Ambulant oder stationär?

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Ambulant oder stationär?
Michael-Jürgen Polonius
Die im Titel dieses Beitrags gestellte Frage ist – aus medizinischer Sicht und aus der Sicht der Patienten – an sich
leicht zu beantworten: So viel ambulant wie möglich, so
viel stationär wie nötig.
Damit ist das Thema jedoch noch nicht erledigt. Schon die
Alternative selbst – „ambulant oder stationär“ – bezeichnet
eine Eigenart unseres deutschen Systems. Es fällt uns schwer,
ein „sowohl – als auch“ zu denken; unsere Gesellschaft kennt
überwiegend nur ein „entweder – oder“. Das deutsche Gesundheitswesen ist ein typisches Beispiel für dieses Denken.
Und die Auflösung des für Deutschland charakteristischen
strukturellen Dualismus ist letztlich der Schlüssel für die Beseitigung der Hindernisse auf dem Weg zu einem der Zukunft
angepassten Gesundheitswesen in Deutschland.
Für das Gesundheitswesen legt der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen in Form von Gesetzen fest und überlässt
die Ausgestaltung im Einzelnen der Selbstverwaltung. Das
ist in der Regel keine einfache Aufgabe, sind doch die Rahmenbedingungen oft, vorsichtig ausgedrückt, recht unscharf formuliert. Die Behandlung im Krankenhaus wird
z. B. gesetzlich in eine vollstationäre, teilstationäre und
ambulante Behandlung eingeteilt. Diese Begriffe sind jedoch nirgends definiert. Erst 2004 hat das Bundessozialgericht (BSG) in einem Urteil eine solche Definition versucht. Danach ist eine Behandlung
– vollstationär, wenn sie sich zeitlich über einen Tag und
eine Nacht erstreckt,
– ambulant, wenn der Patient die Nacht vor und die Nacht
nach dem Eingriff nicht im Krankenhaus verbringt und
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– teilstationär, wenn es sich um eine Behandlung handelt,
die aufgrund eines spezifischen Krankheitsbildes (in der
Regel aus den Fachgebieten Psychiatrie, somatische Erkrankungen und Geriatrie) über einen gewissen Zeitraum hinweg in einzelnen Intervallen erfolgt.
Diese teilstationäre Behandlung erfolgt insbesondere in Tages- und Nachtkliniken; ein typischer Fall ist die psychiatrische Tagesklinik. Hier wird die medizinisch-organisatorische Infrastruktur eines Krankenhauses benötigt, ohne
dass eine ununterbrochene Anwesenheit des Patienten im
Krankenhaus notwendig ist.
Als Grenzfälle zwischen teilstationär und ambulant
stuft das BSG Behandlungen ein, die nicht täglich, sondern
in regelmäßigen Intervallen erfolgen. Als typisches Beispiel
gilt hier die Dialyse.
Auf der anderen Seite liegt eine stationäre Behandlung,
so das BSG, auch dann vor, wenn der Patient nach Durchführung eines Eingriffes oder einer sonstigen Behandlungsmaßnahme eigentlich über Nacht bleiben sollte, aber gegen
den ärztlichen Rat auf eigenes Betreiben das Krankenhaus
noch am selben Tag wieder verlässt. In diesem Fall handelt
es sich nach Ansicht des Gerichts um eine abgebrochene
stationäre Behandlung.
Diese Definitionsschwierigkeiten, hinter denen natürlich
die Frage nach der Abrechnung der Leistung steht, entstehen
durch die strikte Abgrenzung der Sektoren in unserem Gesundheitswesen: Der vertragsärztliche Sektor (Hausärzte
und Fachärzte) ist für die ambulante Versorgung zuständig,
der Krankenhaussektor für die stationäre. Die Finanzierung
beider Sektoren erfolgt über zwei verschiedene Versicherungssysteme, die gesetzliche (GKV) und die private (PKV)
Krankenversicherung. Wer sich privat versichern darf, wird
anhand seines Einkommens bestimmt, d. h. der Cutoff, die
sog. Bemessungsgrenze, wird je nach Haushaltslage von der
jeweiligen Regierung bestimmt.
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In der GKV gehen alle Versicherungsbeiträge in einen
Topf, den sog. Gesundheitsfonds. Mithilfe dieses Fonds versucht man dann, die teilweise erheblichen Unterschiede in
der Klientel der einzelnen Kassen auszugleichen (sog. Risikostrukturausgleich). Diese Unterschiede betreffen die jeweilige Anzahl der Geringverdiener bzw. mitversicherten
Familienangehörigen und das jeweils unterschiedliche
Krankheitsrisiko der einzelnen Versicherten.
Darüber hinaus hat jeder Sektor einen eigenen Finanztopf. Im ambulanten Sektor sind die gesetzlichen Krankenversicherungen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung
(KBV) Vertragspartner. Die KBV übernimmt die Verteilung,
d. h. die Vergütung der Leistungen der niedergelassenen
Ärzte bundesweit, und hat den Sicherstellungsauftrag zu erfüllen.
Der stationäre Sektor ist dual finanziert: einerseits über
das DRG-System, d. h. über die Leistungsbilanz des jeweiligen Krankenhauses, und andererseits durch die Landesministerien, die für die notwendigen Investitionen (Krankenhausbau, Großgeräte usw.) und gleichzeitig für die
Zulassung der Krankenhäuser zuständig sind.
Während die niedergelassenen Ärzte ausschließlich
Fachärzte sind, besteht der größere Teil der Ärzte im Krankenhaus aus werdenden Fachärzten, d. h. approbierten Ärzten, die sich in der fachärztlichen Weiterbildung befinden.
Hinzu kommt, dass im ambulanten Sektor alle neuen Behandlungsmethoden einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt
unterliegen, im stationären jedoch einer Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt. Schon angesichts dieser Vorgaben ist schwer
zu erkennen, wie eine fruchtbare integrative Zusammenarbeit zwischen den Sektoren zustande kommen soll.
Natürlich hat jeder Sektor auch seinen eigenen Datenpool und ein gesondertes, mit dem anderen Sektor inkompatibles Qualitätssicherungsverfahren. Dadurch wird eine
Zusammenführung dieser Daten erheblich erschwert. Dies
behindert nicht nur eine effiziente Versorgungsforschung
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(weil jeder Sektor mit Argusaugen über die eigenen Daten
wacht), sondern auch valide Aussagen z. B. bei Bedarfsanalysen.
Da die Daten eines Patienten aus dem jeweils anderen
Sektor nicht zur Verfügung stehen, sind valide Aussagen
über Behandlungsergebnisse (vor allem Endergebnisse) bisher praktisch nicht möglich.
Seit Dekaden wird versucht, durch Änderungen einzelner Gesetze Druck auf die Selbstverwaltung auszuüben,
diese Sektorengrenzen durchlässig zu machen.
Mit dem Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VSG) kommt
nun mit der ambulanten spezialärztlichen Versorgung
(ASV) ein dritter Sektor (so der Gesundheitsminister selbst)
hinzu, der die beiden ersteren miteinander verzahnen soll.
In diesem sollen niedergelassene Fachärzte und Krankenhausärzte ambulant tätig werden können. Die einzige Bedingung dafür ist eine ausreichende (hier „spezialärztlich“
genannte) Qualifikation. Auch hier fehlt jegliche Definition
dieser Qualifikation. Heißt das, dass im niedergelassenen
Bereich ausschließlich der Facharzt (der Vertragsarzt) die
ambulante Behandlung durchführen darf, während im Krankenhaus auch ein vielleicht noch in der Weiterbildung zum
Facharzt befindlicher Arzt diese Tätigkeit ausüben darf?
Dieser Sektor soll ebenfalls aus einem eigenen Topf finanziert werden und bezüglich der Leistungen keinerlei
Mengenbegrenzung unterliegen. Die Ausgestaltung obliegt
den Gremien der Selbstverwaltung, an erster Stelle dem Gemeinsamen Bundesausschuss, der verpflichtet ist, Vorgaben
dafür zu machen. Obwohl alle Beteiligten es zunächst
grundsätzlich begrüßt haben, dass durch die Einführung eines dritten Sektors eine sektorenübergreifende Tätigkeit
der Ärztinnen und Ärzte erleichtert wird, meldeten sie
doch auch Veränderungswünsche an, die sich zusammenfassen lassen unter den Schlagworten: Bestandsschutz für
die eigene Klientel und Verteilung gleichlanger Spieße für
den zu erwartenden Wettbewerb.
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Diese doppelte bzw. in Zukunft dreifache Facharztschiene wird von einem Schweizer Gesundheitsökonom
als fragmentiertes Gesundheitswesen bezeichnet. Dennoch
ist dieses in vielen Aspekten überregulierte System im
weltweiten Vergleich eines der besten Gesundheitsversorgungssysteme, wenn auch sicher eines der luxuriösesten.
Im Vergleich zum Ausland ist aber der unmittelbare Zugang
zum Hausarzt und/oder Facharzt zweifellos ein nicht zu
überschätzender Vorteil für den Patienten.
In vielen europäischen Ländern ist unser sektorales System als „doppelte Facharztschiene“ bekannt. Die eigentliche Frage ist jedoch: Ist dieses System so flexibel, dass es
die zukünftigen Anforderungen an ein effizientes Versorgungssystem in Deutschland erfüllen kann?
Diese zukünftigen Herausforderungen lassen sich in wenigen Punkten zusammenfassen, vor allem:
– die besonders ungünstige demografische Entwicklung in
Deutschland,
– eine rasch alternde Bevölkerung mit zu erwartender Zunahme der Morbidität,
– gleichzeitig eine Verringerung des Anteils der erwerbstätigen Bürgerinnen und Bürger.
Diese Verringerung der Zahl der Erwerbstätigen betrifft mehr
oder weniger alle Berufe, d. h., alle haben mit einem geringeren Angebot an geeignetem Nachwuchs zu kämpfen. Die
medizinischen Versorgungsbereiche, also die ambulante
und akutstationäre medizinische Versorgung, die Pflege und
die Rehabilitation – gleichgültig, ob sie in der Zuständigkeit
der GKV oder der Pflegeversicherung liegen –, sind Konkurrenten um finanzielle Mittel und um geeignete Fachkräfte.
Dies war zwar bis zu einem gewissen Grade immer schon
so, wird sich jedoch in der Zukunft erheblich verschärfen.
Unser soziales Gesundheitssystem lässt sich aber nur erhalten, wenn in allen Bereichen – Ärzte, Pflegekräfte, Technik usw. – genügend geeignetes Personal zur Verfügung
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steht. Und wir werden uns diesen hohen Standard nur dann
weiterhin leisten können, wenn auch unser Sozialprodukt
weiterhin stetig wächst.
Die Lösung für ein zukunftssicheres Versorgungssystem
kann daher nur in der Fähigkeit liegen, mit weniger Personal mehr zu leisten. Wie soll das aber geschehen, wenn
die verschiedenen Sektoren sich gegenseitig behindern?
Nach dem Sozialgesetzbuch müssen die Leistungen im
Gesundheitswesen stets ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Das kann aber in der Konsequenz nur bedeuten: So viel ambulante Behandlung wie möglich, so viel stationäre wie nötig. Effiziente Lösungen können nur gefunden
werden, wenn alle vier Bereiche leistungs- und sektorenübergreifend dezentral, d. h. regional, eng zusammenarbeiten.
Die Lösung im Emsland oder in Mecklenburg-Vorpommern
wird anders ausfallen als in den Ballungsgebieten. Zunächst
ist es jedoch notwendig, folgende Aufgaben zu erledigen:
1. eine detaillierte, regionale Bedarfsanalyse. Hierfür ist
eine leistungsfähige Versorgungsforschung unabdingbar
und – wie bereits erwähnt – ein freier Zugang zu allen
vorhandenen Daten in jedem der nunmehr drei Sektoren
des Gesundheitswesens.
2. ein Abbau der Bürokratie. Bei aller Wichtigkeit der Dokumentation in der Medizin können wir es uns nicht
mehr leisten, dass diese Tätigkeit ca. 30 % der Arbeitszeit in Anspruch nimmt.
3. die Integration der genannten Bereiche auf institutioneller Ebene, d. h. in der Zusammenarbeit der jeweiligen
Berufsgruppen.
4. abgestufte professionelle Konzepte.
5. eine Neuausrichtung der Facharztweiterbildung. Derzeit
erfolgt während der Facharztweiterbildung praktisch
keinerlei Vorbereitung auf die vertragsärztliche Tätigkeit oder interdisziplinäre Arbeitsweisen. Besonders in
den operativen Fächern existieren keine strukturierten
Konzepte zur Vorbereitung auf die ambulante Tätigkeit.
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Ob die ambulante Behandlung in der überregionalen Gemeinschaftspraxis, im Medizinischen Versorgungszentrum,
in der Ambulanz oder Poliklinik eines Krankenhauses oder
sogar im Behandlungsmobil stattfindet, werden in Zukunft
die örtlichen regionalen Notwendigkeiten bestimmen. Das
zur Verfügung stehende Fachpersonal und der notwendige
Bedarf können nur so effizient aufeinander abgestimmt
werden. Hierbei ist es dringend notwendig, den vor Ort Zuständigen mehr Freiheit in der Gestaltung zu geben.
So komfortabel die doppelte (bzw. dreifache) Finanzschiene für die Patienten auch erscheinen mag – das gegenwärtige sektorale System unseres Gesundheitswesens ist
ein Luxus, den wir nicht nur angesichts der demografischen
Entwicklung bezüglich seiner Zukunftsfähigkeit hinterfragen müssen. Deutlicher gesagt: Ohne Aufhebung der
Sektorengrenzen ist unser Gesundheitssystem nicht flexibel genug, um sich den zukünftigen Herausforderungen
stellen zu können.
Die starre Aufteilung der ärztlichen Tätigkeiten in „ambulant oder stationär“ ist nicht mehr zeitgemäß. Warum
soll ein Arzt oder eine Ärztin nicht „sowohl – als auch“ ambulant und stationär tätig sein, besonders dann, wenn es
um ein und denselben Patienten geht?
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