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Björn Wiemer
WS 2004/2005
Vorlesung: Einführung in die Linguistik
Teil III: Semantik – Pragmatik
– Fortsetzung V –
7. Aktionale Bedeutungskomponenten
Unter ‘Aktionalität’ versteht man die lexeminhärente Spezifikation temporaler Eigenschaften
(„Gestalten“); im Englischen wird für gewöhnlich der Begriff ‘aspectuality’ verwendet. Es
wäre zu betonen, dass es sich hierbei nicht um einen grammatischen Aspektunterschied
handelt (wie engl. Simple vs. Progressive Forms, slav. perfektiv vs. imperfektiv, roman.
Imperfekt vs. Aorist/Präteritum), sondern um Eigenschaften, die j e d e s Verbl e x e m (oder
andere prädikatsfähige Einheiten, z.B. Adjektive) über seine semantischen Eigenschaften mit
sich bringt.
Typen aktionaler Spezifikationen
Zum Bereich der Aktionalität gehören vor allem die ‘aktionale Gestalt’, die ‘aktionale
Häufigkeit’ und die ‘Phasenprofilierung’. Die aktionale Gestalt interagiert mit anderen
Merkmalen wie vor allem der Terminativität (≈ engl. ‘telicity’). Unter dieser versteht man, ob
ein Lexem eine inhärentes Ende der bezeichneten Handlung vorgibt oder nicht1.
Die interne Struktur der durch das Verb denotierten Situation (= Denotationsbereich eines
Verblexems) kann bestimmte Stadien aufweisen. Man kann in Vor-, Phasen- und
Nachstadium unterteilen; nur das Phasenstadium gehört zum assertiven Teil der LexemExplikation. Nehmen wir z.B. das Verb schreiben. Wenn es ein Objekt mit spezifischem
referenziellen Status bei sich hat, wird damit die Handlung begrenzt: die Grenze ist erreicht,
sobald dieses Objekt (z.B. ein Brief) fertiggestellt ist. Das Verb schreiben selbst bezieht sich
nur auf die Einzelhandlungen, welche dazu führen, dass der Brief entsteht. Handlungen, die
davor liegen (z.B. Kugelschreibermine wechseln, Papier zurechtlegen, sich bequem
hinsetzen), werden durch die Bedeutung dieses Verbs nicht erfasst; es sind mehr oder minder
pragmatisch klar assoziierbare Handlungen, die aber mit der Handlung des Schreibens als
solcher nichts zu tun haben. Sie betreffen mögliche Vorstadien. Diese bilden de facto
Präsuppositionen zu dem, was durch das Verb asseriert (= eigentlich behauptet) wird. Ein
Nachstadium zur Handlung des Briefschreibens liegt dann vor, sobald der Brief geschrieben
ist: der „Terminus“ (die Endgrenze) der Handlung ist erreicht, und dadurch kann die
Handlung als solche nicht mehr fortgesetzt werden. Grammatisch kommt dies in sog.
Resultativkonstruktionen zum Ausdruck. So ist Der Brief ist geschrieben das Resultativ zu
Hans hat einen Brief geschrieben. Resultativa präsupponieren also die vorausgegangene
terminative Handlung mitsamt dem Zustandswechsel (hier: der Brief entsteht) und stellen
selbst die Implikaturen zu terminativen Handlungen dar.
1
Dabei sollte auf zwei Lesarten des Begriffs ‘terminativ’ hingewiesen werden, deren Vermengung häufig zu
Mißverständnissen führt: ein extensional weiterer Begriff, ‘terminativ1’, ist gleichbedeutend mit dem engl.
‘telic’. Damit sind alle Lexeme gemeint, die eine inhärente Grenze involvieren, darunter auch punkthafte
(konklusive, z.B. versprechen / bemerken, daß..., oder semelfaktive, s. Bsp. 117a, rechte Seite), welcher in
keiner Weise Zustandsveränderungen nach sich ziehen. Diese weite Auffassung von ‘Terminativität’ herrscht in
der angelsächsischen Literatur vor. Daneben sollte man ‘terminativ2’ ausgrenzen. Dieser Begriff umfaßt, aus
extensionaler Sicht, eine Teilmenge von ‘terminativ1’, da er nur auf solche Lexeme zutrifft, die nicht nur eine
Endgrenze implizieren oder asserieren, sondern auch einen mit der Erreichung dieser Grenze einhergehenden
Z u s t a n d s w e c h s e l . Um diese beiden Begriffe auseinanderzuhalten, wäre es ratsam, ‘terminativ’ nur im
engeren Sinne, also als ‘terminativ2’, zu verwenden, ‘telisch’ dagegen im Sinne der angelsächsischen Literatur.
Wo im folgenden ‘telisch’ verwendet wird, ist ‘terminativ2’ miteingeschlossen.
1
Besteht nun das Phasenstadium, d.i. der assertive Teil, aus nur einer Phase, liegt ein
‘Ereignis’ vor (z.B. platzen, öffnen, erblicken); gibt es in diesem Stadium mehrere Phasen,
handelt es sich um einen ‘Verlauf’ (z.B. spielen, laufen, sprechen); gibt es gar keine Phasen,
ist die Situation stativ, d.i. ein ‘Zustand’ (z.B. wissen, ausruhen, lieben).
Vgl. die folgende schematische Darstellung, in dem Striche ein Stadium markieren, ein
Kreis eine Phase:
• Ereignis ---o--• Verlauf ---oooo--• Zustand ----- .
Dies sind zugleich die drei grundlegenden Sachverhaltstypen, auf welche sich prädikativ
verwendbare Lexeme generell beziehen können.
Phasen können nun profiliert werden. (In den folgenden Schemata wird die Profilierung
durch den Akzent über der entsprechenden Phase bzw. dem Stadienabschnitt gekennzeichnet.)
Wird nämlich bei verlaufsmotivierten Lexemen irgendeine Phase profiliert, d.i. zum
assertiven Fokus erhoben, hat dies eine progressive Lesart zur Folge; vgl.
• Sieh, dort auf der Wiese sitzt Hans; Der Nachbar liest gerade einen Krimi zur
Entspannung − schematisch: ---ooóoo---.
Wird aber die Anfangs- oder Endphase profiliert (--óooo---- bzw. --oooó--) oder eine Reihe
von Phasen temporal limitiert, wird der Verlauf zu einem Ereignis uminterpretiert; vgl.
• eine Stunde lang auf der Bank sitzen; ein Weilchen mit dem Nachbarn plappern.
Dies geschieht entweder auf rein satzsemantischer Ebene (d.i. ohne weitere morphologische
Kennzeichnung und nur durch die Kollokation mit entsprechenden Adverbialen; vgl. oben
eine Stunde lang, ein Weilchen), oder durch eine Aspektmarkierung am Verb (bzw. der VP),
z.B. im Slavischen durch den Wechsel von einem imperfektiven zu einem abgeleiteten
perfektiven Verb (bzw. Verbform) oder im Englischen von der Progressive Form zur Simple
Form (During two hours he was sitting on the bench Æ For two hours he sat on the bench).
Bei stativen Prädikaten ist gar keine Profilierung möglich (------). Da ferner Ereignisse im
Phasenstadium nur eine Phase aufweisen, kann bei ihnen auch nur diese Phase profiliert
werden (vgl. Hans schlägt die Tür zu − schematisch s.o.), und es entsteht dadurch der Effekt
der Ganzheitlichkeit, mit der die Situation erfaßt wird. Es kann auch ein phasenloses
Nachstadium insgesamt (gegenüber der Gesamtsituation) fokussiert werden. Das ist bei
Resultativa der Fall (Der Raum ist abgeschlossen, Da Haus ist gebaut; schematisch: --o---¤--),
bei dem das dem fokussierten Nachzustand vorausgehende Ereignis nur präsupponiert ist
(s.o.).
Die drei Sachverhaltstypen ‘Ereignis’, ‘Verlauf’, ‘Zustand’ und der Begriff der ‘Phase’, über
den diese Sachverhaltstypen definiert sind, basieren kognitiv auf der psychologischen Größe
des ‘Psychischen Jetzt’ (PJ). Darunter ist ein kognitiv angelegtes Verarbeitungs-Intervall zu
verstehen, welches erlaubt, bestimmte Komponenten der Erfahrung (Eigenerleben und
Wahrnehmung) als synchron oder aufeinander folgend zu verarbeiten. Das PJ ist gleichsam
ein „Wahrnehmungsfenster”, welches sich in einem kontinuierlichen Takt, der je nach
Erfahrungsbereich bis zu 3-4 Sekunden betragen kann, wiederholt. Das PJ wird damit zu
einem zeitlichen Lokalisator, der losgelöst von der objektiven (d.i. am Sprechzeit-Intervall
orientierten) und kalendarischen Chronologisierung zur Organisation des zeitlich
Wahrgenommenen − darunter eben auch das Verstehen sprachlicher Äußerungen − beiträgt (=
subjektive Chronologie).
Man beachte: im Gegensatz zu logischen Begriffen wie dem der ‘reference time’ u.ä. stellt
das PJ eine kognitiv reale Größe dar.
Die Begriffe ‘Ereignis’, ‘Verlauf’ und ‘Zustand’ lassen sich nun auch über die
chronologische Relation zwischen der aktionalen Situation und dem PJ derart definieren, daß
2
das Phasenstadium eines Ereignisses im PJ Platz findet, während das Phasenstadium eines
Verlaufs länger dauert als ein „Takt” des PJ und somit jeweils nur eine der möglichen Phasen
in diesem Stadium Platz findet. Zustände dagegen sind gar nicht über das PJ erfaßbar, da sie
über keine Phasen verfügen, welche profiliert werden könnten. Vgl. dazu die folgende
graphische Darstellung mit russischen Beispielen (aus V. Lehmann 1994:156):
Damit lässt sich zugleich ‘Episodizität’ bestimmen. Episodisch sind nämlich solche
aktionalen Situationen, wenn eine ihrer Phasen gleichzeitig zum PJ ist; nichtepisodisch sind
Situationen dann, wenn dies nicht zutrifft. Zustände sind damit immer nichtepisodisch,
Ereignisse sind per definitionem episodisch, und Verläufe sind insofern episodisch, als
Binnenphasen profiliert werden. Hinsichtlich der aktionalen Gestalten von Verblexemen
bedeutet dies, dass stative Verben, da sie nur Zustände ausdrücken können, auch nur
nichtepisodisch verwendet werden können. Dynamische Verblexeme lassen sich unterteilen in
solche mit den Werten [Verlauf] (= mehrphasig) und [Ereignis] (= einphasig). Verläufe
können episodisch oder nichtepisodisch verwendet werden. Die Episodizität interagiert eng
mit der aktionalen Häufigkeit.
Die ‘aktionale Häufigkeit’ bezieht sich auf die Zählbarkeit von Situationen (oder von
Situationsteilen) und besitzt die Funktionswerte [einmalig], [wiederholt], [irrelevant]. Der
letzte Wert stellt praktisch den Existenzialquantor, bezogen auf aktionale Situationen, dar (∃
P). Wie erinnerlich lässt sich die Funktion dieses Quantors umschreiben als ‘mindestens
einmal’ (d.i. Σ P ≥ 1). Sie blickt in solchen Äußerungen durch wie Hast du schon einmal ge-xt?.2
Die aktionale Häufigkeit interagiert auf eine komplexe Weise mit der Episodizität, u.a.
deshalb, weil es auch innerhalb eines profilierbaren Binnenintervalls, d.i. bei mehr oder
minder typischen Verläufen, zyklisch wiederkehrende (homogene) Phasen geben kann, die
diese Verläufe überhaupt erst lexikalisch konstituieren. So z.B. bei Bewegungsabläufen, die
2
In der aspektologischen Literatur werden solche Fälle als ‘experiential’ bezeichnet (denn der Sprecher gibt
damit gewissermaßen an, daß die betreffende Situation wenigstens einmal zu seinem Erfahrungsschatz gehört
hat).
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durch Verben wie winken, schlagen, klopfen, schreien oder schreiten, hüpfen bezeichnet
werden. Diese Art von aktionaler Häufigkeit könnte man als ‘(interne) Frequentation’
bezeichnen, um sie von der ‘(externen) Iteration’ von Ereignissen (ganzheitlicher Situationen)
abzugrenzen: bei der Frequentation unterliegen der Zählung die internen Phasen (115), bei der
Iteration hingegen die gesamte Situation (116); iteriert werden können prinzipiell alle
Prädikate außer solchen, die total-statische Sachverhalte bezeichnen (vgl. z.B. *Die Erde
pflegte sich jedes Jahr um die Sonne zu drehen; *Wale pflegten schon immer zu den
Säugetieren zu gehören). Verben, die frequentative Sachverhalte denotieren, werden auch als
‘Multiplikativa’ bezeichnet; sie korrelieren semantisch und derivativ (über bestimmte Suffixe
und/oder Umlaut) mit sog. ‘Semelfaktiva’ (117):
(115a) Hans winkte die ganze Zeit.
(115b) Peter klopfte lange an die Tür.
(115c) vgl. auch wedeln, fächern, klatschen, watscheln u.a.
(116a) Hans rief mehrere Male (jeden Tag, unentwegt ...) bei Maria an.
(116b) Jeden Mittwoch klopfte Karlheinz (genau einmal) an Liselottes Tür.
(117a) russ. mach-a-t’ ‘winken’ (mult.) ⇒ mach-nu-t’ ‘(einmal) winken’ (sem.)
tolk-a-t’ ‘stoßen’ (mult.) ⇒ tolk-nu-t’ ‘(einmal) stoßen’ (sem.)
krič-a-t’ ‘schreien’ (mult.) ⇒ krik-nu-t’ ‘(einmal) schreien’ (sem.)
(117b) vgl. dt. tanzen ⇒ tänzeln
lachen ⇒ lächeln (lexikalisiert).
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