Abzählbarkeit - Department Mathematik

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LMU München
September 2016
Probestudium Mathematik
5
Abzählbarkeit
Definition 5.1 (Abzählbarkeit) Eine nichtleere Menge M wird abzählbar genannt, wenn
es eine Folge a1 , a2 , a3 , . . . von Elementen von M gibt, so dass alle Elemente von M mindestens einmal als Folgenglied auftreten. Auch die leere Menge ∅ wird abzählbar genannt.
Das Gleiche mit anderen Worten gesagt:
Die Menge M 6= ∅ wird abzählbar genannt, wenn es eine Funktion a = (an )n∈N : N → M
mit dem Wertebereich M gibt.
Jede solche Folge a heißt eine Abzählung von M
Beispiele.
1. Jede endliche Menge M ist abzählbar. In der Tat: Das ist klar für M = ∅. Nehmen
wir also M 6= ∅ an, sagen wir, M besitze n ∈ N Elemente x1 , x2 , . . . , xn . Dann ist
x1 , x2 , . . . , xn , xn , xn . . .
eine Abzählung von M .
2. Auch die Menge N der natürlichen Zahlen ist abzählbar: 1, 2, 3, . . ., also an = n für
n ∈ N, ist eine Abzählung von N.
3. Auch N0 ist abzählbar: 0, 1, 2, 3, . . ., genauer gesagt an = n − 1 für n ∈ N, ist eine
Abzählung von N0 . Die gleiche Idee zeigt, dass für jede ganze Zahl k ∈ Z die Menge
Mk = {l ∈ Z : l ≥ k}
abzählbar ist; in der Tat ist an = n + k − 1, n ∈ N eine Abzählung von Mk .
4. Die Menge der ganzen Zahlen Z ist ebenfalls abzählbar. Eine Abzählung a : N → Z
wird durch
a1 = 0, a2 = 1, a3 = −1, a3 = 2, a4 = −2, a5 = 3,
a6 = −3, a7 = 4, a8 = −4, a9 = 5, a10 = −5, . . .
gegeben, genauer gesagt durch
n−1
− 2 , falls n ∈ N eine ungerade Zahl ist,
an =
n
,
falls n ∈ N eine gerade Zahl ist.
2
1
Die Idee hinter de Abzählbarkeit von Z können wir auch abstrahiert so verwenden:
Lemma 5.2 Sind A und B abzählbare Mengen, so ist auch deren Vereinigung A ∪ B
abzählbar.
Beweis: Dies ist klar, falls A oder B leer sind. Wir nehmen daher an, dass sowohl A
als auch B nichtleer sind. Es seien a = (an )n∈N : N → A und b = (bn )n∈N : N → B
Abzählungen von A bzw. von B. Dann ist c = (cn )n∈N : N → A ∪ B mit
am , falls n = 2m − 1 ∈ N eine ungerade Zahl ist,
cn =
bm , falls n = 2m ∈ N eine gerade Zahl ist.
eine Abzählung von A ∪ B. In der Tat: Für jedes x ∈ A finden wir m ∈ N mit x = am ,
also x = c2m−1 , und für jedes y ∈ B finden wir m ∈ N mit y = bm , also y = c2m .
Abzählbarkeit bleibt unter Verkleinerung von Mengen erhalten. Genauer gesagt gilt:
Lemma 5.3 Ist M eine abzählbare Menge und L ⊆ M eine Teilmenge davon, so ist auch
L abzählbar.
Beweisidee: Falls L endlich ist, ist uns das schon bekannt. Wir dürfen also annehmen,
dass L unendlich ist. Wir wählen eine Aufzählung (an )n∈N von M und “dünnen sie aus”:
Wir lassen also diejenigen Folgenglieder weg, die nicht zu L gehören, und nummerieren
die übrigen Folgenglieder um.
Beispiel: Die Menge der Primzahlen M ⊆ N ist abzählbar. Aus der Aufzählung
a1 = 1, a2 = 2, a3 = 3, a4 = 4, . . .
aller natürlichen Zahlen erhalten wir durch Ausdünnung die Folge der Primzahlen:
b1 = 2, b2 = 3, b3 = 5, b5 = 7, b6 = 11, b7 = 13, . . .
Abzählbarkeit von N × N und von Q+ . Auf dem ersten Blick mag es erstaunen, dass
auch die Menge
N × N = {(n, m)| m, n ∈ N}
aller Paare von natürlichen Zahlen abzählbar ist. Das folgende Diagramm illustriert ein
Abzählungsverfahren:
a1 = (1, 1)
a3 = (1, 2)
%
a2 = (2, 1)
a6 = (1, 3)
a5 = (2, 2)
%
a4 = (3, 1)
a9 = (2, 3)
a8 = (3, 2)
a14 = (2, 4)
a13 = (3, 3)
a12 = (4, 2)
a19 = (3, 4)
a18 = (4, 3)
...
...
%
a16 = (6, 1)
..
.
...
2
a21 = (1, 6)
%
a20 = (2, 5)
%
%
%
a17 = (5, 2)
a15 = (1, 5)
%
%
%
%
a11 = (5, 1)
%
%
%
a7 = (4, 1)
a10 = (1, 4)
%
...
...
...
Die gleiche Idee zeigt, dass auch die Menge Q+ aller positiven rationalen Zahlen (Brüche
von natürlichen Zahlen) abzählbar ist. Das folgende, leicht abgewandelte Diagramm illustriert eine Abzählung:
a0 =
1
1
2
a1 =
1
3
a3 =
1
4
a6 =
1
a10
5
=
1
a2 =
%
%
%
1
2
2
a4 =
2
3
a7 =
2
a11
4
=
2
a16
5
=
2
%
a5 =
%
%
1
3
2
a8 =
3
a12
3
=
3
a17
4
=
3
%
%
a9 =
%
a13
2
=
4
a18
3
=
4
%
%
1
4
a14 =
%
a19
%
1
5
a20 =
%
2
=
5
1
6
...
...
...
...
...
%
6
a15 =
...
1
..
.
Wir abstrahieren die Idee hinter der Abzählbarkeit von Q+ im folgenden Lemma:
Lemma 5.4 Ist M1 , M2 , M3 , . . . eine Folge von abzählbaren Mengen, so ist auch deren
Vereinigung
[
Mn = {k| ∃n ∈ N : k ∈ Mn }
V =
n∈N
abzählbar.
Beweis: Wir dürfen annehmen, V nichtleer ist, und dass unter den Mn keine leeren
Mengen vorkommen; andernfalls lassen wir diese leeren Mengen in der Folge einfach weg
und nummerieren um. Für jedes n ∈ N wählen wir eine Abzählung (am,n )m∈N von Mn . Es
sei weiter
((mk , nk ))k∈N
eine Abzählung von N × N, zum Beispiel die oben dargestellte. Dann ist
(amk ,nk )k∈N
die gewünschte Abzählung von V ; in der Tat tritt jedes Element am,n von V in dieser
Abzählung auf.
Beispiele:
1. Eine Abzählung von Q+ erhalten hieraus wir mit der Darstellung
[ 1
Q+ =
N
n
n∈N
3
mit den abzählbaren Mengen
n m
o
1
N :=
m ∈ N .
n
n
Ebenso ist die Menge
Q− =
1
− N
n
n∈N
[
der negativen rationalen Zahlen abzählbar, und damit auch die Menge
k +
−
k ∈ Z, n ∈ N
Q = Q ∪ {0} ∪ Q =
n
aller rationalen Zahlen.
2. Für jede abzählbare Menge M ist die Menge
Pe (M ) := {N | N ⊆ M, N ist endlich}
aller endlichen Teilmengen von M abzählbar.
Beweis: Im Fall M = ∅ ist Pe (M ) = {∅} abzählbar. Wir dürfen also M 6= ∅
annehmen. Es sei (an )n∈N eine Abzählung von M . Wir setzen für n ∈ N:
Ln := {N | N ⊆ {a1 , . . . , an }}
Da jede Menge {a1 , . . . , an } endlich ist (sie enthält ja höchstens n Elemente), ist
auch jede Menge Ln endlich (sie enthält ja höchstens 2n Elemente). Insbesondere
ist jedes Ln abzählbar.
Nun ist jede endliche Teilmenge N von M eine Teilmenge von {a1 , . . . , an }, wenn
n ∈ N nur genügend groß gewählt wird. Anders gesagt:
[
Ln .
Pe (M ) =
n∈N
Also ist nach Lemma 5.4 auch Pe (M ) abzählbar.
Wie steht es nun mit der Menge aller Teilmengen einer abzählbaren Menge M , der Potenzmenge von M ? Sie wird so definiert:
P(M ) := {N | N ⊆ M }
Es gilt:
Lemma 5.5 (Nichtabzählbarkeit von P(N)) Die Potenzmenge P(N) der Menge der
natürlichen Zahlen ist nicht abzählbar.
4
Beweis: Wir müssen zeigen, dass jede Folge (Mn )n∈N von Teilmengen von N nicht alle
Teilmengen von N treffen kann. Hierzu bilden wir die folgende Teilmenge von N:
D := {n ∈ N| n ∈
/ Mn } ⊆ N
Dann gilt für jedes n ∈ N die Äquivalenz
n∈D
⇔
n∈
/ Mn ,
also kann D nicht gleich Mn sein. Die Menge D liegt also nicht im Wertebereich von
(Mn )n∈N .
Die Idee dieses Beweises wird Diagonalverfahren genannt und geht auf Georg Cantor
(1848-1918), den Begründer der Mengenlehre, zurück.
Veranschaulichen wir uns diesen Beweis, indem wir jede Menge M ⊆ N durch eine Folge
(an (M ))n∈N von Nullen und Einsen kodieren:
1, falls n ∈ M
an (M ) =
0, falls n 6∈ M
Zum Beispiel wird die Menge P = {2, 3, 5, 7, 11, 13, . . .} der Primzahlen so kodiert:
n
an (P )
1
0
2
1
3
1
4
0
5
1
6
0
7
1
8
0
9
0
10
0
11
1
12
0
13 . . .
1 ...
Stellen wir uns nun die Folgenglieder Mn so kodiert vor, zum Beispiel:
n
an (M1 )
an (M2 )
an (M3 )
an (M4 )
an (M5 )
..
.
1
0
1
1
0
0
..
.
2
1
0
1
0
0
..
.
3
1
1
1
1
1
..
.
4
0
1
0
0
0
..
.
5
1
0
1
1
0
..
.
...
...
...
...
...
...
..
.
so erhalten wir an (D) durch Umdrehen der Diagonalfolge:
n
an (M1 )
an (M2 )
an (M3 )
an (M4 )
an (M5 )
..
.
1
0
1
1
0
0
..
.
2
1
0
1
0
0
..
.
3
1
1
1
1
1
..
.
4
0
1
0
0
0
..
.
5
1
0
1
1
0
..
.
...
...
...
...
...
...
..
.
an (D)
1
1
0
1
1
...
5
Eine Variante davon erhalten wir, wenn wir uns die Folgen a1 , a2 , a3 , . . . von Nullen und
Einsen als Nachkomma-Dezimalziffern einer reellen Zahl vorstellen. Jede Folge von Nullen
und Einsen ist die Nachkomma-Dezimalziffernfolge einer reellen Zahl zwischen 0 und 1,
und keine reelle Zahl hat zwei Nachkomma-Dezimalziffernfolgen, die nur aus Nullen und
Einsen besteht.1 Wir erhalten:
Satz 5.6 (Nichtabzählbarkeit von R) Die Menge M aller reellen Zahlen x ∈ [0, 1[,
in deren Dezimaldarstellung nur Ziffern 0 oder 1 vorkommen, ist nicht abzählbar. Also ist
auch die Menge aller reellen Zahlen R ⊃ M nicht abzählbar.
Statt “Nichtabzählbarkeit” sagt man auch oft “Überabzählbarkeit”: Die Menge aller reellen Zahlen ist so groß, dass sie nicht mit einer einzigen Folge aufgezählt werden kann.
Der Beweis der Nichtabzählbarkeit der Potenzmenge der Menge der natürlichen Zahlen
läßt sich fast wörtlich verallgemeinern:
Lemma 5.7 (P(N ) ist mächtiger als N ) Es sei N eine Menge. Dann gibt es keine
Funktion f : N → P(N ) mit dem Definitionsbereich N und dem Wertebereich P(N ).
Beweis: Es sei eine Funktion f : N → P(N ) gegeben. Wir müssen zeigen, dass der
Wertebereich von f nicht gleich P(N ) sein kann. Hierzu bilden wir die folgende Teilmenge
von N :
D := {n ∈ N | n ∈
/ f (n)} ⊆ N
Dann gilt für jedes n ∈ N die Äquivalenz
n∈D
⇔
n∈
/ f (n),
also kann D nicht gleich f (n) sein. Die Menge D liegt also nicht im Wertebereich von f .
Damit erhalten wir eine Hierarchie von Unendlichkeiten: Die Menge N der natürlichen
Zahlen ist abzählbar unendlich, doch ihre Potenzmenge P(N) ist überabzählbar, deren iterierte Potenzmengen P(P(N)), P(P(P(N))), . . . bekommen mit jedem Schritt eine
höhere Mächtigkeit, in dem Sinn, dass man sie nicht mit der jeweils vorhergehenden Menge “aufzählen” kann.
Die Menge R der reellen Zahlen ist gleichmächtig mit der Potenzmenge P(N) der Menge
der natürlichen Zahlen im folgenden Sinn: Es gibt eine Funktion f : P(N) → R, so dass
jedes r ∈ R eindeutig in der Form f (M ) für ein M ∈ P(N) geschrieben werden kann.
1
Hier ist es wichtig, dass wir nur Nullen und Einsen und nicht etwa 0,1,2,3,4,5,6,7,8,9 verwenden: Zum
1
die beiden Dezimaldarstellungen
Beispiel hat 10
1
= 0, 100000 . . . = 0.099999 . . .
10
6
Gibt es nun zwischen N und R keine Zwischenmächtigkeit mehr? Gilt also die folgende
Hypothese:
Kontinuumshypothese: Für jede nichtabzählbare Menge M ⊆ R reeller Zahlen gibt es
eine Funktion f : M → R mit dem Wertebereich R.
Die Antwort auf diese Frage ist verblüffend; es ist eines der berühmtesten Ergebnisse der
Mengenlehre des 20. Jahrhunderts und wurde von den berühmten Logikern Kurt Gödel
und Paul Cohen geliefert. Die Kontinuumshypothese ist nicht entscheidbar.
Genauer gesagt gilt:
1. Nimmt man die Kontinuumshypothese an, so findet man keine Widersprüche, wenn
nicht schon zuvor Widersprüche in der Mengenlehre auftreten. (Gödel 1938)
2. Nimmt man das Gegenteil der Kontinuumshypothese an, so findet man keine Widersprüche, wenn nicht schon zuvor Widersprüche in der Mengenlehre auftreten.
(Cohen 1962)
Die Widerspruchsfreiheit der Mengenlehre selbst ist innerhalb der Mengenlehre ebenfalls
nicht entscheidbar; daher braucht es die Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit. Das ist
eine Konsequenz des zweiten Gödelschen Unvollständigkeitssatzes, der wohl das philosophisch wichtigste Ergebnis der Logik seit ihrer Entdeckung durch Aristoteles ist.
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