Johannes Brahms: Klavierquintett F-moll op. 34 Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte Heiko Dierschke (2014) Friedrich-Hecker-Gymnasium Radolfzell A) Gattungsgeschichte Streichquartett (2 Violinen, Viola, Cello) seit der Wiener Klassik (ca. 1780-1820) wichtigste Gattung der Kammermusik; Prototyp des klassischen Streichquartetts, begründet von Haydn: - Gleichberechtigung und Ausgewogenheit aller vier Stimmen; - Synthese aus homophonem (Oberstimme + einfache Begleitst.) und polyphonem Stil (“obligates Accompagnement”); - vier Sätze: 1. schnell (Sonatenhauptsatzform SHF mit zwei kontrastierenden Themen) – 2. langsam (Liedform oder Variationssatz) – 3. tänzerisches Menuett/Scherzo (ABA) – 4. schnell (Rondo, Variationssatz oder SHF); - motivisch-thematische Arbeit, v. a. im Durchführungsteil der SHF Weiterentwicklung durch Mozart, Beethoven (Klassik), Schubert, Mendelssohn-Bartholdy, Schumann u. a. (Romantik) Aus gefälliger Hausmusik für Streicher ist eine sehr anspruchsvolle Kunstform für professionelle Quartette geworden. Klaviersonate: Fast alle bedeutenden Komponisten der Zeit treten auch als Pianisten auf, schreiben also Werke, um sich selbst dem Publikum zu präsentieren – als Meister der Komposition und als Virtuosen auf ihrem Instrument. Besonders Beethoven macht neben dem Streichquartett die Klaviersonate zum Experimentierfeld für kompositorische Neuerungen; die motivischthematische Arbeit der Durchführung wird immer mehr auf alle Abschnitte des Sonatensatzes ausgedehnt. Die Entwicklung des Klavierbaus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglicht eine fast orchestrale Klangentfaltung. Das Klavierquintett, also die Kombination von Streichquartett und Klavier, ist in der Klassik als eigenständige Gattung noch nicht üblich. Möglich ist aber: - Klavier als unterstützendes Generalbass-Instrument zu einem kleinen Streicher-Ensemble (Überbleibsel aus dem Barock) - Bearbeitung von Klavierkonzerten (z. B. von Mozart), in denen das Orchester von einem Streichquartett ersetzt wird Vorläufer für Brahms‘ op. 34 sind Schuberts Forellenquintett (1828) und Schumanns Klavierquintett (1842). Bald nach Brahms komponieren viele Musiker der Spätromantik u. Moderne für diese Besetzung, z. B. Dvořak, Fauré, Schostakowitsch. B) Brahms‘ Biografie und Entstehungsgeschichte des Klavierquintetts geboren 1833; Jugend in Hamburg: studiert gründlich Klavier und komponiert Klavier- und Kammermusik. 1853 (mit 20 Jahren) besucht er Robert und Clara Schumann in Düsseldorf – eine tiefe Freundschaft und enge musikalische Zusammenarbeit beginnt. R. Schumanns Artikel „Neue Bahnen“ macht Brahms über Nacht berühmt, er kann sofort einige Klavierwerke und Kunstlieder veröffentlichen. Unter dem enormen Erwartungsdruck der Öffentlichkeit vernichtet Brahms jedoch alle Werke, die seinem hohen Qualitätsanspruch nicht genügen. Die unerreichbaren Maßstäbe, die Beethoven mit seinen Streichquartetten und Sinfonien gesetzt hat, lassen Brahms noch lange vor diesen Gattungen zurückschrecken. Ebenfalls um 1853 schließt Brahms Freundschaft mit weiteren jungen Musikern, mit denen er sich noch viele Jahre über seine Kompositionen berät, besonders Joseph Joachim (Geiger) und Albert Dietrich (Dirigent). Nach Krankheit und Tod Robert Schumanns wird die 14 Jahre ältere Clara Schumann (Pianistin) privat und musikalisch Brahms‘ wichtigste Vertraute. Eine dauerhafte bezahlte Anstellung kann Brahms lange nicht finden. Zwischenzeitlich ist er Chorleiter in Detmold und macht Konzertreisen als Pianist. Nebenher studiert er intensiv die Werke seiner klassischen Vorbilder und damals unbekannter Renaissance- und Barockkomponisten, was Eingang in seine Kompositionen findet. Nach dem vergeblichen Versuch, eine Dirigentenstelle in seiner Heimatstadt Hamburg zu bekommen, reist er 1862 erstmals nach Wien, einem der weltweit wichtigsten Musikzentren. Dort knüpft er schnell neue Kontakte, arbeitet wieder als Chordirigent, ab 1864 aber bis zu seinem Lebensende 1897 als freischaffender Komponist (und Pianist). Wien wird sein fester Wohnsitz, er reist aber weiterhin viel. Großen kommerziellen Erfolg hat er erstmals mit dem Deutschen Requiem (1868). In den folgenden Jahrzehnten ist er aus dem Musikleben der deutschsprachigen Länder nicht mehr wegzudenken und schafft in allen Gattungen (außer der Oper) Meisterwerke. Er ist in der Spätromantik der wichtigste Vertreter der absoluten Musik – die von der „Neudeutschen Schule“ abgelehnt wird (Liszt: Sinfonische Dichtung / Programmmusik; Wagner: Oper / Musikdrama). Brahms beteiligt sich nicht öffentlich an dieser Auseinandersetzung; Wortführer seiner Richtung ist der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick, der den Begriff von Musik als „tönend bewegte Formen“ prägt. In die Zeit von Brahms‘ ersten Aufenthalten in Wien fällt auch die Arbeit an seinem Klavierquintett F-moll op. 34: 1862: Streichquintett – Clara Schumann und Joseph Joachim sind beeindruckt, bei Proben werden aber klangliche Mängel der Streicherbesetzung deutlich. 1863/64: Umarbeitung in eine Sonate für 2 Klaviere; erste Aufführungen (öffentlich und im privaten Rahmen): Clara Schumann und Hermann Levi bemängeln aber nun die Beschränkung auf den Klavierklang „Das Werk ist so wundervoll großartig, durchweg interessant in seinen geistvollsten Kombinationen, meisterhaft in jeder Hinsicht, aber – es ist keine Sonate, sondern ein Werk, dessen Gedanken Du wie aus einem Füllhorn über das ganze Orchester ausstreuen könntest – müßtest! Eine Menge der schönsten Gedanken gehen auf dem Klavier verloren, nur erkennbar für den Musiker, für das Publikum ungenießbar.“ (Brief von Cl. Schumann an Brahms, 22.7.1864) Ende 1864: Umarbeitung in ein Klavierquintett – die Musikerfreunde sind nun durchweg begeistert. 1865: Das Klavierquintett erscheint als Opus 34 im Druck 1866: Uraufführung in Leipzig (oder Florenz?) und analytisch-theoretische Besprechung in Musikzeitschrift Enthusiastische Reaktionen und vernichtende Kritiken, in den folgenden Jahren viele Aufführungen C) Analyseergebnisse zu den vier Sätzen des Klavierquintetts angelehnt an Handreichungen von Frank Kleinheins (2012) Gesamtanlage: viersätzig, Standard-Satzfolge der klassisch-romantischen Sonate/Sinfonie, Gesamtdauer: ca. 40 Minuten 1. Satz: Allegro non troppo 2. Satz: Andante, un poco adagio 3. Satz: Scherzo (Allegro) 4. Satz: Finale (Poco sostenuto – Allegro non troppo) 1. Satz: Allegro non troppo ca. 15 min ca. 8 min ca. 7 min ca. 10 min F-moll As-dur C-moll/C-dur F-moll F-moll (Tonika), 4/4-Takt Thema 1 / Hauptthema („Devisenthema“) ist Keimzelle für viele musikal. Themen und Entwicklungen in allen vier Sätzen. Charakteristika des Devisenthemas: auftaktiger Quartsprung zum Grundton (c-f) Rhythmus T. 1: punktierte Viertel, dann 5 Achtel wird in T. 2 wiederholt und dann fortgesponnen (Barform aab) dabei Intervallspreizung und Ritardando bis zu einer Fermate Des-dur (VI. Stufe = Tonika-Gegenklang) kommt 2x als Dreiklangsbrechung vor Harmonik changiert zwischen F-moll und Des-dur, offenes Ende auf Dominante C-dur das Intervall kleine Sekunde (Halbtonschritt) des-c und g-as spielt eine wichtige Rolle Artikulation legato, Dynamik zunächst mf beim ersten Mal in drei Oktavlagen unisono von Vl.1, Cello und Klavier (Charakter einer langsamen Einleitung) Motivisch-thematische Arbeit beginnt sofort nach der Vorstellung des Themas (z. B. Diminution T. 5, Fortspinnung T. 14) Insgesamt vier weitere Themen in der Exposition (normal wäre: nur ein kontrastierendes Seitenthema), motivische Verwandtschaft v. a. durch kleine Sekunden als Wechselnote und den wichtigen Ton des/cis: Thema 2 (T. 23) F-moll Thema 3 (T. 34) Cis-moll Nebenthema (T. 55 bzw. 69) Cis-moll Thema 4 / Epilog (T. 74) Des-dur Besonderheiten in der Ausgestaltung der Sonatenhauptsatzform: Exposition: motivisch-thematische Arbeit mit allen Themen direkt nach ihrer Vorstellung Binnen-Durchführung von Thema 2 und Nebenthema schon in der Exposition Epilog-Thema (Ende der Exposition) verwandelt sich schrittweise in den Themenkopf des Devisenthemas organische Entwicklung zur Wiederholung der Exposition Durchführungs-Teil relativ kurz, getrennte Durchf. von Thema 1 und Thema 3, Themen werden nicht „vermischt“ unmerklicher Eintritt der Reprise: piano, andere Begleitung, Thema unvollständig und sofort verarbeitet Reprise: neue harmonischer Gestaltung (normal in SHF): Themen in F-moll, B-moll, Fis-moll, F-moll, F-dur Ablauf fast wie in Exposition, aber z. T. mit Wechsel/Tausch der Instrumentierung Coda: beginnt sehr leise und ohne Klavier wie eine zweite Durchführung mit motivisch-thematischer Arbeit (Th. 1) kräftige Schlusswirkung erst in abschließendem schnelleren Stretta-Abschnitt dabei bis zum letzten Takt motivisch-thematische Arbeit mit Thema 1 Prinzip der „entwickelnden Variation“: motivisch-thematische Arbeit durchdringt den ganzen Satz. Verarbeitungstechniken: Fortspinnung am wichtigsten ( Verlängerung der Themen / in Klassik eher Verkürzung üblich), außerdem: Wiederholung, Sequenzierung, Umkehrung, Imitation, Diminution, Augmentation sowie Variation der Parameter Harmonik, Dynamik, Artikulation 2. Satz: Andante, un poco adagio As-dur (tP von F-Moll), 3/4-Takt Thema 1 / Vordersatz a (ganzes Thema: a – b – c – a‘ – b‘) As-dur liedhaft, schlicht, zurückhaltend, schwebend Melodie ausgeterzt, nur im Klavier Taktanfang: lombardischer Rhythmus kein Bass auf Taktschwerpunkt Nebenthema eigentlich nur Schlussmotiv von Thema 1, wird aber sequenziert und fortgesponnen und spielt eine wichtige Rolle im Thema 2 und im Schlussteil des Satzes Thema 2 E-dur (weit entfernt von Tonika As-dur) kontrastierend zum Thema 1: leidenschaftliche Emotionalität charakteristischer Auftakt mit punktiertem Oktavsprung wiederholte Achteltriolen mit Intervallspreizung Streicher spielen Melodie (Vl.2 + Viola in Oktaven) Gegenphrase im Klavier: Duolen (aus Nebenthema) gegen Triolen Überlagerung verschiedener Formprinzipien: dreiteilige Liedform ABA (vgl. Tonartenverlauf As – E – As) Sonatenhauptsatzform: Exposition von zwei kontrastierenden Themen, kurze Durchführung, Reprise (beide Themen in As), Coda Die im 2. Satz übliche, sehr einfache Liedform wird also vom Prinzip der Sonate durchdrungen und modifiziert. 3. Satz: Scherzo (Allegro) C-moll/C-dur (Dominante zu F-moll), 6/8- und 2/4 -Takt für 3. Satz die typische Form (aus dem barocken Menuett) A – B – A: Scherzo – Trio – Scherzo ungewöhnlich: Scherzo-Teil mit drei Themen, die direkt aufeinander folgen besondere rhythmische Motorik, ansonsten sehr unterschiedlicher Charakter Thema 1 Thema 2 Thema 3 durchgehend pulsierender Orgelpunkt auf c vom Cello (pizz.); Dreiklangsbrechung As-dur (Nachklang aus 2. Satz) von Vl.1 + Viola in Oktaven, synkopisch (vorwärts drängend), anschließend Fortspinnung; chromatisch verschärfte Imitation im Klavier; unbeständiger, fliehender Charakter Wechsel in 2/4-Takt punktierte Achtel (vgl. Epilogthema 1. Satz) schärfer als vorher der ternäre Rhythmus; Zentralton g‘ repetiert (staccato); Barform a-a-b kein Bass immer noch pp plötzlich ff, C-dur, wieder 6/8-Takt, vollstimmiger homophoner Satz, wie Hymne oder Marsch; 4-töniges Kopfmotiv wird variiert sequenziert u. fortgesponnen; bei Wdh. Streicher unisono, rhythmisch imitiert vom Klavier; anschließend Rückkehr zu Thema 1 Die Aneinanderreihung und Verarbeitung der drei Themen hat wieder die Dramaturgie eines Sonatensatzes, u. a. mit einer Fuge in der Durchführung. Schluss : penetrante Wiederholung der fallenden kleinen Sekunde des-c (vgl. Devisenthema) in C-dur = Tonart des Trios (und nach Wdh. des Scherzos die Dominante zum F-moll des Finales) 3. Satz / Mittelteil (Trio) Triothema ist variiertes Thema 3 aus Scherzo vom Klavier akkordisch gespielt + rhythmisierter Orgelpunkt vom Cello volksliedhafter Charakter wie im 2. Satz Vl.1+2 in Oktaven: fallende Sek., aufwärts sequenziert u. beschleunigt, Klavier r. H. + Cello: Variante des Kontrapunkts aus Scherzo-Fuge, Klavier l. H.: rhythmisierter Orgelpunkt wie im Triothema Das Trio (gut 1 min) unterbricht nur kurz das Scherzo (fast 3 min), das anschließend als Da Capo unverändert wiederholt wird. 4. Satz: Finale (Poco sostenuto – Allegro non troppo) F-moll, 2/2-, 2/4- und 6/8-Takt langsame Einleitung (einzigartig in Finalsätzen von Brahms‘ Kammermusik) Imitation in Engführung durch alle Stimmen Chromatik, äußerst komplexe Harmonik schmerzvoll-melancholischer Ausdruck in Oktaven von Vl.1 und Cello dagegen Klavierakkorde in Vierteltriolen anschließend motivisch-thematische Arbeit mit dem Material der Einleitungsthemen Schluss auf Dominante, dann Generalpause Allegro beginnt folkloristisch (slawisch? ungarisch?) anmutendes erstesThema mit Bezug zum Devisenthema (charakteristisches Dreitonmotiv) Cello in hoher Lage Begleitung in Terzen (versteckt in Spielfiguren Kl. r. H.) + nachschlagende Achtel im Klavierbass kontrastierendes zweites Thema etwas schnelleres Grundttempo, p espressivo, legato, viel Chromatik, Vl.1 und Cello in Gegenbewegung Drei Formprinzipien finden sich in allen Sätzen des Klavierquintetts und überlagern sich – im Finale auf folgende Weise: Barform (a – a – b): Thema – Themenwiederholung – Fortspinnung im Kleinen (Struktur eines Themas) wie im Großen (Ablauf eines Satzes) hier: A (T. 42) – A‘ (T. 185) – B (T. 343/Coda) Variation: Variationsstränge von Thema 1 und Thema 2 entwickeln sich abwechselnd und zunächst unabhängig voneinander; Variationstechnik teils konventionell, teils durchführungsartig Sonatensatz: Exposition mit zwei kontrastierenden Themen, Thema 1 sofort auch verarbeitet/variiert (Binnendurchführung) Durchführung (T. 126), v. a. von Thema 2 (Thema 1 bereits in Exp. verarbeitet) Reprise (T. 185): nicht nur Exp., sondern auch Durchf. (T. 284) wird wieder aufgenommen Coda (T. 343): führt motivisch-thematische Arbeit weiter – „entwickelnde Variation“ sehr lange Coda: atemberaubender Schlussspurt im 6/8-Takt (zunächst in Cis-moll), scheinbarer bombastischer Schluss in F-moll (T. 393), anschließend Stretta: jetzt erst werden Motive der beiden Themen kombiniert, dazu Anklänge ans Devisenthema (1. Satz) [Langer Schlussabschnitt wurde von Clara Schumann und Hermann Levi kritisiert, Brahms änderte ihn jedoch nicht.] Fazit: Meilenstein des 31-jährigen Brahms in seinem Kammermusikschaffen. Er zeigt seine Meisterschaft in der Ausdifferenzierung der traditionellen Formen der absoluten Musik durch die Weiterentwicklung von Beethovens Kompositionstechnik und effektvollen, abwechslungsreichen Einsatz der Instrumente. Damit setzt er Maßstäbe für die nächste Komponistengeneration und erlangt Respekt auch bei den Vertretern der „Neudeutschen Schule“, die absolute Musik eigentlich ablehnen.