,3 • rezidivierende depressive Episoden 5,8 1,9 3,9 6,2 2,1 4,1 6,1 2,0 4,0 • Dysthymia 2,0 1,5 1,8 3,5 2,4 3,0 3,0 2,1 2,5 • bipolare Störung 1,5 1,2 1,3 0,8 0,2 0,5 1,1 0,6 0,8 12,9 8,9 10,9 16,3 7,6 11,9 15,0 8,1 11,5 • gesamt Depression [gewichtige Prävalenzen 12-Monatsquerschnitt Bundes-Gesundheitssurvey 98/99] [nach Wittchen H-U, Müller, N, Pfister, H, Winter, S & Schmidtkunz, B (1999). Affektive, somatoforme und Angststörungen in Deutschland – Erste Ergebnisse des bundesweiten Zusatzsurveys „Psychische Störungen“. Gesundheitswesen, 61, 216 – 222] D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 14 ABBILDUNG : Akutbehandlung der Depression im Alltag heute Psychotherapie * Einzelgespräche, Einzelpsychotherapie * Gruppenpsychotherapie * Selbstsicherheitstraining * Aktivierungsgruppen * Entspannungsverfahren * Gestaltungstherapie Biologische Therapien Soziotherapie Selbsthilfe * Antidepressiva * Lichttherapie * Wachtherapie/ Schlafentzug * Sport und Bewegung, Gymnastik * Elektrokrampftherapie * Angehörigengruppe * Sozialarbeit * Ergotherapie * Belastungstrainings * rehabilitative Behandlungsmaßnahmen * Leistungserprobung und diagnostik Selbsthilfegruppen für Depressive Selbsthilfe Angehörige Basis: empathisch-fürsorgliche therapeutische Beziehung, Aktivierung D:\depri\rohdaten\fortbildung-alter-2006\Wolfersdorf.doc 15