6.1 Aristoteles und Hume

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Herbert Huber
Philosophie und philosophische Ethik
B. Freiheit und Determination [Lehrplan G 8 / 11.2]
6. Zur Philosophie der Freiheit [Lehrplan 11.2.3]
6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
6.1.1 Aristoteles
(1) Freiwillig ist das, was wir ungezwungen tun. Zwang kann als äußerer Zwang auftreten
(etwa eine vorgehaltene Pistole) oder als innerer Zwang (etwa eine krankhafte Wahnvorstellung, über die der Handelnde keine Macht hat). Beim äußeren Zwang muss man aber noch
genauer unterscheiden. Die vorgehaltene Pistole ist sicherlich ein äußerer Zwang. Es wäre
auch ein äußerer Zwang, wenn man mich so festbinden würde, dass mein Finger am Abzug
eines Gewehres liegt, und mittels Elektroden, die in mein Gehirn gepflanzt wurden, meinen
Finger sich krümmen machte, so dass das Gewehr losgeht und einen anderen, den man davor
festgebunden hat, tödlich trifft. Der Unterschied zwischen beiden äußeren Zwangslagen besteht in Folgendem: Bei der vorgehaltenen Pistole muss ich dennoch nicht zwangsläufig das
Verlangte tun. Ich kann es trotz der drohenden Pistole verweigern und meinen Tod in Kauf
nehmen. Die Fesselung und die Elektroden jedoch zwingen mich unweigerlich, automatisch
das auszuführen, wozu meine Motorik veranlasst wird. Das macht folgenden wesentlichen
Unterschied aus:
[a]
Der äußere Zwang lässt im ersten Fall immer noch einen Rest von Freiwilligkeit bestehen: er zwingt nicht die Motorik, sondern er setzt mich als wollende Person unter
Druck, und erst über meinen Willen setze ich selbst dann die Motorik in Gang.
[b]
Im zweiten Fall spielt mein Wille keinerlei Rolle, die Verursachung der Tat läuft an
mir und meinem Willen vorbei, es geschieht im strengen Sinne ohne meinen Willen.
Aristoteles bringt für einen solchen unweigerlichen Zwang das Beispiel eines Mannes,
dessen Hand ein Stärkerer fasst und damit einen Dritten schlägt.1
Weil im Falle [a] mein Wille mit eine Rolle spielt, wenngleich eingeschränkt durch den
Zwang, darum geschieht die Handlung hier nicht im strengen Sinn unfreiwillig, nicht im
strengen Sinn ganz ohne meinen Willen. Aber eben auch nicht mit meinem vollen Willen
(denn normalerweise täte ich das nicht, was ich bei vorgehaltener Pistole tue). Deshalb sind
diese Handlungen, wie Aristoteles sagt, gemischt zwischen freiwillig und unfreiwillig. – Der
Druck auf meinen Willen bei solchen gemischten Handlungen kann allerdings so groß werden, dass es nicht mehr wirklich mein Wille ist, und dann ist die Handlung nicht mehr gemischt, sondern im vollen Sinn unfreiwillig. Dies ist der Fall bei der Folter. Wenn die
Schmerzen so groß werden, dass ich nur noch ihr Aufhören wollen kann, dann bin nicht mehr
ich selbst mit dem ganzen Horizont meines Selbst- und Weltverstehens derjenige, der will
und aus diesem Willen heraus handelt, sondern es ist mein gequälter Leib allein, dessen Interesse am Aufhören der Schmerzen alles andere beiseite drängt. Dann bin ich mir selbst entfremdet, und es reagiert nur noch der animalische Wille in mir, statt dass meine ganze Person
handeln würde.2
1
„wenn etwa einer die Hand eines andern faßt und damit einen Dritten schlägt, so handelt der Schlagende nicht
freiwillig“ (Nikomachische Ethik, Buch V, Kapitel 10 [1135 a]).
2
„Unfreiwillig scheint zu sein, was durch Gewalt oder Unkenntnis geschieht. Gewaltsam ist, was seinen Ursprung außerhalb hat, und zwar so, daß der Handelnde oder Leidende keinen Einfluß darauf nehmen kann,
etwa wenn der Sturm einen irgendwohin führt ... Was aber aus Angst vor größerem Übel geschieht oder wegen
etwas Edlem, etwa wenn ein Tyrann etwas Schändliches befiehlt und dabei Eltern und Kinder in seiner Gewalt
hat und diese gerettet werden können, wenn man es tut, dagegen sterben müssen, wenn man es nicht tut, so
besteht hier ein Zweifel ob man das freiwillig oder unfreiwillig nennen soll. Ähnliches geschieht auch, wenn
man im Sturm etwas von sich wirft. Denn allgemein wirft niemand freiwillig Wertgegenstände weg, dagegen tun
es alle Verständigen, wenn die eigene Rettung und die anderer auf dem Spiele steht. Solche Handlungen sind
1
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6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
Freiwilligkeit
(2) Freiwillig ist etwas aber nicht allein schon deswegen, weil es ungezwungen geschieht.3
Wenn ich auf dem Wandertag ungezwungen jemandem ein eben gekauftes Limo schenke,
weil er Durst, aber sein Geld vergessen hat, die Flasche aber in der Firma falsch abgefüllt
wurde und statt Limo ein ähnlich aussehendes Gift enthält, so dass dem Trinker ganz elend
zumute wird, – dann habe ich ihn doch nicht freiwillig vergiftet. Ich habe ihm die Giftflasche
zwar ungezwungen gegeben, aber auch ohne zu wissen, dass sie Gift enthält. Freiwillig vergiftet hätte ich ihn nur, wenn ich ihm die Flasche ungezwungen und wissend, dass sie Gift
enthält, gegeben hätte. Freiwillig bedeutet also ein Doppeltes: freiwillig ist dasjenige getan,
was ungezwungen und zudem wissentlich getan wird. Also „ein Handeln, das man in seiner
Macht hat“ und „das man mit Wissen verrichtet“. Dies nenne ich dann das willentlich frei
Getane (vgl. oben Kapitel 2.2, Fußnote 2 und Absatz „zu Text 11“).
Verantwortliches Subjekt
(3) Verantwortlich ist, wer freiwillig handelt. Wer handelt freiwillig? Aristoteles sagt: „Wenn
aber der Ursprung des Handelns bei einem selbst steht, dann steht ebenso bei einem das
Handeln oder Nichthandeln“4. Was heißt es, dass der Ursprung des Handelns bei einem
selbst steht? Ist meine Motorik, die mittels der Elektroden in meinem Gehirn in Gang gesetzt
wird, nicht meine eigene Motorik? Ist es nicht mein Gehirn, von dem die Bewegung ausgeht,
und liegt nicht eben dadurch der Ursprung der Tat bei mir selbst? Offenbar meinen wir, wenn
von Uns-Selbst reden, nicht irgendwelche Teile oder Glieder von uns. Wir können nicht sagen „Sein Jähzorn hat den anderen geschlagen“, wir können nur sagen „Sein Jähzorn war
der Grund dafür, dass er den anderen geschlagen hat“. Das Subjekt des Handelns ist nicht
irgendetwas von dem, was zu uns gehört, sondern Subjekt ist dasjenige, dem das gehört, was
zu uns gehört – unser jeweiliges Ich-Selbst (vgl. oben Kapitel 4.1, Abschnitt „4.1.1 Zum Begriff der Person“). Als
verantwortliche Subjekte entscheiden wir über unser Tun und Lassen. Das Subjekt hat den
ganzen Raum dessen, was uns zum Handeln anreizen und veranlassen kann, vor sich und
trifft im Lichte dieser Sicht seine Entscheidung, was in einer gegebenen Lage zu tun (oder zu
unterlassen) sei. Diese Entscheidung muss nicht immer klar bewusst vor sich gehen. Dass es
unsere Entscheidung war, wird dann daraus deutlich, dass wir uns genötigt fühlen, zu dem,
was wir getan haben, schließlich zu stehen, die Verantwortung dafür zu übernehmen (auch
wenn wir es vielleicht nicht zugeben würden).
Zusatz: Der heilige Thomas von Aquin fragt5, ob unwissentliches Handeln automatisch auch ein unwillentlialso gemischt“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch III, Kapitel 1 [1110 a]. Text nach Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch. Übersetzt von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich: Artemis/Winkler 2001, 91).
3
„Geschieht ein Unrecht freiwillig, so wird es getadelt, und ist es eine ungerechte Tat. Es wird also etwas ungerecht sein, aber noch keine ungerechte Tat, wenn die Freiwilligkeit nicht dabei ist. Freiwillig nenne ich, wie
schon früher gesagt, ein Handeln, das man in seiner Macht hat, das man mit Wissen verrichtet“ (Aristoteles:
Nikomachische Ethik, Buch V, Kapitel 10 [1135 a], Text nach Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch. Übersetzt von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich: Artemis/Winkler 2001, 217f).
4
Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch III, Kapitel 1 (1110 a), Text nach Aristoteles: Die Nikomachische
Ethik. Griechisch-deutsch. Übersetzt von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel (Düsseldorf/Zürich: Artemis/Winkler 2001), 91f
5
Summa theologiae I-II, quaestio 6, articulus 8
2
Philosophie und philosophische Ethik
6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
ches Handeln ist. Das bedeutet: Ist, wer aus Unwissenheit handelt, für das, was er tut, gar nicht verantwortlich?
Thomas antwortet: Nicht in jedem Fall. Denn Unwissenheit kann zum Handeln in unterschiedlicher Beziehung
stehen:
[a]
Das Nichtwissen kann dem Willensakt vorausgehen (antecedenter), so dass man das, was man dann
tut, keinesfalls getan hätte, wenn man gewusst hätte, was man tut. So z. B. wenn ein Jäger auf den Hirschen schießt, den er ins Gebüsch laufen sieht, und nicht weiß, dass darin der Jägerbursche steckt, den
er deswegen – aber eben unabsichtlich und unwillentlich – trifft. In solchen Fällen ist der Schütze nicht
verantwortlich.
[b]
Nichtwissen kann aber auch die Folge eines Willensakts sein (consequenter). In diesem Fall ist das
Nichtwissen selber beabsichtigt und gewollt. Man tut etwas, von dem man schon ahnt, dass es nicht
recht ist, aber man sieht gar nicht genauer hin, weil man das Unrechte gern tun und deshalb über sein
Unrecht im Unklaren bleiben möchte. In diesem Fall ist der Handelnde für sein Nichtwissen verantwortlich und deshalb auch für das, was er aus beabsichtigtem Nichtwissen heraus getan hat.
[c]
Nichtwissen kann den Willensakt aber auch nur begleiten (concomitanter). In diesem Fall spielt das
Wissen keine Rolle für den Handlungsentschluss. Man tut das, was man tut, zwar ohne zu wissen, was
man tut, man hätte es aber auch getan, wenn man es gewusst hätte. So z. B. wenn der Jäger aus [a] im
Gebüsch nicht seinen Burschen, sondern seinen Feind trifft, den er schon lange töten wollte. Im Fall [a]
schießt der Jäger aufgrund seines Nichtwissens, denn hätte er gewusst, dass der Bursche im Gebüsch
steckt, hätte er nicht geschossen. Hier jetzt im Fall von [c] schießt er nicht aufgrund des Nichtwissens,
denn er hätte auch geschossen (sogar noch lieber), wenn er gewusst hätte, dass sein Feind im Gebüsch
steckt. Das Nichtwissen hat keinen bestimmenden Einfluss auf sein Schießen.
Ursachen und Gründe
(4) Der Raum dessen, was zum Handeln veranlassen kann, umfasst naturgesetzliche Kausalitäten und vernünftige Gründe. Wenn wir uns den Magen verdorben haben und uns in Folge
dessen übergeben müssen, dann ist dies eine naturgesetzliche Kausalität, die ohne unser Zutun ganz von alleine wirkt. Wenn wir beim Fußballspielen den Ball nicht selber aufs Tor
schießen, sondern erst nochmals abgeben, weil ein anderer aussichtsreicher steht, dann handelt es sich dabei um keine naturgesetzliche Kausalität: es könnte nämlich auch anders geschehen, mit den Kausalitäten meiner Motorik wäre genauso gut vereinbar, dass dennoch ich
selber schieße. Nicht die Naturgesetze veranlassen mich, das zu tun, was ich tue (den Ball
abzugeben), sondern fußballerische vernünftige Gründe. Um den Unterschied zwischen Ursachen und Gründen besser zu verstehen, sehen wir uns folgenden Text an:
[a] „Und mich dünkte, es sei ihm so gegangen, als wenn jemand zuerst sagte: „Sokrates tut alles, was er tut, mit
Vernunft“, dann aber, wenn er sich daran machte, die Gründe anzuführen von jeglichem, was ich tue, dann
sagen wollte, ... daß ich jetzt deswegen hier säße, weil mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht und ... die
Sehnen ... so eingerichtet, daß sie angezogen und nachgelassen werden können ..., ... und aus diesem Grunde
säße ich jetzt hier mit gebogenen Knieen ..., ...
[b] ganz vernachlässigend, die wahren Ursachen anzuführen, daß nämlich, weil es den Athenern besser gefallen
hat, mich zu verdammen, deshalb es auch mir besser geschienen hat, hier sitzen zu bleiben, und gerechter geschienen hat, hier zu bleiben und die Strafe geduldig auf mich zu nehmen, welche sie angeordnet haben. Denn,
beim Hunde, schon lange, glaube ich wenigstens, wären diese Sehnen und Knochen in Megara oder bei den
Boiotiern, durch die Vorstellung des Besseren in Bewegung gesetzt, hätte ich es nicht für gerechter und schöner
gehalten, lieber als daß ich fliehen und davongehen sollte, dem Staate die Strafe zu büßen, die er anordnet.
[c] Also dergleichen Ursachen zu nennen ist gar zu wunderlich; wenn aber einer sagte, daß, ohne dergleichen
zu haben, Sehnen und Knochen und was ich sonst habe, ich nicht imstande sein würde, das auszuführen, was
mir gefällt, der würde richtig reden. Daß ich aber deshalb täte, was ich tue, ... das wäre doch gar eine große
und breite Leichtfertigkeit der Rede“ 6
6
Platon: Phaidon 98 c – 99 b (Übersetzung von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher [1768-1834], Hervorhebung von mir)
3
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6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
[ad a:] Dass Sokrates im Gefängnis sitzt, hat seine Ursache darin, dass sein Gehirn, seine
Nerven, Muskeln und Sehnen so gearbeitet haben, dass er jetzt hier sitzt, statt dass er dorthin
laufen würde.
Zusatz: Der Zusammenhang zwischen Text 4-a und 4-b ist der eines einzigen Satzes: [a] Mich dünkt als sei es
jemandem so gegangen, dass er sagte „Sokrates sitzt wegen seiner angewinkelten Beine im Gefängnis“, [b]
dabei hat dieser jemand aber ganz die wahren Ursachen vernachlässigt.
[ad b:] Dass Sokrates im Gefängnis sitzt, hat aber seinen Grund nicht in den motorischen
Kausalitäten, sondern in der Überzeugung des Sokrates, er müsse das Urteil des athenischen
Gerichtes anerkennen und sich ihm beugen. Im Griechischen heißen Ursache und Grund beide dasselbe, nämlich aitia. Im Lateinischen und Deutschen machen wir aber den eben besprochenen Unterschied: causa oder Ursache gegeüber ratio oder Grund. Weil dem Sokrates
nur das eine Wort aitia für beides zur Verfügung steht, unterscheidet er zwischen den Ursachen (causae) und den wahren Ursachen (rationes).
[ad c:] Freilich: Gründe können noch so gut sein, wenn wir sie nicht in Ursachenreihen umset-
zen, bewirken sie nichts. Ich kann einen guten Grund haben, mich beim meinem Lehrer zu
entschuldigen. Solange ich mich nicht entschließe, diesem Grund dadurch Rechnung zu tragen, dass ich meine motorischen Kausalitäten in Gang setze und zu dem Lehrer hingehe, und
dort dann meine Sprechwerkzeuge mittels der sie bewegenden physiologischen Kausalitäten
tätig werden lasse – solange ich dies nicht auf der Ebene der Ursachen, der naturgesetzlichen
Kausalitäten bewerkstellige, bleibt der gute Grund wirkungslos, tot. Deshalb sagt Sokrates
ausdrücklich, dass die Gründe zwar das Wichtigste beim Verstehen und bei der Beurteilung
einer Handlung sind (wer den Grund nicht sieht, weshalb Max den Ball zu Fritz statt zu Sepp
gespielt hat, der versteht den Pass nicht, auch wenn er die den Ballflug verursachenden Muskelbewegungen von Max beim Schießen noch so genau studiert); dass aber ohne die Ursachen es gar nicht zum Handeln kommt, und diese deshalb das Wichtigste sind bei der Durchführung dessen, wozu wir Gründe haben.
(5) Ursachen und Gründe wirken auf ganz unterschiedliche Weise: Ursachen wirken naturkausal, Gründe durch vernünftige Einsicht.
[a]
Wenn mich ein Stromstoß durchfährt und in meinen Muskeln ein Zittern erzeugt,
dann ist dies eine Wirkung, die durch physische Naturkausalität hervorgerufen wird,
ohne dass meine Einsicht dabei irgendeine Rolle spielen würde. Wenn ich mich meinen unmittelbaren Antrieben überlasse und einfach – ohne weiteres Nachdenken – das
tue, wozu mich der gerade stärkste Antrieb bestimmt, dann überlasse ich mich einer
psychischen Naturkausalität. Was in mir an Kräften wirkt, das balanciert sich in einem physischen und psychischen Kräfteparallelogramm aus und bringt dadurch die
entsprechende Wirkung hervor. Das ist das Wirken von Ursachen.
[b]
Wenn nach einer anstrengenden Wanderung mein stärkster Antrieb darin besteht, zu
trinken, ich aber gleichzeitig einsehe, dass ich erst meinen Kindern zu trinken geben
muss, ehe ich selber trinke, dann habe ich hier den stärksten physischen und psychischen Antrieb durch eine vernünftige Einsicht7 – durch eine Einsicht, die nicht nur
7
Vernünftige Einsicht vollzieht sich im Raum der Psyche, ist aber selber unabhängig von der individuellen
psychischen Beschaffenheit. So kann jemand psychisch von Zigaretten abhängig sein, und dennoch einsehen,
dass es einen vernünftigen Grund gibt, nicht zu rauchen (den Schutz der Gesundheit), und wir brauchen keinen
Blick in Hitlers Psyche zu werfen, um einzusehen, dass das, was er getan hat, schlecht war. Vgl. hierzu Philippa
Foot: Die Natur des Guten (Oxford 2001, dt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004), S. 40f und 148ff.
4
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6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
sich an dem orientiert, was ich will, sondern an dem, was ich als Bedürfnis anderer
vernehme und zu achten bereit bin – zwar nicht schwächer gemacht (denn das Durstgefühl vergeht deswegen nicht), aber ich habe ihn vom ersten Rang gestoßen hinsichtlich dessen, was mich zum Handeln veranlasst. Ich habe meine Handlung nicht von
der stärksten Ursache verursachen lassen, sondern von einem vernünftigen Grund. –
Vernünftige Gründe können instrumentell vernünftig sein, wie wenn ich den Ball abspiele, obwohl ich zu gerne selber schießen würde, weil ich eben einsehe, dass der andere vorteilhafter steht. Vernünftige Gründe können aber auch sittlich vernünftig sein,
wie wenn ich einsehe, dass ich einen instrumentell vernünftigen Grund (wie den, zu
trinken, wenn ich dürste) zurücksetzen muss zugunsten eines sittlichen Grundes (wie
den, dass die Kinder Vorrang haben).
Wille, Gründe, Einsicht
(6) Der Wille bestimmt aus Gründen und Einsichten darüber, welche Kausalreihen in Gang
gesetzt werden. Hätte ich mich im obigen Beispiel von meinem Durst allein bestimmen lassen, so wäre dies ein Willensakt gewesen, der zwar einem Grund und einer Einsicht folgt:
Dursthaben ist ja ein Grund (jedoch keine notwendig und automatisch wirkende Ursache), zu
trinken, und das Durstempfinden ist die Einsicht in den Sachverhalt, dass ein Grund besteht,
zu trinken. Aber der Grund wäre ein schlechter gewesen, weil nicht alle in der gegebenen
Situation bedeutsamen Gründe in ihrem rechten Rang zur Geltung gekommen wären: der
Durst von Kindern muss dem von Erwachsenen normalerweise vorgehen, weil Kinder den
Trank nötiger haben und die Liebe zu ihnen gebietet, ihnen in solchen Fällen den Vorzug zu
geben. Dies wissen wir aus dem „Vernehmen“ dessen, wie es ist, ein Kind zu sein (also aus
Vernunft). Dem schlechten Grund entspricht eine verkürzende, die wahre Rangordnung der
auf dem Spiele stehenden Interessen verfälschende Einsicht. Gründe sind dadurch charakterisiert, dass sie nicht automatisch zum Handeln veranlassen, sondern erst, wenn wir ihnen zustimmen. Unsere Zustimmung zur Handlungswirksamkeit von Gründen sollen wir abhängig
machen davon, dass wir in unserem Handeln auch den anderen an der jeweiligen Lebenslage
beteiligten und von ihr betroffenen Interessenträgern gerecht zu werden versuchen. Gründe
bewirken unser Handeln dann entsprechend der Maßgabe dieser, durch vernünftige Einsicht
gewonnenen, Gerechtigkeitsbeurteilung.
Freiheit, Zurechenbarkeit, Verantwortung
(7) Nur insoweit wir Freiheit als die Fähigkeit zu dieser Suspendierung des unmittelbaren
Wirkens der Triebkräfte zugunsten sittlich vernünftiger Beurteilung der Lage tatsächlich besitzen, kann das, was wir dann tun, uns auch zugerechnet und können wir dafür verantwortlich gemacht werden. Nur unter der Voraussetzung von Freiheit sind wir dergestalt Subjekte
des Handelns, dass der Ursprung des Handelns bei uns steht, und sind wir dann auch der Träger von Zurechenbarkeit und Verantwortung. Was ist Freiheit und wie ist Freiheit möglich?
6.1.2 David Hume
(8) David Hume ist der Ansicht, dass Gründe (Beweggründe, Motive) genauso sicher und
zwangsläufig wirken wie Ursachen.8 So sicher wie eine Billardkugel die andere, an die sie
8
So zeigt sich, dass die Verbindung zwischen Beweggrund und Handeln ebenso regelmäßig und gleichförmig ist
wie die zwischen Ursache und Wirkung in allen Gebieten der Natur (David Hume: Untersuchung in Betreff des
menschlichen Verstandes [1748 und 1758], Abteilung VIII, Abschnitt I [Text nach David Hume: Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes, dt. Berlin: Heimann 1869, 81]). – David Hume lebte von 17115
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6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
stößt, zu einer Bewegung weg von der ersteren veranlasst, ebenso sicher bringe einen Menschen das stärkste Motiv, das in ihm wirkt, dazu, auf eine bestimmte Weise zu handeln. Damit scheint die Handlung eine notwendige Folge des Beweggrunds. Freiheit bedeutet aber
doch, dass man einem Beweggrund nicht notwendigerweise folgen muss, sondern wählen
kann, welchen Beweggrund man akzeptiert und ob man dem gewählten dann tatsächlich auch
folgen will. Freiheit scheint auf diese Weise verschwunden: „Es gibt für Hume keine sittliche
Wahlfreiheit. Unser Handeln ist vielmehr, und hier macht sich jetzt wieder das neuzeitliche
mechanistische Weltbild geltend, in den unausweichlichen Kausalzusammenhang eingespannt. Der Mensch empfängt äußere Reize, sie wirken auf seine Affekte, und dann erfolgt die
entsprechende Reaktion“9.
Notwendigkeit ist keine Freiheit, aber Willkür auch nicht
(9) Nun dürfte man kaum bestreiten können, dass „sittliche Wahlfreiheit“ in ähnlicher Weise
abhängig ist von ihren Beweggründen, wie naturkausale Wirkungen von ihren Ursachen.
Wenn jemand keinen Grund hat, zu handeln, wie sollte es dann zu einer Tat kommen? Wenn
jemand beispielsweise ganz planlos mit den Händen durch die Luft rudert, ohne dass es dafür
irgendeinen sichtbaren Grund gibt, dann wird er wenigstens den Grund haben, dass ihn plötzlich Langeweile oder eine zweckfreie Lust am planlosen Bewegen der Arme überfallen hat.
Plötzlich erschien ihm das verlockend und deswegen hat er es getan. Nehmen wir an, jemand
hätte keinerlei derartige Empfindungen, ihm erschiene gar nichts verlockend zu tun – wie
sollte ein solcher Mensch handeln? Vielleicht setzt eine physiologische Ursache seine Arme
in Zuckungen, aber das ist dann keine Handlung, sondern ein naturkausales Geschehen ohne
Willensbeteiligung. Wer ohne Grund etwas tut, der handelt nicht, sondern verhält sich willkürlich, er macht sich zum Automaten der neuronalen Aktivitäten, die in ihm außerhalb der
Kontrolle durch seinen Willen am Werk sind. Hat jemand aber einen Grund zu handeln, dann
veranlasst dieser Grund das tatsächliche Handeln, außer es steht ein anderer Grund dagegen
(das kann auch ein unbewusster Grund sein). Aber ganz ohne Grund kann keine Handlung
geschehen, denn der Grund ist schließlich der Quell der Handlung; wo aber kein Quell ist, da
kann nichts entspringen, auch keine Handlung. Und etwas anderes zu tun, als der stärkste
Grund verlangt, ist unmöglich, weil es jenseits des stärksten Grundes keinen weiteren Grund
gibt, der ihn aushebeln könnte. Es bliebe nur, dem stärksten Grund aus reiner Willkür, grundlos, nicht zu folgen. Wie sollte jemand aber etwas tun, wozu er überhaupt keinen Grund hat?
Damit gelangen wir zu einem paradoxen Ergebnis: Ohne Grund etwas zu tun, ist nicht Handeln, sondern Willkür. Mit Grund etwas zu tun, ist Zwang und Notwendigkeit. In beiden
Fällen handelt es sich jedoch nicht um Freiheit. Gibt es also gar keine Freiheit?
Freiheit ist die Unabhängigkeit, nur von seinen eigenen Gründen abhängig zu sein
(10) Vielleicht ist das Paradox aber nur entstanden, weil wir Freiheit falsch verstanden haben.
Was bedeutet es und was meinen wir, wenn wir von Freiheit sprechen? Im gewöhnlichen
Sprachgebrauch reden wir von Freiheit so, als verstünden wir darunter die völlige Unabhängigkeit (Kant sagte: Spontaneität) einer Handlung von vorhergehenden Weltzuständen. So
radikal verstanden, bedeutet frei zu handeln dann, zu handeln ohne von einer Ursache oder
auch nur einem Grund zu dieser Handlung bestimmt worden zu sein. Genau so aber verstehen
wir Freiheit falsch, denn diese totale Unabhängigkeit ergibt keinen Sinn: Ohne vorhergehende Ursachen in unserer Motorik kann auch eine durch Freiheit beschlossene Handbewegung
1776).
9
Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie, Band II (8Freiburg im Breisgau: Herder 1969), S. 239
6
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6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
an den gegebenen Weltzustand nicht anschließen (wenn jemand z. B. seine Hand bewegen
will, diese aber amputiert ist, dann fehlt hier ein Kausalnexus, dessen der Wille sich bedienen
könnte, um sich in der Welt zu realisieren); und ohne Gründe haben wir keine Veranlassung
überhaupt etwas zu tun. Freiheit ist etwas anderes als Unabhängigkeit von Ursachen und
Gründen. Freiheit ist nicht da gegeben, wo wir keine Gründe haben, sondern wo wir unseren
eigenen Gründen folgen können.10 So besteht Freiheit durchaus darin, dass mich der letzte,
am tiefsten sitzende Grund unweigerlich („notwendig“ würde Hume sagen) bestimmt. Aber
er bestimmt mich nicht als von außen aufgezwungener, sondern er bildet mein Sein, ich bin
gerade dies, dass dieser Grund mich bestimmt. Freisein heißt nicht, dass ich Gründe beliebig wähle oder ablehne, sondern Freisein bedeutet, nach Gründen zu handeln, mit denen ich im Einklang stehe. So haben beispielsweise Eltern normalerweise nicht die Freiheit,
ihre Kinder nicht zu lieben. Das bloße Dasein von Kindern zwingt die Eltern zur Liebe. Eltern stehen nicht vor den Kindern und entscheiden dann, entweder sie zu lieben, oder sie
nicht zu lieben, sondern diese Liebe drängt sich ihnen mit Notwendigkeit auf. Eltern fühlen
sich in diesem Überfallensein von der Liebe zu den Kindern aber nicht unfrei. Im Gegenteil,
wer keinen Drang zur Liebe zu seinen Kindern verspüren, sondern ihnen neutral gegenüberstehen würde, der wäre nicht frei, sondern im Bann, in der Gefangenschaft eines seelischen
Defektes.
(11) Wo ich wähle, da bin ich nicht frei im Sinne totaler Unabhängigkeit, sondern da bin ich
von meinen eigenen (tiefsten) Gründen bestimmt und abhängig.11 Wo ich von fremden
Gründen bestimmt bin, da bin ich mir selbst entfremdet; und wo ich von gar keinen
Gründen bestimmt bin, da bin ich nicht frei, sondern orientierungslos. Wie aber komme
ich zu meinen Gründen? Das ist nicht auszumachen, sie sind in mir, sie bilden die Grundlage
meines Charakters. Was wir im Laufe des Lebens an neuen Orientierungen (Gründen) erwerben, für uns auswählen, uns angewöhnen oder antrainieren, – alle Auswahl zwischen Gründen, wie wir sie praktizieren, wenn wir entscheiden, welche Gründe wir gelten lassen und
welche nicht, beruht ihrerseits schon auf Gründen, die dieser Wahl schon zugrunde liegen
und in ihr nicht erst gewählt werden. Verfügten wir nicht schon über Gründe (Überzeugungen, Präferenzen), dann könnten wir uns gar nicht entscheiden, denn wir hätten keine orientierenden Maßstäbe, die uns veranlassen würden, die eine Alternative der anderen vorzuziehen. Deshalb kann es keine allererste Wahl von Gründen geben. Wo jemand noch überhaupt
gar keine Gründe hat, kann er nicht zwischen Gründen wählen, weil er nicht wüsste, welche
er vorziehen soll: er hätte keinen Grund, etwas vorzuziehen. Freiheit ist weder die Unabhängigkeit von Gründen, noch die beliebige (willkürliche) Wahl zwischen möglichen obersten
bzw. tiefsten Gründe. Wir kämen nie durch freie Wahl zu den obersten, tiefsten, letzten
Gründen, die uns leiten, wenn wir nicht ohne Wahl schon welche hätten. Aus völliger
Grundlosigkeit heraus könnten wir nie zu Gründen kommen. Wie wir aber zu unseren obersten Gründen kommen, darüber kann es allenfalls metaphysische Mutmaßungen geben, wie
10
„Die Substanz des Geistes ist die Freiheit, d. h. das Nichtabhängigseyn von einem Anderen, das Sichaufsichselbstbeziehen“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], § 382 Zusatz, Jubiläumsausgabe, Bd. X, 31). „Ebendies nun: nicht für etwas Fremdes dazusein,
sondern für sich selbst und um seiner selbst willen – eben dies nennt die Menschensprache „Freiheit“ (Joseph
Pieper: Erkenntnis und Freiheit. In: Weistum, Dichtung, Sakrament. Aufsätze und Notizen, München: Kösel
1954, 27-40, hier 31).
11
„Eigentliche Freiheit im Sinne der ursprünglichsten Selbstbestimmung ist nur dort, wo eine Wahl nicht mehr
möglich und nicht mehr nötig ist“ (Martin Heidegger: [Vorlesung über:] Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, Frankfurt am Main 1988 [Gesamtausgabe, II. Abteilung, Bd. 42], 268). – Vgl. dazu Herbert Huber: Philosophische Exempel. Ausgewählte und erklärte Texte (Donauwörth: Auer 2003), 143-149; und Herbert
Huber: Philosophieren – wie und wozu? (Donauwörth: Auer 2006), §§ 235-243.
7
Philosophie und philosophische Ethik
6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
diejenige Kants über die Erbsünde (unten 6.3, Abschnitt „Das Paradox der grundlegendsten Orientierungen“). Darüber
später Näheres (unten Kapitel 6.4, Absatz „zweite Bemerkung zu Text 12“).
Freiheit und Naturkausalität
(12) Wenn Freiheit die Unabhängigkeit von fremden und die mit sich einstimmige Abhängigkeit von den eigenen Gründen bedeutet, dann bleibt die Frage, wie es möglich ist, dass die
naturgesetzlich in der Welt wirkenden Kausalitäten von Gründen beeinflusst werden. Wenn
ein Weltzustand B nach Naturgesetzen auf den Weltzustand A folgt, wie kann es sein, dass
durch Gründe, die aus unserer Einsicht kommen und nicht aus der Naturkausalität fließen, die
Naturkausalität dazu gebracht wird, statt dessen Weltzustand C heraufzuführen? Wie kann es
geschehen, dass in meinem Gehirn „2 und 2 = 4“ neuronal codiert ist und auch „2 und 2 =
5“, und dass, obgleich das Letztere der stärkere Impuls ist (ich bin gerade vom Falschen überzeugt), dann zwischen diesen naturkausalen neuronalen Aktivitäten doch nicht Naturkausalität, sondern meine arithmetische Einsicht entscheidet – bis dahin, dass sie mein Gehirn
veranlasst die entsprechenden Hand- und Armbewegungen auszuführen, um das richtige Ergebnis auf das Extemporalepapier zu schreiben (vgl. oben Kapitel 5.1, Absatz „zu Text 5“)? Das Wirken
der automatisch wirkenden Kausalitäten (etwa unserer Motorik) lässt offenbar einen Raum
dafür, dass wir ihr Zusammenspiel durch unseren Willen im Lichte von Gründen gestalten, –
Gründe die wir vernünftiger Einsicht verdanken und als maßgebend anerkennen. Dies ist nur
möglich, wenn die naturgesetzlich automatisch wirkende Kausalität keinen sich abgeschlossenen Raum bildet, sondern offen ist für den Raum der Gründe. Freiheit als Bestimmtsein
durch die eigenen Gründe ist nur möglich, wenn die Naturkausalität, die ja auch die freien
Wesen hervorbringt, selber nicht nur Naturkausalität ist, sondern selber immer schon
auch aus Gründen wirkt (wenn diese Gründe in der außermenschlichen Natur auch unbewusst sein mögen). Das sich ein solcher Begriff von Natur als möglich denken lässt, haben
wir im fünften Kapitel gesehen: Die determinierten physikalisch chemischen Naturkausalitäten werden zu Gestaltungen verflochten (zu den konkreten Wesen, wie Granit und Eiche,
Tiger und Rose), die sich nicht eindeutig determiniert aus den elementaren Kausalitäten ableiten lassen, sondern aus ihnen eher so wie nach Zwecken gebildet entstehen. Ja, die elementaren physikalischen Kausalitäten selbst sind nicht determiniert durch physikalische Ursachen, denn „vor“ dem Urknall gibt es keinen Weltzustand und kein Gesetz, aus denen man
sie deterministisch ableiten könnte. Sie „klinken ein“ auf unberechenbare und unvorhersehbare Weise. – Ich werde im Folgenden zuerst eine kleine Andeutung bei David Hume verfolgen, die einen über die reine Naturkausalität hinausgehenden Begriff von Natur und ihrem
Wirken als möglich erscheinen lässt (die beiden folgenden Absätze „zu Text 8“). Sodann werde ich an einem einfachen Beispiel zu zeigen versuchen, dass und wie Naturkausalität Gründe impliziert,
ja auf Gründen beruht (die beiden Absätze „zu Text 9“ und „zu Text 10“).
(13) Wir wissen nicht, wodurch – durch welche Kraft oder Macht – in der Naturkausalität die
Ursache mit der Wirkung und bei Freiheit und Wille der Beweggrund mit der Handlung verbunden werden. Welche Kraft zwingt die Flamme dazu, Hitze zu verbreiten? Das wissen wir
nicht. Wir erleben nur, dass die Flamme immer von Hitze begleitet ist. Ebenso wenig wissen
wir, welche Kraft beim Gewahrwerden einer Gefahr unsere Motorik in Gang setzt, so dass
wir weglaufen. Zwar sagen wir, diese Kraft sei unser Wille, aber, genau genommen, wissen
wir nicht, wie der Wille es macht, Gehirnströme und über diese Nerven und Muskeln in Bewegung zu setzen. Wir erleben nur, dass wir immer, wenn unsere Angst groß genug ist, davonlaufen.12 Wir gehen davon aus, dass es eine zwingende Kraft ist, die zwischen Ursache
12
Hume 1869 (Fußnote 2), Abteilung VII, Abschnitt I, S. 59-62
8
Philosophie und philosophische Ethik
6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
und Wirkung im Naturgeschehen eine notwendige Verknüpfung herstellt. Da, wo wir selbst
die wirkende Kraft sind, in unserem Handeln und Wollen nämlich, fühlen wir, dass wir auch
anders könnten. Es gibt keine eigene Kraft, die unsere Angst und das Davonlaufen verbinden
würde, sondern nur den regelmäßigen Übergang vom einen zum anderen (wir erleben ein
postquam, kein propter). Hume ist der Ansicht, dass Menschen nun folgendermaßen denken:
Es gibt keine (im Wie? ihres Wirkens erlebte) zwingende Kraft, die unsere Beweggründe in
Handlungen überführt; es muss aber eine zwingende Kraft geben, die in der Natur Ursachen
in Wirkungen überführt. So entsteht der Anschein, als wäre unser Handeln ganz anders strukturiert als das Naturgeschehen, nämlich ohne Notwendigkeit. Tatsächlich aber – so Hume –
haben wir bei Handlungen „dieselbe Notwendigkeit, wie bei allen andern Ursachen anzuerkennen“.13 Da wir aber vom inneren Mechanismus, der Ursache und Wirkung verknüpft, so
wenig ein wirkliches Wissen besitzen, wie vom Mechanismus unseres Willens, könnten wir
mit demselben Recht, statt die der Natur unterstellte (in Wahrheit aber unbekannte) Notwendigkeit der Verbindung von Ursache und Wirkung auch auf die Verbindung von Beweggrund
und Handlung zu übertragen, vielmehr umgekehrt die als willensartig und nicht-notwendig
erlebte Verbindung zwischen Beweggrund und Handeln auf die naturkausalen Verbindungen zwischen Ursache und Wirkung übertragen – wie das Arthur Schopenhauer getan hat.
(14) Die eigene Willenserfahrung zeigt uns sicherlich nicht, wie der Wille es macht, etwa
Körperbewegungen auszuführen. In diesem Punkt hat Hume ganz recht. Aber wir fühlen
doch auch nicht bloß eine Aufeinanderfolge von Angst und Davonlaufen, sondern eine Art
Nötigung: Wir können oft nicht anders als davonzulaufen. Und doch ist dies kein physisch
kausales Nichtkönnen: Es ist nicht so, dass die Angst unsere Gelenke unbrauchbar machen
würde. Auch wenn wir „vor Angst wie gelähmt“ sind, ist motorisch alles bei uns in Ordnung,
wir sind nicht tatsächlich gelähmt, sondern nur wie gelähmt. Es ist kein Nichtkönnen aus Ursachen, sondern ein Nichtkönnen aus Gründen. Wir erfassen blitzartig, dass wir einen
Grund haben, davonzulaufen – unsere Rettung aus Gefahr. Aber dieser Grund kann auch überlagert sein von einem anderen Grund. So haben wir einen Grund, trotzdem standzuhalten,
weil wir etwa unser Kind in der Gefahr nicht alleine lassen wollen. Freilich können Gründe
auch von physischen Kausalitäten überlagert sein. Angststarre z. B. kann ein psychologisch
so starker Reflex sein, dass er nicht mehr wie ein Grund wirkt, sondern wie ein zwangsweise
sich exekutierender Automatismus.
Zusatz: Allerdings stehen auch hinter Reflexen letztlich Gründe und nicht nur physikalische und chemische
Kausalitäten. Hinter den Reflexen stehen die Daseinszwecke, die ein Wesen ausmachen und die auf den physischen Kausalitäten, diese zu spezifischen Mustern verflechtend, supervenieren, ohne dass sie aus den rein physikalischen und chemischen Kausalitäten zwingend abgeleitet werden könnten. Hierbei handelt es sich um un13
Folgendes ist der Zusammenhang des Zitats: „Wenn man die Wirksamkeit der Körper und die Hervorbringung der Wirkungen aus ihren Ursachen untersucht, so findet sich, dass all unser Denken uns in der Kenntnis
dieser Beziehung nicht weiter bringt, als zu der einfachen Bemerkung, dass gewisse Dinge beständig mit einander verbunden sind, und dass die Seele durch einen gewohnten Gedankengang bei dem Eintritt des einen zum
Glauben des andern bestimmt wird. Obgleich dies Ergebnis menschlicher Unwissenheit sich aus der genauesten
Untersuchung der Frage ergibt, so neigen die Menschen doch sehr zu der Meinung, dass sie tiefer in die Kräfte
der Natur eindringen und etwas gleich einer notwendigen Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung erkennen. Wenden sie sich dann zur Betrachtung der Vorgänge in ihrer eigenen Seele und fühlen sie da keine solche
Verknüpfung zwischen Beweggrund und Handlung, so entnehmen sie daraus, dass ein Unterschied in den Wirkungen besteht, je nachdem sie aus körperlicher Kraft oder aus Gedanken und Einsicht entspringen. Ist man
aber einmal überzeugt, dass man nichts weiter von der Ursächlichkeit jeder Art kennt, als bloß die beständige
Verbindung von Dingen und folgeweise die Folgerung von dem Einen auf das Andere in der Seele, und findet
man, dass diese zwei Umstände allgemein bei Handlungen Statt haben, so wird man geneigter sein, auch hier
dieselbe Notwendigkeit, wie bei allen andern Ursachen anzuerkennen (David Hume: Untersuchung in Betreff
des menschlichen Verstandes [1748 und 1758], dt. Berlin: Heimann 1869, 84f [Abteilung VIII, Abschnitt I]).
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6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
bewusste Gründe: unser Herz schlägt aus dem Grund, dass wir leben können; die Pflanze betreibt Photosynthese
aus dem gleichen Grund; und die Elementarteilchenbewegung des Granits behält ihre Organisationsform stabil
bei aus dem Grund, dass der Granit ein Granit bleibe. Warum sollten wir nicht annehmen, dass unbewusste
Gründe überall zur Wirkweise der Natur gehören? Der Mensch ist ja seinerseits ein Produkt des Naturwirkens,
ein Produkt allerdings, in welchem die Natur im Unterschied dazu, wie es bei den außermenschlichen Wesen
der Fall ist, über ihre Wirkweise zu Bewusstsein kommt. Und da zeigt sich, dass das kausale Geschehen von
Ursachen und Wirkungen immer auch eingebettet ist in einen Raum von Gründen.
(15) Die Schwerkraft oder das Granitsein ist nach Thomas konstituiert durch etwas, das einem Willensakt ähnlich ist.14 Schwerkraft muss nicht sein. Dass sie dennoch stabil über
Jahrmillionen hin besteht, bedeutet, dass für lange Zeit die alternativen Möglichkeiten ausgeschlossen werden und an der einen (der Schwerkraft) festgehalten wird. Auswahl von Alternativen und stabiles Festhalten am Ausgewählten – das kennzeichnet den Willen. In der
Schwerkraft ist also etwas am Werk, das analog zu unserem Willen wirkt, wenn es die
schweren Dinge auch nicht so erleben, wie wir unseren Willen erleben (insoweit die Dinge
gar nichts erleben). Für den Granit oder für ein Stück Eisen habe ich schon argumentiert, dass
er bei aller inneren Instabilität auf der Ebene der basalen Realität einer willensanalog wirkenden Organisationsaktivität bedarf, um auf Dauer Granit zu bleiben (vgl. oben Kapitel 5.2).
(16) Folgende Reflexion ist von Wittgenstein überliefert: „Denk, jemand sähe ein Pendel an
und dächte dabei: So läßt Gott es gehen. Hat denn Gott nicht die Freiheit, auch einmal in
Übereinstimmung mit einer Rechnung zu handeln?“15 Dieses Beispiel vom Pendel zeigt Folgendes: Eine regelmäßige Pendelbewegung ist nur eine der möglichen Alternativen. Die andere wäre regelloses Verhalten, reiner Zufall. Offensichtlich geht Wittgenstein nun davon
aus, dass der Eintritt einer der Alternativen und das stabile Festhalten an ihr einer entscheidungsfällenden und intentional an der beabsichtigten Bewegungsform festhaltenden – und
deswegen willensanalog wirkenden – Instanz bedarf. Er nennt sie Gott, womit hier aber nur
die genannte Entscheidungsinstanz, nicht aber eine Gottheit gemeint ist, die sonst noch irgendwelche Eigenschaften im Sinne einer religiösen Konfession besäße.
Zusatz: Auch wer keine willensanalog wirkende Entscheidungsinstanz positiv annehmen, sondern, agnostisch,
die Frage nach dem Agens, das zwischen Alternativen auswählt und den Geschehensverlauf in stabilen Organisationsformen hält, offen lassen will, kann und muss mindestens einen Raum für einen über die naturgesetzlich
wirkenden Kausalitäten hinausgehenden Einfluss auf das Weltgeschehen annehmen. Denn offensichtlich besteht
ein Gestaltungsspielraum dafür, dass die fundamentalen Naturprinzipien (der Physik, der Chemie) auf unvorhersehbare und nicht vorhersagbare Weise kombiniert werden – wodurch auch immer das geschieht, es ist in den
naturgesetzlich wirkenden Kausalitäten nicht festgelegt: „Die These, die ich hier vortrage, besagt, daß die Biosphäre keine prognostizierbare Klasse von Objekten oder Erscheinungen enthält, sondern selber ein besonderes
Ereignis darstellt, das gewiß mit den fundamentalen Prinzipien vereinbar, aus ihnen aber nicht ableitbar ist,
das seinem Wesen nach also unvorhersehbar ist“16. Offenkundig stehen die elementaren Naturgesetzlichkeiten
14
Agens autem non movet nisi ex intentione finis. Si enim agens non esset determinatum ad aliquem effectum,
non magis ageret hoc quam illud: ad hoc ergo quod determinatum effectum producat, necesse est quod determinetur ad aliquid certum, quod habet rationem finis. Haec autem determinatio, sicut in rationali natura fit per
rationalem appetitum, qui dicitur voluntas; ita in aliis fit per inclinationem naturalem, quae dicitur appetitus
naturalis. Zu deutsch: „Ein Tätiges aber bewegt nicht, außer aus der Ausrichtung auf ein Ziel heraus. Wenn
nämlich das Wirkende nicht auf eine bestimmte Wirkung eingegrenzt wäre, würde es nicht eher dies als jenes
wirken. Dazu, dass es die ihm abgegrenzte Wirkung hervorbringt, ist notwendig, dass es auf etwas bestimmtes
eingegrenzt wird, das die Funktion des Zieles hat. Diese Eingrenzung aber, wie sie in der vernünftigen Natur
durch das vernünftige Streben geschieht, das Wille heißt, so geschieht sie bei den übrigen Wesen durch eine
natürliche Neigung, die natürliches Streben genannt wird“ (Thomas von Aquin: Summa theologiae I-II 1,2).
15
Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß (hgg. von Georg Henrik von
Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977) 143 (aus dem Jahre 1948)
16
Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie (1970, dt.
3
München: Piper 1971), 57 (Hervorhebung im Original).
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6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
vom Anfang des Universums an innerhalb eines Raumes von Möglichkeiten, die aus ihnen nicht ableitbar sind
(wohl aber nachträglich sich als mit ihnen kompatibel zeigen), sondern ein Höchstmaß an unvorhersehbarer
Variabilität und Steigerungsfähigkeit realisieren: die elementaren Gesetzmäßigkeiten wirken in den Raum emergenter Bildungsmöglichkeiten von Wesen hinein, und bringen – „gestaltend, umgestaltend“17 – vom ersten
Atom an Welten anorganischer, lebendiger, empfindender und schließlich vernünftiger Wesen hervor, die allesamt aus den elementaren Gegebenheiten nicht prognostizierbar sind, also Bestimmungsgrößen unterliegen, die
über naturgesetzlich und automatisch wirkende Ursachen weit hinausgehen. Der Bereich der Ursachen ist umfangen vom Raum der möglichen Daseinszwecke, welche die Gründe dafür abgeben, dass das Kausalgeschehen
in spezifische Organisationsmuster hineingebildet und darin stabil gehalten wird.
Zusammenfassung
(17) David Hume ist der Ansicht, dass Gründe und Motive das menschliche Handeln genauso zwangsläufig bestimmen, wie äußere Ursachen den Naturlauf. So sicher wie eine Billardkugel die andere, an die sie stößt, zu einer Bewegung weg von der ersteren veranlasst, ebenso
sicher bringt einen Menschen das stärkste Motiv, das in ihm wirkt, dazu, auf eine bestimmte
Weise zu handeln. Damit ist die Handlung eine notwendige Folge des Beweggrunds.
Notwendigkeit
(18) Allerdings besteht diese notwendige Verbindung zwischen Ursache und Wirkung oder
Motiv und Handlung für Hume nicht in den Dingen selbst. Kausalität herrscht nicht in der
Abfolge der Dinge, sondern in der Abfolge unserer Vorstellungen von den Dingen. Wir
wissen gar nicht, was es heißen sollte, dass die Flamme die Hitze bewirkt, denn wir stecken
nicht in der Flamme und wissen daher nicht, ob die Flamme tatsächlich einer Notwendigkeit
unterliegt, d. h. gar nicht anders kann, als Hitze zu erzeugen, oder ob die Hitze zwar immer
mit der Flamme auftritt, dazu aber nicht gezwungen ist: „Wir wissen, dass tatsächlich die
Hitze ein beständiger Begleiter der Flamme ist; was aber das Bindende zwischen beiden ist,
dafür haben wir nur das weite Feld der Vermutungen“18. Eine solche Vermutung könnte auch
sein, dass die Flamme wohl auch anders könnte, und es nur nicht tut. In diesem Fall gäbe es
für die Flamme offensichtlich einen Verhaltensspielraum, ähnlich dem, den wir in der Freiheit erleben: Wir können „todsicher“ sein, dass Max zum Leberkäse auch heute wieder Senf
nehmen wird, weil er das „schon immer getan hat“. Dennoch kann es sein, dass er heute Ketchup nehmen wird. Dies ist deswegen möglich, weil weder im Leberkäse noch in Max eine
notwendige Verbindung zum Senf gegeben ist, sondern diese nur in unserer Vorstellung, in
unserer Erwartung, besteht.
(19) Wir können also genau genommen nicht sagen, dass die Flamme notwendigerweise die
Hitze bewirkt, sondern nur, dass wir die Vorstellung einer Flamme notwendigerweise immer
mit der Vorstellung und Erwartung von Hitze verbinden. Diese Notwendigkeit – die Notwendigkeit unserer Erwartungen, nicht die eines inneren Zwanges in den Dingen selbst –
schreibt Hume nun auch der Abfolge von Motiv und Handlung beim Menschen zu. Es ist
17
Johann Wolfgang Goethe: Parabase (Hamburger Ausgabe [München: dtv 1998], Band I, S. 358). – Parabasis
bedeutet im Griechischen das Aus- und Fortschreiten. Es bezeichnet aber auch eine Unterbrechung der Komödie, wobei der Chor außerhalb des Spielfortgangs im Namen des Dichters zum Publikum spricht und die Göttern
preist (Adolf Kaegi: Griechisch-deutsches Schulwörterbuch [13Leipzig: Teubner 1911], S. 685). Goethes Gedicht
beschreibt einerseits die Weise des Fortschreitens der Natur in ihrem Entwicklungsgang, andererseits ist der
Poet selbst ein Naturprodukt, und so tritt er als Mitspieler (wie der Chor), indem er das Gesetz des Werdens
erkennt und ausspricht, im Namen der über alles waltenden Natur auf, über ihr Wirken zu uns sprechend, singt
damit aber gleichzeitig auch einen Hymnus an die höhere Macht der Natur selbst.
18
David Hume: Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes (1748 und 1758, dt. Berlin: Hiemann 1869), 59 (Abteilung VII, Abschnitt I)
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6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
aber auch hier nur eine Notwendigkeit unserer – des Betrachters – Erwartung, nicht eines
inneren Zwanges in der Sache selbst: Wir erwarten notwendig, dass auf ein bestimmtes Motiv
eine bestimmte Handlung folgt, wir erleben aber nicht, wie das Motiv die Handlung erzwingt,
notwendig macht. Wir erleben, dass die Handlung auf das Motiv folgt, nicht aber, dass (und
warum) das so sein müsse. Wir wissen über eine notwendige Verbindung zwischen Motiv
und Handlung ebenso wenig wie über die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung in der
äußeren Natur.19
Freiheit?
(20) Da wir von einer Notwendigkeit im Sinne eines inneren Zwanges weder in den Dingen
noch in der Abfolge von Motiv und Handlung wissen, können wir eine solche objektive Notwendigkeit weder sicher behaupten noch sicher leugnen. Nur die subjektive Notwendigkeit
zwischen Ursache und Wirkung sowie zwischen Motiv und Handlung ist uns gegeben. Darüber, ob die Regelmäßigkeit in den Dingen und Handlungen selbst aus innerem Zwang oder
ohne solchen – sozusagen aus „Freiheit“ – zustande kommt, vermögen wir bestenfalls Vermutungen anzustellen.
(21) Wenn wir aber letztlich nicht wissen, ob zwanghafte Notwendigkeit oder unsere freie
Entscheidung das Motiv und die darauf folgende Handlung verbinden, dann sind sowohl die
Theorie der ursächlichen Bestimmtheit (Determinismus) des menschlichen Handelns, wie
auch die Theorie der Freiheit mögliche Optionen, zwischen denen allerdings nicht durch empirische Forschung entschieden werden kann – weil die Erfahrung von Kausalität immer nur
„Regelmäßigkeit“ zeigt, nicht jedoch, wodurch diese zustande kommt, ob durch Notwendigkeit oder Freiheit. Nicht äußere Empirie, sondern unsere Selbsterfahrung als menschliche
Wesen entscheidet über Freiheit und Notwendigkeit:
[a]
Dass wir Freiheit für uns in Anspruch nehmen, rührt vielmehr daher, dass wir uns für
das, was wir tun, verantwortlich fühlen müssen: manches von dem, was wir getan haben „lässt uns keine Ruhe“, auch wenn wir die Selbstvorwürfe noch so gerne los wären.
[b]
Dass wir einem Steinschlag oder einem Löwen keine Freiheit zuschreiben, sondern
kausale Notwendigkeit, rührt umgekehrt daher, dass wir weder Steine noch Löwen als
verantwortlich erleben für das, was sie anrichten.
Absolute Freiheit?
(22) Der Begriff der absoluten Freiheit unterstellt eine völlige Unabhängigkeit des Willens
von Motiven, Umständen, der Lebensgeschichte, dem Charakter und der individuellen Prägung der Person. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird Freiheit häufig in dieser Bedeutung
gebraucht. Dieser radikale Indeterminismus zerstört aber die Freiheit, indem er sie zur Beliebigkeit degradiert. „Frei“ zu handeln bedeutet hier zu handeln, ohne von Ursachen und
Gründen zu der Handlung bestimmt worden zu sein. Etwas zu tun, ohne einen Grund dafür zu
haben, ist aber nicht freies Handeln, sondern wirre Willkür. Echte Freiheit meint dagegen
das Vermögen, sich gemäß vernünftiger Gründe bewusst für ein Ziel zu entscheiden, verschiedene Mittel auf Tauglichkeit und Anständigkeit hin zu beurteilen und dann zu handeln.
19
„in ihrer eigenen Seele ... fühlen sie ... keine solche [d. h. keine notwendige] Verknüpfung zwischen Beweggrund
und Handlung“ (Hume: Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes VIII, I, 85)
12
Philosophie und philosophische Ethik
6.1 Freiheit oder kausale Determination – Aristoteles versus Hume
Ursachen und Gründe
(23) Naturgesetzliche Kausalitäten oder Ursachen wirken ohne willentliches Zutun, wie z.
B. der Kniereflex. Ursachen wirken unabänderlich, aber nicht prinzipiell notwendig und
zwangsläufig: Der Kniereflex kann ausbleiben, man kann eine Tablette gegen die Übelkeit
nehmen. Menschliches Handeln, das ausschließlich von physischer Naturkausalität hervorgerufen wird, ohne Nachdenken oder Einsicht, ist instinktiv nach dem Prinzip des stärksten Impulses, wie der Fluchtreflex bei Tieren. Während Ursachen automatisch wirken, tun Gründe
dies nur, wenn sie erkannt und anerkannt werden. Nur wenn Fritz erkennt, dass er Grund hat,
den Ball an Max abzugeben, weil dieser besser zum Tor steht, und wenn er diesen Grund für
sich als maßgeblich anerkennt, kann der Grund wirksam werden. Gründe erschließen sich
vernünftiger Einsicht. Entweder instrumenteller Vernunft, wenn es darum geht, wie ein
bestimmter Zweck erreicht werden soll, etwa die Ballabgabe an den besser postierten Torschützen. Oder sittlicher Vernunft, wenn es darum geht, was gut bzw. human ist, wie wenn
wir verstehen, dass zugunsten anderer eigene Antriebe zurückgesetzt werden sollen, etwa
wenn der Durst der Kinder dem unsrigen vorgeht.
Abhängigkeit von den eigenen Gründen
(24) Freiheit ist nicht da gegeben, wo wir keine Gründe haben, sondern wo wir unseren eigenen Gründen folgen können. Freisein heißt nicht, dass man Gründe beliebig wählt oder
ablehnt, sondern Freisein bedeutet, nach Gründen zu handeln, mit denen man im Einklang
steht. So werden Eltern normalerweise in Problemsituationen ihre Kinder nicht einfach sich
selbst überlassen, und zwar deshalb, weil es für Eltern keine „Freiheit“ wäre, ihren Kindern
wie Fremden neutral gegenüberzustehen. Eltern, die das tun, sind überfordert, unreif, verwirrt
oder krank. Wer als Vater oder Mutter keinen Drang zur Liebe zu seinen Kindern verspürte,
der wäre nicht frei, sondern im Bann eines seelischen Defektes.
Ursprung der eigenen Gründe
(25) Wie kommt man zu seinen eigenen Gründen? Sie liegen in unserem Charakter und wir
finden sie dadurch, dass wir erleben und verstehen, was es heißt, ein gutes, humanes, Leben
zu führen (vgl. auch das Informationsforum in Kap. 6.4). Solche Gründe sind insbesondere
die sittlichen Gebote, die allen anderen möglichen Gründen eine strikte Grenze setzen:
Nichts, was die Menschenwürde verletzt, kann ein legitimer Handlungsgrund sein.
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