FMH - Quiz Vol. 25 Nr. 3 2014 FMH Quiz 58 Fallbeschreibung Ein 6-jähriges Mädchen weist einen Coca-Cola farbigen Urin auf. Ihre Mutter berichtet zudem, dass sich das Mädchen vor etwa 10 Tagen über Halsschmerzen beklagt hatte. Der Status zeigt einen BD von 136/88 mmHg, das Kind hat leichte Ödeme im Gesicht und an den Extremitäten. Frage Welches ist der wahrscheinlichste Laborbefund in dieser Situation? Antworten A. ein tiefes Komplement C3 B. ein normales Urinsediment C. positive ANCA D. positive ANA E. eine positive Urinkultur Kommentar nurie (z. B. bei Hämolyse) oder Myo­globinurie (Rhabdomyolyse) besteht des­halb eine typische Konstellation mit positivem Resultat im Streifentest und gleichzeitig fehlendem Nachweis von Erythrozyten im Sediment. Antwort B («ein normales Urinsediment») kann somit bei Vorkommen genannter Farb­ stoffe zutreffend sein, es handelt sich jedoch nicht um die wahrscheinlichste Erklärung bei der oben beschriebenen Patientin. Grundsätzlich kann der Ursprung einer Hämaturie im Nierenparenchym, im Bereich der Harnwege oder äusserlich (Genitale, Perineum) liegen; in seltenen Fällen führen auch Pathologien der Nierengefässe und weitere Ursachen (vgl. Tabelle) zu einer Hämaturie. Die Farbveränderung des Urins widerspiegelt dabei das Ausmass der Blutbeimengung nur begrenzt, da der Zusatz von 1 ml Blut pro Liter Urin bereits zu einer deutlichen Verfärbung führen kann. Rodo von Vigier, Biel Die Fallvignette beschreibt eine Patientin im Vorschulalter, die wegen einer auffälligen Harnfarbe als Leitsymptom vorgestellt wird; eine realistische klinische Situation in der kinderärztlichen Praxis und in der Notfallstation von Kliniken. In dieser Situation wird meist zu recht das Vorliegen einer Hämaturie vermutet. Trotzdem kann eine rote oder (rot-)braune Verfärbung des Urins auch durch andere Farbstoffe verursacht sein. Dazu gehören Nahrungsmittel wie Randen und Rhabarber, Medikamente (Rifampicin, Nitrofurantoin und andere) sowie verschiedene Pigmente, teilweise auch im Rahmen anderweitiger Grunderkrankungen (z. B. Porphyrie). Urinstatus (Streifentest) und Urinsediment (Mikroskopie) sind dabei typischerweise normal, insbesondere ohne Nachweis von Hämoglobin und/oder Erythrozyten. Der Nachweis von Blut/Erythrozyten im Streifentest beruht auf der chemischen Reaktion von Hämoglobin mit dem Reagens auf dem Teststreifen und dem res­ultierenden, konzentrationsabhängigen Farbwechsel. Dieselbe Reaktion und damit Verfärbung des Teststreifens erfolgt jedoch auch bei Vorhandensein von Myoglobin. Bei Hämoglobi- Nebst Missbildungen, Trauma und Steinleiden (Nephro-/Urolithiasis), gehören insbesonde­ re auch Infektionen zu den möglichen Ursachen einer Blutung im Bereich der Harn­ wege. In Abhängigkeit vom untersuchten Patientenkollektiv kann eine Harnwegsinfektion als häufigste Ursache bei Makrohämaturie gefunden werden. Antwort E («eine positive Urinkultur») ist somit möglich, im Gesamtkontext (übrige anamnestische und klinische Angaben bei beschriebener Patientin) ist jedoch auch diese nicht am wahrscheinlichsten. Bei Patienten mit Makrohämaturie finden sich anhand der anamnestischen Angaben und klinischen Untersuchungsbefunde oft ent­ scheidende Hinweise zur Diagnose. Roter Urin, zusammen mit Koagula weist auf eine Blutung im Bereich der ableitenden Harnwege hin, wogegen eine «schmutzig» (rot-)braune Urinfarbe bei glomerulärer Ursache auftritt. Das Auftreten einer «colafarbenen» Urinverfärbung einige Tage nach einer Infektion der oberen Luftwege (Halsschmerzen), zusammen mit den klinischen Befunden von Öde- 36 men und erhöhtem Blutdruck ist suggestiv für das Vorliegen einer postinfektiösen bzw. Poststreptokokken-Glomerulonephritis. Nota bene: Die Obergrenze für den Blutdruck (P95 in mmHg) kann für Kinder und Jugendliche von 1–17 Jahren nach folgender Formel geschätzt werden: Systolisch P95 = 100 + (Alter x 2), diastolisch P95 = 60 + (Alter x 2) für 1–10 Jahre beziehungsweise P95 = 70 + (Alter) für 11–17 Jahre – für das hier beschriebene Mädchen liegt P95 des Blutdruckes somit bei 112/72 mmHg. Diagnostisch bei Glomerulonephritis sind im Urinsediment Erythrozyten und –zylinder im Lichtmikroskop beziehungsweise dysmorphe Erythrozyten bei der Untersuchung mit dem Phasenkontrastmikroskop, oft Leukozyten und -zylinder sowie zusätzlich eine Proteinurie variablen Ausmasses. Pathognomonisch für die postinfektiöse Glomerulonephritis ist die Aktivierung des Komplementsystemes mit Verbrauch und deshalb deutlicher Verminderung von Komplement C3 im Serum. Antwort A («ein tiefes Komplement C3») ist in vorliegendem Fallbeispiel somit richtig. Sekundäre Glomerulonephritiden im Rahmen von Systemerkrankungen treten auch im Kindesalter auf, sind insgesamt jedoch sehr selten. Laborchemische Marker sind Antinukleäre Antikörper (ANA) und Antikörper gegen doppelsträngige DNA (dsDNS) beim systemischem Lupus erythematodes und Anti-Neutrophile cytoplasmatische Antikörper (ANCA) bei verschiedenen Vaskulitiden, die mit einer Glomerulonephritis einhergehen können. Somit sind auch Antwort C («positive ANCA») und Antwort D («positive ANA») grundsätzlich möglich, aber wenig wahrscheinlich. Vorgehen bei Makrohämaturie Das diagnostische Vorgehen ist abhängig von der wahrscheinlichsten (Differential-) Diagnose, wobei in vielen Fällen die anamnestischen Angaben und klinischen Befunde entscheidende Informationen liefern und das geeignete Vorgehen bestimmen. Die erste Urinuntersuchung (Streifentest und nach Möglichkeit auch mikroskopische Untersuchung des Sedimentes) erlaubt den Aus­schluss einer Harndunkelverfärbung durch Farbstoffe (vgl. oben) und den definitiven Nachweis einer Hämaturie; das Vorliegen von Erythrozytenzylindern ergibt zudem den Beweis einer glomerulären Ursache. Ausser bei eindeutigem FMH - Quiz Vol. 25 Nr. 3 2014 Hinweis für eine andere Ursache (z. B. posttraumatische Hämaturie) ist anlässlich der ersten Untersuchung auch das Anlegen einer Urinkultur empfohlen. In Abhängigkeit der Anamnese (z. B. nach Auslandsaufenthalt) sind auch seltene Erreger zu suchen (z. B. Schistosomen). Eine Sonographie der Nieren und Harnwege inklusive Doppleruntersuchung wird meist empfohlen. Diese Untersuchung erlaubt eine Vielzahl möglicher Ursachen wie Missbildungen der ableitenden Harnwege, Tumoren und vas­kuläre Ursachen (Nierenvenenthrombose, Nussknackersyndrom) zu identifizieren. Beim renalen Nussknackersyndrom führt die Kompression der linken Nierenvene zwischen der Arteria mesenterica superior und der Aorta abdominalis zu einer Druckerhöhung in den venösen Gefässen und bei einigen Patienten dadurch zu Makrohämaturie. Diese Entität wird gehäuft bei asiatischen Patienten be­schrieben und betrifft häufiger erwachsene Frauen. Trotz der Seltenheit des Syndromes kann dieses vereinzelt bei Kindern und Ju­gend­lichen, auch als Ursache von Mikrohämaturie oder orthostatischer Proteinurie, gefunden werden. Bei Blutung nach Trauma der Nieren/Harnwege stehen bildgebende Verfahren im Vordergrund (Sonographie, ev. Computertomographie), bei möglichem Steinleiden zusätzlich zur Bildgebung auch metabolische Abklärungen. Abklärungen bei möglicher glomerulärer Ursache beinhalten ein rotes und weisses Blutbild inklusive Thrombozytenzahl, Elektrolyte und Nierenfunktionsparameter, Albumin und Gesamtprotein, Komplement C3 und C4 sowie situationsabhängig eventuell weitere Untersuchungen (z. B. ANA, ANCA, Immunglobuline, Hepatitis-Serologie, weitere). Die Bestimmung von Antistreptolysintiter (ASLO) und Anti DNase B wird oft empfohlen. Im Urin werden aus einer Einzelprobe («Spot-Urin») zusätzlich die Quotienten Protein/Creatinin (Norm < 20 mg/ mmol) und Albumin/Creatinin (Norm < 5 mg/ mmol) bestimmt. In unklaren Fällen soll auch eine ursächliche Gerinnungsstörung ausgeschlossen werden. In Abhängigkeit vom untersuchten Patientenkollektiv kann, trotz ausgedehnter Abklärungen, bei 10–35 % der Patienten keine Ursache gefunden werden. Eine Abklärung möglicher Ursachen bei Makrohämaturie ist trotzdem in jedem Fall empfohlen. Postinfektiöse Glomerulonephritis Typischerweise 1–3 Wochen nach einer Infektion der oberen Luftwege (Tonsillo-Pharyngitis), beziehungsweise 3–6 Wochen nach Hautinfektion (Impetigo) mit nephritogenen Stämmen ββ-hämolysierender Streptokokken der Gruppe A (GAS) kann eine klassische Poststreptokokken-Glomerulonephritis auftreten. Nebst GAS werden verschiedene andere Bakterien, Viren und Parasiten mit dieser Glomerulonphritis (GN) assoziiert, weshalb diese zusehend allgemeiner als postinfektiöse Glomerulonephritis bezeichnet wird. Weltweit gilt die postinfektiöse GN als häufigste akute Nephritis im Kindesalter (10–30/ 100000/Jahr), wobei in industrialisierten Ländern die Inzidenz während der letzten Jahr­ zehnte deutlich zurückgegangen ist (ca. 0.3/ 100000/Jahr). Die Pathogenese ist nicht abschliessend bekannt und wird teilweise kontrovers diskutiert. Ursächlich finden sich intraglomeruläre Immun­ Ursachen von Makrohämaturie • Harnwegsinfektion • Verletzung/Irritation lokal (Meatus, Perineum, idiopathische Urethrorrhagie bei Knaben) • Trauma (Nieren, Harnwege) • Nephro-/Urolithiasis; ev. Hyperkalziurie • Glomerulonephritis • Missbildung der ableitenden Harnwege • Nierenzysten (solitär, Polyzystische Nierenkrankheiten) • Nierenvenenthrombose, Nussknacker-Phänomen • Tumor • Koagulopathie • Sichelzellanämie • Hämorrhagische Zystitis (medikamentös-toxisch) Die meisten genannten Ursachen können sich auch als Mikrohämaturie manifestieren. Die Differentialdiagnose der Mikrohämaturie beinhaltet jedoch noch weitere Erkrankungen (z.B. Tubulointerstitielle Nephritiden [infektiös, medikamentös], familiäre Mikrohämaturie [= thin basement membrane nephropathy]). 37 komplexe, die wahrscheinlich nach Ablagerung zirkulierender Antigene der auslösenden Erreger in den Glomeruli, in situ gebildet werden. Nephritis-assoziierter Plasmin-Rezeptor (NAPlr) und Streptokokken-pyrogenes Exotoxin B (SPE B) werden als häufigste auslösende Antigene nach Streptokokkeninfektionen identifiziert. Die resultierende Aktivierung des Komplementsystemes sowie weiterer humoraler zellulärer Immunmechanismen führen zu einer akuten Entzündungsreaktion und Schädigung des Nierengewebes. Das Spektrum der klinischen Manifestation ist breit, einige Patienten präsentieren einzig eine asymptomatische Mikrohämaturie, andere eine Makrohämaturie (30–50 %) und teils schwere Proteinurie sowie zusätzlich Ödeme (66 %), Hypertonie (50–90 %) und eingeschränkte Nierenfunktion (akutes nephritisches Syndrom). Weitere Symptome/Komplikationen sind Atemnotsyndrom bei Herzinsuffizienz/Lungenödem sowie zentralnervöse Manifestationen. Eine schwere, dialysepflichtige akute Niereninsuffizienz tritt selten auf. Therapeutische Massnahmen in der akuten Phase sind vorwiegend supportiv. Manifestationen der Volumenüberladung (Ödeme, Hypertonie, selten Lungenödem) bedürfen einer Einschränkung der Salz- und Flüssigkeitszufuhr sowie allenfalls Diuretika (z. B. Furosemid). Pathognomonisch in der akuten Phase sind ein erniedrigtes Komplement C3 (vgl. oben) und CH50 (Komplement Gesamtaktivität) bei normalem oder nur wenig erniedrigtem Komplement C4. Die Komplementproteine normalisieren sich innerhalb von 6–8 Wochen nach akuter postinfektöser GN. Eine persistierende Verminderung von Komplement C3 ist suggestiv für das Vorliegen einer anderen chronischen Glomerulonephritis, die aktiv abgeklärt werden soll. Dazu gehören die seltenen C3-Glomer­ ulopathien (dense deposit disease [vormals als membranoproliferative GN Typ II klassifiziert] und die 2007 erstmals beschriebene C3Glomerulonephritis) sowie Glomerulonephritiden bei systemischem Lupus erythematodes (typischerweise tiefes Komplement C3 und C4 ab Krankheitsbeginn). Im Kindesalter ist die Langzeitprognose nach postinfektiöser Glomerulonephritis in der Regel gut; persistierende Hypertonie und chronische Einschränkung der Nierenfunktion sind – im Gegensatz zu älteren Patienten – sehr selten. Aufgrund der niedrigen Inzidenz, des zu er­ FMH - Quiz Vol. 25 Nr. 3 2014 wartenden klinischen Verlaufes und insbesondere fehlender therapeutischer Optionen beziehungsweise prognostischer Vorteile bei frühzeitiger Diagnose einer postinfektiösen GN, wird mittlerweile von der systematischen Urinuntersuchung nach Infektion mit GAS (Tonsillopharyngitis) meist abgeraten. Nebst der eigentlichen postinfektiösen GN können weitere Glomerulonephritiden im Rahmen von interkurrenten Infektionen manifest werden, was bisweilen zu diagnostischen Schwierigkeiten führen kann: Bei IgA-Nephropathie (M. Berger) und auch beim seltenen Alport Syndrom können infektionsassoziierte Makrohämaturieschübe auftreten. Ebenso manifestiert sich eine Purpura Schönlein-Henoch gehäuft nach Infektionen der Luftwege (GAS und virale Erreger), aufgrund der extrarenalen Manifestation ist eine Verwechslung mit einer postinfektiösen GN in diesem Fall jedoch unwahrscheinlich. Referenzen 1) Couser WG. Basic and translational concepts of immune-mediated glomerular diseases. J Am Soc Nephrol 2012; 23: 381–99. 2) Gagnadoux MF. Evaluation of gross hematuria in children. In UpToDate, Kim MS (Ed), UpToDate, Waltham, MA, 2014 (www.uptodate.com, letzter Zugriff 17.04.2014). 3) Niaudet P. Poststreptococcal glomerulonephritis. In UpToDate, Kim MS (Ed), UpToDate, Waltham, MA, 2014 (www.uptodate.com, letzter Zugriff 17.04. 2014) 4) Selewski DT, Symons JM. Acute Kidney Injury. Pediatr Rev 2014; 35: 30–41. 5) von Vigier RO. Nützliche Urinuntersuchung. Kinderärzte Schweiz 01/2013: 14–21. Korrespondenzadresse [email protected] 38