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jahr
2013
jahrgang
12
ausgabe
21
interculture
j ourna l
herausgeber
jürgen bolten
stefanie rathje
url
interculture-journal.com
Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien
Hermeneutische Zugänge
der Interkulturalitätsforschung
Hermeneutic Approaches
to Intercultural Research
Ram Adhar Mall
Hermeneutik der Überlappung
jenseits der Identität und Differenz
Overlapping Hermeneutics
beyond Identity and Difference
Philipp Altmann
Die Interkulturalität
als politischer Begriff in Ecuador
Interculturality as a political concept in Ecuador
Manfred Riegger
Empathische Wahrnehmung des kulturell Fremden.
Neun Konstruktionsmuster und deren Bedeutung für
interkulturelle Bildungsprozesse
Empathic perception of the culturally unknown.
Nine patterns of construction and their meaning for
educational processes
Joe Terantino, Claudia Stura,
Sabine H. Smith, Jeannette Böttcher
Integrating Intercultural Communicative
Competence into the curriculum of a department of
Foreign Languages: An Exploratory Case Study
Die Integration von interkultureller Kommunikationskompetenz in das Curriculum eines Institutes für
Fremdsprachen: Eine explorative Fallstudie
Yaling Pan
Auslandsstudienaufenthalt als Chance zur Förderung
interkultureller Kompetenz - Eine empirische Untersuchung chinesischer Studierenden in Deutschland
Study abroad as an opportunity to develop intercultural
competence – An empirical study of Chinese students in
Germany
herausgeber
jürgen bolten (jena)
stefanie rathje (berlin)
wissenschaftlicher beirat
rüdiger ahrens (würzburg)
manfred bayer (danzig)
darla deardorff (durham)
klaus p. hansen (passau)
jürgen henze (berlin)
bernd müller-jacquier (bayreuth)
alois moosmüller (münchen)
alexander thomas (regensburg)
yaling pan (peking)
chefredaktion
mario schulz
editing
diana krieg
kontakt
fachgebiet interkulturelle
wirtschaftskommunikation (iwk)
universität jena
ernst-abbe-platz 8
07743 jena
[email protected]
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verzeichnet diese publikation in der
deutschen nationalbibliografie; detaillierte bibliografische daten sind im
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wissenschaftlicher verlag berlin.
wvberlin.com
druck: digitaler buchdruck sdl, berlin,
printed in germany
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printausgabe: EUR 22,abo: EUR 18,- pro heft
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online: 2196-9485
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i n ha l t
content
Vorwort der Herausgeber
Editorial
7
Stefanie Rathje, Jürgen Bolten
Vorwort der Herausgeber
Editorial
Artikel
Articles
11
Ram Adhar Mall
Hermeneutik der Überlappung
jenseits der Identität und Differenz
Overlapping Hermeneutics
beyond Identity and Difference
33
Philipp Altmann
Die Interkulturalität als politischer Begriff
in Ecuador
Interculturality as a political concept in Ecuador
45
Manfred Riegger
Empathische Wahrnehmung des kulturell
Fremden. Neun Konstruktionsmuster
und deren Bedeutung für interkulturelle
Bildungsprozesse
Empathic perception of the culturally unknown.
Nine patterns of construction and their meaning for
educational processes
59
Joe Terantino, Claudia Stura,
Sabine H. Smith, Jeannette Böttcher
Integrating Intercultural Communicative Competence into the curriculum of
a department of Foreign Languages: An
Exploratory Case Study
Die Integration von interkultureller Kommunikationskompetenz in das Curriculum eines Institutes für
Fremdsprachen: Eine explorative Fallstudie
71
Yaling Pan
Auslandsstudienaufenthalt als Chance zur
Förderung interkultureller Kompetenz –
Eine empirische Untersuchung chinesischer
Studierenden in Deutschland
Study abroad as an opportunity to develop intercultural competence – An empirical study of Chinese
students in Germany
i n ha l t
Rezensionen
Reviews
content
81
Alexandra Stang
83
Luciole Sauviat
87
Viola Strittmatter
Reutner, Ursula (2012): Von der digitalen
zur interkulturellen Revolution
Schmidt, Judith / Keßler, Sandra / Simon,
Michael (2012): Interkulturalität und
Alltag. Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie / Volkskunde
Berninghausen, Jutta (2012): Ausseneinsichten. Interkulturelle Fallbeispiele von
deutschen und internationalen Studierenden über das Auslandsjahr
6
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Vorwort der
Herausgeber
Editorial
Stefanie Rathje
Vorwort der Herausgeber
Professorin für Unternehmensführung und
Kommunikation,
Hochschule für Technik
und Wirtschaft Berlin
(HTW)
Die 21. Ausgabe von interculture j o urna l beschäftigt sich schwerpunktmäßig
mit hermeneutischen Zugängen aus
verschiedenen Bereichen der Interkulturalitätsforschung.
Jürgen Bolten
Professor für Interkulturelle Wirtschaftskommunikation an der
Friedrich-SchillerUniversität Jena
Im ersten Beitrag „Hermeneutik der
Überlappung jenseits der Identität und
Differenz“ setzt sich der Philosoph Ram
Adhar Mall mit den beiden Konzepten
Identität und Differenz für das Verstehen oder die Kommunikation zwischen
Kulturen und Philosophien auseinander. Zur Überwindung der konträren
Ansätze Identität und Differenz schlägt
Mall das Konzept der überlappenden
Hermeneutik vor.
Der zweite Beitrag von Philipp Altmann geht der Frage nach, ob das
lateinamerikanische Land Ecuador ein
„interkultureller“ Staat sei, wie es laut
Verfassung im Art. 1 festgeschrieben ist.
Hierzu beleuchtet Altmann den Begriff
Interkulturalität und seine Geschichte
und Entwicklung in Ecuador. Er geht
dabei der Frage nach, was genau unter
Interkulturalität verstanden wird, wovon dieser Begriff sich abgrenzt und wie
sich die verschiedenen Organisationen
einen interkulturellen Staat bzw. eine
interkulturelle Gesellschaft vorstellen.
Im dritten Beitrag setzt sich Manfred
Riegger mit Konstruktionsmustern und
deren Bedeutung für interkulturelle
Bildungsprozesse mit Hilfe des Vierevidenzquellenmodells auseinander. Ziel
des Modells ist es, mögliche (Miss-)
Verständnisse der fremden Kultur und
Religion zu benennen, und zu klären,
wie Menschen mit den Differenzen
zwischen eigener und fremder Kultur
und Religion umgehen, um daraus
Schlussfolgerungen für pädagogische
Bildungsprozesse abzuleiten.
Der vierte Beitrag von Joe Terantino,
Claudia Stura, Sabine H. Smith und
Jeannette Böttcher beschreibt anhand
einer explorativen Fallstudie die Integration von Interkultureller Kommunikationskompetenz in das Curriculum eines
Institutes für Fremdsprachen.
Im letzten Beitrag setzt sich Yaling Pan
mit Hilfe einer empirischen Untersuchung von chinesischen Studenten in
Deutschland mit der Frage auseinander,
welche Chancen ein Auslandsstudienaufenthalt zur Förderung von Interkultureller Kompetenz bieten kann.
Geleitet von Theorien interkultureller
Kommunikation, werden Empfehlungen zur interkulturellen Vorbereitung
chinesischer Studierenden auf ihren
Deutschlandaufenthalt gegeben, damit
sie während des Aufenthaltes ihre interkulturelle Kompetenz bewusster und
effizienter fördern können.
7
Die Ausgabe wird wieder ergänzt durch
zahlreiche Rezensionen aus dem interkulturellen Bereich.
Alexandra Stang rezensiert das Buch
„Von der digitalen zur interkulturellen
Revolution“ von Ursula Reutner.
Luciole Sauviat rezensiert den von
Judith Schmidt, Sandra Keßler und
Michael Simon, herausgegebenen Sammelband „Interkulturalität und Alltag.
Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie / Volkskunde“.
Viola Strittmatter setzt sich abschließend mit dem Buch „Ausseneinsichten. Interkulturelle Fallbeispiele von
deutschen und internationalen Studierenden über das Auslandsjahr“ von Jutta
Berninghausen auseinander.
Die Herausgeber bedanken sich an
dieser Stelle bei allen Autorinnen und
Autoren und freuen sich auf zahlreiche
weitere Beiträge für zukünftige Ausgaben des interculture j ourna l .
Beachten Sie hierzu bitte den Open
Call auf unserer Webseite im Bereich
Mitteilungen.
Stefanie Rathje (Berlin) und
Jürgen Bolten (Jena) im Oktober 2013
8
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Editorial
The 21th edition of interculture j o urna l deals with the topic of hermeneutic
approaches to research in intercultural
communication.
The central article of this issue, “Overlapping Hermeneutics beyond Identity
and Difference” by the philosopher
Ram Adhar Mall addresses the significance of the two concepts of identity
and difference for an understanding
between cultures and philosophies. To
overcome the opposition of identity and
difference, Mall proposes the concept of
overlapping hermeneutics.
The second article by Philipp Altmann
examines the question whether the
Latin American country Ecuador really
is an “intercultural” state as codified by
the Ecuardorian constitution. Altmann
traces the development and the history
of the idea of interculturality in Ecuador
to clarify how it is understood and how
different institutions envision a intercultural country, or an intercultural society.
Manfred Riegger explores processes
of construction and their meaning for
intercultural education with the help of
the model of four sources of evidence.
The model aims at identifying potential
misunderstandings toward a foreign
culture or religion and clarifying how
people deal with differences between
the own and the other to draw conclusions for pedagogic education processes.
tural competence in a more conscious
and focused way.
As always, this edition is complemented
by numerous reviews of publications in
the field of intercultural studies.
Alexandra Stang reviews the book “Von
der digitalen zur interkulturellen Revolution” by Ursula Reutner.
Luciole Sauviat provides a write-up of
on the anthology “Interkulturalität und
Alltag. Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie / Volkskunde” edited by
Judith Schmidt, Sandra Keßler und
Michael Simon.
Viola Strittmatter deals with the book
“Ausseneinsichten. Interkulturelle Fallbeispiele von deutschen und internationalen Studierenden über das Auslandsjahr” by Jutta Berninghausen.
The editors would like to thank all
authors for their contributions to this issue and strongly encourage new authors
to submit their manuscripts for future
publication in interculture j o urna l .
Please consider our open call on www.
interculture-journal.com under Announcements.
Stefanie Rathje (Berlin) and
Jürgen Bolten (Jena), October 2013
The fourth paper by Joe Terantino,
Claudia Stura, Sabine Smith, and Jeannette Böttcher describes ways of how
to integrate intercultural communication competence into the curriculum
of a foreign language institute using an
explorative case study approach.
The concluding article by Yaling Pan
presents the results of an empirical study
of Chinese students in Germany and
underlines the importance of studying abroad for increasing intercultural
competence. Based on theories of intercultural communication, she develops
recommendations to prepare Chinese
students so that during their stay in Germany they can strengthen their intercul-
9
10
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Hermeneutik der
Überlappung jenseits
der Identität und Differenz
Overlapping Hermeneutics beyond Identity and Difference
Ram Adhar Mall
Abstract (Deutsch)
Prof. i. R. Dr.
Die grundlegende These des Artikels lautet, dass weder eine totale Identität, noch eine
radikale Differenz für das Verstehen oder die Kommunikation zwischen Kulturen,
Philosophien etc. wesentlich ist. Identität und Differenz sind zentrale Fragen der
Philosophie. Der Artikel schlägt eine Vermittlung der konträren Ansätze vor, indem
die Logik der Überlappung jenseits einer Logik der Identität und Differenz eingeführt wird. Diese These untermauernd, wird das Konzept einer überlappenden
Hermeneutik vorgestellt, die sowohl Wittgensteins These der Familienähnlichkeit als
auch die Polyperspektivität der indischen Schule der Jaina Philosophie zum Vorbild
hat.
Der Artikel ist mit freundlicher Unterstützung durch
Tony Pacyna (Universität
Zürich) entstanden
In einem zweiten Schritt wird das Konzept der analogischen Hermeneutik vorgestellt, das weder Identität noch Differenz beinhaltet, und somit eine unerlässliche
Rolle für Kompromisse jenseits des totalen Konsens und der radikalen Differenz
spielt. Eine solche Hermeneutik unterliegt der Überzeugung, dass der Wunsch zu
verstehen und der Wunsch, verstanden zu werden, Hand in Hand gehen, und die
zwei Seiten einer hermeneutischen Medaille repräsentieren. Die Frage lautet nicht,
wie man Differenzen beseitigen kann, sondern wie man damit umgehen lernt.
Am Ende werden abschließend tentative Imperative im Sinne einer interkulturell
orientierten Philosophie formuliert.
Schlagwörter: Interkulturelle Philosophie, analogische Hermeneutik, Identität,
Differenz, Überlappung
Abstract (English)
The central thesis here is the following: Neither the idea of total identity nor of radical
difference is conducive to understanding nor communication among cultures, philosophies etc. The problem of identity and of difference has been a central question for philosophy. The paper proposes mediation between the two opposing camps by introducing
the concept of a logic of overlaps beyond the logic of identity and difference. In order to
substantiate this, the concept of an overlapping hermeneutics is introduced very much
in the spirit of Wittgensteinian thesis of family resemblance and in the spirit of the
polyperspectivism of the Indian school of Jaina philosophy.
11
Another central concept, introduced here is the concept of an analogous hermeneutics,
which essentializes neither identity nor difference, thus pleading for the vital role
played by compromise beyond total consensus and radical dissens. Such a hermeneutics underlies the conviction that the desire to understand and the desire to be understood goes hand in hand and represent the two sides of the same hermeneutic coin.
The question is not how to get rid of differences but how to deal with them.
In the end a few tentative imperatives are formulated in the spirit of an intercultural
oriented philosophy.
Keywords: Intercultural philosophy, analogical hermeneutics, identity, difference,
overlapping
1. Ein Wort Zuvor
Heine spricht in Zur Geschichte der
Religion und Philosophie in Deutschland
von „der komischen Seite unserer Philosophen“, die „beständig über Nichtverstandenwerden“ (Heine 1997:108)
klagen. Als der Kantianer Karl Reinhold
Fichte einmal sagte, dass er, Reinhold
mit ihm, Fichte, gleicher Meinung sei,
soll Fichte ihm gesagt haben, niemand
verstehe ihn (Fichte) besser als er
(Reinhold). Ist dies nicht eine Art Hermeneutik der Identität? Als Reinhold
jedoch einige Jahre später mit Fichte
nicht übereinstimmte, sagte Fichte, er
(Reinhold) habe ihn nie richtig verstanden. Ist dies nicht eine Art Hermeneutik der Differenz? Mit anderen Worten:
Identität = verstehen, Differenz =
nichtverstehen? Ein solches hermeneutisches Motto ist viel zu handlich und
simpel, um der ungeheuren Komplexität
des hermeneutischen Unternehmens
gerecht zu werden. Lässt man auf das
hermeneutische Anliegen hin die
Philosophiegeschichte Revue passieren,
so stellt man empirisch belegt fest, dass
die Geschichte der Philosophie selbst
ein unerschöpflicher hermeneutischer
Ort ist, mit der Botschaft, es gibt weder
den einen absoluten Text noch die eine
absolute Interpretation. Und die These
von einer Keuschheit der Bedeutung ist
ein selbstverschuldeter Anspruch, die
fast jeder erhebt, aber keiner erreicht.
Die beiden Kategorien – Identität und
Differenz – zählen zu den Großphänomenen der Philosophiegeschichte. Sie
spielen eine zentrale Rolle angefangen
von der Ontologie, Metaphysik, Logik
12
bis zur Anthropologie und Religionsphilosophie. Die Befürworter und
Gegner haben sich gegenseitig bis heute
rein philosophisch argumentativ nicht
überzeugen können. Könnte es sein,
dass in einem tieferen Sinne die Präferenzen für diese oder jene Position
den Argumenten vorausgehen? Mit
anderen Worten sind Argumente qua
Argumente zwar eine notwendige, nicht
aber hinreichende Bedingung für die
Überzeugung?1
Die fast unübersichtliche Verflechtung
kann und soll nicht das Thema dieses
Beitrags sein, sondern betrifft nur die
hermeneutische Dimension dieser
Kategorien. Die hier vorgeschlagene
Konzeption einer Hermeneutik der
Überlappung jenseits von Identität und
Differenz ist integrativ, und befürwortet
einen ontologischen, methodologischen
und logischen Pluralismus, orientiert
sich jedoch empiristisch-phänomenologisch. Es kommt fast einer protophilosophischen Sünde gleich, wenn man
absolut exklusivistische und aprioristische Festlegungen dem konkreten Akt
des Philosophierens vorausgehen lässt.
Denn wir leben weder in der gleichen
Welt, noch leben wir in ganz verschiedenen Welten. Vielmehr leben wir in einer
dynamisch-überlappenden, integrativen,
sich immer wieder konstituierenden
und kontextualisierenden Welt.
Die zentrale These, die hier vorgeschlagen, diskutiert und verteidigt wird, ist
die folgende: Eine Hermeneutik der
Identität versteht unter Verstehen eine
Selbstverdoppelung. B versteht A, so die
Forderung, nur dann richtig, wenn B A
so versteht, wie A sich selbst versteht.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Ein solches Verstehen käme fast einer
säkularisierten unio mystica gleich. Eine
Hermeneutik der radikalen Differenz
dagegen, macht das Unternehmen
Verstehen schon im Ansatz unmöglich.
Denn eine radikale Differenz lässt sich
erst gar nicht artikulieren. Daher ist
die minima moralia einer interkulturell
orientierten Hermeneutik die Suche
nach Überlappungen jenseits der bloßen
Identität und völligen Differenz. Überlappungen kennen Gradunterschiede
und manchmal können sie fast inhaltsleer sein, ohne jedoch ihren verbindenden Charakter zu verlieren. Daher sind
sie der Humusboden für unterschiedliche Formen des Philosophierens.
Andersphilosophieren ist eben Andersphilosophieren, mag es stellenweise
konträr oder gar kontradiktorisch sein.
Denn das, was Lao Tzu mit Konfuzius,
Nagarjuna mit Shankara, Platon mit
den Sophisten, Hume mit Descartes,
Hegel mit Schopenhauer, Lyotard mit
Habermas verbindet, ist letzten Endes
nicht das konkrete Wie ihres Philosophierens, sondern das Dass ihres Philosophierens. Will man zwei oder mehrere
philosophische Monologe dialog- bzw.
polylogfähig gestalten, so muss man das
Überlappende suchen und finden. Dies
gilt auch dann, wenn Überlappungen
fast inhaltsleer zu sein scheinen. Wem
Überlappungen jedoch zu wenig sind,
liebäugelt zumindest insgeheim mit
einer Hermeneutik der Identität.
Es besteht ein Primat der Kommunikation und Verständigung vor dem
Konsens und ebenso vor dem Dissens.
Denn Konsens soll sein, Dissens ist da
und Kompromiss ist unser aller Schicksal. Dass die Kompromisse fair sind und
bleiben, hängt in der Hauptsache von
der Art und Weise unseres Umgangs
mit Differenzen ab, die aller Wahrscheinlichkeit nach abgemildert und
minimiert, aber nicht restlos beseitigt
werden können und sollen. Interkulturelle Orientierung auf allen Gebieten ist
mehr als eine notwendige Bedingung
für eine friedvolle, zumindest konfliktarme Begegnung der Kulturen. Alle
Versuche, Differenzen (Diversitäten)
restlos zu tilgen, erheben eine bestimmte Sicht der Dinge in den absoluten
Stand. Und dies hat stets eine Gewalt-
samkeit in Theorie und Praxis zur Folge
gehabt. Kompromissbereitschaft ist eine
Tugend. Was jedoch vermieden werden
soll, sind nicht die Kompromisse, sondern nur die faulen Kompromisse.
Methodologisch kann man von drei
Formen einer Kommunikationslogik sprechen: 1. Von einer Logik der
Identität, 2. einer der Differenz und 3.
einer der Überlappung. Lässt man die
Geschichte der Menschheit Revue passieren, so stellt man eine aus dem Geist
der Empirie geborene Weisheit von der
Unvermeidbarkeit der Differenzen fest.
Dieser Beitrag zielt auf die Erarbeitung
einer Minimalhermeneutik, die unterschiedliche Auffassungen / Positionen
als Alternative aufgreift und ernst
nimmt, ohne irgendeine Position in den
absoluten Stand zu setzen, einschließlich der eigenen.
2. Logik der Identität und
Identitätshermeneutik
Seit Menschengedenken ist die Frage
nach Identität und Differenz stets ein
zentrales Anliegen der Philosophie
aller Traditionen gewesen – von Platon
bis Hegel, von den Upanishaden bis
Shankara und Nagarjuna. Die Vertreter
der Identität uniformieren die Begriffe
wie z. B. Wahrheit, Erkenntnis, Moral,
Recht usw. Sie sind in der Regel Essentialisten und gehen von universalen,
unveränderlichen Prinzipien aus. Auf
dem Gebiet des Politischen tendieren
sie zu monarchischen Modellen, und
auf dem Gebiet der Moral zu universalistischen Prinzipienethiken mit dem
Anspruch auf Allgemeingeltung. Erstaunlich, dass das Vorhandensein selbst
der pluralistischen philosophischen
Modelle sie nicht daran hinderte und
hindert, diesem Ansinnen gegenüber
skeptisch zu werden. Denn der Traum
von der Letztbegründung ist entweder
ausgeträumt oder es gibt eine Pluralität
der Letztbegründungen. Mit Recht
nennt Adorno „Identität die Urform
von Ideologie“ (Adorno 1973:151). In
der „Uniformierung des Wahren“ sieht
Ricoeur, wie er sagt, eine erste „Fehltat“,
eine erste „Gewaltsamkeit“ (Ricoeur
1974:152). Man kann vom Anspruch
13
und Elend einer Hermeneutik der
Identität sprechen. Wer Einheit in einer
prä-existenten Entität dingfest macht,
handelt gegen den Geist des Dialogs.
Identitätsvorstellungen können und sollen höchstens als regulative Ideen gelten,
ohne einen ontologischen Anspruch auf
Absolutheit und universelle Geltung.
Im Geist der Empirie und der Lehre des
Bedingtheitsnexus (Pratityasamutpada),
plädiert der buddhistische Philosoph
Nagarjuna für Kontinuität im jenseits
der Identität und Differenz.
3. Logik der Differenz und
Differenzhermeneutik
Die Protagonisten der Differenz behandeln die Kategorie der Differenz nicht
stiefmütterlich und halten sie zumindest
für gleichursprünglich mit der Kategorie der Identität. Sie sind in ihrer
Haltung anti-essentialistisch, gehen von
einem geschichtlichen Gewordensein
aller Dinge aus (vgl. Pratityasamutpada
– Abhängigkeitsnexus in der buddhistischen Philosophie) und neigen zu relativistischen Auffassungen hinsichtlich
der Erkenntnis, Wahrheit, Rationalität,
Moral usw. Auf dem indischen Subkontinent waren daher die Buddhisten
im Gegensatz zu den Hindus antimonarchisch und demokratisch, weil
die anti-essentialistische buddhistische
Metaphysik von der Nichtexistenz einer
unveränderlichen Seele eine demokratische Gesinnung unterstützt.
Eine Hermeneutik, die der Logik der
Identität folgt, erkennt die anderen
Lesarten eines Texts nicht einmal als
ernst zu nehmende Alternativen an.
Auf die selbstgestellte Frage, warum es
unmöglich ist, ein Hegelianer zu sein,
gibt Paul Ricoeur die Antwort, weil für
Hegel eine andere Art Sinn zu haben,
ein Unsinn ist. Andere Verstehensweisen werden gleichsam a priori als
Nicht- oder Falschverstehen abgestempelt. Hier wird Verstehen fast zur Farce.
Eine solche Hermeneutik neigt ferner
politisch und moralisch entweder zur
Usurpation des Anderen oder ignoriert
es zur Gänze. Einige der geschichtlichen
Kulturbegegnungen belegen dies zur
Genüge.
14
Eine Hermeneutik, die einer Logik der
Differenz folgt und diese Differenz
radikalisiert, macht das Verstehen fast
unmöglich. Sie führt zu einem radikalen Relativismus, der die Kehrseite des
Absolutismus darstellt, denn Absolutismus ist verabsolutierter Relativismus. Philosophie verliert ihre legitime
universelle Applizierbarkeit nicht
durch Hinzufügung etwa der Adjektive
chinesisch, indisch, europäisch u. a.,
sondern durch die Selbstverabsolutierung eines bestimmten Adjektivs. Die
Adjektive sind, so die Botschaft einer
interkulturell-philosophischer Orientierung, eher der Reichtum der Philosophie. Dem Vorurteil, Philosophie sei
nur griechisch-europäisch, liegt eine
ungerechtfertigte, historisch kontingente Selbstuniversalisierung des Adjektivs
europäisch zugrunde. Aus dem Geist
des interkulturellen Philosophierens, ist
eine derartige Verabsolutierung, sei sie
europäisch oder der nicht-europäisch,
abzuweisen.
Differenz ist jedoch nicht gleich Differenz. Es gilt zwischen zwei Arten von
Differenz zu unterscheiden. Auf die Frage: Wann sind zwei Dinge unterschiedlich und wann radikal unterschiedlich,
lautet die Antwort: Zwei Dinge sind
unterschiedlich, wenn sie Beispiele des
gleichen Oberbegriffs sind. In diesem
Sinne sind indische und europäische
Philosophien unterschiedliche Philosophien; Nagarjuna, Hegel, Kant und
Schopenhauer sind unterschiedliche
Philosophen; Chinesisch, Sanskrit und
Deutsch sind unterschiedliche Sprachen. In allen diesen Fällen existiert
die Differenz unter dem gemeinsamen
Dach der Überlappung. Verstehen hier
ist möglich und wirklich. Eine andere,
radikale Art der Differenz herrscht,
wenn zwei Dinge sich überhaupt nicht
unter einem Oberbegriff subsumieren lassen. In diesem Sinne gilt es: Ist
Heraklit ein Philosoph, dann ist Parmenides kein Philosoph; ist westliche
Philosophie Philosophie, so ist indische
Philosophie keine. Es ist diese zweite
Art der radikalen Differenz, die die hier
vertretene Hermeneutik der Überlappung strikt ablehnt.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Interkulturell philosophiert, wer Pluralität anerkennt und Differenz respektiert.
Es kommt einem selbstverschuldeten
Wunschdenken gleich, wenn man von
einer essentiellen Einförmigkeit unter
den Menschen ausgeht.
4. Hermeneutik der Überlappung
Eine für die interkulturelle Perspektive
charakteristische Logik der Überlappung ist in der Empirie verankert und
wird von der Einsicht begleitet, dass es
gemeinsame Strukturen gibt. Diese dürfen jedoch nicht essentialisiert werden.
Sie sind eher vergleichbar mit der These
der Familienähnlichkeit Wittgensteins.
Die hier von mir vertretene Hermeneutik der Überlappung wendet sich
vehement gegen die These, dass Anerkennung von Differenzen zur Beliebigkeit führe.
In diesem Zusammenhang möchte ich
ganz kurz auf die Logik und Methodologie der Jaina Philosophie (einer der
Schulen der indischen Philosophie)
hinweisen. Die Jainistische Philosophie
mit ihrer de-konstruktivistischen Methodologie der Nicht-Einseitigkeitslehre
(Anekaantavaada), warf sowohl dem
Buddhismus als auch dem Vedantismus eine einseitige Verabsolutierung
ihrer je eigenen Perspektive vor. In
allen philosophischen Traditionen sind
unterschiedliche Strategien hinsichtlich
einer Überwindung dieser gegenseitigen
Alternativen vorgeschlagen worden.
Die Nicht-Einseitigkeitslehre der Jainas
geht von der Unvermeidbarkeit der
Standpunkthaftigkeit (nayavada) aus
und versieht alle Urteile mit dem Zusatz
unter Bedingungen möglich (syad).
Genau besehen geht es hier um eine Anwendung der Ethik der Gewaltlosigkeit
(Ahimsaa) auch auf das philosophische
Denken, denn es gibt nicht nur physische, sondern auch eine intellektuell
theoretische Gewalt. Absolutismus
jedweder Art ist eine solche Form der
Gewaltanwendung abweichenden
Positionen gegenüber. Die zweiwertige
Logik, die eine Proposition entweder
wahr oder falsch sein lässt, wird hier
zugunsten einer mehrwertigen Logik –
eben der siebenfachen Prädikationslogik
der Jaina Philosophie (Saptbhanginaya)
– abgelehnt. Dieser zufolge sind philosophische Standpunkte verschieden und
plural, schließen einander jedoch nicht
aus, sondern können sich eher als komplementär erweisen. So gilt es, die Idee,
ja die Ethik der Gewaltlosigkeit (Ahimsaa) nicht nur in der Praxis, sondern
ebenso in der Theorie zur Anwendung
zu bringen. Denn eine Unterschätzung
der theoretischen Gewalt, richtet viel
Schaden an, denn wer die eigene Lesart
verabsolutiert und alle anderen ablehnt,
übt theoretische Gewalt aus.
Seit Menschengedenken stellen die
Diskurse unter den Menschen und
ihren Systemen eine unaufhörliche
dialektische Abfolge dar, die das Alte
im Hegel‘schen Sinne zwar aufzuheben
vermögen, ohne aber den Hegel‘schen
Traum von einer endgültigen Synthese in einem bestimmten Denksystem
zu verwirklichen. Wer Dialektik zur
endgültigen Ruhe bringen will, denkt
und handelt gebieterisch. Denn ist das
Denken von Haus aus dialektisch, wie
kann es Denken bleibend sich selbst
überwinden?
Auf die Frage: Wie mit Differenzen
umgehen? kann in einem tentativen
Imperativ formuliert werden: Im Geiste
der Jainistischen Logik und Methodologie der mannigfaltigen Standpunkte,
die offener, toleranter und demokratischer ist und in Zurückweisung einer
Logik der Identität, die essentialistisch,
vereinnahmend, absolutistisch und
gebieterisch ist, versuche nicht von
vornherein von Wahrheit anzufangen,
sondern von diversen Standpunkt(en),
vermeide die Verabsolutierung eines
jeden Standpunktes, einschließlich des
eigenen und strebe so nach Kommunikation und Verständigung im Diskurs
der Standpunkte, denn der Denkirrtum
besteht nicht in unserer allgemeinen
Standpunktgebundenheit, sondern in
unserem allseitig gefährlichen Willen
zum Absolutheitsanspruch. Wer die
Frage der Wahrheit der Frage nach der
Bedeutung vorausgehen lässt, zäumt das
Pferd von Hinten auf.
In Anlehnung an Husserls Idee überlappender Inhalte, geht es hier um Per-
15
spektiven, die sich überschneiden und
sowohl Relativismus als auch Absolutismus vermeiden. Eine Hermeneutik der
Überlappung bietet hier einen Ausweg. Sie besteht jenseits der Fiktionen
sowohl eines exklusiven Absolutismus
als auch eines radikalen Relativismus,
indem sie grundsätzlich davon ausgeht,
dass das Beziehen eines Standpunktes
erkenntnistheoretisch unausweichlich
ist, dass aber unterschiedliche Positionen
stets möglich sind und auch realiter
vorkommen. Diese Grundannahme ist
die Quelle philosophischer Liberalität
Offenheit und Toleranz. Sie erweist sich
als eine philosophische Tugend im Sinne einer Verzichtleistung auf jeglichen
Absolutheitsanspruch.
Die hier kurz skizzierte Hermeneutik der
Überlappung wird auf folgende Themenbereiche angewendet: Das Verhältnis
von Konsens, Dissens und Kompromiss;
das Primat der Vorsilbe inter- vor den
Vorsilben trans-, intra- und multi-; zur
Konzeption interkultureller Philosophie
– was sie nicht ist und was sie ist; zur
Theorie einer interkulturell orientierten
analogischen Hermeneutik (Mall 2012)
und auf die Frage, wie man mit Differenzen umgehen kann.
5. Konsens, Dissens, Kompromiss
Konsens ist erstrebenswert, Dissens ist
stets da. Eine liberale und realitätsbezogene Logik philosophischer Diskurse
zielt auf einen Kompromiss, der sowohl
theoretisch als auch praktisch frei von
Gewaltsamkeit ist. Zur herrschaftsfreien
Diskussion (Habermas) sind wir alle
verpflichtet. Leider ist diese jedoch keine konstitutive, sondern eine regulative
Idee. Als ein intentional noematisches
Ziel harrt sie ihrer teilweisen oder
gar vollständigen Einlösung. „Es ist
wichtig“, schreibt Paul Ricoeur, „den
Konfliktcharakter einer entwickelten
Gesellschaft ernst zu nehmen. Wir
können uns nicht damit bescheiden, auf
einen Konsens zu hoffen. Die Idee des
Konsenses ist wie die Idee des ewigen
Friedens, auf den Diskurs übertragen“
(Ricoeur 1998). Was interkulturelle
Diskurse auf jedwedem Gebiet ermög-
16
licht, ist weder die Idee eines vollständigen Konsenses noch die eines völligen
Dissenses, sondern die eines „überlappenden Konsenses“ (Rawls 1987:1ff.).
Geertz stellt fest: „Nicht um den Konsens geht es, sondern um einen gangbaren Weg, ohne ihn auszukommen“
(Geertz 1995:82). Die hier vorgeschlagene Konzeption einer Hermeneutik
der Überlappung könnte eine mögliche
Antwort sein.
Der Siegeszug eines relativistischen
Denkens in unterschiedlichen Graden
kann heute nicht in Abrede gestellt werden. Wenn Relativismus aber im Sinne
des gesunden Menschenverstandes
bedeuten soll, dass wir Menschen unterschiedliche Vorstellungen davon haben,
was wir Erkenntnis, Vernunft, Wahrheit,
Wert, Gerechtigkeit usw. nennen, dann
wundert man sich, wie man kein Relativist sein kann. Die Frage ist daher nicht,
wie man den Relativismus loswerden
oder widerlegen, sondern wie mit ihm
umgehen kann. Dies kann gelingen unter Vermeidung eines unverbindlichen
radikalen Relativismus.
6. Zum Primat der Vorsilbe inter- vor intra-, transund multiZunächst ist die interkulturelle Sicht
nicht viel anders als die intrakulturelle Sicht, denn innerhalb der gleichen
Kultur gibt es auch unterschiedliche
Denk- und Handlungsmodelle. Sehr zu
Recht schreibt Georg Stenger: „Interkulturelle Philosophie scheint mir ihre
Sprengkraft darin zu haben, dass sie zu
einer wirklichen Herausforderung der
Philosophie insgesamt avanciert. Die
Philosophie wird nicht nur aus externen
Gründen interkulturell werden müssen,
sie wird sich aus internen philosophischen Gründen interkulturalisieren“
(Stenger 2006:14).
Die interkulturelle Sicht macht freilich
die Palette der Modelle jedoch bunter,
reicher und weist unter ihnen grundsätzliche Ähnlichkeiten und erhellende,
kulturspezifische Differenzen auf. Daher wirkt die interkulturelle Perspektive
befreiend von der Enge der kulturellen
Sicht. Sie kann aber auch beängstigend
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
sein, wenn man fälschlicherweise die interkulturelle Begegnung mit Selbstverlust in Verbindung bringt. Unterschiedliche Kulturen sind unterschiedlich,
weil sie die anthropologische Gleichartigkeit unterschiedlich entwickeln.
Intrakulturelle Verständigungsprobleme
innerhalb der gleichen Kultur sind,
genauer besehen, interkultureller Natur,
weil das Gefühl, die Wahrnehmung der
Fremdheit mit Gradunterschieden nie
ganz verschwindet. Daher zerfällt die
Vorsilbe intra- in die Vorsilbe inter- im
Sinne einer fraktalen Rekonstruktion.2
Zur Grundposition der interkulturellen Philosophie gehört wesentlich
die Einsicht in das geschichtliche
Gewordensein der konkreten Gestalten der Philosophie. Ferner aber auch
die Überzeugung, dass Philosophie
und Anthropologie sich gegenseitig
bedingen und in der Regel ineinander
verflochten sind. Daher ist und bleibt
die Frage nach dem Primat der einen vor
der anderen offen.
Die unterschiedlichen Gestalten der
Philosophie, ob inter- oder intra-kulturell, können konträr und manchmal
sogar kontradiktorisch sein. Eine interkulturelle philosophische Orientierung
aber gesteht ihnen allen das Prädikat
Philosophie zu sein zu und rettet so
eine überlappend-universelle Verbindlichkeit, mag diese noch so inhaltsarm
sein. So gehört der Protest gegen
Zentrismen aller Art zum Wesenszug
der interkulturellen Philosophie. Daher
ist interkulturelle Philosophie auch
gegen alle Nivellierungsversuche, die
in der Regel mit irgendeiner Form der
Gewalt einhergehen, die Kategorie der
Differenz stiefmütterlich und reduktiv
behandeln und die regulative Idee der
Einheit metaphysisch-ontologisch,
spekulativ-ideologisch und aprioristisch
als Einheitlichkeit ab ovo bestimmen.
Die Vorsilbe inter- steht für ein Zwischen, das sich auch auf der Ebene der
sogenannten intra-kulturellen Vergleiche bemerkbar macht. Dies wird
deutlich, wenn wir philosophische
Auseinandersetzungen in den unterschiedlichen kulturellen Traditionen
beobachten. So scheint die Vorsilbe
intra- sich in die Vorsilbe inter- aufzu-
heben, weil ein Zwischen nicht aufhört,
sich bemerkbar zu machen, auch in den
sogenannten intrakulturellen philosophischen Diskursen.
Treffen zwei philosophische Traditionen wie z. B. die der Sophisten und die
der Platoniker aufeinander, so begegnen
sich eigentlich zwei Kulturen der Philosophie im Sinne einer interkulturellen
philosophischen Begegnung, auch wenn
die beiden der gleichen philosophischen
Tradition Griechenlands angehören.
Das gleiche gilt auf dem Boden der philosophischen Tradition Indiens in der
Begegnung der hinduistischen Tradition
mit der buddhistischen.
Wenn Philosophie als Philosophie vor
den erwähnten Adjektiven ausschließlich trans-kulturell sein soll, dann
stellt sich die Frage erstens nach dem
Fixpunkt eines tertium comparationis,
der in einer bestimmten Tradition
nicht fixiert werden darf; zweitens
nach einer möglichen trans-kulturellen,
fast platonischen Verankerung der
Philosophie und drittens nach einer
fast apriorischen, bloß analytischen
und nominalistischen Bestimmung
der Philosophie. Alle drei Möglichkeiten belasten die Vorsilbe trans- in
einer Weise, die einer interkulturellen
Verständigung nicht dienlich ist. Die
Universalisierungstendenz der Vorsilbe
trans-, die sich den kulturellen Gestalten
der Philosophie verweigert, endet im
Leeren, weil eine trans-philosophische
Bestimmung das Zwischen im Voraus
festlegt. Die Vorsilbe inter- ist frei von
diesen Mängeln, weil sie sich als ein im
Gespräch, im Diskurs stattzufindendes
Erlebnis eines Zwischen versteht, wenn
sich philosophische Fragen und Lösungsansätze im Vergleich der weltphilosophischen Traditionen begegnen.
In der Abwesenheit eines alle Kulturen
transzendierenden Legitimationsgrundes für die Bestimmung der Philosophie
bietet eine interkulturelle Orientierung
die notwendige Verbindlichkeit, die unparteiisch genug ist, der Gegenposition
das gleiche Recht einzuräumen, das sie
selbst in Anspruch nimmt. Die theologisch und philosophisch so belastete
Vorsilbe trans- liebäugelt mit einem
allbestimmenden archimedischen Punkt
17
und träumt von einer allverbindlichen
Letztbegründungsinstanz.3
Die Vorsilbe multi- führt ohne die überlappende Verbindlichkeit der Vorsilbe
inter- zu einem unverbindlichen neben-,
durch- oder gegeneinander. Neben der
deskriptiven ist die normative Dimension des Multikulturalismus von zentraler
Bedeutung. Und diese Dimension lebt
von einer interkulturellen Orientierung.
Die Vorsilbe inter- könnte für eine
Einstellung stehen, die alle konkreten
Gestalten und Orte der Philosophie wie
ein Schatten begleitet und verhindert,
dass irgendeine bestimmte Gestalt oder
irgendein bestimmter Ort der Philosophie sich verabsolutiert. Mit Recht
unterstreicht Waldenfels die Rolle der
Interkulturalität im Sinne eines „Zwischen, das“, wie er schreibt,
„weder auf eine Vielzahl von Eigenkulturen oder gar auf die eigene Kultur zurückgeführt noch auf eine allumfassende
Gesamtkultur ausgerichtet werden kann.
Interkulturalität bedeutet mehr als Multikulturalität im Sinne einer kulturellen
Vielfalt, mehr auch als Transkulturalität
im Sinne einer Überschreitung bestimmter Kulturen.“ (Waldenfels 1997:110)
In ihren Grundstrukturen unterscheiden sich inter-kulturen Differenzen
kaum von intra-kulturellen Differenzen.
Eine Sensibilisierung für intra-kulturelle
Differenzen erleichtert die Aufgabe
inter-kultureller Verständigung. Interkulturelle Philosophie zielt auf einen
Paradigmenwechsel im Diskurs der
philosophischen Traditionen der Welt.
Daher wird die zukünftige Philosophie
entweder interkulturell sein oder aber
sie wird provinzialistisch bleiben.
7. Interkulturelle Philosophie mit ihrer Verpflichtung
zur Hermeneutik der Überlappung
Philosophie heute befindet sich in
einem Prozess der Entscheidung. Sie
muss sich entweder für eine Logik der
Identität oder einer Logik der Differenz oder einer Logik der Überlappung
entscheiden. Sie ist einer Logik der
Identität nicht verpflichtet, weil diese
viel zu essentialistisch verfährt. Sie ist
18
ebenso wenig einer Logik der Differenz
verpflichtet, weil diese von radikalen
Differenzen ausgeht und unverbindlich
relativistisch wird. Recht verstanden
ist Philosophie heute einer Logik der
Überlappung verpflichtet, weil die
Anerkennung überlappender Strukturen und Inhalte eine Interpretation,
Verständigung und Kommunikation
ermöglicht, die Ordnung mit Differenzen Hand in Hand gehen lässt. Eine
Logik der Überlappung lehnt eine jede
selbstverschuldete Verabsolutierung des
eigenen Standpunktes ab. Jenseits der
Fiktion einer totalen Kommensurabilität und einer völligen Inkommensurabilität, steht die Überlappungsthese für
Gemeinsamkeiten, die aus unterschiedlichen Gründen zwischen den Kulturen
zu finden sind (Mall 1995:39ff.). Diese
These ist nicht mit einem idealisierten
Konsens in seinem transzendentalpragmatischen und kommunikationstheoretischen Zug gleichzusetzen. Sie ist ein
phänomenologisch-empirisch nachweisbarer dynamischer Prozess. Habermas
Theorie der Kommunikation mit ihren
nachmetaphysischen Reflexionen will
zwar keine alte Metaphysik der einen
absoluten Vernunft. Sie plädiert aber
für eine starke Version des Konsensualismus. Im Konsens sieht sie nicht nur
ein regulatives Ideal rationaler Diskurse,
sondern eine konstitutive Vorbedingung
für die Möglichkeit der Kommunikation.4
Die Theorie der Überlappung plädiert
für eine schwache Version des Konsensualismus und lässt Diskurse auch ohne
Konsens zustande kommen. Nicht die
Wünschbarkeit des Konsenses wird hier
in Abrede gestellt, sondern der essentialistische und absolute Status. Die hier
vertretene Überlappungstheorie kommt
der Rawls‘schen Auffassung von einem
überlappenden Konsensus sehr nahe.
Überlappungsthese bedenkt als methodischen Zugang schon im Ansatz die
Vielfalt und Heterogenität.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
8. Selbst- und Fremdhermeneutik
Es herrscht ein dialektisches Verhältnis
zwischen dem Selbst- und Fremdverstehen, und dies trotz der inneren Dynamik der beiden Verstehensarten. Das
Selbstverstehen von A wird zum Gegenstand hermeneutischen Verstehens von
B. Analoges gilt für das Selbstverstehen
von B. In diesem Prozess ist der Konflikt der Interpretationen unvermeidbar
und die interkulturelle philosophische
Einstellung hilft, jede Selbstverabsolutierung zu vermeiden. Hermeneutisches
Unternehmen ist eine unendliche Suche
nach Überlappungen, mögen diese noch
so minimal sein und nur darin bestehen,
dass man den Gegenpositionen auch
das Recht, Positionen zu sein, zugesteht.
Zwischen absolut gültiger Interpretation und einer interkulturellen Hermeneutik muss gewählt werden. Denn
es gibt weder den einen absoluten Text
noch die eine absolute Interpretation. In
seiner Kritik der Gadamer‘schen Hermeneutik spricht Hörisch von einem
„Vereinigungsdelirium“, von einem
„Einheitsdelirium“ (Hörisch 1988:67).
Oft geht man von der Vorstellung aus,
die Innensicht einer Kultur sei für die
Angehörigen der gleichen Kultur klar,
eindeutig, homogen und widerspruchsfrei. Diese Ansicht entspricht jedoch
nicht den tatsächlichen Verhältnissen.
Beim Phänomenologen und Soziologen Alfred Schütz heißt es, dass „das
Wissen des Menschen, der in der Welt
seines täglichen Lebens handelt und
denkt, nicht homogen ist.“ Denn dieses
Wissen, so Schütz weiter, „ist erstens
inkohärent, zweitens nur teilweise klar
und drittens nicht frei von Widersprüchen“ (Schütz 1972:61). Die bekannte
homo duplex-These hält die InsiderOutsider-Spannung letztlich für nicht
ganz überwindbar und rät dazu, sie zu
minimieren und auszuhalten. Es wird
zwar für Einheit plädiert, aber von der
Idee einer Einheitlichkeit Abstand
genommen.
Philosophie im Vergleich der Kulturen
weist auf das folgende Dilemma hin:
Wenn wir z. B. das indische Denken
in westliche Kategorien und Konzepte
übersetzen, um es zu verstehen, dann
ist die Gefahr einer Verdrehung nicht
auszuschließen. Tun wir dies aber nicht,
so fürchten wir, es nicht verstehen zu
können. Das Gleiche gilt auch für den
umgekehrten Weg. Es stellt sich die
Frage, ob die Denkweisen unterschiedlicher Kulturen so radikal verschieden
sind, dass wir sie in unsere eigenen
übertragen müssen? Aber wie können
wir dies tun, wenn die Unterschiede so
radikal sind, dass sie nicht einmal artikuliert werden können? Oder ist eine
grundlegende, offene, anthropologische
Verankerung überlappend genug, um
die Kulturen, die nicht unsere eigenen
sind, verstehen zu können? Dass die
Kulturen sich seit Menschengedenken
über ihre eigenen Grenzen hinweg
interpretiert und verstanden haben,
auch missverstanden haben, ist ein Beleg
für das Verstehen von Kulturen, die
nicht unsere eigenen sind. Wenn z. B.
ein Philosoph aus der europäischen
Tradition die Feststellung macht, die
chinesischen Denker beschäftigten sich
hauptsächlich mit den Verifikationsimplikationen einer Aussage, während die
europäischen Denker die Frage nach der
Wahrheit oder Falschheit einer Aussage
ins Zentrum stellten, so beweist er, dass
er einige Merkmale der chinesischen
Philosophie verstanden hat, denn sonst
könnte er diese Aussage nicht machen.
Interkulturelles Philosophieren geht von
der Möglichkeit einer interkulturellphilosophischen Begriffskonkordanz
aus und zielt auf die Realisierung dieser
Möglichkeit. Ferner ist die Rede von
der europäischen, der indischen oder
der chinesischen Philosophie selbst eine
höherstufige Konstruktion.
Plessner warnt vor der Verabsolutierung eines bestimmten Denk- und
Kategoriensystems, das seine eigenen
geschichtlichen, kontextuellen und transzendentalen Bedingungen auf andere
Denkstrukturen überträgt. Daher ergibt
sich die Notwendigkeit einer Durchrelativierung des eigenen Weltverständnisses. Im Hinblick auf einen interkulturellen philosophischen Diskurs sind die
folgenden Worte Plessners von zentraler
Bedeutung:
19
„In dem Verzicht auf die Vormachtstellung des europäischen Wert- und Kategoriensystems gibt sich der europäische Geist
erst den Horizont auf die ursprüngliche
Mannigfaltigkeit der geschichtlich gewordenen Kulturen und ihrer Weltaspekte
frei. In dem Verzicht auf die Absolutheit
der Voraussetzungen, welche diese Freilegung selbst erst möglich machen, werden
diese Voraussetzungen zum Siege geführt.
Europa siegt, indem es entbindet.“( Plessner 1979:299)
Hieraus folgt, dass keine philosophische
Tradition ihre eigenen Denk- und Verhaltensmuster verabsolutieren darf. Das
tertium comparationis muss erarbeitet
und nicht per definitionem im Sinne
einer apriorischen Methode fixiert
werden (Mall 2000). Eine andere Denkweise ist eine alternative Denkweise, die
nicht unbedingt falsch sein muss, es sei
denn, es handelt sich um eine Denkweise, die neben sich keine andere zulässt.
Dies ist ein Dialog hemmender Dogmatismus, ob inter- oder intrakulturell.
Wer durch Ausschluss denkt, verhindert
offene und tolerante Diskurse.
9. Zur Konzeption einer
interkulturellen analogischen Hermeneutik
Eine Hermeneutik, die der heutigen de
facto hermeneutischen Situation gerecht
werden will, muss das Verstehenwollen und das Verstandenwerdenwollen
zusammendenken. Oft haben kulturelle
Traditionen im Namen des Verstehens
Monologe betrieben. Monologische
hermeneutische Modelle lassen das
Fremde entweder nicht zu Wort kommen oder betreiben eine gewaltsame
Einverleibung. Eine solche Hermeneutik könnte man eine reduktive nennen.
Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass
sie erstens eine bestimmte Tradition
privilegiert, zweitens diese darüber
hinaus verabsolutiert und drittens im
Namen des Verstehens das Übertragen
der eigenen Strukturen versteht. So
trägt eine der heutigen hermeneutischen
Situation adäquate Hermeneutik nicht
einen gattungsmäßigen, sondern einen
analogen Charakter.
Das heutige Angesprochensein der
Kulturen, Philosophien, Religionen und
20
politischen Weltanschauungen ist von
ganz anderer Qualität als das gewesene. Dieses erneute Angesprochensein
Asiens, Afrikas und Lateinamerikas
durch Europa und Europas durch Asien,
Afrika und Lateinamerika ist durch eine
konkrete Situation gekennzeichnet, in
der die nicht-europäischen Kontinente mit ihren je eigenen Stimmen am
Gespräch beteiligt sind. Dieses Gespräch ist von einer vierdimensionalen
hermeneutischen Dialektik begleitet.
Erstens geht es um ein Selbstverständnis
Europas durch Europa. Trotz aller inneren Unstimmigkeiten hat sich Europa,
zum größten Teil unter dem Einfluss
außerphilosophischer Faktoren, den
Nichteuropäern als etwas Einheitliches
präsentiert. Zweitens gibt es das europäische Verstehen der nicht-europäischen
Kulturen, Religionen und Philosophien.
Die institutionalisierten Fächer der Orientalistik und Ethnologie belegen dies.
Drittens sind da die nicht-europäischen
Kulturkreise, die ihr Selbstverständnis
heute auch selbst vortragen und dies
nicht den anderen überlassen. Viertens
ist da das Verstehen Europas durch die
außereuropäischen Kulturen. In dieser
Situation stellt sich die Frage: Wer versteht wen, wie und warum am besten?
Es mag Europa überraschen, dass Europa heute interpretierbar geworden ist.
So verlangt die de facto existierende
hermeneutische Situation nach einer
Philosophie der Hermeneutik, die offen
genug ist, um die Traditionsgebundenheit auch des eigenen Standpunkts
einzusehen. Eine interkulturell orientierte hermeneutische Philosophie
muss die Forderung nach einer Theorie
erfüllen, nach der weder die Welt, mit
der wir uns auseinandersetzen, noch
die Begriffe, Methoden, Auffassungen
und Systeme, die wir dabei entwickeln,
historisch unveränderliche, apriorische
Größen darstellen.
Eine Hermeneutik, die das Identitätsmodell zum Paradigma erhebt, versucht
das zu Verstehende in seiner Substanz so
zu verändern, dass das Fremde zu einem
Echo ihrer selbst wird. Wer Wahrheit
durch die eigene Tradition und die
eigene Tradition durch die Wahrheit
exklusivistisch definiert, macht sich der
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
petitio principii schuldig und gefährdet
eine interkulturelle Verständigung.
Verstehen ist nach diesem Modell stets
mit irgendeiner Form von Gewalt
verbunden.
Das Motto einer interkulturellen analogischen Hermeneutik lautet daher: Das
Verstehenwollen und das Verstandenwerdenwollen gehören zusammen und stellen die zwei Seiten derselben hermeneutischen Münze dar. Wo alles nur dem
Wunsch, dass man verstanden werden
will, untergeordnet ist, dort wird das
Andere in seinem Eigenrecht erst gar
nicht wahr- und ernst genommen. In
diesem Sinne studierten die Missionare
und auch manche Ethnologen mit viel
Mühe die fremde Sprachen wie z. B.
Chinesisch oder Sanskrit nicht so sehr,
um die Fremden zu verstehen, sondern in der Hauptsache, um von ihnen
verstanden zu werden. In dem Verstehen
des anderen ist zwar der hermeneutische
Zirkel nicht ganz vermeidbar. Er darf
jedoch auch nicht dogmatisiert werden,
als wäre man nur noch dessen Gefangener.
Von den folgenden drei hermeneutischen Modellen bejaht die interkulturelle Philosophie das dritte. Diese Modelle
sind:
I.
Das Identitätsmodell erhebt das
Selbstverstehen einer Kultur, Philosophie oder Religion zu einem
exklusiven Paradigma und verleiht
der sonst richtigen phänomenologischen Einsicht einen zu strengen
Sinn: Das Unbekannte muss im
Modus des Bekannten verstanden
werden. Diese Hermeneutik lässt
sich von der identitätsphilosophisch orientierten Fiktion einer
totalen Kommensurabilität leiten.
In einer angewandten Form besagt
sie, dass nur ein Buddhist einen
Buddhisten, nur ein Christ einen
Christen, nur ein Platoniker einen
Platoniker, ein Hegelianer einen
Hegelianer verstehen kann. Da
es aber den Platoniker nicht gibt,
führt diese Hermeneutik sich selbst
ad absurdum.
II. Die Hermeneutik der totalen
Differenz verabsolutiert die Unterschiede und hängt der Fiktion einer
völligen Inkommensurabilität an.
Während die Fiktion der totalen
Kommensurabilität das interkulturelle Verstehen zu einer Farce
werden lässt, macht die Fiktion der
völligen Inkommensurabilität das
gegenseitige Verstehen unmöglich.
III. Die analogische Hermeneutik, für
die die interkulturelle Philosophie
plädiert, reduziert nicht und vermeidet die beiden beschriebenen
Fiktionen. Sie geht von den aus
vielerlei Gründen vorhandenen
Überlappungen aus, die Kommunikation und Übersetzung erst
ermöglichen. Diese Überlappungen können von dem BiologischAnthropologischen bis hin zum
Politischen reichen.
Die Andersheit des Anderen wird
erreicht, ohne sie zu reduzieren oder zu
vernachlässigen. Die starke Identitätstendenz der Moderne und die ebenso
starke Differenzthese der Postmoderne
verlieren so ihren Stachel. Nur Überlappungen lassen Auslegungen zu. Die
Überlappungen entstehen, sie sind nicht
autonom, es sei denn, sie wären soziologischer und biologischer Natur mit
lebenserhaltenden Funktionen. Sie sind
in das Leben eingebettet und hängen
von Begründungszusammenhängen,
Methoden, Erkenntnissen, Werten,
Interessen und Interpretationen ab. Jenseits aller Ontologisierungen stellen die
Überlappungen die auf dem Boden des
Empirischen und Phänomenologischen
zu erreichenden und zu begründenden
Gemeinsamkeiten dar. Sehr zu Recht
heißt es bei Dilthey: „Die Auslegung
wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre
unnötig, wenn in ihnen nichts fremd
wäre“ (Dilthey 1973:225).
Die analogische Hermeneutik vertritt
ferner die Ansicht, dass man auch das
versteht und verstehen kann, was man
nicht ist, sein kann oder sein will. Das
Verstehen im Geiste der analogischen
Hermeneutik besteht nicht auf ein
Verstehen im Sinne des Einleuchtens
21
und Überzeugens, sondern vollzieht
ein Verstehen auch im Sinne des Sichzurücknehmen-Könnens. Die analogische Hermeneutik erlaubt uns auch, das
zu verstehen, was wir vorher unbedingt
nicht konstituiert haben müssen. Die
Grenze der Hermeneutik, auch der
phänomenologischen, ist dort, wo es
auch eine Grenze der Konstituierbarkeit
gibt. Allen Intentionen des Verstehens
geht das analogisch Andere als das zu
Verstehende voraus und ist und bleibt
nicht restlos konstituierbar.
Das hermeneutische Subjekt der
analogischen Hermeneutik ist nicht
ein Subjekt neben dem empirischen,
kulturellen und historischen, sondern
es ist dasselbe Subjekt mit der interkulturellen Einstellung, welche es orthaft
ortlos sein lässt. Ein solches hermeneutisches Subjekt als eine meditativ-reflexive
Instanz hat keine bestimmte Sprache
als seine Muttersprache. Es wird immer
von dem Bewusstsein begleitet, dass
ein jedes konkretes Subjekt auch ein
anderes sein könnte. Die Naivität des
bloß mundanen Subjekts besteht in dem
Unvermögen, den eigenen Standpunkt
als einen unter vielen wahrnehmen zu
können. Die höherstufige Einstellung
des hermeneutischen Subjekts ermöglicht uns, das wir Standpunkte, einschließlich des eigenen, als Standpunkte
begreifen und die nötige Offenheit und
Toleranz bezeugen (Mall 1995:91ff.).
Die analogische Hermeneutik ermöglicht sogar eine konsensuelle Übereinkunft, ohne sie vorzuschreiben, indem
sie keine Gestalt der Philosophie und
Kultur zu der einen allgemeingültigen
macht. Hält man z. B. eine einzige
Interpretation eines Textes für die
einzig wahre, so ist einzugestehen, dass
es entweder selten eine wahre Interpretation gegeben hat oder die These von
der nur einen wahren Interpretation
ein Mythos ist. Interpretationsvielfalt
besitzt anscheinend eine anthropologische Verankerung. So wie es nicht die
eine Interpretation gibt, gibt es nicht
den einen Text.
Die hier entworfene Konzeption einer
analogischen Hermeneutik, ist in dem
spannungsreichen Knotenpunkt zwischen unaufhebbaren Traditionsgebun-
22
denheit und der unverzichtbaren Offenheit der Hermeneutik angesiedelt. Die
Philosophie der Hermeneutik, die einer
solchen Konzeption zugrunde liegt,
definiert nicht Wahrheit ausschließlich
durch die eigene Tradition und die
eigene Tradition durch Wahrheit. Man
kann vom Anspruch und Elend einer
solchen Koinzidenz zwischen Tradition
und Wahrheit sprechen. Dies ist generell abzulehnen, ob es um intra- oder
interkulturelle Verhältnisse geht.
Eine Hermeneutik, die dem heutigen
Diskurs der philosophischen Traditionen in einer globalen Welt dienlich sein
kann, trägt nicht einen gattungsmäßigen, sondern eher einen analogischen
Charakter: eine gattungsmäßige Hermeneutik geht von einem universalisierten
gattungsmäßigen Oberbegriff aus und
subsumiert alle anderen hermeneutischen Modelle diesem einen hermeneutischen Rahmen als Sonderfälle.
In diesem Sinne sind Habermas und
Ricoeur der Gadamer‘schen Hermeneutik zu Recht kritisch und skeptisch
gegenüber. Im Geiste der schöpferischen
Hermeneutik (M. Eliade), stellt die hier
vorliegende Konzeption nicht nur einen
liberalen methodischen und epistemologischen, sondern darüber hinaus auch
einen transformativen Zugang dar. So ist
interkulturelles Philosophieren im Geist
der hier entworfenen analogischen
Hermeneutik, nicht nur ein Denkweg,
sondern ebenso ein Lebensweg.
Die Tatsache, dass es seit Menschengedenken grundsätzlich unterschiedliche,
ja sogar inkommensurable Buchstabierungsweisen des Welträtsels gibt, deutet
letzten Endes auf die weitere Tatsache
hin, dass es Grenzen des Verstehens
gibt und geben muss. Ein Denken, das
hermeneutische Grenzen nicht ernst
nimmt, ist kaum dialogisch, weil eine
bestimmte Form des Verstehens hier
absolut gesetzt wird. Die analogische
Hermeneutik dagegen ist der Ansicht,
dass Nichtverstehen nicht der Tod der
Kommunikation bedeutet. Als Gedankenexperiment möchte man einmal
die Frage stellen, wie das Verstehen
beschaffen sein müsste, dass z. B. Hegel
und Schopenhauer sich gegenseitig ein
Verstehen des anderen bescheinigen
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
angesichts der de facto pluralistischen Situation der philosophischen Szene im heutigen Weltkontext der Kulturen. Interkulturelle
Philosophie darf nicht zu einem
bloßen, aus der Not geborenen
Konstrukt reduziert werden.
könnten? Ein Frage, die noch keine befriedigende Antwort gefunden hat, ist:
Gehört Nichtverstehen als Grenze des
Verstehens zu einem Strukturmerkmal
des Verstehens?
10.Versuch einer Begriffsbestimmung der interkulturellen Philosophie
Die Konzeption der interkulturellen
Philosophie, die einer interkulturellen
analogischen Hermeneutik zugrunde
liegt, sei hier kurz dargestellt:
10.1. Was interkulturelle
Philosophie nicht ist
I.
Sie ist nicht der Name einer
bestimmten philosophischen
Konvention, sei sie europäisch oder
nicht-europäisch. Eine solche eindimensionale Sicht führt zu Kulturalismus und verhindert einen
offenen interkulturellen Diskurs.
II. Sie ist trotz der notwendigen
Zentren der unterschiedlichen
philosophischen Traditionen (Ursprungsorte der Philosophie) orthaft und zugleich ortlos. Eine jede
konkrete philosophische Tradition
kennt einen Ort und eine Zeit und
insofern ist sie stets orthaft. Da
aber Philosophie qua Philosophie
in keiner Tradition ausschließlich
aufgeht, ist sie auch ortlos. Sie ist
daher keine weitere Addition zu
den schon vorhandenen Disziplinen der Philosophie.
III. Sie ist kein Eklektizismus verschiedener philosophischer Traditionen,
deren Darstellung über die Philosophiegeschichte im Sinne einer
Buchbinderkunst nebeneinander
heute noch zu finden ist.
IV. Sie ist keine bloße Abstraktion,
formal-logisch und per definitionem
festgelegt. Eine solche methodologisch-apriorische Bestimmung ist
nicht hilfreich.
V. Sie ist aber auch nicht eine bloße
Reaktion oder Hilfskonstruktion
VI. Sie ist auch kein Ort der Kompensation, um beim Anderen das zu
finden, was einem fehlt. In diesem
Sinne wurde, aufgrund von Vorurteilen und in Unkenntnis, von der
europäischen Philosophie und von
der asiatischen Weisheit gesprochen (Philosophie und Philousia).
VII.Sie ist auch kein Ableger der
Postmodernität, auch wenn diese
jene bejaht und unterstützt. Es ist
freilich richtig, dass ein gewisser
Zusammenhang zwischen Dekolonialisierung und Dekonstruktion
besteht.
10.2. Was interkulturelle
Philosophie ist
I.
Sie ist eher eine philosophische
Grundüberzeugung, eine Einstellung, ja eine Denkrichtung, die
alle kulturellen Prägungen der
einen philosophia perennis wie ein
Schatten begleitet und verhindert,
dass diese sich verabsolutieren. Die
Rede von der einen philosophia perennis hier darf nicht hypostasiert,
reifiziert oder ontologisiert werden.
Jenseits eines Essentialismus geht
es hier um ein Primat der philosophischen Fragestellungen, die im
Sinne der Familienähnlichkeiten
Wittgensteins ein anthropologischuniverselles Reservoir darstellen
und alle unterschiedlichen Zentren
der Weltphilosophie miteinander
verbinden.
II. Sie verfährt methodisch so, dass
sie kein Begriffssystem unnötig
privilegiert und auf begriffliche
Konkordanz aus ist. So leistet sie
einen wesentlichen Beitrag zu
einem befreienden Diskurs. Daher
ist auch die Rede einiger lateinamerikanischer Philosophen von einer
23
befreienden Philosophie völlig
richtig. Es ist eine selbstverschuldete Angst, zu meinen, interkulturelle
Philosophie dekonstruiere die
Begriffe Wahrheit, Kultur, Religion
und Philosophie. Was sie jedoch
deutlich werden lässt, ist der extrem relativistische und verabsolutierende Gebrauch, der von diesen
Begriffen gemacht worden ist und
immer noch gemacht wird. Ist Philosophie etwas Universelles, was sie
zweifelsohne ist, so kann sie nicht
die Verabsolutierung einer philosophischen Konvention bejahen.
III. Sie indiziert demnach einen Konflikt, weil die lange vernachlässigten philosophischen Kulturen, die
aus Ignoranz, Arroganz und auch
wegen diverser außerphilosophischer Faktoren missverstanden und
unterdrückt wurden, im heutigen
Weltkontext der Philosophie ihre
Gleichberechtigung einklagen.
IV. Sie ist die Einsicht in die Notwendigkeit, Philosophiehistorie von
Grund auf neu zu konzipieren und
zu gestalten. Die Universalität der
philosophischen Rationalität zeigt
sich so in verschiedenen philosophischen Traditionen, transzendiert diese jedoch auch.
V. Bei der interkulturellen Philosophie geht es um die Konzeption
einer Philosophie, die das eine
Omnipräsente der philosophia
perennis in vielen Rassen, Kulturen
und Sprachen hörbar macht. Interkulturelle Philosophie wehrt die
mächtige Tendenz einiger Philosophien, Kulturen, Religionen und
politischen Weltanschauungen ab,
sich zu globalisieren. Die europäische technologische Denkungsart
darf sich nicht die gesunde Vielfalt
der Kulturen einverleiben: Verwestlichung ist nicht ohne weiteres
Europäisierung. Man möchte fast
von einem Mythos der Europäisierung der Menschheit sprechen. Die
Ansichten von Philosophen wie
Hegel, Husserl, Heidegger liefern
zahlreiche Indizien dafür.
24
VI. Die interkulturelle Philosophie
entwirft ein Modell der Philosophie, das die allgemeine Applizierbarkeit des Begriffs Philosophie
unter legitimer Anerkennung der
Vielfalt philosophischer Zentren
und Ursprünge bejaht.
VII.Sie legt daher den historischen
Kontingenzcharakter einer philosophisch-historiographischen
Praxis bloß, die alle nicht-europäischen Philosophien im Rahmen
und nur vom Standpunkt der
europäischen Philosophie her
thematisiert. Aufzuzeigen, dass es
aber auch anders herum ebenso
legitim und möglich ist, darin
besteht eines der Anliegen der interkulturellen Philosophie. Sie ist
eine Quelle der Bereicherung und
Horizonterweiterung im Dienste
einer interkulturellen Verständigung und Kommunikation.
VIII.Sie weist die Enge und die metonymische Ungenauigkeit bei
der Feststellung der Philosophie
zurück, weil die Sache der Philosophie in dem einem Namen, im Ausdruck Philosophie nicht aufgeht. Es
macht wenig Sinn, das lexikalische
Argument derart ausdehnend zu
strapazieren.
IX. Sie weist auch die unbegründeten Ansprüche des sogenannten
linguistischen Arguments zurück,
das eine bestimmte Sprachstruktur,
z. B. die indoeuropäische essentiell mit philosophischem Denken
verbindet. Hier hat Gadamer
Recht, wenn er sagt, dass das, was
in einer Sprache gesagt wird, auch
in einer anderen Sprache gesagt
werden kann (Gadamer 1993).
Freilich ist die Art und Weise des
Sagens kaum übersetzbar. Sie lehnt
die Fiktion einer totalen Übersetzbarkeit ebenso ab, wie die einer
radikalen Unübersetzbarkeit, und
plädiert für das Vorhandensein
einer anthropologisch verankerten
Fähigkeit zur Übersetzung. Selbst
unsere eigenen syntaktischen und
semantischen Betätigungen sind –
recht verstanden – Übersetzungen
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
unserer Empfindungen, Erlebnisse
und Vorstellungen.
Vor aller Komparatistik auf jedwedem
Gebiet gilt daher, sich die Kultur der
Interkulturalität, sprich interkulturelle
Kompetenz zu eigen zu machen, um
so die Vorbedingungen für die Möglichkeit eines in gegenseitiger Achtung
und Toleranz durchgeführten philosophischen Gesprächs zu schaffen.
Vergleichende Philosophie ist, um eine
altbekannte Metapher zu bemühen,
ohne die interkulturelle philosophische
Orientierung blind; interkulturelle
Philosophie ist ohne die vergleichende
Philosophie lahm.
11.Zum Aufklärungspotenzial interkultureller Philosophie
Selbst heute noch hört und liest man in
fachphilosophischen und fachtheologischen Kreisen zwei Vorwürfe hinsichtlich z. B. der Philosophie und Religion
Indiens: Der westliche Fachphilosoph
meint, die indische Philosophie sei zu
religiös und verwechsele Philosophie
mit Religion; der christlich-westliche
Theologe dagegen ist der Ansicht,
indische Religion sei zu philosophisch
und verwechsele Religion mit Philosophie. Das Besondere daran ist, dass sie
widersprüchlicher Natur sind. Dass hier
fast paradigmatisch, aprioristisch und
vor allem Vergleich das tertium comparationis in der je eigenen philosophischen und theologischen Tradition mit
einem universalistischen Geltungsanspruch dingfest gemacht wird, braucht
nicht weiter begründet und erläutert zu
werden.
Im Geiste der Unparteilichkeit interkulturellen Philosophierens sei auf eine
eher ironische und beinahe peinliche Situation aufmerksam gemachen. Es geht
um die Reaktion seitens der indischen
Philosophie (Darshana) auf die Urteile
der europäischen Philosophie: Indische
Philosophie sei intuitiv, spirituell, nicht
analytisch und dgl. Studierte man in
den 1950‘er Jahren an der Universität
Kalkutta, hörte man von den akademischen Philosophen Indiens, indische
Philosophie sei spirituell und stehe
höher als die europäische Philosophie,
die viel zu materialistisch sei. Die negative Besetzung des Ausdrucks spirituell
münzte die indische Seite positiv um.
Hegel hätte sich gefreut, nur mit umgekehrten Vorzeichen.
■■ Zu Recht wird daher immer wieder
die Frage gestellt: Warum haben
die vergleichenden Studien wie
z. B. die Disziplin der komparativen
Philosophie uns eher enttäuscht und
nicht zu dem erhofften Erfolg einer
interkulturellen und interreligiösen
Verständigung geführt? Man hat
sogar vom Anspruch und Elend der
vergleichenden Philosophie besprochen. Es war Mircea Eliade, der von
einer zweiten missglückten Renaissance (Eliade 1973:75f.) sprach.5 Er
meinte damit, dass die Entdeckung
des indischen Geistes am Ende des
19. Jahrhunderts nur von den Indologen aber nicht von den Fachphilosophen, Fachtheologen, Historikern
ernst genommen wurde.
Trotz vieler Enttäuschungen hinsichtlich der Versprechungen und Hoffnungen der vergleichenden Philosophie, sei
hier dennoch für sie im Dienste der
Philosophie, jedoch unter fünf Bedingungen plädiert: Erstens sollen sich die
Philosophen von den engen dogmatischen Kulturalismen und Traditionalismen befreien. Zweitens sollen andere,
manchmal radikal andere Möglichkeiten des Philosophierens anerkannt
und diskutiert werden. Drittens soll die
Entdeckung der Differenzen nicht stiefmütterlich behandelt werden. Viertens
ist der Philosoph qua Philosoph, hier
besonders der vergleichende Philosoph,
in der Suche nach Wahrheit zutiefst
verpflichtet, unabhängig von seiner
traditionellen, schulmäßigen Zugehörigkeit und seiner Präferenzen für manche Denk- und Handlungsmuster, die
orthafte Ortlosigkeit des Philosophierens
nicht außer Acht zu lassen. Und fünftens soll die Wahrnehmung der Differenzen für das philosophische Geschäft
nicht nur als interessant, sondern als ein
Reichtum und als fruchtbar empfunden
werden. Denn, wer nur Bestätigungen
des eigenen Standpunktes sucht, kehrt
zu einer zwar komfortablen, aber doch
25
sehr trügerischen Selbstzufriedenheit
zurück. Nach Plessner kommt eine solche Wende im philosophischen Denken
der Verabsolutierung einer bestimmten
anthropologischen Möglichkeit gleich.
Da interkulturelle philosophische
Orientierung sich auch durch die oben
genannten Merkmale definiert, stellt
sie eine notwendige und hinreichende
Bedingung für die Möglichkeit und
Fruchtbarkeit einer komparativen Philosophie dar, die dem Ziel einer interkulturellen Kommunikation und Verständigung dient. Indische, asiatische
und europäische Philosophien können
voneinander lernen, vorausgesetzt, sie
entwickeln auch eine Sensibilität für
ihre Differenzen. Es ist eine hegemoniale historische Kontingenz, dass die
europäische Philosophie sich entweder
einseitig universalisierte oder die außereuropäischen Philosophien als Philosophien erst gar nicht ernst- und wahrnahm. Die heutige hermeneutische de
facto Situation im weltphilosophischen
Diskurs mahnt zur Selbstbescheidung
und fordert von uns allen die Kultivierung einer Tugend der Verzichtleistung
auf den Absolutheitsanspruch.
■■ Es ist eine allgemeine, nicht unberechtigte Feststellung, dass einige
Merkmale einer bestimmten Denktradition in einigen anderen fehlen.
Dies betrifft sowohl die Fragestellungen als auch Lösungsansätze. Nicht
unerwähnt bleiben darf jedoch, dass
dies auch intrakulturell gilt. Daher
scheint die Vorsilbe intra- auf die
Vorsilbe inter- zurückführbar zu
sein. Leider gehört es zu den festgefahrenen „Dogmen des Orientalismus“ (Matilal 2002: 370ff.), dass das
europäisch-westliche Denken dieses
Fehlen mit einem Mangel gleichsetzte und es stellenweise heute
noch tut.6 Wer aber das Fehlen mit
einem Mangel gleichsetzt, traktiert
die Kategorie der Differenz reduktiv,
weil er eine „Unifizierung des Wahren“ ab ovo vornimmt und, um mit
Paul Ricoeur zu sagen, eine „erste
Gewaltsamkeit“, eine „erste Fehltat“
(Ricoeur 1974:152) begeht.
26
Das Vorhandensein und Nichtvorhandensein einiger Merkmale und Unterscheidungen deuten auf die prinzipielle
kreative Möglichkeit des autonomen
menschlichen Geistes hin und lehren
uns, dass diese Unterscheidungen nicht
essentialistisch für Philosophie missdeutet werden dürfen.7
■■ Die Situierung der philosophischen
Rationalität in den interkulturellen
weltphilosophischen Kontext bringt
mit sich, dass die Universalität des
rationalen philosophischen Denkens
die lokalen Differenzen transzendiert, aber diese zugleich auch umfasst und begreift. Die philosophische Rationalität lebt in und durch
diese Differenzen. Nur auf diesem
Wege können wir die beiden extremen Positionen eines Relativismus
und eines Essentialismus vermeiden.
Interkulturelle philosophische Orientierung, die als eine grundsätzliche
philosophische Einstellung das Philosophieren wie ein Schatten begleitet, ist
ein Prolegomenon zur Weltphilosophie,
zum weltphilosophischen Denken in
seinen kulturspezifischen Gestalten mit
grundsätzlichen Gemeinsamkeiten und
Differenzen. So vermittelt eine solche
Einstellung zwischen der allzu einheitlichen Tendenz der Moderne und der
übertriebenen Tendenz zur Pluralität
der Postmoderne. Das Ziel einer interkulturell orientierten philosophischen
Hermeneutik ist im Wesentlichen weder
die Entdeckung bloß der Parallelitäten, die bisweilen das Vorhandensein
einiger Merkmale der eigenen Kultur
in anderen Kulturen sehen, noch die
Feststellung vom Nichtvorhandensein
einiger Eigenschaften der eigenen Kultur in den anderen, was oft als Mangel
gedeutet wird. Vielmehr geht es hier
um die anthropologisch-hermeneutisch
verankerten unterschiedlichen Verstehens- und Kommunikationsentwürfe,
die nicht nur unterschiedliche Feststellungen und Antwortmuster kennen,
sondern darüber hinaus grundsätzlich
andere philosophische Möglichkeiten
und Themen anschneiden, und so von
einem unendlich offenen Reservoir des
Verhältnisses zwischen Anthropologie,
Philosophie und Hermeneutik zeugen.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Interkulturelle Hermeneutik ist diesem
anthropologischen Reichtum zutiefst
verpflichtet.
Zum Aufklärungspotential des Projekts der interkulturellen Philosophie
gehören:
I.
Die interkulturelle Sicht macht
deutlich, dass es den absoluten
Anspruch des einen nicht gibt, es
sei denn, man zeichnet aus Vorurteilen oder Unkenntnissen einen
Ort, eine Zeit, eine Sprache, eine
Religion oder eine Philosophie aus.
II. Die begriffliche und inhaltliche
Klärung der interkulturellen
Philosophie zeigt ferner, dass
die Philosophiegeschichte selber
ein unendliches Reservoir unterschiedlicher Interpretationen, ein
hermeneutischer Ort ist.
III. Hieraus folgt, dass es keine bloß
apriorische, per definitionem festgelegte Bestimmung der Philosophie
und Kultur geben kann. Wer den
Terminus interkulturelle Philosophie für ungenau hält, weil er
exakte Kriterien vermisst, vergisst,
dass auch bei der Identifizierung
der Kulturen und politischen Weltanschauungen ein gewisses Maß
an Traditionsgebundenheit und
persönlicher Entscheidung nicht zu
leugnen ist.
IV. Wer von philosophischen Argumenten allgemeine Akzeptanz
und Einstimmigkeit erwartet,
überfrachtet diese. Auch im Kampf
der philosophischen Argumente spielen die philosophischen
Dispositionen und Sozialisationen
eine z. T. sogar entscheidende Rolle
(Mall 1996).
V. So ist und bleibt die Frage nach
dem Wesen der Philosophie unterscheidbar, weil eine jede schulmäßige Antwort einer bestimmten
historisch gewordenen philosophischen Tradition ihre Berechtigung
und Grenze aufweist. Ferner unterliegt eine jede Definition der Philosophie selbst der philosophischen
Diskussion. Was uns verbindet,
mag der gemeinsame Traum von
einer letztbegründenden Instanz
sein, aber sobald dieser Traum sich
in einer bestimmten Gestalt konkretisiert und eine universelle Akzeptanz und Geltung beansprucht,
wird er zur Lüge. Interkulturelle
philosophische Orientierung
entlarvt diese Lüge und lässt den
offenen eist der Philosophie wehen,
wo immer er will. Steht dann die
Unentscheidbarkeit der Wesensfrage selbst zur Diskussion? Wie mit
diesem Widerspruch umgehen, ist
die Frage und nicht, wie ihn beseitigen. So hat Plessner recht, wenn
er schreibt: „Diesen Widerspruch
unter Berufung auf das Gebot der
Widerspruchsfreiheit zurückweisen heißt auf die Selbsterkenntnis
der Philosophie verzichten, welche
dieses Gebot zur Diskussion stellt“
(Plessner 1979:90).
VI. Sie hilft uns daher einen jeden Kulturalismus und Provinzialismus der
Philosophie und in der Philosophie
zu vermeiden. Mit Recht bemerkt
Mircea Eliade, dass europäische
Philosophie es nicht vermeiden
kann, „provinzialistisch“ zu werden, wenn sie sich nur innerhalb
ihrer eigenen Tradition bewegt
(Eliade 1973:84). Diese Worte
Eliades gelten im Geiste einer interkulturellen philosophischen Orientierung mutatis mutandis für alle
philosophischen Traditionen. Es
ist freilich eine historische Kontingenz, dass die europäische Philosophie zu lange monologisch verfahren ist. In einem Brief an Jaspers
weist Hannah Arendt im Einklang
mit dem Geist der interkulturellen
Philosophie auf die Notwendigkeit einer deprovincialization of
western philosophy (Kohler / Saner
1992:157) hin. Eine solche Forderung zeichnet die interkulturelle
Philosophie konstitutiv aus, weil
sie eine orthafte Ortlosigkeit besitzt,
die es erlaubt, die Universalität der
philosophischen Rationalität mit
der Praktikabilität der jeweiligen
philosophischen Traditionen in
Verbindung zu bringen.
27
Das Projekt Interkulturelle Philosophie
in Kombination mit der interkulturellen analogischen Hermeneutik und im
Geiste der Hermeneutik der Überlappung, bringt eine längst fällige historiographische, begriffsgeschichtliche und
lebensphilosophische Erweiterung und
Vertiefung der Philosophie mit sich,
essentialisiert die eine philosophische
Wahrheit (philosophia perennis) nicht,
schreibt ihr höchstens die Macht einer
regulativen Idee zu, erkennt eine Pluralität der Geburtsorte der Philosophie und
lässt sie orthaft ortlos sein.
12.Wie aber mit Differenzen umgehen?
Es war Wittgenstein, der eine ähnliche
Frage im Hinblick auf die Unausrottbarkeit des Widerspruchs stellte. Seit
Menschengedenken wird versucht,
Widersprüche im Denken und Handeln aufzulösen und das ideale Ziel der
Widerspruchsfreiheit zu erreichen. Für
Wittgenstein ist Widerspruch, wie er
sagt, keine „Katastrophe“. „Ich möchte“,
schreibt er weiter, „nicht so sehr fragen
‚Was müssen wir tun, um einen Widerspruch zu vermeiden?‘, als ‚Was sollen
wir tun, wenn wir zu einem Widerspruch gelangt sind?‘“(Wittgenstein
1984:436).
Wie Differenz definieren? Eine vorläufige Definition könnte lauten:
Differenz besteht in den unterschiedlichen, alternativen Seins-, Denk- und
Verhaltensweisen der Menschen. Diese
können naturbedingt, gottgeschaffen
oder menschengemacht sein. Darüber
hinaus können Differenzen kulturelle,
religiöse, psychologische, neurologische
Gründe haben.
Nicht so sehr die Gemeinsamkeiten,
sondern eher die Differenzen (auf
welchem Gebiet auch immer) sind es,
die uns unangenehm sind und oft zu
schaffen machen. Dahinter versteckt
sich jedoch die Tendenz zur Vereinheitlichung. Gemeinsamkeiten genießen
wir und unter Differenzen leiden wir.
Dies scheint auf eine Sehn-(Sucht)
nach Uniformierung hinzuweisen. Der
Dichter-Philosoph Hölderlin schreibt
unter der Überschrift Wurzel alles
28
Übels: „Einig zu sein, ist göttlich und
gut; woher ist die Sucht denn / Unter
den Menschen, dass nur Einer und Eines
nur sei“(Hölderlin 1970:240). Daher:
Wer mit Differenzen menschlich und
gewaltfrei umgehen will, muss diese
Uniformierungsgier überwinden. Seit
Menschengedenken gehört es zum
harten empirischen Befund, dass es
Differenzen in der Welt der Natur, der
Menschen, der Tiere, ja sogar der Götter
gibt.
Wird hier der Begriff Differenz verwendet, so werden in erster Linie darunter
nicht die landläufigen Unterschiede
der Ansichten, der Einsichten, der
Standpunkte und dergleichen verstanden. Unter Differenz verstehe ich die
fundamentalen kulturellen Differenzen,
die ihre je eigenen nicht weiter reduzierbaren Möglichkeiten realisieren. Es gibt
nicht die eine singuläre Anthropologie.
Es gibt Theorien, die Differenzen
erklären und begründen wollen. Und es
ist gut so. Es gibt aber ebenso Theorien,
die Differenzen beseitigen wollen. Was
machen wir aber mit Theorien, die mit
einem exklusivistischen Absolutheitsanspruch auftreten und eine Art theoretische und praktische Gewalt ausüben?
Dass es Differenzen gibt, ist genug für
ihre Erklärung, denn eine endgültige
Begründung kann uns nicht gelingen,
weil wir nicht vor, sondern nach den
Differenzen ihrer gewahr werden.
Zu sagen, dass es Differenzen immer
geben wird, mag uns rein theoretisch,
formal-logisch nicht einleuchten. Aber
angesichts der Macht der ungeheuren Empirie scheint dies beinahe eine
anthropologische Konstante zu sein.
Differenzen werden nicht mutwillig
von uns gesucht; sie widerfahren uns.
So könnte man von einer unergründlichen, aber universellen Verbindlichkeit
der Differenzen sprechen. Differenzen
können uns verbinden, wenn wir von
einer höheren Ebene einer reflexivmeditativen Einstellung die Einsicht
entwickeln, dass die andere Sicht der
Dinge auch eine Sicht ist, wenn sie nicht
die einzige sein will.
Worin besteht dann die Universalität dieser Verbindlichkeit, wenn die
Differenzen nicht nur konträr, sondern
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
– nicht selten auch – kontradiktorisch
sind? Denn ein radikaler Theist und
ebenso ein radikaler Atheist sind wie
Feuer und Wasser. Die hier angesprochene Verbindlichkeit scheint eigentlich
dann darin zu bestehen, dass beide die
Dinge sehr unterschiedlich buchstabieren. Sind nicht Gegenargumente auch
dann Argumente, wenn sie sich gegenseitig widersprechen?
Was machen, wenn Differenzen sich
rein argumentativ nicht beseitigen
lassen? Ein Vorschlag wäre, dass man
eine Einstellung, eine Einsicht entwickelt, die eine andere Art, die Dinge zu
sehen, auch eine legitime, alternative
Art ist. Mit Alternativen muss man einen respektvollen alternativen Umgang
pflegen.
Eine solche Einstellung ist offen, tolerant und friedfertig und hilft uns, alle
gewaltsamen, gebieterischen Umgangsformen mit den Differenzen zu vermeiden. Das Credo hier lautet daher: den
Welttext lesen und lesen lassen.
Aus dem oben Gesagten folgt, dass wir
die beiden selbstverschuldeten Fiktionen einer totalen Kommensurabilität
und einer radikalen Inkommensurabilität, d. h. eines totalen Konsenses und
Dissenses aufgeben und Überlappungen
suchen und finden, die Verstehenwollen
und Verstandenwerdenwollen Hand in
Hand gehen lassen. So ist das Motto,
wie schon erwähnt: Konsens soll sein,
Dissens ist da und Kompromiss ist unser
aller Schicksal. Dass die Kompromisse
nicht faul sein sollen, versteht sich von
selbst. Unter welchen Bedingungen sind
dann Kompromisse nicht faul? Eine
notwendige Bedingung hierfür ist die
Einsicht in den Wert z B. der Gegenseitigkeit. Absolutheitsansprüche führen
zu faulen Kompromissen. Karl Jaspers
stellte die Frage, ob man solchen Ansprüchen gegenüber neutral sein kann?
Und er antwortete: nein.
Ist die hier vorgeschlagene Akzeptanz
der Differenzen grenzenlos? Eigentlich
nicht. Denn alle Lesarten sind zulässig bis auf eine Lesart, welche die eine
absolute Lesart sein will. Eine Lesart, die
neben sich keine andere duldet, ist in
Theorie und Praxis abzulehnen. Es gibt
einen theoretischen Fundamentalismus, eine theoretische Intoleranz, eine
theoretische Gewalt, die unter für sie
günstigen Bedingungen zur praktischen
Gewalt führt. So enthält unsere, hier
vorgeschlagene Konzeption einer interkulturellen Orientierung, auf jedwedem
Gebiet auch eine Theorie und Praxis der
Gewaltlosigkeit.
Seit Menschengedenken gibt es das
Problem des Verhältnisses von Einheit
und Vielfalt. Für Hegel ist das Eine das
Wahre, für Adorno genau das Gegenteil.
Wie lässt sich dieses Verhältnis kommunikationstheoretisch mit dem hier
vorgestellten Ansatz her besser regeln?
Es lässt sich besser nicht so sehr durch,
erstens Einheit in der Vielfalt, zweitens
Einheit und Vielfalt, drittens weder
Einheit noch Vielfalt, viertens sowohl
Einheit als auch Vielfalt regeln, sondern
fünftens, vielmehr durch Einheit angesichts der Vielfalt.
13.Fazit
Für den Umgang mit Differenzen im
Geiste einer Hermeneutik der Überlappung seien hier einige tentative Imperative formuliert:
■■ Versuche stets Dissense zu minimieren und Konsense zu maximieren,
ohne jedoch diese zu essentialisieren
oder zu ideologisieren.
■■ Merke, dass es keine allseitig akzeptable, theoretisch argumentative
Widerlegung der Differenzen je
gegeben hat noch gibt, und aller
Wahrscheinlichkeit nach auch nicht
geben wird. Und dies gilt auch für
das Motto: Macht der besseren Argumente. Auf dem Wege gegenseitiger Überzeugungen sind Argumente
nur notwendige nicht jedoch ohne
weiteres hinreichende Bedingungen. Argumente und Präferenzen
verhalten sich fast so wie das Huhn
und das Ei.
■■ Stilisiere weder Ähnlichkeit zur
Identität noch Differenz zur Unverbindlichkeit und Beliebigkeit.
29
■■ Gestehe dem Gegner, dem Gesprächspartner das gleiche Recht,
eine Position zu beziehen, das Du
für Dich in Anspruch nimmst.
■■ Bekämpfe, soweit möglich, einen
jeden Standpunkt, der neben sich
keinen anderen zulässt und duldet.
Absolutheitsansprüche mit universellem Geltungsanspruch sind schon
theoretisch fundamentalistisch,
intolerant und gewalttätig. Praktiziere reflexiv-meditativ eine Ethik
der theoretischen und praktischen
Gewaltlosigkeit.
■■ Auch wo eine Entscheidung in
einem streng binären EntwederOder zu enden droht, vertraue der
vermittelnden, medialen Kraft der
Kompromisse, die weder nur Sieger
noch nur Verlierer kennen und einen
Win-Win Prozess einleiten.
■■ Leite nicht die Unmöglichkeit des
Verstehens von einer ab ovo Feststellung radikaler Unterschiede
zwischen den Kulturen ab, sondern
von dem Scheitern der von Dir
unternommenen konkreten Verstehensversuche ab.
■■ Versuche weder Einheit auf Kosten
der Differenz, noch Differenz auf
Kosten der Einheit zu hypostasieren,
denn beide neigen dazu, das menschliche Denken zu fesseln.
Der hier vorliegende Beitrag wird mit
den Worten zweier Dichterphilosophen
aus dem Westen und Osten beschlossen. Der Dichter-Philosoph Hölderlin
schreibt und fragt: „Einig zu sein ist
göttlich und gut, woher ist die Sucht
denn/ Unter den Menschen, dass nur
einer und eines nur sei“ (Hölderlin
1970:241). Man beachte, Hölderlin
verwendet mit Bedacht nicht den Ausdruck Sehnsucht, sondern Sucht nach
Einheit.
Bei dem indischen Dichter-Philosophen
Tagore heißt es: „Wenn je eine solche
Katastrophe über die Menschheit
hereinbrechen sollte, dass eine einzige
Religion (Kultur, Philosophie; R.M.)
alles überschwemmte, dann müsste Gott
für eine zweite Arche Noah sorgen, um
30
seine Geschöpfe vor seelischer Vernichtung zu retten“ (Tagore zitiert nach
Mensching 1966:178).
14.Literatur
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Endnoten
1. In diesem Kontext sind die Worte
Humes überzeugend: „Nicht allein in der
Poesie und Musikmüssen wir unserem Geschmack und unserem Gefühl (sentiment)
folgen, sondern auch in der Philosophie.
Wenn ich von irgend einem Satz überzeugt
bin, so heißt dies nur, dass eine Vorstellung stärker auf mich einwirkt. Wenn ich
einer Beweisführung den Vorzug vor einer
anderen gebe, so besteht, was ich tue, einzig
darin, dass ich aus meinem unmittelbaren
Gefühl entnehme, welche Beweisführung in
ihrer Wirkung auf mich der anderen überlegen ist“ (Hume 1973:141). Auch wenn
Hume hier die Rolle der Argumente ein
wenig herunterzuspielen scheint, behält er
Recht mit seiner Einsicht und Ansicht, dass
Argumente allein nicht ausreichen (Hume
1973).
2. Vgl. Mall 2010:35ff. und Demorgon
2006:27ff.
3. Vgl. Pacyna 2012:63ff.
4. Vgl. Mall 2000b:337ff.
5. Mircea Eliade schreibt: „Die „Entdeckung“ der Upanishaden und des Buddhismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wurde
als kulturelles Ereignis mit weitreichenden
Konsequenzen gefeiert. Man erwartete eine
radikale Erneuerung des westlichen Denkens als Folge der Konfrontation mit der
indischen Philosophie. Wie bekannt ist, trat
jedoch dieses Wunder einer zweiten Renaissance nicht nur nicht ein, sondern, mit Ausnahme der Mythologisierungswelle, die Max
Müller ausgelöst hatte, gab die Entdeckung
der indischen Geistigkeit keineswegs den
Anstoß für irgendeine bedeutende kulturelle Schöpfung. Mehrere Gründe werden für
den Fehlschlag verantwortlich gemacht wie
z. B. die Verdunkelung der Metaphysik und
der triumphale Zug der materialistischen
und positivistischen Ideologien. Er schreibt:
„Der Bankrott der ‚zweiten Renaissance‘
[…] kann also nicht der ausschließlichen
Konzentration der Orientalisten auf die
Philologie angelastet werden. Die Renaissance trat aus dem einfachen Grund nicht
ein, weil es dem Studienfach des Sanskrit
und anderer orientalischer Sprachen nicht
gelang, über den Kreis der Philologen und
Historiker hinauszudringen, während in der
italienischen Renaissance Griechisch und
das klassische Latein nicht nur von Grammatikern und Humanisten, sondern ebenso
von Dichtern, Künstlern, Philosophen,
Theologen und Wissenschaftlern studiert
wurden“ (Eliade 1975:75f.).
31
6. In einem Gespräch mit dem indischen
Philosophen und Phänomenologen J. N.
Mohanty, fragte einmal Donald Davidson,
warum man indische Philosophie studieren
sollte, wenn die indischen Philosophen gleiche Antworten auf gleich geartete Fragen
gegeben haben wie die westlichen Philosophen? Freilich wäre eine vergleichende
Philosophie im Sinne eines bloßen Nebeneinanderstellens gleichartiger Positionen
ein unfruchtbares Unternehmen. Unsere
interkulturelle philosophische Orientierung
hier zielt aber auf neue, kreative Möglichkeiten, sowohl im Hinblick auf die philosophischen Fragestellungen als auch auf die
Lösungsansätze. Nur so kann eine globale
Philosophie als ein Menschheitsdiskurs
zustande kommen, jenseits der Provinzialismen nationaler, geographischer und
geschichtlich-gewordener Kulturen. Der
interkulturell verankerte Sinn einer orthaft
ortlosen Philosophie lässt sich restlos nicht
kulturell vereinnahmen. Interkulturalität
und Kulturspezifität sind kompatibel.
7. Der bekannte Phänomenologe und
indische Philosoph Mohanty, schreibt: “It
needs, however, to be emphasized that the
talk of ‘lacks’ here must not be construed
as defects, but rather as pointing to another
possibility, from which we may learn the
lesson that none of these distinctions is essential for philosophy“ (Mohanty 2000:51).
32
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Die Interkulturalität als
politischer Begriff in Ecuador
Interculturality as a political concept in Ecuador
Philipp Altmann
Abstract (Deutsch)
Promotion in Soziologie
(FU Berlin) mit einer
Arbeit über den Diskurs
der Indigenenbewegung
in Ecuador. Studium der
Soziologie, Ethnologie und
Spanischen Philologie an
den Universitäten Trier
und Madrid
Seit der Verfassung von 2008 ist Ecuador ein „interkultureller“ (Art. 1) Staat. Damit
hat die Verfassungsgebende Versammlung lang jährigen Forderungen der Indigenenbewegung im Land nachgegeben und den ersten Schritt zu einer Umgestaltung von
Staat und Gesellschaft gemacht. Auch wenn alle Beteiligten einräumen, dass noch ein
langer Weg zu gehen ist, hat es die Interkulturalität ins Herz des staatlichen Diskurses
geschafft. Bei jeder Gelegenheit wird darauf verwiesen, dass eine bestimmte Institution,
ein Programm oder ein Fest interkulturell ist – in aller Regel ohne nähere Definitionen.
Hier soll der Begriff der Interkulturalität und seine Geschichte und Entwicklung in
Ecuador näher untersucht werden. Damit soll ein besseres Verständnis der Forderungen der Indigenenbewegung und der Position dieses Begriffes in ihrem Diskurs
möglich gemacht werden. Insbesondere soll herausgearbeitet werden, was genau unter
Interkulturalität verstanden wird, wovon dieser Begriff sich abgrenzt und wie sich die
verschiedenen Organisationen einen interkulturellen Staat bzw. eine interkulturelle
Gesellschaft vorstellen.
Schlagwörter: Interkulturalität, Indigenenbewegung, Ecuador
Abstract (English)
Since the Constitution of 2008, Ecuador is an “intercultural” (Art. 1) State. With this,
the Constituent Assembly gave in to the long-standing demands of the national indigenous movement and made the first step to a reconfiguration of State and society. Even
if all parties admit that there is still a long way to go, the interculturality did make it
into the heart of the state discourse. At every opportunity, the intercultural character of
a certain institution, a program or a festivity is being pointed out – generally without a
closer definition.
Here, the concept of Interculturality and its history and development in Ecuador will
be investigated more closely. With this, a better understanding of the demands of the
indigenous movement and the position of this concept within their discourse will be
made possible. Especially, it will be pointed out, what exactly is understood as Interculturality, from what this concept differs and how the different organizations imagine an
intercultural State or an intercultural society.
Keywords: Interculturality, Indigenous Movement, Ecuador
33
1. Einleitung
Die Verfassung von 2008 erklärt Ecuador zu einem „interkulturellen, plurinationalen“ (Art. 1) Staat und erfüllt
damit langjährige Forderungen der Indigenenbewegung. Schon die vorherige
Verfassung von 1998 hat einen Schritt
in diese Richtung gemacht, sie erklärte
Ecuador zu einem „plurikulturellen und
multiethnischen“ (Art. 1) Staat – und
vermied damit explizit die politisch
brisanten Begriffe Interkulturalität und
Plurinationalität. Tatsächlich kämpft die
ecuadorianische Indigenenbewegung
seit der zweiten Hälfte der 1970er, als
Ganzes seit den 1990er Jahren, für eine
pluralistische Umgestaltung des Staates
und der Gesellschaft in Ecuador. So
sollen die indigenen Völker, ihre Kultur
und ihre Tradition geschützt und
weiterentwickelt werden. Gleichzeitig
soll eine Demokratisierung der ganzen
Gesellschaft stattfinden, die sich gegen
Rassismus, Paternalismus und Exklusion
richtet. Plurinationalität und Interkulturalität sind die beiden Begriffe, die die
Diskurse und konkreten Forderungen
der verschiedenen Indigenenorganisationen zusammenfassen. Der gut
untersuchte Fall Ecuadors (etwa: Walsh
2003) kann es damit möglich machen,
zumindest einige der Entwicklungsgeschichten der „Black Box ,Interkulturalität‘“ (Földes 2009:504) nachzuzeichnen.
Die Indigenenbewegung in Ecuador ist
eine sehr pluralistische soziale Bewegung, die aus relativ selbstständigen
Organisationen von der lokalen bis zur
nationalen Ebene besteht, die miteinander – je nach Situation – kooperieren
oder konkurrieren. Diese Organisationen verfolgen verschiedene und teilweise widersprüchliche Strategien und
Diskurse, mit denen sie für die Rechte
der Indigenen in Ecuador kämpfen.
Die numerische Stärke der Indigenenorganisationen und ihrer Bewegung ist
umstritten, genauso wie der Anteil der
Indigenen an der Gesamtbevölkerung.
Fest steht jedoch, dass die Indigenenbewegung seit den 1980er Jahren die
stärkste soziale Bewegung des Landes
ist, auch wenn sie unter der Regierung
34
von Rafael Correa seit 2006 an Einfluss
verloren hat.
Nach den Angaben des letzten Zensus
2010 (INEC 2010) leben 14.483.499
Menschen in Ecuador. Davon verstehen
sich 1.018.176 Personen oder sieben
Prozent der Gesamtbevölkerung als
Indigene. Die Gruppe der Schwarzen,
Afroecuadorianer und Mulatten ist
zusammengerechnet etwa gleich groß
(1.041.559), genauso wie die der Montubios, einer Volksgruppe von Bauern
im Küstengebiet (1.070.728). Die große
Mehrzahl der Bevölkerung, 10.417.299
Menschen, versteht sich als Mestizen,
das heißt, sie haben sowohl indigene,
als auch europäische Vorfahren (INEC
2010). Diese Zahlen sind aufgrund
der langjährigen Unterdrückung und
Diskriminierung der Indigenen und den
entsprechenden Effekten bei Befragungen nur bedingt vertrauenswürdig.
Sowohl die Indigenenorganisationen
als auch viele Wissenschaftler gehen
von einem deutlich höheren Anteil an
Indigenen aus.
Die vorliegende Arbeit bedient sich
einer begriffszentrierten Diskursanalyse. Diese Methode will über die Untersuchung der in den Diskursen der
jeweiligen Akteure zentralen politischen
Begriffe, ihrer Entwicklung oder Verschiebung und des Auftauchens alternativer Begrifflichkeiten die Diskurse
als solche und ihre Entwicklung besser
erfassen. Politische Begriffe zeichnen
sich dadurch aus, dass sie abstrakt, mit
Forderungen verbunden und umstritten sind und innerhalb des jeweiligen
Diskurses eine Geschichte und Anknüpfungspunkte haben. In diesem Sinne
wird der folgende Text die Einführung
des Begriffs der Interkulturalität in den
Diskurs der ecuatorianischen Indigenenbewegung nachzeichnen und seine
Verankerung und nähere Definition
dort analysieren. Dieser Prozess ist mit
einer zunehmenden Verallgemeinerung
des Begriffes verbunden, die es ihm
ermöglicht, Inhalte aufzugreifen, die
ihm ursprünglich fern sind und ihn so
anschlussfähig an andere Begriffe und
Diskurse macht.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
2. Von der bikulturellen
zur interkulturellen Erziehung
Es ist nicht klar, wie genau der Begriff
der Interkulturalität entstanden und
nach Lateinamerika und Ecuador
gekommen ist (Walsh 2000:11). Das
vorliegende Material erlaubt drei Entstehungsgeschichten. Für Galo Ramón
(2009:133) ist die Interkulturalität
als theoretischer Begriff der Erziehungswissenschaften in den USA der
1960er Jahre entstanden. Das würde die
Einführung des Begriffes im Rahmen
der Erziehung für und von Indigenen
erklären und eine Übernahme innerhalb
des Kontextes von Entwicklungszusammenarbeit und Bildungsprojekten
nahelegen.
Fernando García und Luis Tuasa
(2007:18) sehen im französischen
Soziologen Edgar Morin den Begründer des Begriffes der Interkulturalität.
In den 1970er Jahren soll er ihn als
nicht-diskriminierende und gewaltfreie
Alternative zum bestehenden Begriff
von Kultur entwickelt haben. Diese
Version wird durch den großen Einfluss von Sozialwissenschaftlern auf die
diskursive Entwicklung der Indigenenbewegung Ende der 1970er und Anfang
der 1980er Jahre gestützt.
Eine dritte Variante könnte mit der
Existenz des Interkulturellen Dokumentationszentrums (Centro Intercultural
de Documentación, CIDOC) von
1961 bis 1976 in Cuernavaca, Mexiko,
zusammenhängen. Dieses Zentrum
wurde von Ivan Illich geleitet und
war der Befreiungstheologie und dem
undogmatischen Sozialismus verpflichtet (Kaller-Dietrich 2008). Für diese
Übernahmegeschichte spricht das große
Engagement der katholischen Kirche,
vor allem von befreiungstheologischen
Gruppen, zugunsten der Indigenen und
ihrer Organisationen in den 1960er und
1970er Jahren. Tatsächlich gehen viele
der überregionalen Bildungsprojekte auf
kirchliche Bemühungen zurück.
Nachprüfbar ist nur die Entwicklung
der zweisprachigen Erziehung und die
Integration kultureller Fragestellungen
in ihr. Seit dem Entstehen der ersten
indigenen Organisationen in den
1920er Jahren war die Gründung von
selbstverwalteten Schulen ein zentrales
Ziel der Indigenenbewegung. Die ersten
zweisprachigen Schulen wurden in den
1930er Jahren von der in der Gründung
befindlichen Ecuadorianischen IndioFöderation (Federación Ecuatoriana de
Indios, FEI) in Cayambe, Provinz Pichincha, aufgebaut (Moya 1987:391f.).
Die zentrale Figur dieser Entwicklung
war die Mitbegründerin der FEI, Dolores Cacuango. Die Schulen dienten
nicht nur der Bildung der Kinder vor
Ort, sondern auch der Alphabetisierung der Landbevölkerung und der
Weiterbildung und Organisierung der
Führungspersonen der Indigenenbewegung. Sie waren ein Ausgangspunkt
für die Aufwertung der indigenen
Identität und die Festigung indigener
Traditionen. 1963 wurden sie nach
langer klandestiner Arbeit und vielfältiger Verfolgung vom Staat anerkannt,
reguliert und dem Bildungsministerium
unterstellt (Lazos / Lenz 2004:6).
Die Katholische Kirche unter dem
Bischof von Riobamba und Befreiungstheologen Leonidas Proaño baute
in den 1960er Jahren in der Provinz
Chimborazo ein Erziehungssystem
über Radio auf, die Volks-Radioschulen
Ecuadors (Escuelas Radiofónicas Populares del Ecuador, ERPE). Diese sollten
einen Zugang zu Grundschulbildung
und Alphabetisierung in Spanisch und
Kichwa für Kinder und Erwachsene
bieten, gleichzeitig aber im Sinne der
Befreiungspädagogik eine Bewusstwerdung der Unterdrückung und
Diskriminierung erlauben. Durch das
starke Engagement der Kirche wurde
Chimborazo zu einem der wichtigsten
Zentren für zweisprachige Erziehung
im Land (Lazos / Lenz 2004:7). Die
Indigenenorganisationen vor Ort waren
von Anfang an in die Entwicklung und
Umsetzung der Programme der ERPE
eingebunden, konnten sich so politisch
und organisatorisch weiterentwickeln.
Sie erlebten in den 1960er und 1970er
Jahren ein bedeutendes Wachstum
(Krainer 1996:43).
35
Im Amazonasgebiet wurde 1964 mit
Unterstützung des katholischen Ordens
der Salesianer eine Indigenenorganisation, die Interprovinzielle Föderation der
Shuar-Zentren (Federación Interprovincial de Centros Shuar, FICSH), aufgebaut, die seit 1972 das Shuar-System der
bikulturellen radiophonen Erziehung
(Sistema de Educación Radiofónica
Bicultural Shuar, SERBISH) betreibt.
Dieses bietet Grundbildung und Alphabetisierung in Shuar und Spanisch an,
legt aber besonderen Wert auf die Bewahrung der indigenen Traditionen und
die Steigerung des Selbstwertgefühls
der Shuar (Moya 1987:394, Lazos/
Lenz 2004:7f.). Auch in diesem Fall
trug die Erziehungsarbeit entscheidend
zur politischen und organisatorischen
Entwicklung bei und ist ein Grund
für den bis heute andauernden großen
Einfluss der FICSH bei relativ geringer
Mitgliederzahl.
Durch eine koordinierte Anstrengung
zur Alphabetisierung von 1980 bis
1984, an der auch verschiedene Indigenenorganisationen teilnahmen, konnten
diese Bildungsprojekte weiter professionalisiert und integriert werden. Eine
besondere Rolle spielte das Forschungszentrum für die Indigene Erziehung
(Centro de Investigaciones para la
Educación Indígena, CIEI) das seit
Mitte der 1970er Jahren an der Päpstlichen Katholischen Universität Ecuadors
(Pontificia Universidad Católica del
Ecuador, PUCE) aktiv war und an dem
einige universitär gebildete Indigene
teilnahmen. Das CIEI widmete sich
der Erforschung von Methoden der
Alphabetisierung in Kichwa und betrieb
dazu ein Pilotprojekt in Cotopaxi, das
ab 1980 die gesamte Alphabetisierungskampagne für Indigene beeinflussen
sollte (Lazo / Lenz 2004:10).
Parallel zu dieser Entwicklung wird der
Begriff der Interkulturalität in den Diskurs über Erziehung und Bildung für Indigene in Lateinamerika eingeführt. Die
beiden venezolanischen Anthropologen
Esteban Mosonyi und Omar González
stellten auf dem 39. Internationalen
Kongress der Amerikanisten 1970 in
Lima ihr Projekt einer interkulturellen
Erziehung in einigen indigenen Ge-
36
meinschaften ihres Landes vor. Ausgehend von ihren Erfahrungen skizzierten
sie eine neue Vision der Gesellschaft:
„Die Interkulturalisierung besteht im
Grunde in der Erhaltung des Bezugsrahmens der Ursprungskultur, aber belebt
und erneuert durch die selektive Einfügung von sozio-kulturellen Konfigurationen, die den Mehrheitsgesellschaften
entstammen – im Regelfall Nationalgesellschaften. Auf gewisse Weise sucht die
Interkulturalisierung den größten Ertrag
der Teile in kulturellem Kontakt, wobei
sie soweit wie möglich die Dekulturalisierung und den Verlust von ethnokulturellen Werten vermeidet. Es ist nicht
nötig, darauf hinzuweisen, dass sich ein
typisches Interkulturalisierungsprogramm
auf die Muttersprache als symbolisches
Kompendium der Kultur als Ganzes
konzentrieren muss. Folglich ist eine
interkulturalisierte Gesellschaft meist eine
zweisprachige oder mehrsprachige Gesellschaft, in der sowohl die lokale, als auch
die nationale oder Mehrheitssprache ihre
spezifischen Funktionen haben, ohne das
sich deshalb Konflikt- oder Wettbewerbssituationen ergeben.“ (Mosonyi / González
1975:307f.)
Einige Zeit lang wurde dieser Vorschlag
kaum aufgegriffen und nur selten diskutiert. Ein Beispiel ist ein Text vom mexikanischen Anthropologen Guillermo
Bonfil Batalla, der 1978 von „den Problemen der interkulturellen Situation“
(Bonfil Batalla 1978:212) spricht und
damit die Konflikte zwischen Indigenen
und Mestizen in seinem Land meint.
Im Jahr 1980 übernimmt das SERBISH
den Begriff der interkulturellen Erziehung (López 2009:137f.), womit seine
Geschichte in Ecuador beginnt. Kurz
später wird die Interkulturalität auf
einem Regierungsgipfel der lateinamerikanischen und karibischen Länder 1981
als Alternative zur bisherigen Politik
einer Integration und Assimilation der
Indigenen vorgeschlagen (Tamagno
2006:25). Ein regionales Treffen von
Spezialisten in zweisprachiger Erziehung in Mexiko 1982 spricht sich
eindeutig für eine Politik der Mehrsprachigkeit und Multiethnizität aus und
empfiehlt den bisherigen Begriff der
bikulturellen zweisprachigen Erziehung durch den einer interkulturellen
zweisprachigen Erziehung zu ersetzen,
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
um so den offenen Charakter der Kultur
hervorzuheben (Walsh 2000:11).
Diese kontinentale Unterstützung des
neuen Begriffs trägt zu seiner weiteren
Verbreitung in Ecuador bei (Walsh
2000:13). Endgültig wird er hegemonisch mit einem Abkommen, das das
Erziehungsministerium 1985 mit der
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) abschließt. So wird ein
Projekt der Interkulturellen Zweisprachigen Erziehung ins Leben gerufen,
dass eine bessere Schulbildung für die
Indigenen zum Ziel hat. Das Programm
beginnt im Schuljahr 1986/87 und hat
eine Laufzeit von sechs Jahren. Auch in
diesem Projekt ist die Zusammenarbeit
mit indigenen Organisationen explizit
vorgesehen (Krainer 1996:46).
1988 führen diese Bemühungen zur
Gründung der Nationalen Direktion
der Interkulturellen Zweisprachigen
Erziehung (Dirección Nacional de Educación Intercultural Bilingüe, DINEIB)
als unabhängiges Büro innerhalb des
Erziehungsministeriums (Lazos / Lenz
2004:11). Ab diesem Zeitpunkt werden
die bisherigen Erziehungsprojekte, wie
etwa das SERBISH, in der DINEIB
integriert, behalten aber meist ihre Autonomie (Lazos / Lenz 2004:7f.). Dazu
kommen alle Schulen, in denen mehr
als 80 Prozent der Schüler Indigene sind
(Martínez Novo 2009:179). Die Indigenenorganisationen können weitgehend
frei über die Lehrinhalte, Lehrmaterialien und Personalfragen entscheiden,
der Staat bestimmt nur die Finanzen
(Martínez Novo 2009:174). Damit wird
ein Bildungssystem, das „einen eindeutig identitären und fordernden Charakter hat“ (Walsh 2000:12) – und so die
Politik der Indigenenbewegung prägt
und unterstützt – institutionalisiert
und staatlich gefördert. Dazu kommt,
dass viele der Führungsfiguren der
Indigenenbewegung in diesem System
als Lehrer arbeiten – und dadurch an
ihre Organisationen gebunden bleiben
(Martínez Novo 2010:16).
Die DINEIB hat allerdings von Anfang
an Schwierigkeiten mit schlechter
finanzieller und materieller Ausstattung,
die sich auch auf die Löhne auswirken
(Martínez Novo 2009:180f.). Auch des-
wegen wird die interkulturelle zweisprachige Erziehung selbst von Teilen der
organisierten Indigenen als zweitklassig
wahrgenommen und für die eigenen
Kinder spanischsprachige Schulen
bevorzugt (Martínez Novo 2009:181f.).
Insbesondere der schlechte Unterricht
in Englisch und Informatik sind für
diesen Trend ausschlaggebend. In der
Provinz Imbabura etwa ist die Zahl
der Schüler von Schulen des DINEIB
langfristig nicht gestiegen. 1989 waren
11.500 Schüler an solchen Schulen
eingeschrieben, 2006 10.795 (Martínez
Novo 2009:183). Im Frühjahr 2009
übernimmt der Staat auf Betreiben von
Präsident Correa die alleinige Kontrolle
über den DINEIB (Martínez Novo
2009:174) und beendet damit den Einfluss der Indigenenorganisationen. Jetzt
wird das DINEIB direkt vom Bildungsministerium gesteuert, das alleine über
Lehrinhalte und -mittel sowie Personalfragen entscheidet (Martínez Novo
2010:15).
3. Von der interkulturellen
Erziehung zur Interkulturalität
Nach einer langen Krise reorganisiert
sich 1995 die bis dahin gewerkschaftliche und klassen-zentrierte Organisation
der Indigenenbewegung FENOCIN
(Nationale Föderation von Bauern-,
Indigenen- und Schwarzenorganisationen, Federación Nacional de Organizaciones Campesinas, Indígenas y Negras)
im Zuge eines Programms der internen
Demokratisierung um einen Diskurs,
der auf nachhaltige Entwicklung und
Interkulturalität zielt (FENOCIN
1999:13,53). Die FENOCIN versteht
sich von nun an als „pluriethnisch, interkulturell, demokratisch“ (FENOCIN
1999:53) und kämpft „für die Klassen-,
ethnische, Geschlechts- und Generationengerechtigkeit, sucht eine nachhaltige
Entwicklung mit Identität und verteidigt die individuellen und kollektiven Menschenrechte“ (FENOCIN
1999:103). Sie will ein „plurikulturelles
Land aufbauen, in dem die Unterschiede respektiert werden, aber zur gleichen
Zeit plurikulturelle Organismen und
ein interkulturelles Denken geschaffen
37
werden, die ihm Lebensfähigkeit geben“
(FENOCIN 1999:103).
Mit dem Begriff der Interkulturalität
distanziert sich die FENOCIN explizit
von den vorherrschenden Strömungen
der Indigenenbewegung, die sie als
ethnischen Fundamentalismus bezeichnet, da sie – nach Sichtweise der
FENOCIN – andere Faktoren, wie
Klasse oder Geschlecht ausblenden
und keine Lösung für die Mehrheit der
Gesellschaft, die Mestizen, anbieten
(FENOCIN 1999:150). Damit bezieht
sich die FENOCIN auf die Begriffe
indigene Nationalitäten und Plurinationalität, die die größte Indigenenorganisation, die CONAIE (Konföderation
Indigener Nationalitäten Ecuadors,
Confederación de Nacionalidades
Indígenas del Ecuador), verwendet.
Diese Begriffe, und der Diskurs, der um
sie herum besteht, haben sich seit Ende
der 1970er Jahre in Abgrenzung zur bis
dahin vorherrschenden sozialistischen
und gewerkschaftlichen Prägung der
Indigenenbewegung entwickelt. Nur
ein Jahr vor der Erneuerung der FENOCIN, 1994, kam diese Entwicklung
im Politischen Projekt der CONAIE
zu einer vorläufig abschließenden
Integration. Dort stellt die CONAIE
fest, dass „Ecuador eine Plurinationale
Gesellschaft im Entstehen“ (CONAIE
1994:6) ist und fordert daher „den
Aufbau eines Plurinationalen und Plurikulturellen Staates“ (CONAIE 1994:6).
Dieser Plurinationale Staat zeichnet sich
durch territoriale Autonomien für die
indigenen Nationalitäten und Völker
aus (CONAIE 1994:21f.) und durch
eine institutionalisierte Teilhabe aller
Bevölkerungsgruppen an Entscheidungsprozessen. Entgegen der Interpretation der FENOCIN ist die „Einheit
in der Vielfalt“ (CONAIE 1994:13),
also der Ausgleich und die Harmonie
zwischen den selbstverwalteten Völkern
– indigen oder nicht –, ein wichtiger
Bestandteil dieses Staates.
Die FENOCIN will die verschiedenen
laufenden Prozesse und Dynamiken
der ecuadorianischen Gesellschaft und
damit unterschiedliche Analysekategorien miteinander verbinden und in
einem einheitlichen Konzept integrie-
38
ren. So will sie „zur gleichen Zeit die
Interkulturalität und die Autonomie der
indigenen und afroecuadorianischen
Gesellschaften aufbauen“ (FENOCIN
1999:150). Tatsächlich versteht sie die
Interkulturalität als Möglichkeit, zu
einem Ausgleich zwischen verschiedenen Lebensweisen zu kommen. Die
FENOCIN glaubt „an die Interkulturalität und, zur gleichen Zeit, an die
besonderen Identitäten ihrer Mitglieder“ (FENOCIN 2004:24). Daher will
sie eine Gesellschaft aufbauen, die durch
Pluralität auf den Gebieten des Rechts,
der Erziehung, der Sprache, der Identität und der Gesundheit charakterisiert
ist und damit „sowohl die eigene Kultur
der Indios und Schwarzen stärken,
als auch eine Verbindungsbrücke zur
mestizischen Kultur aufbauen“ (FENOCIN 1999:156). Diese Verbindung soll
nicht nur zwischen den verschiedenen
(Bildungs-, Rechts-, Gesundheits-) Systemen bestehen, sondern auch über ein
vertieftes Wissen von allen Kulturen für
jeden Bürger die Möglichkeit zur Wahl
zwischen den verschiedenen Systemen
erlauben. So soll man etwa wählen
können, in welchen Erziehungssystem
die eigenen Kinder unterrichtet werden
oder ob die eigene Straftat vor einem
mestizischen oder einem indigenen
Gericht verhandelt wird (FENOCIN
1999:156).
Ähnlich der Plurinationalität enthält
auch die Interkulturalität ein System
von Autonomien. Diese sollen als
„politische Autonomie von Kompetenzen und Funktionen“ (FENOCIN
1999:157) im Rahmen einer Dezentralisierung des Staates und über ethnische
Grenzen hinweg möglich gemacht
werden. So sollen selbstverwaltete und
autonome territoriale Eingrenzungen
der Indigenen und Schwarzen genauso
gebildet werden können, wie interkulturelle Räume in der öffentlichen und
Selbstverwaltung. Diese Verflechtung
von ethnischer Autonomie und interkultureller Kommunikation soll im
Sinne einer Repräsentation in allen
Ebenen des Staates eingerichtet werden (FENOCIN 1999:157). Daher
lehnt auch die FENOCIN Begriffe
wie ethnische Minderheiten als Versuche, die Rechte der Indigenen und
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Afroecuadorianer einzuschränken,
ab (FENOCIN 2004:29). Über die
Öffnung des Staates für die Teilhabe der
verschiedenen Gruppen soll „in unserem Land ein interkultureller, flexibler
und demokratischer sozialer Kontext
[geschaffen werden], der den Identitäten und den Rechten aller BürgerInnen
größere Unterstützung gibt“ (FENOCIN 2004:29). Die Interkulturalität
soll ein Projekt für das ganze Land sein,
das so seine ethnische, soziale und wirtschaftliche Zersplitterung überwinden
kann (FENOCIN 2004:39). Sie muss
daher die Geschichte von Ausgrenzung,
Rassismus und Kolonialismus und Kolonialität kritisch aufarbeiten, konkrete
Ausgrenzungsmechanismen bekämpfen
und die notwendigen Veränderungen
prozesshaft ermöglichen. Dabei greift sie
die Forderungen aller beteiligter Gruppen auf. Aus der Sicht der FENOCIN
beginnt dieser Prozess im Alltag. „Das
schließt persönliche und Verhaltensveränderungen mit ein, und auch strukturelle Veränderungen der Gesellschaft in
ihrer Gesamtheit“ (FENOCIN o.J.:11).
Das Auftauchen des Begriffs der Interkulturalität ist nicht nur eine diskursive
Neuerung, sondern auch der Konkurrenz der verschiedenen Organisationen
der Indigenenbewegung geschuldet. Die
FENOCIN schafft es nach einer langen
Krise, ihren Diskurs zu aktualisieren
und so in „Konkurrenz um symbolische Dominanz“ (Zald / McCarthy
1979:3) mit der CONAIE als stärkster
Indigenenorganisation zu treten. Die
Erneuerung ihres Diskurses und dessen
Erweiterung um ethnische Aspekte gibt
der FENOCIN eine bessere Position
im Kampf um „die besten Programme, Taktiken und Führer, um Ziele zu
erreichen“ (Zald / McCarthy 1979:3)
– und damit Mitglieder zu gewinnen.
Der Begriff der Interkulturalität ist in
diesem Zusammenhang ein „Schlüsselsymbol“ (Zald 1979:13f.) – genauso wie
der der Plurinationalität. Beide Begriffe
sollen die Ideen und das Programm
der Organisationen, die sie verwenden,
repräsentieren und so deren Attraktivität steigern. Wenn ein Schlüsselsymbol
dabei erfolgreich ist, wird es von den
anderen Organisationen derselben
sozialen Bewegung kopiert oder nach-
geahmt (Zald 1979:13f.). Somit ist die
Interkulturalität auch eine Antwort auf
den Begriff der Plurinationalität – und
wird von der herausgeforderten Organisation, der CONAIE, schnell in ihren
Diskurs integriert.
Tatsächlich nimmt diese die Interkulturalität schon in der zweiten Version
ihres Politischen Projektes von 1997 auf
und will jetzt „die neue humanistische
und interkulturelle Gesellschaft aufbauen“ (CONAIE 1997:9). Interkulturalität bedeutet für die CONAIE den
Respekt vor „der Vielfalt der indigenen
Völker und Nationalitäten und der
sonstigen sozialen Sektoren Ecuadors,
[sie] fordert aber gleichzeitig die Einheit dieser“ (CONAIE 1997:12). Ein
zentraler Bestandteil des Verständnisses
der Interkulturalität ist für die CONAIE die Notwendigkeit, eine breitere
und offenere Sichtweise auf Kultur zu
ermöglichen, als sie in „einer westlichen
Perspektive“ (CONAIE 2007:23) üblich ist. Politik, Wirtschaft, Gesundheit
überschneiden sich in dieser Sichtweise
mit der Kultur. Die explizite Trennung
dieser Räume oder Systeme ist daher
für die CONAIE – und die anderen
Organisationen der Indigenenbewegung
– eine „Folklorisierung“ (CONAIE
1994:41), die zum einen die – etwa
touristische – Nutzbarmachung der indigenen Kulturen zum Ziel hat, sie aber
zum anderen in eine untergeordnete
Position zur „elitären und ausschließenden `westlichen Kultur´“ (CONAIE
1994:41) bringen soll.
Diese Kritik an Wissensarten erweitert
Catherine Walsh, wenn sie die Interkulturalität als Versuch wertet, „zwischen hegemonischen und subalternen
Positionen mit verschiedenen Formen,
Wissen zu produzieren und anzuwenden“ (Walsh 2003:135), zu vermitteln.
Aus dieser Sicht erscheint die Interkulturalität als eine „gegenhegemonische
Praxis“ (Walsh 2003:135f.), die auf eine
Umdeutung des als legitim betrachteten
Wissens abzielt und eine Rehabilitation
traditioneller und lokaler Wissensformen anstrebt. Diese Dekolonisierung
des Wissens soll durch eine Erneuerung
der Grundlagen der Sinnerzeugung,
durch „epistemologisches Interkultura-
39
lisieren“ (Walsh 2003:138, Hervorhebung im Original) möglich gemacht
werden.
Die CONAIE drückt das etwas pragmatischer aus. Für sie benötigt die Interkulturalität als Projekt für das gesamte
Land, das die Förderung jedes kulturellen Ausdrucks fördert, die „Einheit
der Völker und Nationalitäten und der
gesamten Gesellschaft als grundlegende
Bedingung für eine plurinationale Demokratie und eine gerechte Wirtschaft“
(CONAIE 2007:7f.). Diese Einheit
ist allerdings nicht möglich, „wenn die
Kulturen einer beherrschenden Kultur untergeordnet sind“ (CONAIE
2007:21f.). Deshalb muss Ecuador aus
einer inklusiven Perspektive neu gedacht werden, einer Perspektive, in der
„wir alle das Recht haben, nach unseren
Gebräuchen und Gewohnheiten zu
leben und das Recht, Räume für den
Dialog zu öffnen und für die Erzeugung
neuen Wissens, das auf diesen Dialogen
zwischen den Kulturen aufbaut“ (CONAIE 2007:21f.).
Diese Art von Interkulturalität macht
einen völligen Wandel des Verhaltens notwendig, der über die „soziale
Mobilisierung“ (CONAIE 2007:21f.)
erreicht werden soll.
4. Die Interkulturalität als
politischer Begriff
Der Begriff der Interkulturalität ist nie
auf Widerstand gestoßen – im Gegensatz zu dem der Plurinationalität, der
schon in den 1980er Jahren als Versuch,
das Land zu spalten oder indigene Republiken zu gründen, diffamiert wurde.
Dennoch wurde die Interkulturalität
meist als Angelegenheit der Indigenen
verstanden – als eine möglicherweise
berechtigte Forderung, die aber das Problem der Anderen ist (Walsh 2000:11).
Damit bleibt das Bestreben der Indigenenbewegung, über diesen Begriff
„mit der hegemonischen Geschichte
einer beherrschenden und einer unterworfenen Kultur zu brechen“ (Walsh
2000:12), die unterdrückten Identitäten
zu stärken und Räume der Autonomie
aufzubauen, meist unverstanden. Aus
diesem Bezug auf Kultur und Identität
40
ergibt sich auch die enge Bindung der
Interkulturalität an die Erziehung und
damit an „eine politische, soziale und
kulturelle Institution, den Raum der
Konstruktion und Reproduktion von
Werten, Einstellungen und Identitäten
und der historisch-hegemonischen
Macht des Staates“ (Walsh 2000:14).
Diese Kulturalisierung der Interkulturalität – im Gegensatz zu einer
Konzentration auf die strukturellen
Änderungen, die auch in ihr angelegt
sind – führt zu einer Zuschreibung der
Interkulturalität auf die Individuen, die
in einem multikulturellen oder ethnisch
pluralem Staat miteinander leben müssen. Ein Vergleich mit Will Kymlicka
und seiner Gegenüberstellung von multikulturellem Staat und „interkulturellem Bürger“ (Kymlicka 2003:148) liegt
daher nahe. Für Kymlicka, der seine
Theorie an seinem Heimatland Kanada
entwickelt, ist ein multikultureller Staat
einer, der die Diskriminierungen, die in
Form von Gesetzen und Verordnungen,
aber auch in Schulunterricht, Nationalsymbolen und Feiertagen bestehen, abbaut und die gleichberechtigte Teilhabe
aller befördert (Kymlicka 2003:152).
Auch ein bestimmter Grad an Selbstverwaltung und Autonomie – ein wichtiges
Thema für die Indigenen Ecuadors –
kann zu diesem multikulturellen Staat
gehören (Kymlicka 2003:153). Um
diese beiden Formen von Multikulturalität harmonieren zu können, ist es
notwendig, dass der multikulturelle
Staat auf Bürger zählen kann, die ihn
und seine Ausrichtung unterstützen
und (vor allem lokaler) Verschiedenheit
gegenüber aufgeschlossen sind (Kymlicka 2003:157) – interkulturelle Bürger
also (Kymlicka 2003:153f.). Kymlicka
nennt das „lokaler Interkulturalismus“
(Kymlicka 2003:160). So kann eine
zunehmende Spaltung in die verschiedenen ethnischen Gruppen, die nun in
autonomen, selbstverwalteten Gebieten
leben, vermieden werden (Kymlicka
2003:154-157).
Auch wenn Kymlickas Ausführungen
für die Situation in Ecuador hilfreich
sind, so ist seine Gegenüberstellung vom
Aufbau von Autonomie und Abbau von
Diskriminierung beim Verständnis von
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Interkulturalität irreführend. Tatsächlich versucht die Indigenenbewegung
in Ecuador, beide Prozesse gleichzeitig
und in wechselseitiger Verstärkung
durchzuführen. Dabei geht sie stets von
der lokalen Ebene und den alltäglichen
Beziehungen zwischen Menschen aus
– also von Kymlickas lokalem Interkulturalismus –, um von dort aus die
Interkulturalität in immer höheren
Ebenen aufzubauen. Statt sich auf den
Staat als Zentralinstanz zu beziehen,
orientiert sich die Indigenenbewegung
bei ihrer Vorstellung von Interkulturalität also an ihrem eigenen Aufbau, der
aus autonomen, lokalen Organisationen
besteht, die sich auf regionaler Ebene in
Föderationen zusammenschließen, die
sich auf nationaler Ebene wiederum zu
Konföderationen vereinigen. Gerade
dieser Aufbau von Unten nach Oben ist
das Innovative an der Interkulturalität
der Indigenenbewegung in Ecuador.
Das Ausgehen vom Lokalen bringt die
Dichotomie zwischen Autonomie und
interkultureller Kommunikation zwischen den Gemeinden zu einem neuen
Sinn: da die Indigenenbewegung sich
auf Dorfgemeinschaften oder Stadtviertel bezieht, ist deren – freiwillige und
autonome – Einbindung in größere
Strukturen unvermeidlich und muss bei
Forderungen nach Selbstbestimmung
und Autonomie immer mitgedacht
werden. Deshalb betonen die Indigenenorganisationen stets den doppelten
Charakter ihres Kampfes als Kampf
gegen soziale Ungleichheit und ethnische Unterdrückung.
Begriffe in Publikationen des ecuadorianischen Staates entwickelt hat.
5. Fazit
Bonfil Batalla, G. (1978): Las nuevas
organizaciones indígenas (hipotesis para
la formulación de un modelo analitico).
Journal de la Société des Américanistes 65, S.
209-219.
Seit seiner Einführung in den ecuadorianischen Diskurs 1995 konnte sich der
Begriff der Interkulturalität behaupten
und wurde 2008 sogar in die Verfassung
übernommen. Das liegt nicht nur an der
politischen Stärke der Indigenenbewegung seit 1990, sondern vor allem auch
an seiner hohen Anschlussfähigkeit an
andere Diskurselemente. So trägt die
scheinbare Offenheit des Begriffes dazu
bei, dass er auch in anderen Kontexten
übernommen wird und sich mittlerweile zu einem der meistverwendeten
Selbst wenn die Interkulturalität im
Falle Ecuadors neue Inhalte erhält – wie
etwa diejenigen, die sich auf Autonomie
und Selbstverwaltung beziehen –, so gilt
auch hier, dass die „inflationäre Verwendung“ (Földes 2009:504) des Begriffes
im Widerspruch zu seiner geringen
Definition steht. Auch als politischer
Begriff wird die Interkulturalität „zumeist als voranalytisches Konzept gehandhabt“ (Földes 2009:510) und nicht
näher erklärt. Die Diagnose von Földes,
dass die Interkulturalität oft „einen starken politisch-ideologischen Sinn erhält“
(Földes 2009:511), bekommt in Ecuador allerdings eine andere Bedeutung,
da dieser politische Sinn mit konkreten
Inhalten gefüllt werden kann – was im
Sprachunterricht und der akademischen
Diskussion in Deutschland über diesen
Begriff nicht immer der Fall ist.
Der politische Begriff der Interkulturalität in Ecuador ist ein Beispiel „für
die beeindruckende internationale
Laufbahn und Anschlussfähigkeit“
(Földes 2009:514f.) dieses Begriffes,
der sich auch in Kontexten etablieren
konnte, die seinen – wahrscheinlichen
– Ursprüngen fern liegen. Tatsächlich
handelt es sich um „ein überaus erfolgreiches kulturelles Globalisierungsprodukt“ (Földes 2009:515), das sich
– auch wegen seiner relativen Leere an
fassbarem Inhalt – leicht in die verschiedensten Diskurse integrieren lässt.
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43
44
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Empathische Wahrnehmung des kulturell
Fremden. Neun Konstruktionsmuster und
deren Bedeutung für interkulturelle
Bildungsprozesse
Empathic perception of the culturally unknown. Nine patterns
of construction and their meaning for educational processes
Manfred Riegger
Abstract (Deutsch)
Prof. Dr., apl. Prof. und
Akademischer Oberrat am
Lehrstuhl für Didaktik des
Katholischen Religionsunterrichts und Religionspädagogik
Konstruktionsprozesse beruhen grundsätzlich auf vier Faktoren: erstens die standortgebundene Zuschreibung des Subjekts (eigen / fremd), zweitens die korrespondierenden
Emotionen (sowohl positive wie Neugier, Faszination usw. als auch Angst, Hass usw.),
drittens die sinnliche Wahrnehmung von Phänomenen, welche den Subjekten präsentiert werden und viertens die subjektiven Konstruktionen in Form von neun Konstruktionsmustern, welche eine spezifische Mischung von eigen und fremd mit unterschiedlichen Emotionen in Abhängigkeit der Präsentation sind.
Ziel dieses Modells ist es, mögliche (Miss-)Verständnisse der fremden Kultur und Religion zu benennen, zu klären, wie Menschen mit den Differenzen zwischen eigener und
fremder Kultur und Religion umgehen, um daraus für pädagogische Bildungsprozesse
Konkretionen abzuleiten.
Schlagwörter: Evidenzquellen, Konstruktivismus, Fremdheit, Eigen(es), Emotionen,
Wahrnehmung, Konstruktionsmuster, interkulturelle Bildung
Abstract (English)
Processes of construction are basically a product of four factors: firstly the attribution
of location of the subject (own / other), secondly corresponding emotions (both positive
emotions such as curiosity, fascination etc. and negative emotions such as fear, hate
etc.), thirdly sensual perception of phenomenon, which are presented to the subjects, and
fourthly construction of subjects as nine patterns of construction, which are specific mixtures between own and strange with various emotions depending on the presentation.
The purpose of this model is to denote different possibilities of (mis)understanding the
unfamiliar culture and religion, to clarify how people deal with the differences between
one’s own and strange cultures and religions and to derive orientation for educational
processes.
Keywords: Sources of evidence, constructivism, strangeness, own, emotions, perception,
patterns of construction, intercultural education
45
1. Einleitung
Heute ist es offensichtlich, dass unterschiedliche Kulturen und Religionen
in der Öffentlichkeit präsent sind.
Während man in vormodernen Gemeinwesen den wenigen Fremden ihren
sozialen Ort leicht zuweisen konnte –
sie waren Freunde oder Feinde – fügt
sich der Fremde heute nicht mehr
diesem Freund-Feind-Denken, diesem
Innen-Außen-Schema (vgl. Baumann
1996:84). Zudem fehlte vor der Entstehung der „modernen Nationalstaaten
der Zwang zur kulturellen Homogenisierung“ (Auernheimer 2012:9), womit
auch Differenzen nicht drängend waren.
So ermöglichte z. B. das
„Milliyet-System d. h. das System der
Nationalitäten, des Osmanischen Reiches
[…] den christlichen Minderheiten
ungehinderte Religionsausübung und bis
zu einem gewissen Grad ein kulturelles
Eigenleben. Wichtig für das Herrschaftssystem war nur die Tributpflicht und
der Beitrag zur Rekrutierung des Heeres“
(ebd.).
Mit dem relativ neuen Phänomen der
Allgegenwärtigkeit der Fremdheit
müssen nun viele Menschen erst umgehen lernen. Welche grundsätzlichen
Möglichkeiten der Wahrnehmung des
kulturell Fremden gibt es? In welcher
Beziehung stehen hierbei Empathie
und Wahrnehmung? Und welche
Konsequenzen sind dann für Bildungsprozesse relevant? Diese Fragen werden
im Folgenden bearbeitet. Dazu werden
zunächst Grundlagen für ein Modell
der Wahrnehmung gelegt (1), das als
Vierevidenzquellenmodell entwickelt
wird (2). Anschließend werden die sich
daraus ergebenden neun Konstruktionsmuster des Fremderlebens ausführlich
erläutert (3), um dann Konkretionen
für pädagogisch zu verantwortende interkulturelle Bildungsprozesse
aufzuzeigen (4). Ein Schluss rundet die
Überlegungen ab (5).
2. Grundlegung des Vierevidenzquellenmodells
Das hier zu entwickelnde analytische
Modell dient der Wahrnehmung des
Verhältnisses von eigener Kultur und
46
Religion sowie fremder Kultur und
Religion. Folgende vier Aspekte, die
vier Evidenzquellen, beeinflussen die
Wahrnehmungen der Menschen und
lassen sie einleuchtend erscheinen: Ausdrucksform, standortgebundene Zuschreibung, emotionale Färbung und subjektive
Konstruktion. Trotz der Komplexität
des Sachverhalts wird versucht, die
entsprechenden Interdependenzen in
einem formalen Modell zu erfassen. Die
Funktion besteht darin, den Umgang
mit der Differenz zwischen eigener und
fremder Kultur bzw. Religion auf Seiten
von Subjekten zu erhellen. Dieser Ansatz geht also von aktiv konstruierenden
Subjekten aus, die an Bildungsprozessen
teilnehmen können. Dennoch begnügt
er sich nicht mit bloßer Wahrnehmung
von Konstruktionsprozessen, denn dem
Modell liegt auch eine normative Vorstellung zugrunde: nämlich eine zunehmende Ausdifferenzierung der Kategorien für die Unterschiede von eigen /
fremd und deren ansteigende Integration mit der Zielperspektive empathische
Anerkennung der/des Fremden.
Angst gilt in diesem Modell als zentrale
Emotion. Sie taucht dann auf, wenn wir
an Grenzen stoßen, wenn wir in einer
Situation sind, der wir uns nicht oder
noch nicht gewachsen fühlen, in der wir
uns hilflos, abhängig oder ohnmächtig
erleben. Evolutionsbiologisch war dies
für das Überleben eine sinnvolle Reaktion des Menschen auf Gefahren, als diese
nämlich wilden Tieren begegneten, die
entweder besiegt werden mussten oder
vor denen sie zu flüchten hatten. Im
Kontext von interkultureller Empathie
heißt das aber: Bei manchen Menschen
löst Fremde/s zunächst Angst aus, weshalb sie ihren Fokus auf die Gefahren
richten, denen sie mit unterschiedlichen
Mitteln Herr zu werden versuchen. Bei
der Fixierung auf Bedrohung, Terror
und Krieg, übersehen sie aber leicht,
dass die meisten Fremden in Wirklichkeit keine Gefahr darstellen, sondern
der eigenen Identitätsentwicklung
Impulse verleihen können.
Natürlich gibt es in der Wirklichkeit
viele Konstruktionsmuster und nicht
nur neun in Reinform. Das Modell hat
dennoch seine Berechtigung, weil es
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
der idealtypischen Klassifizierung und
Analyse konkreter Konstruktionsmuster
von Subjekten dient. Als idealtypisch
wird der Vorgang bezeichnet, weil
die Versuche einer Zuordnung in der
Wirklichkeit nicht eindeutig ausfallen
können. Wird damit das Modell als
analytisches Instrument eingesetzt, d. h.
werden konkrete Konstruktionen von
Subjekten auf ihre jeweiligen Anteile
an den einzelnen idealen Mustern hin
untersucht, so schmälert dies nicht die
normative Ausrichtung des Modells.
Zuletzt sei hier auf die noch darzustellenden Muster antipathische Geringschätzung, Xenophobie und gewaltbereite
Fremdenfeindlichkeit eingegangen. Diese
Muster sprengen in gewissem Sinn den
Rahmen des theoretischen Modells,
weil hier auch empirisch erhobene
Formen des Umgangs mit der Abwehr
von Unterschieden einbezogen werden.
Insofern bilden diese Muster eine Besonderheit, obwohl das zu erläuternde
Modell grundsätzlich ein theoretisch
entwickeltes ist. Positiv gewendet: Zu
wünschen wäre, dass auch positive Formen des Umgangs mit Unterschieden
stärker empirisch untersucht würden.
Insgesamt handelt es sich also bei
dem folgenden Modell um ein theoriebasiertes und teilweise empirisch
abgesichertes Modell, das auf der Basis
konstruktivistischer Grundannahmen
die Wahrnehmung des kulturell Fremden erklären hilft. Dieses Modell liefert
einen Rahmen, innerhalb dessen Fragen
der Wahrnehmung interkultureller Empathie systematisch reflektiert werden
können, was v. a. für pädagogisch zu
verantwortende interkulturelle Bildungsprozesse von Bedeutung ist.
3. Das Vierevidenzquellenmodell
Da es nicht ‚den Konstruktivismus gibt,
sondern unterschiedliche Strömungen
in Wissenschaftstheorie (Mittelstraß),
Neurobiologie (Manturana, Varela),
Gehirnforschung (Roth, Singer),
Kommunikationswissenschaft (Watzlawick), Wissenssoziologie (Luckmann),
Systemtheorie (Luhmann) u. a. m. (vgl.
Finn 2008), wird hier auf eine Grund-
linie Bezug genommen, welche auch
von pädagogischen Konstruktivisten
wie Horst Siebert, Kersten Reich u. a.
vertreten wird.
In diesem Verständnis betont der Konstruktivismus, dass man „einer oft von
Menschen naiv unterstellten unmittelbaren Verbindung von Welt (‚da draußen‘) und Abbild (‚in uns‘) misstrauen“
(Reich 2008:86) müsse. Deshalb gilt als
zentraler Begriff und „moderne Schlüsselkompetenz“ die „Konstruktivität, das
heißt das Bewusstsein individueller und
kultureller Beobachtungsabhängigkeit
von Wirklichkeit“ (Siebert 2003:127).
Mit anderen Worten: Die Konstruktionen und Visionen in den Köpfen von
Menschen über die Welt da draußen
sind nicht einfach Abbilder einer Welt.
Einige Grundfragen lauten dann: Wie
entstehen innere Vorstellungen über die
Dinge und Inhalte der Kulturen und
Religionen? Wie verhalten sich Wissen
und äußere Wirklichkeit zueinander?
Und wie beziehen sich hierbei Empathie und Wahrnehmung aufeinander?
Da v. a. die Bedeutung interkultureller
Empathie in Wahrnehmungsprozessen
kaum bearbeitet wird, wird dies im
Folgenden mit Bezug auf das konstruktivistische Paradigma systematisch
entwickelt, indem vier Evidenzquellen
einer gemeinsamen Konstruktion von
Sinn bzw. Bedeutung spezifisch konkretisier werden (vgl. Abb. 1):
■■ Zunächst die sinnliche Wahrnehmung von Phänomenen (d. h. neue
Erfahrungen – individuelle oder
kollektiv) in den tradierten Ausdrucksformen der Kulturen,
■■ dann die kognitive Konstruktion, die neue Impulse und bereits
vorhandene Gedächtnisspuren und
Konstrukte miteinander verbindet
in der standortgebundenen Zuschreibung (eigen bzw. fremd),
■■ sowie ihre soziale Bestätigung (oder
Verleugnung) in der bewertenden
subjektiven Konstruktion, die in
neun Konstruktionsmustern zum
Ausdruck kommt
47
■■ und schließlich wird alles überlagert
vom jeweiligen emotionalen Erleben
des Ereignisses oder der Situation,
was die emotionale Färbung ausmacht.
Auch wenn das Thema Fremdheit in der
Literatur kaum zu überblicken ist und
kein allgemein anerkanntes Verständnis vorliegt, wird hier von folgendem
Grundverständnis ausgegangen: Fremd
bezeichnet das, „was einzig in der Weise
da ist, dass es sich dem eigenen Zugriff
entzieht“ (Waldenfels 2006:110).
Während eine Person schon existiert,
entsteht das Selbst und das Eigene,
„indem sich ihm etwas entzieht, und
das, was sich entzieht, ist genau das, was
wir als fremd und fremdartig erfahren“
(ebd.:20). Dieses allgemeine Verständnis von fremd, wird im Blick auf die
Herkunft des Wortes mit Merkmalen
konkretisiert.
Die deutsche Sprache verfügt zwar nur
über einen Begriff Fremdheit, doch dieser umfasst mehrere Bedeutungen, die
im Kern auf drei reduzierbar sind (Waldenfels 1997:20f., 2006:111f ): Erstens
wird fremd im Sinne von weit weg
verwendet. Fremd ist, „was außerhalb
des eigenen Bereichs vorkommt als Äußeres, das einem Inneren entgegensteht
(vgl. xénon: gr., externum, extraneum:
lat., étranger: frz., stranger, foreigner:
engl.)“ (Waldenfels 2006:111f.). Damit
bezeichnet fremd einen räumlichen
Aspekt, einen Ort. Zweitens ist fremd,
„was von anderer Art, was fremdartig,
unheimlich, seltsam ist (xénon: gr., insolitum: lat., étrange: frz., strange: engl.)“
(ebd.). In diesem Sinne ist es unvertraut
oder unbekannt, womit es sich den
Aspekt der Andersartigkeit, der Art
des Verständnisses, bezieht. Drittens ist
fremd, „was Anderen gehört“ und damit
nicht eigen, nicht zugehörig ist „(allótrion: gr., alienum: lat., alien: engl., ajeno)“
(ebd.). Dieser Bedeutungsvariante
sind auch die Worte Entfremdung und
48
Ausdrucksform
3.1. Kognitive Konstruktion
von Fremdheit
gewaltbereite
Fremdenfeindlichkeit
Fremdenangst
(Xenophobie)
antipathische
Geringschätzung
der / des
Fremden
apathische
Distanz gegenüber den/dem
Fremden
emotionslose
Indifferenz
gegenüber den/
dem Fremden
emotionslose
Toleranz
gegenüber
den/dem
Fremden
sympathische
Einordnung
der/ des
Fremden ins
Eigene
empathische
Anerkennung
der/ des
Fremden
empathische
Aneignung
der/des
Fremden
eigen
(nahe, vertraut, zugehörig)
fremd
negativ
Emotionale Färbung
Diese Übersicht des Evidenzquellenmodells wird im Folgenden erläutert. (siehe
Abb. 1)
Subjektive Konstruktion der Konstruktionsmuster
positiv
(fern, unbekannt, ausgeschlossen)
Standortgebundene Zuschreibung
Abb. 1: Konstruktionsmuster fremder Kultur und Religion. Quelle: Eigene Darstellung.
Entäußerung zuzurechnen. Hier bezieht
sich fremd auf den Aspekt des Besitzes,
des Ein- und Ausschlusses z. B. in eine
bzw. von einer Gruppe. Zusammengefasst gilt: Fremd ist etwas oder jemand,
das / der fern, weit weg bzw. außen
und/ oder unbekannt bzw. unvertraut
und / oder nicht zugehörig bzw. ausgeschlossen ist.
Welche Bedeutungen beinhaltet nun
das Wort eigen? Fremd steht im Gegensatz, im Kontrast zu eigen. Damit
ist etwas oder jemand eigen, das / der
nah bzw. innen und / oder bekannt
bzw. vertraut und / oder zugehörig bzw.
integriert ist (vgl. Abb. 2).
Fremdheit ist zunächst eine relationale
Kategorie, die Karl Valentin in seinem vielzitierten Dialog Die Fremden
auf den Punkt bringt: „Fremd ist der
Fremde nur in der Fremde“ (Valentin
2007:176). Fremdheit ist also „keine
Eigenschaft von Dingen und Personen“ (Schäffter 1991:12), sie existiert
also nicht an sich, denn sie entsteht erst
dann, wenn sich Fremde/s dem eigenen
Zugriff entzieht. Damit sind die drei
Merkmale von Fremdheit nicht objektiv
bestimmbar, denn sie sind immer vom
Standort des Menschen abhängig, der
etwas als fremd bezeichnet:
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Aspekte
eigen
fremd
Räumlichkeit
nah, innen
fern, weit weg, außen
Art des Verständnisses
bekannt, vertraut
unbekant, unvertraut
Besitz oder Ein- bzw.
Ausschluss
zugehörig, integriert
nicht zugehörig,
ausgeschlossen
Abb. 2: Merkmale von eigen und fremd. Quelle: Eigene Darstellung.
Beeinflussung der Wahrnehmung durch
persönliche Faktoren wie z. B.
soziale Faktoren wie z. B.
■■ Stimmungen, Gefühle, Interessen,
Bedürfnisse, Motive, Triebe
■■ Einstellungen, Vorurteile anderer
Personen(gruppen)
■■ bisherige Erlebnisse und
Erfahrungen
■■ Wert- und Normvorstellungen
innerhalb einer Gruppe bzw.
einer Gesellschaft
■■ Einstellungen, Wertvorstellungen
(engl. beliefs)
■■ (emotionale) Intelligenz, Fähigkeiten und Fertigkeiten
Abb. 3: Wahrnehmungsbeeinflussung. Quelle: Eigene Darstellung.
„Nur wenn ich weiß, was mir nahe, […]
vertraut und […] eigen ist, kann ich etwas
als fremd einordnen. Und umgekehrt
wird erst dadurch, dass ich etwas als
fremd kennzeichne, die Wahrnehmung
von Vertrautheit, Nähe und die Zurechnung zum Eigenen möglich. Fremdheit
ist also […] eine subjektive Zuschreibung”
(Kleinert 2004:31),
die der Wissenssoziologie zufolge (Karl
Mannheim, Peter L. Berger, Thomas
Luckmann u. a.) immer standortgebunden ist.
3.2. Emotionale Färbung
Emotionen beeinflussen unser Denken,
Reden und Handeln. Dies dürfte unstrittig sein. Die Frage ist nur wie? Geht
man davon aus, dass Emotionen vor
unserem bewussten Denken, Reden und
Handeln vorhanden sind, kann man von
Vorgängigkeit der Emotionen sprechen.
Zeitlich gesehen hat nicht nur ein Baby,
sondern jeder Mensch Emotionen,
bevor diese benannt und ausgedrückt
werden können. Damit enthalten nicht
nur Vorurteile Emotionen, sondern alle
Urteile. Wenn dem so ist, dann sind die
Einfärbungen der Emotionen vielgestaltiger als positiv und negativ. Dies wird
bei den Konstruktionsmustern noch
auszudifferenzieren sein. Die Verbindungen von emotionaler Färbung und
Mustern des Fremderlebens sind idealtypische Verknüpfungen. Damit kommt
es in den Konstruktionsmustern zu
einer je spezifischen Verschränkung von
Eigenem und Fremdem mit entsprechenden emotionalen Einfärbungen.
3.3. Sinnliche Wahrnehmung
von Ausdrucksformen
Sinnliche Wahrnehmung im Allgemeinen beruht auf einer „Verschlüsselung
und Weiterleitung von Sinnesreizen,
die so zu Informationen und letztendlich zu Empfindungen werden“ (Gold
2003:84). Diese mit einem gemäßigten
Konstruktivismus vereinbare Annahme
ist ein „konstruktiver Prozess“ (ebd.),
der sowohl von äußeren „Reizqualitäten“ (ebd.), als auch von „bereits
vorhandenem Wissen und Können des
Wahrnehmenden abhängt“ (ebd.), welches Reize identifiziert und deutet. Wir
wissen wie eine Rose riecht, können uns
an deren Duft erinnern, was wiederum
unsere Wahrnehmung beeinflusst, wenn
uns entsprechende Reize erreichen. Wir
wissen, wie unangenehme Auseinandersetzungen mit Fremden anfingen, die
bei entsprechenden Reizen aktualisiert
werden können. Sobald also Reize aus
der Umwelt uns erreichen, greifen wir
in unserem Gedächtnis auf gespeicherte
Erlebnisse, Erfahrungen, Urteile zurück
und fügen den äußeren Reizen noch etwas hinzu. Das kann zu verzerrten oder
unangemessenen Urteilen – sogenannten Vor-Urteilen – führen, auch wenn
wir subjektiv von der Wahrheit unseres
Urteils überzeugt sind. Wenn wir nicht
nur unsere eigenen Vorausinformationen ergänzen, sondern Urteile anderer
übernehmen, ist unsere Wahrnehmung
nicht nur durch persönliche, sondern
auch durch soziale Faktoren beeinflusst
(siehe Abb. 3).
49
Äußere Reize und Inneres in der sinnlichen Wahrnehmung korrespondieren
im vorliegenden Modell mit eigen und
fremd. Der darin enthaltene räumliche
Aspekt legt den Vergleich nahe, dass
eigen und fremd vollständig getrennt
sind, wie zwei Räume durch eine Wand
getrennt werden. Ohne diese Wand
gäbe es weder den eigenen noch den
fremden Raum. Die Wand konstituiert
beide, indem sie trennt, aber auch verbindet. Wer in einem Haus mit mehreren Mietwohnungen lebt, kennt dieses
Phänomen, da er – oft unfreiwillig – das
Treiben der Nachbarn mitbekommt.
Bezogen auf einzelne Subjekte bedeutet dies: „Das, was mich konstituiert,
trennt mich von dem anderen. […] Der
andere ist nicht mit mir identisch und
kann es nie werden, denn das würde ihn
und mich unserer Identität berauben“
(Sundermeier 1996:133f.). Damit ist
und bleibt die Wand Konstitutivum
und Distinktivum zwischen beiden und
darf nicht durchbrochen oder aufgelöst
werden. Verstehen des Fremden kann
dann nicht als Horizontverschmelzung
(Hans-Georg Gadamer) aufgefasst
werden, wie dies in der Tradition einer
philosophischen Hermeneutik von Paul
Ricouer getan wird (vgl. ebd.:78-81).
Damit ist festzuhalten: Weil Fremdheit
erst dann entsteht, wenn sich Fremde/s
dem eigenen Zugriff entzieht, steht die
Differenz von Eigenem und Fremdem
am Anfang (vgl. dazu auch Akbulut
2013:41).
3.4. Subjektive Konstruktionen der Konstruktionsmuster
Am „Anfang steht nicht nur Differenz,
sondern auch eine Mischung“ (Waldenfels 2006:118). Menschen unterscheiden sich dadurch, wie sie mit Fremde/m
umgehen: Sie können Fremde/s ins
Eigene einlassen oder es abwehren,
vereinnahmen oder gewähren lassen
und sie können dies mit unterschiedlichen Emotionen tun: neugierig oder
ängstlich, wertschätzend oder apathisch
usw. Da konstruktivistisch gewendet
alle Wahrnehmung kognitiv vorstrukturiert ist, kreiert dabei das Gehirn das
Mischungsverhältnis von fremd und
eigen. Verdeutlicht werden kann dies
50
anhand von sogenannten Vexier- oder
Kippbildern. Dem Betrachter vorgelegt,
erzeugen sie spontan scheinbar eindeutige Wahrnehmungen beispielweise einer
Figur. Doch schon nach kurzer Zeit – je
nach Erwartung, Vorinformation usw.
– wird eine ganz andere Figur wahrgenommen. In diesem Sinne kippt die
Wahrnehmung z. B. zwischen alter und
junger Frau oder eben zwischen Eigenem und Fremdem. Die hier vertretene
These lautet nun: Je nach Verhältnis
von eigen und fremd gibt es nicht nur
verschiedene Stile der Fremdbegegnung,
sondern Subjekte konstruieren Muster
des Fremderlebens. Wie sich auf einem
Marktplatz Angebot und Nachfrage in
Abhängigkeit von Werbung, Qualität
der angebotenen Waren, subjektiven
Bedürfnissen der Nachfrager usw.
treffen, bilden die Konstruktionsmuster
einen Umschlagplatz zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen eigener
und fremder Kultur bzw. Religion
in Abhängigkeit der Dimensionen
Ausdrucksform, standortgebundene
Zuschreibung, emotionale Färbung und
subjektive Konstruktion. Knapp erläutert bedeutet dies: Fremdheit kann
nur als Beziehungsaussage verstanden
werden. Fremdheit ist also vom eigenen
Standort abhängig. Erscheint jemand
oder etwas (=Ausdrucksform) einem
Subjekt als nahe, vertraut und / oder
zugehörig, dann erfolgt durch dieses
Subjekt die Standortzuschreibung eigen.
Erscheint dagegen jemand oder etwas
(=Ausdrucksform) als weit weg, unbekannt und / oder nicht zugehörig, dann
erfolgt die Standortzuordnung fremd.
Neben dieser ausdrucksformabhängigen
Standortzuschreibung ist Fremdheit ein
Verhältnis zum Eigenen, das sich mit
positiv oder negativ angesehenen Emotionen (Neugier, Wut, Wertschätzung)
und subjektiven Konstruktionen verbindet. Damit sind die Grundkategorien
von Abb. 1 skizziert.
Der Zusammenhang der vier Evidenzquellen wird über die Konstruktionsmuster präzisiert. Insgesamt sind diese
Muster unterschiedliche Ausformungen
eines Zwischenbereiches, dessen vermittelnder Charakter im Idealfall
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
„weder auf Eigenes zurückgeführt noch in
ein Ganzes integriert, noch universalen
Gesetzen unterworfen werden kann. Was
sich zwischen uns abspielt, gehört weder
jedem einzelnen noch allen insgesamt.
Es bildet in diesem Sinne ein Land, das
niemand (ganz) gehört, eine Grenzlandschaft, die zugleich verbindet und trennt“
(Waldenfels 2006:110).
Ein so verstandener Zwischenbereich
scheint immer wieder in der Gefahr auf
die ein oder andere Art und Weise aufgelöst zu werden (vgl. dazu Sundermeier
1996:73ff.): Bei Betonung von Gleichheit wird die Fremdheit des Fremden
enteignet, eingeebnet; bei Betonung von
Alterität wird die Fremdheit des Fremden vereinnahmt und bei Komplementarität wird die Fremdheit des Fremden
instrumentalisiert. All diese Varianten
des Verhältnisses von Eigenem und
Fremdem finden sich ansatzweise auch
in einzelnen Konstruktionsmustern.
4. Neun Konstruktionsmuster des Fremderlebens
Die hier entwickelten Muster Einordnung ins Eigene, Aneignung sowie
Anerkennung der / des Fremden
konvergieren zum Teil mit drei der vier
von Ortfried Schäffter (1991:11ff.)
beschriebenen Modi des Fremderlebens,
nämlich mit „Fremdheit als Resonanzboden des Eigenen“, „Fremdheit als
Ergänzung“ sowie „Fremdheit als Komplementarität“. Ebenso konvergieren die
benannten Muster teilweise mit Stufen
des entwicklungspsychologischen
Modells interkultureller Wahrnehmung
von Milton J. Bennett (1993), nämlich
„Minimization“ (ebd.:41) (Minimalisierung der Differenz), „Adaption“ (ebd.:
51) (Anpassung an Unterschiede) und
„Integration“ (ebd.:59) (Integration
der Unterschiede). Die Konstruktionsmuster “Geringschätzung der / des
Fremden”, “Fremdenangst” und “(gewaltbereite) Fremdenfeindlichkeit”
konvergieren mit Dimensionen von
repräsentativen Umfragen der Universität Bielefeld zur gruppenbezogenen
Menschenfeindlichkeit in Deutschland
bzw. Europa, die seit 2002 durchgeführt
werden (vgl. Heitmeyer 2002-2009 und
Zick u. a. 2011).
Die Erläuterung der Muster erfolgt entsprechend der zunehmenden Ausdifferenzierung der Kategorien zur empathischen Wahrnehmung und Integration
von Unterschieden (vgl. dazu Bennett
1993:21).
Zur besseren Veranschaulichung wird
bei den folgenden Beispielen i. d. R.
von zwei Aspekten ausgegangen: Zum
einen von einer eigenen deutschen,
christlichen Sicht und einer fremden
islamischen Kultur bzw. Religion und
Religiosität und zum anderen von einer
eigenen islamischen Sicht, ohne weitere,
sicher notwendige Differenzierungen
wie etwa zwischen deutschstämmigen
Muslimen, Migranten türkischer oder
arabischer Herkunft sowie koptischen,
ägyptischen Christen.
4.1. Emotionslose Indifferenz
gegenüber den / dem Fremden
Dieses Konstruktionsmuster zeichnet
aus, dass es nicht mehr darauf ankommt,
ob dieses oder jenes geschieht, da „alles
in die Monotonie der Gleich-Gültigkeit
versinkt“ (Waldenfels 2006:43f.), auch
die Emotionen. Vieles langweilt. Damit
kommt in diesem Fall kein relevantes
Verstehen oder Nicht-Verstehen zustande, weil den Subjekten keine Kategorien
zur Unterscheidung verfügbar sind. In
der Schule könnten hier Inhalte des
Islam einerseits und des Christentums
andererseits lediglich kategorienlos
angehäuft werden. Eine schulische
Notenfixierung könnte diesem Konstruktionsmuster Vorschub leisten, sodass
nach der Notenvergabe viel und schnell
vergessen wird.
4.2. Apathische Distanz gegenüber den / dem Fremden
Hier bestehen lediglich schemenhafte
Unterscheidungskategorien, z. B. in
Form von ganz allgemeinen Vorstellungen und Begriffen, die mit Apathie
verbunden sind. Aus westlicher Sicht
könnte die Verschleierung von Frauen
im Islam zur Aussage führen: Wie gut
haben es nicht-muslimische Frauen in
Deutschland. Sie sind gleichberechtigt
und auf keine Weise benachteiligt. Der
51
umgekehrte Sachverhalt könnte aus
muslimischer Sicht zur Aussage führen:
Wenn eine Frau westlich gekleidet ist
und kein Kopftuch trägt, ist sie den Blicken der Männer ausgeliefert. Indem ich
mich vom Fremden distanziere, erfahre
ich durch die Fremdheit etwas mehr
von mir (ähnlich wie bei der Aneignung
des Fremden). Das Fremde bleibt aber
lediglich eine schemenhafte Gegenfolie
(Unterschied zur Aneignung), man erkundigt sich nicht nach dem Fremden,
hegt keinen Wunsch nach Vertrautwerden, ist weitgehend apathisch. Es wird
keine Verschränkung von Eigenem und
Fremdem geleistet und doch hat das
Fremde eine gewisse Funktion für das
Eigene, denn möglicherweise ist man an
der Oberfläche freundlich (leben und
leben lassen), aber rassistisch, wenn man
sich zu einem interkulturellen Kontakt
gezwungen fühlt, wie es in den drei
Mustern „Geringschätzung“, „Xenophobie“ und „gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit“ erfolgt. Alle drei kennzeichnen
die „Abwehr von Unterschieden“ (Büttner 2005:19.). Das Erkennen von kulturellen und religiösen Unterschieden ist
gekoppelt mit einer negativen Bewertung alles vom Eigenen Abweichenden.
„Je größer die Differenz, desto negativer
die Abwertung“ (ebd.). Im Vergleich
zu den bereits dargestellten Mustern
stehen hier zwar besser ausgearbeitete
Unterscheidungskategorien zur Verfügung, aber der ursprüngliche Welt- und
Glaubensblick ist durch eine
„schlechte Integration neuer Kategorien
geschützt. Man fühlt sich gegenüber den/
dem Fremden im Belagerungszustand
und zur Verteidigung der Privilegien
und der Identität genötigt. Häufig kann
eine Absonderung in eine Kultur unter
Gleichen beobachtet werden, es gibt eine
potentielle Unterstützung von Elite- und
Hass-Gruppierungen”“(ebd.:20).
Kennzeichen dieser Muster ist ein
„dualistisches wir-und-die-Denken“
(ebd.:19), häufig von negativen Stereotypen begleitet. Der Glaube an die
Höherwertigkeit der eigenen Kultur
und Religion ist mit der Tendenz zur
Bekehrung der Fremden verbunden.
Doch nun zur Erläuterung der Muster.
52
4.3. Antipathische Geringschätzung der / des Fremden
Die Beziehung zwischen Eigenem und
Fremdem ist mit einem negativen
Vorzeichen, mit Antipathie versehen.
Fremde/s (Kultur wie Religion) wird
hier abgewertet. Da es aber weit genug
vom Eigenen entfernt ist, kann es nicht
bedrohlich werden. Es ist möglich, dass
hier aus Unverständnis geringschätzig
über das Fremde gelacht wird (z. B. von
deutschen Christen über muslimische
Gebete in arabischer Sprache) oder
dass Fremde/s bewusst abgewertet wird
(z. B. der Koran als Plagiat der jüdischchristlichen Schriften und Lehren).
Weiter kann aus christlicher Sicht die
Geringschätzung am fremden Islam mit
folgenden Formulierungen verdeutlicht
werden: „Die muslimische Religion und
Kultur passt nicht in unsere westliche
Welt“, „Islamische und westeuropäische
Wertvorstellungen lassen sich nicht
miteinander vereinbaren“ und „Der
Islam hat eine verachtenswerte Kultur
hervorgebracht“ (Leibold / Kühnel
2008:102). Aus muslimischer Sicht
könnte es heißen: Der Westen ist eine
Unkultur. Den Christen ist alles erlaubt.
4.4. Angst vor Fremdem
(Xenophobie)
Wenn das Fremde dem Eigenen zu nahe
rückt, kann Angst vor dem Fremden
aufkommen. In Anlehnung an die englische Bezeichnung für Fremdenfeindlichkeit (xenophobia) wurde erstmals
1997 in einem Bericht des Runnymede
Trust der Begriff Islamophobie in die
wissenschaftliche Diskussion eingeführt
(Runnymed Trust 1997). Darunter versteht man die Angst vor muslimischen
Personen, allen Glaubensrichtungen,
Symbolen und religiösen Praktiken des
Islam (vgl. Kühnel / Leibold 2007:135).
Entsprechendes trifft auch für die
muslimische Seite im Blick auf das
Christentum bzw. den Westen zu. Beiden gemeinsam ist, dass man (ständig)
auf mögliche Angriffe von Fremden
eingestellt ist und man unter Umständen überall die Bedrohung sehen kann.
Nach dem 11. September 2001 trugen
besonders in Europa verschiedene
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Entwicklungen zu einer Panik bei: „der
weltweite Krieg gegen den Terror, die
immer sichtbarere Ausbreitung globaler
muslimischer Diskurse und Netzwerke,
die Verbreitung weltweiter Diskurse
über den Islam und Kontroversen über
die Verschleierung und über den islamischen Fundamentalismus“ (Casanova
2009:61f.). Aus westlicher, christlicher
Sicht befürchtet man, dass alle dunkelhäutigeren Menschen Araber und damit
islamistische Terroristen sein könnten.
Auch spiegeln folgende Aussagen dieses
Konstruktionsmuster wider: „Durch die
vielen Muslime hier (in Deutschland)
fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.“, „Muslimen sollte
die Zuwanderung nach Deutschland
untersagt werden“ (Leibold / Kühnel
2008:102). Die entsprechende muslimische Sicht von Migranten in Deutschland könnte lauten: „Was wir Muslime
tun, ist richtig, was die ungläubigen
Deutschen da draußen tun, ist vom
Satan“ (Behr 2009:34).
4.5. Gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit aus Wut und
Hass
Das Fremde rückt hier so nahe, dass
Menschen meinen das Eigene zu
verlieren, wenn sie das Fremde nicht
bekämpfen. Von Wut und Hass entzündet erfolgt der Kampf und zwar mit
körperlicher Gewaltanwendung oder
damit zumindest sympathisierend. Die
gewalttätige Ausprägung dieses Musters
zeigt sich z. B. durch das Anzünden
von Asylantenheimen und das Zusammenschlagen von Fremden auf offener
Straße. Daneben gibt es aber auch mit
Gewalt sympathisierende Menschen,
denen möglicherweise folgende Aussagen zugeordnet werden können:
„Es sollte besser gar keine Muslime in
Deutschland geben“ und „Muslimen
sollte jede Form der Religionsausübung
in Deutschland untersagt werden“
(Kühnel / Leibold 2007:143), sowie
damit korrespondierend: In Ägypten
sollten Christen ihre Religion nicht ausüben dürfen, besser noch wäre es, wenn
es keine Christen geben würde.
4.6. Emotionslose Toleranz
gegenüber den/dem Fremden
Differenzen werden hier als sinnvoll
toleriert, wobei die Unterscheidungskategorien kognitiv bewusst und ausgearbeitet sind, aber ohne Verbindung zu
Emotionen bleiben. Damit besteht die
Fähigkeit, Situationen und Phänomene
im Rahmen ihres Kontextes zu interpretieren. Wenn z. B. die Konstruktion
durch Einordnung des Fremden in das
Eigene wegen zu großer Unzugänglichkeit fehlschlagen muss (z. B. Reinigung
vor dem islamischen Gebet mit Wasser,
das auch durch die Nase geführt werden muss), kann die Konstruktion so
erfolgen, dass die Phänomene aus ihrem
eigenen kulturellen Kontext heraus
wahrgenommen sowie erklärt werden
(in unserem Beispiel: Die Reinigung
vor dem Gebet erfolgte, weil Staub und
Sand in heißen Gegenden der Erde
überall eindringen) und eine Verschmelzung von eigenem und fremdem
Horizont ausgeschlossen ist. Dieser Weg
betont die Unzugänglichkeit, indem er
die Phänomene entweder historisiert
oder nach spezifischen Konfigurationen
sucht, die fremden Wirklichkeitsannahmen und Wahrheitsansprüchen Geltung
verleihen. In diesem Sinne hat hier Toleranz den Beigeschmack von Duldung
und Ertragen (lat. tolerare = dulden).
Wird Toleranz auch emotional positiv
konnotiert und als Mitverantwortung
oder als „Anerkennung des Anderen als
zwar anders, aber wertvoll und gleichberechtigt“ (Sader 2002:54) verstanden,
so wären wir beim Konstruktionsmuster
Anerkennung. Zuvor aber noch zum
Einordnung- und Aneignungsmuster.
4.7. Sympathische Einordnung des Fremden ins Eigene
mit Neugier und Faszination
Sympathie prägt hier die Beziehung
zum Fremden. Es ist der Versuch,
Fremdes so zu verstehen, dass man sich
überlegt, wie man sich in der Position
der / des Fremden fühlen würde (vgl.
Bennett 1993:53). Wahrgenommene
oberflächliche Differenzen (z. B. Essund Gebetsgewohnheiten) werden
unter vertraute Kategorien eingeordnet
53
(tief im Innersten sind wir alle gleich)
und damit minimalisiert nach dem
Motto: Solange alle Leute grundsätzlich wie wir sind, können sie nach ihrer
Art leben und beten. Die einholende
Konstruktion des Fremden an den
eigenen Standort setzt „Prozesse der
Rezeption (mit Selektion) und der
Integration (mit der Anwendung in
den eigenen Rahmen) voraus“ (Krämer
2007:42). Ähnlich wie bei Projektion,
wird das Neue / Fremde vom Eigenen
her selektiv rezipiert und in vorhandene,
eigene Erfahrungen und Begrifflichkeiten vollständig integriert. Zum Beispiel:
Die für einen in Deutschland lebenden
Christen neue Funktion des Minaretts
wird von seinem eigenen Vorverständnis des Glockenturms einer Kirche her
selektiv rezipiert und an vorhandene,
eigene Erfahrungen des Gottesdienstbesuches und das eigene christliche bzw.
katholische Kirchenverständnis vollständig angeglichen, obwohl es im Islam
weder ein entsprechendes Sakramentennoch Kirchenverständnis (muslimische
Gemeinden sind als Vereine organisiert)
gibt. Hier werden Gemeinsamkeiten
vor dem Trennenden gesucht, was eine
vorbehaltlosere und angstfreie Begegnung mit dem Fremden erlaubt. Da aber
diese Begegnung auch neugierig und
fasziniert erfolgt, wird bei der Einordnung des Fremden an den eigenen
Standort dem Eigenen eine deutliche
Priorität eingeräumt und damit wird die
Unzugänglichkeit des Fremden leicht
übersehen.
4.8. Empathische Aneignung
der / des Fremden mit Wertschätzung
Hier wird Empathie im qualifizierten
Sinne eingesetzt. Im Unterschied zu
Sympathie ist Empathie der Versuch,
Fremdes so zu verstehen, wie es sich
aus der fremden Perspektive anfühlt
(vgl. Bennett 1993:53). Ersetzt man bei
Sympathie Eigenes durch die Freude
oder das Leid des Fremden, wobei die
Gefühle die eigenen bleiben, erhält man
bei Empathie Anteil an der Erfahrung
und Perspektive des Fremden, sodass ein
wirklicher Wechsel des kulturellen und
religiösen Referenzrahmens erfolgt (vgl.
54
ebd.). Aneignung meint hier ein über
Grenzen hinweg wertschätzendes und
begreifendes Erkennen der Fremdheit,
„nicht deren Unterwerfung, Inbesitznahme oder Auflösung in einer ‘Horizontverschmelzung’, sondern der Prozess
einer partiellen, distanzwahrenden
assimilativen und reziproken Integration
im Sinne eines Vertrautwerdens in der
Distanz“ (Wierlacher 2000:110). Es
erfolgt also eine „partielle Integration“
(ebd.) des Fremden. Dazu ist aber die
Kompetenz notwendig, die „Innensicht
der Außensicht einnehmen zu können“
(Michel 1992:27f.) (Perspektivenwechsel). Gelingt dies, erfahre ich in der
Begegnung mit dem Fremden (z. B. das
Fasten im Monat Ramadan) „durch die
Fremdheit etwas mehr von mir, weil ich
dabei erkunde, warum das Fremde für
mich fremd ist“ (König 1999:302) (z. B.
Warum fasten viele Christen kaum
noch – oder wenn doch, dann nicht
aus religiösen, sondern aus ästhetischen
Gründen?). Da das Fremde hier die
Funktion der Bereicherung für mich
haben kann, wird es aber in gewisser
Weise funktionalisiert. „Trotz der geleisteten Verschränkung von Eigenem und
Fremdem stellt sich hier die Frage, ob
nicht gerade diese Funktionalisierung
die Wahrnehmung des Fremden nicht
zu sehr einengt und es in seiner Eigenart
zu wenig freigibt“ (ebd.).
4.9. Empathische Anerkennung der / des Fremden mit
Respekt und Achtung
Hier kann man sich selbst als jemand
sehen, der sich in einem lebenslangen
Lern- und Glaubensprozess befindet.
Welt- und Glaubenssichten werden
als Konstrukte wahrgenommen und
beschreibbar (vgl. Bennett 1993:59).
Was ist dafür nötig? Nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel muss ein Subjekt
zuvor eine Phase der Entfremdung
durchlaufen, um auf einer höheren Stufe
(Synthese) seine Weiterentwicklung
zu verwirklichen: Entfremdung vom
Eigenen, Irritationen und Brechungen.
Nur so kann das fremde Gegenüber
einem selbst etwas sagen, das man
„sich nicht selbst hätte sagen können“
(Schäffler 2009:28). In der durch solche
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Prozesse der Entfremdung und Selbstbildung hervorgegangenen Anerkennungskonstruktion wird mit Respekt
und Achtung die Uneindeutigkeit
und Unausschöpflichkeit des Fremden
gewahrt, ohne dass das Fremde völlig
fremd bliebe. Die Zuordnung zum Eigenen (Ähnlichkeiten entdecken) erfolgt,
ohne dass das Fremde angeeignet wird,
weil das „Störende und Differente der
Fremdheitserfahrung wahrgenommen
und beantwortet“ (König 1999:303)
werden kann. Z. B.: Ähnlich wie gläubige Muslime am Freitag zum Gebet in
die Moschee gehen, können gläubige
Christen am Sonntag zum Gebet in die
Kirche gehen. Doch wenn Muslime
und Christen beten, unterscheidet sich
nicht nur die Art des Betens, sondern
auch das jeweilige Gottesverständnis
erheblich (wenn Christen Gott als Vater
bezeichnen, kann das für Muslime einer
verbotenen Vermenschlichung Gottes
gleichkommen). Auch wenn Verstehen
hier sehr weitgehend erfolgt, hat es seine
Grenze in jenem Verstehen des Fremden, das das Eigene völlig fremd werden
ließe (würden Christen aus Rücksicht
auf Muslime auf das Verständnis Gottes
als Vater verzichten, würden sie einen
Teil ihres personalen Gottesverständnisses aufgeben). Praktisch geht es hier
um ein umsichtiges Eintreten für die
Entfaltung des Fremden, beispielsweise
dadurch, dass Moslems geeignete Räumlichkeiten zum Gebet erhalten können
und deshalb grundsätzlich Moscheen
in Deutschland erlaubt werden sollten.
Würde man diese aber zur Vorbereitung
von Terror gegen die deutsche Gesellschaft nutzen, wäre die entsprechende
Grenze überschritten. Hier wird also
eine Dialogkompetenz mit dem Fremden angestrebt, die die Plausibilität und
Selbstverständlichkeit bisheriger Urteile
dadurch modifiziert, dass sie neben die
einer bislang nicht vertrauten Erfahrung, Religion oder Kultur treten (z. B.
Moscheen stehen neben Kirchen). Im
Muster der Anerkennung wird erreicht,
was eines der schwierigsten Dinge
überhaupt ist: Respektvoll und achtsam
fremde Perspektiven perspektivisch
richtig in die eigene Sicht zu integrieren.
5. Konkretionen für interkulturelle Bildungsprozesse
Im Blick auf interkulturelle Bildungsprozesse, schulischer wie außerschulischer Art, erlaubt das hier vorgestellte
Modell insgesamt eine Neubewertung
und Ausdifferenzierung von wahrnehmen und deuten, denn wahrnehmen ist
ein von Emotionen begleiteter Prozess,
der nicht ohne subjektives deuten
auskommt. Auch die Gestaltung von
Begegnungen mit Fremden impliziert
Deutungen, die oft nur teilweise die
bleibende Fremdheit respektieren und
eine tiefe existentielle Bedeutung erhalten. In Einzelnen seien einige Aspekte
präzisiert:
Konstruktivität von Wahrnehmung: Präsentiert eine Lehrperson eine tradierte
Ausdrucksform einer Kultur, einen
fremden Inhalt (z. B. einen ursprünglich aus Ägypten stammenden Text für
deutsche Schüler/innen), so wird dieser
nicht einfach von den Schüler(inne)
n 1:1 übernommen. Vielmehr konstruieren die Schüler/innen den Inhalt
aufgrund des Eigenen je neu. Der
gleiche Inhalt kann also bei unterschiedlichen Schüler(inne)n sehr verschieden
ankommen. Ähnlich verhält es sich im
außerschulischen Bereich. Begegnen
Menschen fremden Kulturen, können
diese von Menschen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Für die
Initiierung von Bildungsprozessen
bedeutet dies, dass man eine gewisse
Vorstellung von dem haben muss, was
Menschen selbst kulturell ihr Eigenes
nennen (wollen oder können). Damit
in Zusammenhang steht, dass die für
Bildungsprozesse verantwortliche Person einschätzen können sollte, welche
Ausdrucksformen bei den Teilnehmenden eher das Sicherheitsbedürfnis oder
eher die Neugier ansprechen.
Ausdrucksform bzw. Darstellungsform:
Die Ausdrucksformen tradierter Kulturen, die fremden kulturellen Zeugnisse, passen oft nicht zum schulischen
Unterricht. Weil sie nicht einfach wie
andere im Unterricht durchzunehmende
Gegenstände behandelt werden dürfen,
sollte eine Sensibilisierung stattfinden,
die auch der Fremdheit dieser Gegen-
55
stände ihr Recht gibt. Darüber hinaus
ermöglicht die Transformation tradierter Ausdrucksformen für den schulischen Kontext in Darstellungsformen
einen didaktischen Zugriff. In einem
öffentlichen Unterricht sollten unterschiedliche Darstellungsformen dem
schulischen Kontext und unterschiedlichen Bezugssystemen (z. B. eigene und
fremde Kulturen) angemessen präsentiert werden. Dies ist die Voraussetzung,
dass Schüler/innen ihre persönlichen
Bedeutungen der / des Fremden finden
und erfinden können.
Bewusstwerden der Konstruiertheit der
Wahrnehmung: Aufgrund der Auseinandersetzung mit dem / den Fremden können Kinder und Jugendliche,
aber auch Erwachsene Einsicht in die
Prinzipien und Mechanismen der Wahrnehmung erlangen. Durch die Konfrontation mit dem / den Fremden können
vorreflexive, akkumulierte, sedierte und
aktualisierte Vorprägungen bewusst
werden. Somit dürfte zukünftig wohl
nicht primär objektive Wahrnehmung
vom Fremden und Eigenen im Vordergrund stehen, sondern sich des Eigenen
und der Mechanismen der Wahrnehmung bewusst zu sein. Es geht also
darum, nicht nur die Bilder der / des
Fremden, sondern auch von sich selbst
zu verstehen, zu akzeptieren oder ggf. zu
verändern.
Bedeutung von Emotionalität: Während
Apathie und Emotionslosigkeit die
kognitiven Dissonanzen zwischen Handeln und Einstellungen der Menschen
verschleiern (vgl. dazu die sozialpsychologische Theorie von L. Festinger) und
Sympathie sowie Antipathie diese reduzieren, wird ausschließlich Empathie
dem Fremden voll gerecht. Da aber kein
Mensch ohne Emotionen vollständig
ist, sind alle pathischen Reaktionen der
Teilnehmenden an Bildungsprozessen
von Bildungsverantwortlichen sensibel
wahrzunehmen, auch solche der Angst
vor Fremdem, die evolutionsbiologisch
erklärbar ist.
Abwertende Konstruktionen: Die
Konstruktionsmuster Geringschätzung,
Fremdenangst und gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit enthalten negative
Emotionen, die als Wahrnehmungs-
56
bzw. Erkenntnisfilter wirken. Dagegen
mit rein kognitiven Instruktionen anzureden dürfte wirkungslos bleiben, da sie
an den emotionalen Filtern abprallen.
Für eine Dekonstruktion dieser Muster scheint es hilfreicher, zunächst die
zugrunde liegenden Emotionen sensibel
wahrzunehmen, um diese zu bearbeiten
(z. B.: Was macht Angst? – möglicher
Arbeitsplatzverlust; Gewalt; fremde
Sprache/n in der Öffentlichkeit).
Apathie bzw. Emotionsneutralität: Arbeitet man sich in interkulturell relevanten Bildungsprozessen allein an Wissen
über Fremdes ohne emotionalen Bezug
ab, dürfte dies im Ganzen zu wenig sein,
denn ein solches Wissen wäre lediglich
„träges Wissen“ (Renkl 2006:780), ein
Wissen also, das zwar vorhanden, aber
vom jeweiligen Subjekt nicht nutzbar
ist und damit letztlich bedeutungslos
bliebe.
Sympathie: Sympathie und die alleinige
Suche nach Gemeinsamkeiten sind
keine Gewähr für gelingende interkulturelle Bildungsprozesse. Vielmehr kennt
man das Phänomen von Verliebten, die
den / die Geliebte/n unter einer rosarot
gefärbten Brille wahrnehmen. Verblasst
diese Brille oder wird sie (irgendwann)
abgenommen, kann dies ein (böses)
Erwachen zur Folge haben. Um dies
zu vermeiden scheint eine der Realität
angemessenere Empathie auf Dauer
angebrachter.
Empathie: Empathie ist in interkulturellen Bildungsprozessen, in denen Unterschiede angemessen wahrgenommen
werden sollen, am meisten angebracht.
Es ist eine Einfühlung, die “durch Vorstellung erreichte kognitive und emotionale Anteilnahme an Erfahrungen
anderer Personen” (Bennet 1998:207).
Im Vergleich zu Sympathie sind damit
besonders zwei Unterschiede bedeutsam: „Anteilnahme“ statt „Ersetzen“
und „Erfahrung“ bzw. „Perspektive“
statt „Position“ (ebd.). Im Vergleich
zu Sympathie akzeptiert man dann in
interkulturellen Bildungsprozessen
Unterschiede.
Erarbeitung von Differenzkategorien:
Zunächst muss man lernen, innerhalb
der eigenen Kultur und Religion Dif-
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
ferenzen wahrzunehmen und in ihnen
konstruktiv zu handeln. Erst dann hat
man sprachlich fassbare Kategorien
verfügbar, um Differenzen gegenüber
Fremden und Fremdem in positiven Begriffskategorien beschreiben zu können.
Behr, H. H. (2009): Der Satan und der
Koran. Zur theologischen Konstruktion des
Bösen im Islam und dem therapeutischen
Ansatz im Islamischen Religionsunterricht.
In: Berger, K. / Herholz, H. / Niemann,
U. (Hrsg.): Das Böse in der Sicht des Islam.
Regensburg: Pustet, S. 33-52.
Ausbildung von empathischer Wahrnehmung: Im Bereich der Schule ist neben
interkulturell angelegten Lernprozessen
die gesamte Schulkultur anerkennungsorientiert zu gestalten. Doch wo lernen
Lehrende dies? Sinnvoll scheint es hier
nicht nur für Lehrpersonen, sondern für
alle Bildungsverantwortliche, schon in
der Ausbildung empathisches Wahrnehmen der / des Fremden zu entwickeln. Dazu sind bereits im Studium
auf Begegnung und Reflexion angelegte
Konzeptionen notwendig, welche die
Ausbildung interkultureller Empathie
nicht nur dem Einzelnen oder dem
Zufall überlassen, sondern systematisch
aufzubauen vermögen.
Bennett, M. J. (1993): Towards Ethnorelativism: A Developmental Model of intercultural Sensitivity. In: Paige, R. M. (Hrsg.):
Education for the intercultural Experience.
Yarmouth: Intercultural Press, S. 21-42.
6. Schluss
Bei den skizzierten Konkretionen ist
zu berücksichtigen, dass nicht immer
in der konkreten Begegnung mit den /
dem Fremden gelernt werden kann.
Empathische Wahrnehmung in interkulturellen Bildungsprozessen soll im
Blick auf die Verhältnisse in Deutschland berücksichtigen, dass bestimmte
Menschen kaum präsent sind. Aus
diesem Grund sind auch Lernszenarien
realistisch, welche diese Abwesenheit
vergegenwärtigen.
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interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Integrating Intercultural Communicative Competence into the curriculum of a department of
Foreign Languages: An Exploratory Case Study
Die Integration von interkultureller Kommunikationskompetenz in das
Curriculum eines Institutes für Fremdsprachen: Eine explorative Fallstudie
Joe Terantino
Abstract (English)
Ph.D., University of South
Florida, Director of the
Foreign Language Resource Center and Assistant
Professor of Spanish and
Foreign Language Education at Kennesaw State
University
This article presents an ongoing initiative to integrate intercultural communicative
competence into the curriculum of a department of foreign languages. This work identifies and describes the nine emergent steps that were taken as part of the process, giving
special attention to the challenges, failures, and successes encountered by the group. In
addition, the authors articulate five lessons learned from the project so that other departments, from foreign languages or other disciplines, may learn from the experiences
described. The authors conclude with a general statement about the relative difficulty of
the project, highlighting the current status and future plans for the initiative.
Claudia Stura
Keywords: Curriculum reform, foreign language, intercultural communicative competence
Ph.D candidate in International Conflict Management at Kennesaw State
University, USA
Sabine H. Smith
Professor of German and
serves as Section Head of
German Studies at Kennesaw State University
(KSU)
Jeannette Böttcher
M.A., (ABD) teaches Foreign (English) Language
Education at the University of Paderborn, Germany
Abstract (Deutsch)
Der vorliegende Artikel beschreibt die Initiative, interkulturelle Kommunikationskompetenz als festen Bestandteil in das Curriculum eines Institutes für Fremdsprachen zu
integrieren. Zudem werden die neun relevanten Schritte, die während dieses Prozesses
unternommen wurden, erläutert. Den auftretenden Herausforderungen, Niederlagen
und Erfolgen wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Darüber hinaus präzisieren die Autoren die Erkenntnisse, die sie aus dem Projekt gewonnen haben, so dass sich
andere Einrichtungen, wie z. B. Fremdsprachenabteilungen oder andere interessierte
Institutionen, die hier gesammelten Erfahrungen zunutze machen können. Die Autoren schließen ihren Beitrag mit einer Ausführung über die Schwierigkeit des Projektes
ab, beleuchten den derzeitigen Status und geben einen Ausblick auf zukünftige Pläne
der Initiative.
Schlagwörter: Reform des Curriculum, Fremdsprachen, Interkulturelle Kommunikationskompetenz
59
1. Introduction
In a general, educational climate that
promotes globalism and cultural diversity, the present case study focuses on
the process of introducing intercultural
communicative competence (ICC) into
the curriculum of the Department of
Foreign Languages (DFL) at a regional
state university in the southeastern
United States. The initiative, sponsored
by the university, supported curricular
review, assessment, and innovation in
connection with the institution’s strategic plan and the mission and vision
of its College of Humanities and Social
Sciences and the DFL. Specifically, the
researchers in this case study drew from
a major goal of the institution’s strategic
plan: “Goal #6: To promote an inclusive
campus environment through the adoption of […] curricula that are guided
by the principles of diversity, equity,
transparency, and shared governance”
(KSU 2010:19).
In an ever more global world, and with
institutional mandates of providing
students with opportunities for intercultural learning, the time was right to
launch this comprehensive curricular
initiative that was guided by collaboration within the DFL. Because the
department’s degree program Modern
Language and Culture is grounded
in a proficiency-centered curriculum,
instruction is facilitated as much as
possible through the target language.
Hence the initiative of exploring the
role of ICC in the department was
convened to examine the role of ICC as
an integrated, developmental learning
outcome for faculty and students in the
department.
To date, a description of this process
has not been documented, although an
emergent body of scholarship is beginning to explore this visionary direction
in the discipline of language study
(Banks 2008, Deardorff 2009, Dupuy &
Waugh 2011, Landis et al. 2004, Levine
& Phipps 2012). This recent scholarship recognizes the approach by which
DFL curricula prepare learners with
skills, content knowledge, and dispositions related to the target language and
60
culture. However, the literature does
not show that programs systematically
develop, assess, or measure the learners’
progressive attainment of intercultural
competence, i. e. the ability to navigate
successfully any encounter with difference.
This case study research operationalizes
ICC and examines the steps taken to
implement the deliberate and strategic
inclusion of ICC as a learning goal in
the DFL curriculum. The systematic
description of the yearlong process is
the subject of this case study. The article
begins with an overview of the international call to include ICC in education. Then, there is a description of the
nine emergent steps that were undertaken throughout the yearlong process,
academic year 2010-2011. The final
sections of the article relate the lessons
learned from the initiative so that others
may benefit from these experiences. This
research and the lessons learned have
led to one indisputable conclusion. An
initiative for integrating ICC into the
DFL curriculum is difficult, albeit not
impossible, and it requires a more complex process than many would think.
2. Intercultural Competence in Europe and the
United States
In Europe, with the Bologna Declaration in 1999, a decisive step towards the
realization of comprehensive educational goals was taken. The progressing
migration within the European Union
has made the need for new requirements concerning language education
obvious. Foreign language education
has to be paired with “adequate intercultural competence” (Stier 2006:2). Furthermore, the old equation, grammar
+ vocab = language, no longer applies.
Realization that a much more comprehensive approach to language education
is needed has started discussions about
new learning objectives including intercultural competence.
According to Byram, Nichols and Stevens, language and culture are regarded
as an “integrated whole” (2001:1) and
have been taught under different labels
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
for many years. Byram sees the focus
no longer on training a grammatically
perfect speaker, but on the development of an intercultural speaker. This
intercultural speaker should have “the
ability to interact with ‘others’, to accept
other perspectives and perceptions of
the world, to mediate between different
perspectives, to be conscious of their
evaluations of difference” (Byram and
Zarate 1997:239ff. see also Kramsch
1998), which in time will help promoting intercultural citizenship.
In his article Internationalisation, intercultural communication and intercultural competence Stier (2006:8) proclaims
that
“there is a need for: (1) scrutinizing the
ideological basis of higher education; (2)
drawing from these ideologies, discussing
the role of intercultural communication education in higher education; (3)
identifying the cornerstones of intercultural competencies; and (4) proposing an
adequate model for ICE.” (Stier 2006:8)
However, he emphasizes that so far,
neither the higher education institutes
nor the teaching personnel is fully
capable of meeting the needs of modern
societies. Among the European intellectuals the discussion on what exactly
ICC is and on how it should be integrated into the education system is far
from over. The mission of the Bologna
Declaration, however, is a vital step
towards an “ideological convergence,
a European sense of community and
cultural conformity – and, consequently
of social harmony” (Stier 2006:4).
Ideally, says Stier, ICE should comprise
the six ‘i-characteristics’: intercultural
themes, investigative, interdisciplinary
perspectives, interactive, integrated, and
integrative views (ibid.:8). Once this six
step program is completed, the outcome
should equip the student ideally with
the six ‘c- characteristics’: communicative competence, cooperative competence, confidence, commitment, critical
thinking, and comparability (ibid.:9).
Similarly, in the United States the
Modern Language Association (MLA)
report of 2007 made specific recommendations for foreign language departments to adjust to a changed world and
pedagogical paradigm shifts so that
foreign language learners would experience their studies as more coherent and
integrated (MLA 2007:3), and as equipping students with skills that exceed and
transcend functional proficiency in the
target language and culture (ibid.:4).
As the MLA report states, “language
is considered to be principally instrumental, a skill to use for communicating
thought and information”, but also as
“an essential element of human being’s
thought processes, perceptions, and selfexpressions; and as such it is considered
to be at the core of translingual and
transcultural competence” (ibid.:2).
According to the MLA report, the
two-tiered configuration of language
learning on the one side and literary
studies on the other has surpassed its
usefulness and should be “structured to
produce a specific outcome: educated
speakers who have deep translingual
and transcultural competence” (ibid.:3).
To achieve this goal, the MLA suggests
offering students more general courses,
like “language and cognition, language
and power, bilingualism, language and
identity, language and gender, language
and myth, language and artificial intelligence, and language and the imagination” (ibid.:60).
With these worldwide movements
for reforming language education to
include intercultural competence as a
major component in mind, the initiative
to integrate ICC into the DFL curriculum began.
3. Methods
Based on a qualitative, case study approach, the objective of this study was
to reach a full understanding of the
process of integrating ICC in the DFL
curriculum. Multiple methods of data
collection were used for this study,
including a questionnaire, a review of
foreign language teaching materials
and ICC based workshops and presentations, and in-depth readings and
discussions. This approach allowed for
understanding the process of integrating
ICC in its full context (Merriam 1998,
Patton 1990, Stake 1995, 2005). Interpretations culled from analyses, drawn
61
on comprehensive descriptions of triangulated data, were intended to offer new
perspectives on this previously uninvestigated field. The purpose was neither
to understand some abstract construct
nor theory building (Merriam 2009), it
was to understand this particular case,
which may indicate starting points for
future research. As the research question
was the driving force behind this study,
the purpose was to examine the steps
taken in an effort to explore the integration of ICC into the curriculum of the
DFL.
3.1. The Case Study Approach
To gather the necessary data to depict
the department’s approach to integrating ICC, the research paradigm for this
study was qualitative, utilizing the case
study method. The qualitative paradigm
was chosen for this research because it
is intended to form an in-depth understanding of the case being investigated.
Yin states that a case study “investigates
a contemporary phenomenon within
its real-life context, especially when
the boundaries between phenomenon
and context are not clearly evident”
(2009:13). Observing the participants
in a situated social context was essential for this research. In this study the
researchers attempted to describe the
case, analyze the themes present in the
description, and ultimately make some
interpretations from the data. By incorporating data from multiple sources, the
object was to reach a full understanding
of the phenomenon. In accordance to
Yin’s (2009) case study method, the
scholars studied certain decisions in the
process: why they were taken, how they
were implemented and with what result.
Hence, this study examined the following research question: Which steps may
be taken to explore the integration of
ICC into the DFL curriculum?
3.2. Role of the researchers
It is important to note that the primary
researchers in this study also served as
participants in the faculty learning community (FLC) under examination. Be-
62
cause of this dual role as researchers and
participants, they began the study with
existing relationships within the department and the broader university community. These relationships facilitated
the study by providing ease of access and
a familiarity with the inner workings
of the department. It was also essential
for the researchers to acknowledge their
role in data collection and analysis.
Morse and Richards (2002) refer to
this as awareness of self. In this manner
knowledge was socially constructed by
the researchers as they participated in
the faculty learning community.
3.3. A Description of the Setting and the Participants
The setting of this study was the DFL at
a large, southeastern university during the academic year 2010-2011. This
department offers a major in Modern
Language & Culture. Spanish is the
predominant language taught by the
department, and French and German
are also offered as options for the major.
In addition, Chinese, and Italian are
choices for a minor.
The unit of analysis in this case study
consisted of FLC members, taskforce
members, workshop participants, and
interested DFL faculty members. These
participants consisted of a diagonal cut
of the department’s administrative and
teaching faculty, lecturers, part-time
instructors, and a graduate research
assistant with foreign language expertise
and a research focus in intercultural
competence. Multiple languages were
represented in this community including: Chinese, French, German, Italian
and Spanish. In addition, several of the
faculty participants held joint appointments in a foreign language and in
foreign language education. Last, it is
important to note that both the members of the faculty learning community
and the task force received incentives
provided by grant funding. These
incentives included book purchases for
readings and discussions and participant
stipends. They were also required to
attend 80 percent of the seminars and
workshops and to engage with reading
materials.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
3.4. Data Collection
For this case study data were collected
throughout the academic year 20102011. Data were collected primarily
through an initial survey, a review of
teaching materials and reading-based
discussions related to ICC researcher
journals, and an end-of-the-process evaluation. As several case study researchers have stated (Gillham 2000, Stake
1995, Yin 2009), it is very important
to have multiple sources of evidence in
case study research. In this manner a
combination of data sources provide a
clearer description of the department’s
approach to integrating ICC in the
teaching methods.
The initial survey was administered
during a department faculty meeting in
the fall 2010 semester. It was conducted
among the DFL teaching faculty to
gauge faculty awareness and attitudes
toward teaching ICC, their knowledge
of it as well as assessing their teaching
strategies, preferences and materials.
Other segments of the questionnaire
evaluated the instructors’ perceptions
of the students’ knowledge, skills, and
dispositions at the beginning and at the
end of a typical class. Last, the survey
was also used to gauge faculty interest
in integrating ICC in the DFL curriculum and examined their support of the
project. The questionnaire included 14
questions including several sub-questions. In developing the questions the
researchers consulted the work of Banks
(2008), Bennett (2010), Byram (1997),
Kramsch and Whiteside (2008), the
National Standard in FL Education
Project (2008) and Schulz (2007).
Responses were marked on a 7-point
Likert scale ranging from (7) most
likely / often to (1) least likely / often.
This allowed the authors to make the
answers directly comparable to those of
other respondents (Beiske 2002).
The review of teaching materials took
place throughout and after the duration of the faculty learning community.
A review of the teaching materials was
conducted to gather data related to
the inner workings of the department.
In addition, participant-observations
were used extensively throughout the
research process. The questionnaire
and reviewing material played only a
supporting role in gaining an in-depth
understanding of the case, because the
investigators aimed to discern the process mainly by observing participants’
behavior as it occurs and make appropriate notes on it. Moreover, observational
evidence was used not only to gain a
deeper understanding about the process,
but also to add new dimensions for
understanding the phenomenon being
studied (Yin 2009).
4. Data Analysis
The methodological approach for this
study was exploratory in nature. The
general data analysis processes of this
research drew heavily from the work
of Miles and Huberman (1994:10ff.),
which describes qualitative data analysis
in three phases: data reduction, data
display, and conclusion drawing and verification. First, data reduction allowed
data collection and analysis to become
more manageable for the researchers.
Second, data display aided in further
data reduction and viewing the data in
a more organized manner, which also
enabled drawing conclusions from the
research process. Third, conclusion
drawing and verification was used to apply knowledge taken from the literature
review to draw conclusions about the
faculty learning community and the
members’ approach to integrating ICC.
More specifically, the study included
observations and analyzing documents,
as Merriam (1998), Patton (1990) and
Stake (2005) recommend. Document
analysis was used to review the teaching
materials and discussion forums posted
on the website, grant documents, the
agendas and minutes of the meetings,
the assigned readings, and the researcher
journals. This form of analysis was used
in accordance to Yin to “corroborate
and augment evidence from the other
sources” (2009:103). Furthermore, the
authors aimed to make inferences from
the documents about what happened
when, how often, and in which regard.
63
5. Results and discussion
This exploratory case study focuses
on the steps that emerged in a process
geared towards integrating ICC into
a department of foreign languages.
Throughout the study chronology of
the academic year 2010-2011, nine
steps emerged in the course of this
process. The following sections address
these steps and their role in the overall
process.
5.1. Emerging steps
■■ Step One: Introductory Presentations
Charged by the institution’s Office of
Diversity and Institute of Global Initiatives, the Chair and graduate research
assistant (GRA) of the initiative developed two introductory presentations
in early fall 2010. They introduced the
faculty to the concept of ICC by offering an overview of theoretical concepts
and a suggested definition. Furthermore, by identifying possible intersections between participants’ work in
the initiative and performance areas in
faculty review (teaching, supervision,
and mentoring; professional service;
research and creative activity), the
faculty members were asked to consider
participating in the work groups related
to integrating ICC into the DFL curriculum.
■■ Step Two: Incentive Grants
After the initial introductory presentations, and to further incentivize
faculty participation in the ICC work
groups, two mini-grants were secured.
The institution’s Center for Excellence
in Teaching and Learning (CETL)
sponsored a seven-member faculty
learning community, and the institution’s Office of Diversity and Institute of Global Initiatives sponsored a
thirteen-member task force. Both grant
sources funded copies of literature,
travel stipends, access to dissemination
of new knowledge via conference and
workshop attendance and participation.
The group leader pursued incentives
because it was thought incentive grants
64
might motivate participants to commit
to sustained and active participation. In
fact, the incentives offered throughout
the yearlong process appeared to affect
the participants differently. One person
indicated, “For me personally, they did
not have a part in my decision to join
this group” (Interviewee 9). On the
other hand, one participant describes
the stipends as an essential factor in the
process:
“Personally, I have to admit that the possibility of earning a stipend to participate
attracted me more than if there were no
stipend. I feel this also is indicative of our
university culture in which many faculty
worry about completing work towards
Tenure and Promotion requirements, and
often things like this are secondary and of
less importance. Offering an incentive also
aided in creating buy-in on behalf of those
participating and receiving the stipend.”
(Interviewee 7)
Throughout the year it became evident
that not all participants were motivated
by the grants and subsequent incentives.
The researchers also noted that not all
of the participants received a stipend.
Furthermore, not everyone, who was eligible to receive a stipend, claimed one.
■■ Step Three: Questionnaire
In an effort to assess the status of DFL
faculty’s perceptions of ICC, an initial
questionnaire was designed and distributed to the faculty. The 14-item questionnaire was crafted: 1) to document
DFL faculty’s responses with respect
to their students’ knowledge, skills,
dispositions at the beginning and end
of a typical class; and, 2) to have DFL
faculty identify the most frequently
used and effective teaching strategies and tools in advancing students’
cultural knowledge, skills, and dispositions. Participants were asked to answer
closed-ended questions on a Likert scale
(1= fully aware/most often/most likely;
7= totally unaware/never/least likely).
18 faculty members responded to the
questionnaire.
Descriptive statistics data analysis was
applied. First, in response to seven
hypothetical statements a student might
make, which were gleaned from work
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
by Bennett (1993) and are reflective of
identifiable ICC stages, most respondents thought that students are likely to
have demonstrated surface understanding of complex and important elements
in a culture. With respect to faculty’s
assessment of a typical student at the
end of a course the majority of responses
identified students as having developed
most likely cultural knowledge and
interpersonal communication skills.
Second, to advance students’ cultural
awareness most effectively, survey participants shared that they use partner /
group discussion, followed by film / visual prompts / illustrations and lecture /
verbal description/explanation. Results
for faculty preferences with respect to
teaching the social context of language
and nonverbal behavior (voice, body,
space) were similar: lecture / verbal
description / explanation, followed by
film / visual / prompts / illustrations.
The data also suggest that faculty tend
to teach culture in very similar ways to
other course material, preserving preferences for teaching strategies.
■■ Step Four: Limited-access Website
Building on the information gathered
by the initial questionnaire, the DFL
faculty was then asked to share information and teaching materials related
to ICC. A plethora of materials was
collected from the department, and
thus, a discussion took place as to how
to organize and share the materials with
the entire department. In response to
this a limited-access website was created
on the institution’s Blackboard server. It
was accessible to all of the DFL faculty
and instructors. The site contained all
resource materials collated from study
participants and DFL colleagues. Stored
in folders and updated on a monthly
basis, these materials included grant
documents, agendas and minutes,
and resource repositories with both
discipline-specific and trans-disciplinary
content. For example, the folder Activities housed proficiency-level-specific
course assignments ranging from online
exercises to cultural simulations.
Background Reading and Bibliographies
hosted both annotated reference lists
and scanned articles in PDF format. In
the discussion section, faculty posted
and blogged about assignments and
work in progress, e. g. revisions of the
DFL curriculum assessment plan.
There were 309 total user sessions,
which resulted in nearly 50 hours of
total use. The average use length for the
individual was five minutes and nineteen seconds, and the site averaged three
sessions per day. 1157 content folders
were viewed and 424 files were viewed.
More specifically, tools such as the individual files and folders, the discussion
board, and email were used most often.
■■ Step Five: Discussion Meetings
In addition to constructing the limitedaccess website to organize materials
related to ICC, in monthly two and
three-hour seminars, study participants
met to discuss relevant readings, best
practices, and works in progress. The
participants took turns in presenting
instructional materials and theoretical
concepts culled either from individuals’ research, instructional practice, or
the grants-sponsored ICC literature.
They discussed numerous reading
assignments, including documents by
Bennett (2010), chapters in Deardorff ’s
The SAGE Handbook of Intercultural
Competence (2009) and Lustig’s and
Koester’s Among US: Essays on Identity,
Belonging, and Intercultural Competence
(2006). The main focus of these discussion meetings was to introduce a variety
of disciplinary perspectives on ICC
with the goal of identifying relevant
strategies and tools for use in the DFL
curriculum.
While observing the discussion meetings, the four researchers noted that in
the beginning the discussions did not
advance toward the goals of accomplishing the necessary steps in identifying
aspects of ICC that would be beneficial
to the process nor to articulate a plan
for introduction and integration. As all
four researchers indicated in their notes,
the discussions remained rather general.
However, after the yearlong process had
ended, several participants expressed
their perception about the overall im-
65
portance of the discussion meetings. In
particular, one participant indicated:
“I had the impression that the discussion
of the literature review was a door opener
to the topic, especially people that were
rather reserved in regard to the topic
approached it by looking at the language
they teach and what has been published in
conjunction of ICC.” (Interviewee 4)
Furthermore, the authors noted the following as benchmark themes in the discussion meetings: the students’ process
of becoming intercultural competent,
how to apply ICC in the classroom,
the development of a model and check
points for tracking student development
of ICC during their foreign language
studies, and aligning specific ICC concepts with the DFL curriculum.
■■ Step Six: Conference Presentation
Early in spring 2011, the study participants synthesized their understanding
of ICC with respect to the DFL and
presented on the process of integrating ICC into the DFL curriculum at a
regional conference organized by the
institution’s Center for Excellence in
Teaching and Learning. It forced the
group to come together to deliver a
product representing the culmination of
their work. As one researcher remarked,
“The CETL conference presentation
was very eye opening to me because it
was the first time that I was able to see
the department’s treatment of ICC as
a whole” (Interviewee 7). Another participant of the study also noted:
“Presenting parts of our work to a bigger
audience at the CETL conference was a
good opportunity for us to take stock of
what we had done so far. Also it became obvious once again that there is no
straight forward plan on how to integrate
ICC into any curriculum and that it
will take a combined effort to achieve this
goal.” (Interviewee 5)
By participating in the CETL conference the work group was exposed to the
idea of integrating ICC in other teaching fields. Furthermore, it became obvious through discussions with the CETL
attendees that although many think
integrating ICC into a department of
66
foreign languages curriculum should be
easy, it remains a difficult task.
■■ Step Seven: Subcommittee Work
Towards the end of the scheduled
discussion meetings, it was determined
that to effectively conclude the yearlong
process of integrating ICC into the
curriculum subcommittees were needed
to perform more specific tasks. Among
these tasks were: to develop an ICC assessment plan for the DFL curriculum,
to design and create a public website to
share the work related to ICC, and draft
a grant-mandated summary report and
subsequent scholarly article.
The first subcommittee compared and
contrasted the scholarship ICC experts
to propose a developmental model of
ICC for the DFL curriculum. The model aligned identified learning outcomes
for linguistic proficiency (following
national standards for the profession)
with correlational learning outcomes
for ICC based on ICC scholarship. The
model specified an articulated sequence
of ICC target goals for learners during
and at the end of the DFL curriculum
in correspondence with completion of
1000-level, 2000-level, and 3000-4000
level coursework. The schema also provided details on students’ cultural content knowledge, communicative skills,
and ICC. Since the DFL assessment
plan is trans-disciplinary and comprehensive, it identified courses for initial,
formative, and summative assessments
of specified student learning outcomes
and provided suggestions for including sequenced ICC assessments in the
extant plan. Last, a rubric for assessing
students’ levels of ICC at the end of the
2000-level courses was drafted.
The second subcommittee designed
and created a public website to share
all work related to the ICC integration project (https://sites.google.com/
site/icctoolkit/). It features select ICC
resources collected by study participants
in a format that is easily accessible.
The resources exhibited here will serve
as a user-friendly toolbox and searchable repository for foreign language
educators interested in ICC. The third
subcommittee drafted and submitted a
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
summary report of the groups’ work to
the grant-funding agencies. In addition,
this subcommittee began working on
scholarly articles to further document
the ICC integration project.
■■ Step Eight: End-of-the-year Evaluation Instruments
Two online assessment instruments
were used to gauge study participants’
responses to ICC at the end of the
yearlong process. First, all study participants were granted access to the online
assessment instrument developed by
Hammer, The intercultural development inventory (IDI). In confidential
sessions, IDI certified colleagues at
the institution provided feedback to
the study participants during summer
2011. Second, the study participants
were invited to respond to a summative
questionnaire posted online. This survey
was intended to gather the participants’
thoughts about the yearlong process of
introducing ICC into the DFL. The
results of this survey indicate that the
participants found the grant-funded
incentives, the discussion meetings, and
the subcommittee work to be the most
valuable steps in the process of integrating ICC in the DFL curriculum. In
addition, a majority of the participants
indicated on the final survey that they
benefited very much from taking the
IDI assessment and participating in the
follow-up interview.
■■ Step Nine: Planning for Curriculum
Integration
To round out the yearlong process of
introducing ICC into the DFL, a final
step was designed for early fall 2011. In
a DFL faculty retreat, study participants
summarized the work completed and
submitted for peer review and approval
three items: A) an ICC definition for
adaptation in the DFL; B) a revised
DFL curriculum assessment plan with
initial, formative, and summative assessments of ICC; and C) a public website
with ICC resources, linked to the DFL
homepage. In addition, the following
steps in the integration process were
shared with the faculty and subsequently approved: A) charge the DFL’s
curriculum committee to develop and
approve ICC-related learning objectives; B) charge the DFL’s assessment
committee with developing level-appropriate assignments, assessment instruments, and rubrics.
5.2. Lessons Learned
The nine emergent steps chronicled in
the previous sections, which relate to
the yearlong process of integrating ICC
into the DFL curriculum, have enabled
learning several valuable lessons. Sharing
these lessons here may further discussion of integrating ICC into foreign
languages and other fields. Furthermore,
the successes and shortcomings experienced may shed light on other academic
fields and educational settings.
■■ Lesson number 1
Try to determine what will stimulate
faculty buy-in and motivation. Based
on the findings related to the role of
the incentive grants in this study it was
determined that the members participating in the process had different motivating forces behind their work. Some
were interested in developing teaching
materials related to ICC, while others
were genuinely curious about an unexplored topic. Subsequently, the varying
motivating factors may also affect the
roles the members take in the group.
Try to establish direct connections
between these factors and the work of
the integration process. In addition, the
findings from this phase of the research
appear to support previous research regarding the role of incentives. MacLeod
(1995) explains how the impact of
incentives is not always consistent across
the members of a particular group or
situation. As was seen in this research,
often it is the strong players who gravitate, or are reassigned by task leaders, to
the incentive-based work (Burgess et al.
2010). Thus, incentives alone cannot be
the only motivational force.
■■ Lesson number 2
Try to document all work. Creating a
receptacle shell, the limited-access site,
served as a valuable resource for this
67
integration process. As materials were
collected, meetings were held, and notes
were taken, everything was documented
and subsequently posted to the site. For
example, at the beginning of the integration process the members of the DFL
faculty were asked to share teaching
materials related to ICC. Many members of the faculty were willing to share,
and the limited-access site served as an
easy-to-use resource for this purpose.
Furthermore, it allowed the researchers
and all those involved in the initiative
to look back and track the progress
that was made. Upon reviewing the
course shell usage by the participants of
the work group and the other faculty
members, it became apparent that the
nature of its use evolved as the process
transpired throughout the year. Although the shell began as a receptacle of
information in which relevant materials were stored, by the end of the year
the participants were actively engaged
in discussions and individual members
posted files for others to review. In addition, reviewing the process through the
information posted in GeorgiaView Vista, the university course management
system, allowed the researchers to track
the process step by step as it developed
over the year.
cally how we can approach its integration
within the department.” (Interviewee 3)
Although it was a difficult and time
consuming step, establishing the general
concept allowed the faculty members to
move in unison towards more specific
parameters related to the integration of
ICC. It is possible that moving directly
to the curriculum reform, without first
addressing the general concept, would
have led to more conflict and confusion.
■■ Lesson number 4
Try to present and evaluate progress of
the work at various stages in the process.
At the midpoint of the initiative several
faculty members of the work group
presented the work in progress at the
CETL conference. This step allowed the
group to synthesize the work that had
been completed up to that point. In addition, in this type of conference forum
faculty from a range of colleges and
universities and from an assortment of
disciplines were exposed to our process
of integrating ICC into the curriculum.
Their participation in the conference
presentation provided the opportunity
to receive feedback from outside of the
work group.
■■ Lesson number 3
■■ Lesson number 5
Try to move from ICC as a general
concept to specific parameters for its
integration. The results of the initial
questionnaire pointed out how perceptions among faculty in one department
varied widely, especially with respect
to the importance of teaching culture
and ICC as part of a language major.
For this purpose the research team
determined that reaching a consistent
and agreeable definition for ICC was an
important step in the process towards
integration. This lesson was confirmed
by one of the participants of the work
group:
Try to balance the workload between
individuals and subgroups of the faculty group. Throughout this process a
conscious effort was made to include a
diagonal cut from the DFL faculty. This
enabled the formation of a particular
group dynamic, which included a voice
from all of the respective sub-sections
within the department. For this reason,
it is important to take into consideration different communication styles
and collaborative grouping. For example, splitting the larger work group into
subcommittees proved to be an effective
strategy for this process. It appeared
to allow the subgroups to focus more
intently on specific aspects of the tasks
required to integrate ICC into the DFL
curriculum.
“For me personally the reading and subsequent discussions were of great value. Getting more specific details about the topic at
hand was very important. I think this is
where most of our collaborative work took
place in defining ICC and more specifi-
68
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
6. Conclusion
This case study research, which took
place over the academic year 20102011, revealed that integrating ICC
into an existing DFL curriculum can be
a complex process. For the department,
using a faculty learning community
approach proved to be an effective, yet
time consuming method. In fact, it is
still an ongoing initiative. In August
of 2011 the DFL faculty decided to
further develop the plan by charging the
DFL’s curriculum committee to develop
and approve ICC-related learning objectives and charging the DFL’s assessment committee with developing levelappropriate assignments, assessment
instruments, and rubrics. As a result the
following Specific Student Learning
Outcomes (SSLOs) were crafted for the
Modern Language & Culture major in
the academic year 2012-2013:
■■ SSLO ML&C 1d: Demonstrating
Intercultural Communicative Competence.
Candidates demonstrate appropriate use
of language in real-time intercultural interaction, adjust behavior appropriately
in intercultural situations, respond with
sensitivity to situations of intercultural
misunderstandings, and demonstrate
critical reflection when faced with unexpected intercultural situations (Knowledge, Skills, Attitudes).
■■ SSLO ML&C 2c: Demonstrating
Intercultural Understanding.
Candidates recognize and understand
differences within and between cultures; they interpret a variety of cultural
documents and events and new cultural
knowledge; they analytically evaluate
cultural generalizations, and distinguish
cultural generalizations from cultural
stereotypes (Knowledge, Skills, Attitudes).
Furthermore, in the academic year
2012-2013, the department created and
piloted several assessments to enable
tracking the realizations of these SSLOs.
Even though the curriculum reform
process is still ongoing, the following
suggestions are offered: plan specific
ICC objectives, link the ICC objectives
to the department’s overall assessment
plan, and link the ICC objectives to
specific courses. Last, it is important to
note that the findings of this research
reflect data collected from a specific
department housed on a particular
university campus, and they may not be
comparable to data collected from other
departments or university settings.
Although the results of this research
are not readily generalizable, they do
provide a rich and valuable description
of integrating ICC into a university foreign language department. In addition,
as several case study researchers note
(Stake 1995, Yin 2009), generalizability
is not the goal of case study research.
This type of research has the potential
to offer a new perspective of an uninvestigated field by providing thick descriptions, and it serves as a starting point for
future research.
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70
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Auslandsstudienaufenthalt als Chance zur
Förderung interkultureller Kompetenz –
Eine empirische Untersuchung chinesischer
Studierenden in Deutschland
Study abroad as an opportunity to develop intercultural competence – An empirical study of Chinese students in Germany
Yaling Pan
Abstract (Deutsch)
Prof. Dr., zurzeit Vizedekanin der School of Foreign
Studies der University of
International Business
and Economics (UIBE),
Beijing, China
Deutschland ist wegen seiner Exzellenz in Lehre und Forschung sowie des vielfältigen
und zugleich immer stärker international ausgerichteten Studienangebots in den letzten Jahren zu einem der bevorzugten Studienorte für chinesische Studierende geworden. Chinesische Studenten bilden in Deutschland zurzeit die größte Gruppe ausländischer Studierender. Allerdings ist der Studienaufenthalt chinesischer Studenten nur
in ganz seltenen Fällen Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses. Wenn dies der
Fall ist, dann werden das Leben und das Studium der chinesischen Studierenden in
Deutschland meistens als Konfrontation und als Krisenzeit dargestellt. Die vorliegende
Arbeit möchte einen Beitrag dazu leisten, dass der Deutschlandaufenthalt viel stärker
als Chance zur Förderung interkultureller Kompetenz der chinesischen Studierenden
betrachtet und genutzt werden kann.
Basierend auf einer empirischen Untersuchung, die die Verfasserin bei chinesischen
Studenten in Deutschland durchgeführt hat, wird versucht, positive interkulturelle Erfahrungen der chinesischen Studierenden auszuwerten. Aus dieser Untersuchung und
auch geleitet von Theorien interkultureller Kommunikation, werden Empfehlungen
zur interkulturellen Vorbereitung chinesischer Studierenden auf ihren Deutschlandaufenthalt gegeben, damit sie während des Aufenthaltes ihre interkulturelle Kompetenz bewusster und effizienter fördern können.
Schlagworte: Interkulturelle Kompetenz, kulturelle Anpassung, chinesische Studierende in Deutschland
Abstract (English)
Germany has become one of the most preferred places of study for Chinese students
because of its excellence in teaching and research and also due to the diverse internationally oriented courses offered in recent years. Chinese students in Germany currently
form the largest group of foreign students. However, the study of Chinese students in
Germany is only in very rare cases the subject of scientific discourse. If this is the case,
then life and the study of Chinese students in Germany are usually represented as a
time of crisis and confrontation. The present work aims to contribute to the fact that the
stay in Germany can be much more seen and used as an opportunity to develop intercultural competence of Chinese students.
71
Based on an empirical study of Chinese students in Germany, the author is trying to
evaluate positive intercultural experiences of Chinese students. Founded on this research
and the theories of intercultural communication the author gives recommendations for
intercultural preparation of Chinese students, who are going to Germany for a study, so
that they can develop their intercultural competence more consciously and efficiently.
Keywords: Intercultural competence, cultural adaptation, Chinese students in
Germany
1. Auslandsstudienaufenthalt: Schock oder Chance?
Deutschland ist wegen seiner Exzellenz
in Lehre und Forschung sowie aufgrund
des vielfältigen und zugleich immer
stärker international ausgerichteten
Studienangebots in den letzten Jahren
zu einem der bevorzugten Studienorte
für chinesische Studierende geworden.
Nach Angaben der Bildungsabteilung
der chinesischen Botschaft Berlin waren
an deutschen Universitäten im Jahr
2011 rund 25.000 chinesische Studenten immatrikuliert und bildeten damit
nach wie vor die größte Gruppe ausländischer Studierender.
Allerdings ist der Deutschlandstudienaufenthalt chinesischer Studenten
nur in seltenen Fällen Gegenstand des
wissenschaftlichen Diskurses. Wenn
dies der Fall ist, dann werden das Leben
und das Studium der chinesischen
Studierenden in Deutschland meist als
eine Konfrontation und als Krisenzeit
dargestellt (Guan 2007:12ff., 42ff., Song
2009:19ff., 53ff., Zhou:2010:128ff.).
Es werden vor allem die kulturellen
Differenzen zwischen China und
Deutschland fokussiert (Song 2008)
und negative interkulturelle Erfahrungen hervorgehoben, sodass der
Deutschlandaufenthalt der chinesischen
Studierenden mehr als Gefahr und
weniger als Chance betrachtet wird.
Kaum thematisiert sind die positiven
interkulturellen Erfahrungen und das
große Potential zur Entwicklung interkultureller Kompetenz der chinesischen
Studierenden.
Der Deutschlandaufenthalt sollte
jedoch viel stärker als Chance zur Förderung der interkulturellen Kompetenz
der chinesischen Studierenden genutzt
72
werden. Denn internationale Zusammenarbeit und interkulturelle Kommunikation werden in der Geschäftswelt
heutzutage immer mehr zur erlebten
Realität. Eine wachsende Zahl von
Unternehmen sieht eine interkulturelle
Kompetenz als notwendige Voraussetzung für internationale Zusammenarbeit an. Während dieser Begriff in der
euroamerikanischen Forschungswelt
Hochkonjunktur hat (Bolten 2007,
Lustig / Koester 2007, Rathje 2006,
Thomas 2003), ist er in China noch
nicht allgemein geläufig. Das Thema der
interkulturellen Kompetenz ist in der
chinesischen Wissenschaft heute noch
weitgehend unbeachtet.
Die oben dargestellte Problematik
veranlasste die Verfasserin im Sommer
2011 eine qualitative empirische Untersuchung bei chinesischen Studierenden
in Deutschland durchzuführen. Ziel der
Forschung war es den Deutschlandaufenthalt auch als Chance zur Förderung
der interkulturellen Kompetenz zu
erfassen und zu gestalten.
2. Das Multidimensionale
Modell der interkulturellen
Kompetenz
Um Klarheit über die Bedeutung der
interkulturellen Kompetenz zu gewinnen und um ein Konzept zur Förderung
interkultureller Kompetenz für chinesische Hochschulen auszuarbeiten,
wurde 2005 bis 2006 eine qualitative
empirische Untersuchung in Form
von Experteninterviews durchgeführt
(vgl. Pan 2008:67ff.). Aufgrund dieser
empirischen Untersuchung wurde ein
Modell zur Beschreibung der interkulturellen Kompetenz entwickelt (siehe
Abb. 1), das die Prozesshaftigkeit, die
Dynamik und die Mehrdimensionalität
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Z
kultureller Kompetenz zu betrachten
und zu überprüfen, in wie weit und in
welchen Formen der Studienaufenthalt
in Deutschland in Bezug auf die oben
dargestellten drei Dimensionen einen
Beitrag zum Auf- und Ausbau interkultureller Kompetenz chinesischer
Studierenden tatsächlich leistet und
leisten kann.
Handlungssicher
Y
Tief
Oberflächlich
Handlungsunsicher
Ethnozentrisch
Ethnorelativiert
X
Abb. 1: Momentaufnahme der interkulturellen Kompetenz eines Einzelnen.
Quelle: Pan 2008:102
in der Entwicklung der interkulturellen
Kompetenz hervorhebt. Dieses dreidimensionale Diagramm geht dabei
von folgenden Annahmen aus (Pan
2008:67ff.):
■■ Es gibt einen Ansatz des interkulturellen Lernens, der von ethnozentrischem Denken und Verhalten zu
einer polyzentrischen oder zumindest ethnorelativen Einstellung
gegenüber fremden Kulturen führt
(X-Achse).
■■ Zudem gibt es einen Pfad der
Entwicklung der interkulturellen
Kompetenz, der vom unbewussten
zum bewussten und gleichzeitig vom
oberflächlichen zum tieferen Verständnis der fremden Kulturen und
zugleich auch der eigenen Kultur
führt (Y-Achse).
■■ Während der Entwicklung der interkulturellen Kompetenz verläuft im
Idealfall ein Prozess vom unproduktiven, unsicheren und inadäquaten
Verhalten zum sicheren, adäquaten
und produktiven interkulturellen
Verhalten (Z-Achse).
Bei der Untersuchung im Sommer 2011
ging es darum, den Studienaufenthalt
chinesischer Studierenden in Deutschland als Prozess der Entwicklung inter-
Ein weiteres Ziel der Forschungsarbeit
bestand darin, ein tragfähiges Trainingskonzept, das eine Reihe von spezifischen
Empfehlungen enthält, zu entwickeln.
Dieses Konzept zielt auf die interkulturelle Vorbereitung chinesischer Studierender auf ihren Deutschlandaufenthalt
ab, damit sie während des Aufenthaltes
ihre interkulturelle Kompetenz bewusster und effizienter fördern können.
3. Entwicklung interkultureller Kompetenz chinesischer Studierenden in
Deutschland
Um das oben dargestellte Forschungsziel zu erreichen, wurde eine qualitative
empirische Untersuchung bei chinesischen Studierenden in Deutschland
durchgeführt. Ziel der Forschung war
festzustellen, wie der Deutschlandaufenthalt den chinesischen Studierenden
zu mehr Ethnorelativität, zur Erweiterung und Vertiefung des Wissens und
Verstehens der eigenen und fremden
Kultur und zu mehr interkultureller
Handlungskompetenz führt. Zugleich
ging es bei der Untersuchung auch darum, gewichtige interkulturelle Probleme
chinesischer Studierender auszuloten,
um entsprechende Lösungsansätze
auszuarbeiten.
3.1. Forschungsmethode und
Übersicht der Interviewten
Bei der qualitativen empirischen
Untersuchung wurde mit der Methode des leitfadengestützten Interviews
gearbeitet. Bei den Interviews wurden
Tonaufnahmen aufgezeichnet, um mit
den gewonnenen Daten die Hypothesen
zu überprüfen und ggf. Strategien zur
Förderung interkultureller Kompetenz
auszuarbeiten.
73
Insgesamt wurden Interviews mit 18
chinesischen Studierenden in Berlin,
Potsdam und Nürnberg durchgeführt.
Darüber hinaus wurden Interviews mit
zwei Experten realisiert, die langjährige
Erfahrungen mit chinesischen Studenten in Deutschland haben. Nachfolgend
wird eine Übersicht der Interviewten
dargestellt (siehe Abb. 2).
3.2. Entwicklung der interkulturellen Kompetenz
chinesischer Studierenden
Alle interviewten Studenten betrachten
ihren Deutschlandaufenthalt als Chance
zur Entwicklung ihrer interkulturellen
Kompetenz. Der Studienaufenthalt in
Deutschland leistete laut der Interviewten in allen drei Dimensionen des „Multidimensionalen Modells der interkulturellen Kompetenz“ (Pan 2008:101ff.)
einen Beitrag zur Förderung interkultureller Kompetenz.
3.2.1. Von ethnozentrischem
Denken zu einer ethnorelativen
Einstellung
Fähigkeiten und Eigenschaften, die den
Prozess hin zu mehr Ethnorelativität
fördern, sind entsprechend einer früheren Untersuchung von Pan (2008:110)
u. a. positive Einstellung gegenüber
Fremden, Differenziertheit, interkulturelle Sensibilität, Einfühlung, Toleranz,
Respekt und Multiperspektivität.
Der Studienaufenthalt in Deutschland
ermöglichte den chinesischen Studierenden nach Ansicht der Interviewten
eine intensive Beschäftigung und Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur, wobei sie lernten, Vorurteile über
Deutschland und die Deutschen abzubauen und Offenheit, Differenziertheit,
Wertschätzung, Respekt und Toleranz
gegenüber Fremden zu entwickeln.
Dies ist ein Prozess, in dem ihr zunächst
klischeehaftes Deutschlandbild immer
mehr an Farben, Formen und Facetten
gewinnt. Ein Interviewter beschrieb:
„Vor dem Aufenthalt in Deutschland war
mein Deutschlandbild eher klischeehaft,
Deutschland war für mich das Land für
anzustrebender Abschluss
und Studienfach
Universität /
Institution
Austauschstudent /
Selbstzahler
Uni
Potsdam
Selbstzahler
Uni
Potsdam
Selbstzahler
Nr1
Name
(w./m.)
1.
Y. Shan
(w.)
2.
L. He
(w.)
3.
S. Zhang (w.)
M.A., BWL
4.
Z. M. Zhang
(w.)
B.A., BWL
5.
K. Dai
(m.)
M.A., BWL
Uni
Potsdam
6.
Z. Chen
(m.)
Dr. Phil,
Erziehungswissenschaft
HU
Berlin
7.
L. Qin
(w.)
Dr. Phil,
Erziehungswissenschaft
HU
Berlin
8.
J. Huang
(w.)
Dr. Phil, BWL
HU
Berlin
9.
J. Wang
(m.)
Dr. Phil,
Virologie
FU
Berlin
10.
J. N. Wu
(w.)
11.
L. Zhang
(m.)
12.
Dr. K. L. He
(m.)
13.
V. Yu
(w.)
14.
X. Y. Li
(w.)
M.A., Erwachsenenpädagogik
HU
Berlin
Selbstzahler
15.
Z. H. Zhou
(m.)
M.Sc. , Automative Systems
TU
Berlin
Selbstzahler
16.
L. B. Liao
(m.)
M.A., BWL
FAU
Austauschstudent
17.
S. Chang
(m.)
M.A., BWL
FAU
Austauschstudent
18.
Z. L. Sun
(w.)
M.A.,BWL
FAU
Selbstzahler
19.
J. X. Zhu
(m.)
M.Sc. ,
Maschinenbau
FH Nürnberg
Selbstzahler
20.
J. Yang (w.)
M.A., BWL
FAU
Austauschstudentin
M.A., Public
Management
Dr. Phil,
Wirtschaftsgeographie
Dr. Phil,
Erziehungswissenschaft
M.A.,
Erziehungswissenschaft
Uni
Potsdam
Uni
Potsdam
HU
Berlin
HU
Berlin
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Selbstzahler
Austauschstudent,
Stipendiat einer
deutschen politischen Stiftung
Stipendiat des
China Scholarship Council
Austauschstudentin im Rahmen
eines SandwichPhD-Programms
Selbstzahler in
einem strukturierten Doktorandenstudium
Stipendiat des
China Scholarship Council
Stipendiatin des
China Scholarship Council
Selbstzahler
Bildungsabteilung der
chin. Botschaft
Deutsches
Studentenwerk
Abb. 2: Übersicht der Interviewten. Quelle: Eigene Darstellung.
74
Austauschstudentin
Fußball, Bier und Auto. Seitdem ich vor
vier Jahren nach Deutschland kam, ist
mein Deutschlandbild vielseitiger und
differenzierter. Berlin hier z.B. ist sehr
offen und sehr international. Ich habe
auch viele Gemeinsamkeiten zwischen
Deutschland und China gefunden. Wir
sind z.B. beide sehr familienorientiert.
Nur diese Familienorientiertheit drückt
sich in unterschiedlichen Formen aus.“
(Z. Chen)
Eine andere ergänzte:
„In China kommt das Bild von den
Deutschen oft aus den Hollywoodfilmen:
Die Deutschen wirken da sehr kalt. Jetzt
leben wir in Deutschland und können die
deutsche Kultur und die Deutschen hautnah erleben. Ich habe den Eindruck, dass
viele Deutsche zwar zunächst distanziert
sind, aber im Inneren warmherzig sind.
Ich habe immer wieder viel Hilfe von
den Deutschen bekommen. Sie sind sehr
hilfsbereit. Sie sind wie Thermosflasche:
Außen kalt, innen warm.“ (S. Zhang)
Wie Frau Zhang haben auch andere
interviewte chinesische Studenten
Affinität zur deutschen Kultur entwickelt. Sie betonten jedoch auch, dass sie
offen sein müssten, um als Ausländer in
Deutschland aufgenommen zu werden.
Eine Interviewte ergänzte:
„Wenn man von Anfang an klischeebelastet ist und nicht bereit ist, die Klischees
und Vorurteile über die Deutschen abzubauen, kann man sich hier auch schwer
anpassen“. (J. N. Wu)
Viele berichteten, dass sie auch psychische Tiefs erlebt haben, insbesondere
am Anfang des Deutschlandaufenthalts.
Manche haben dabei auch den Begriff
Schock benutzt. Allerdings wiesen viele
darauf hin, dass selbst der Schock eine
Chance sei, interkulturelle Kompetenz
zu entwickeln. Wenn sie aus dem Tief
herauskämen, stellten sie meistens fest,
dass sie an Stärke und Reife gewonnen
hätten. Viele betonten, dass es gerade in
der Zeit des Tiefs wichtig sei, die positive Einstellung gegenüber dem Fremden
nicht aufzugeben.
Einige Befragten haben die Erfahrung
gemacht, dass der Studienaufenthalt in
Deutschland auch gute Gelegenheiten
biete, eine Multiperspektive einzunehmen. Es seien für viele chinesische
Studierende in Deutschland neue
Erlebnisse, dass die Studenten in den
Lehrveranstaltungen sich aktiv beteiligen und offen ihre Meinungen und Ansichten sagen, was in China nicht sehr
üblich ist. Durch diese für sie eher neue
Diskurskultur können die chinesische
Studenten lernen, verschiedene Ansichten und Denkweisen kennenzulernen
und dadurch an Multiperspektivität zu
gewinnen.
Zusammenfassend bietet der Studienaufenthalt in Deutschland den
chinesischen Studierenden eine gute
Gelegenheit, eine Außenperspektive zu
gewinnen, aus der sie die eigene Kultur
betrachten und vieles Neues sehen, das
sie zuvor nicht gesehen haben. Dadurch
lernen die chinesischen Studierenden
ihr chinazentriertes Denken und die
Selbstverständlichkeit der eigenen Kultur zu hinterfragen, zu differenzieren
und zu korrigieren sowie immer mehr
Ethnorelativität zu entwickeln.
3.2.2. Die Entwicklung zum tieferen Verständnis der fremden und
der eigenen Kultur
In den Interviews sagten viele Befragte,
dass der Studienaufenthalt den chinesischen Studierenden dabei helfe,
die deutsche Kultur immer mehr auch
auf der tiefenstrukturellen Ebene zu
verstehen. In Deutschland haben sie
einen direkten Zugang zur deutschen
Kultur und zu Deutschen, was ihnen
ermöglicht, eigene Erfahrungen mit
dem Fremden zu machen und dadurch
ein vielseitiges und facettenreiches Bild
über die deutsche Kultur und die Deutschen zu gewinnen. In diesem Prozess
lernen sie, die Verhaltensweisen der
Deutschen und die dahinter steckende
Denkweise, ggf. auch die kulturellen, sozialen und historischen Hintergründen
zu interpretieren und zu verstehen.
Viele interviewte chinesische Studenten
haben die Erfahrung gemacht, dass sie
im Laufe des Aufenthaltes in Deutschland auch mehr Interesse und Neugier
an der deutschen Kultur entwickelt
haben und viele Phänomene, die sie in
Deutschland erlebt haben, die ihnen
zunächst nicht ganz verständlich sind,
verstehen wollten. Dies führe sie dazu,
75
sich mehr über die deutsche Kultur, die
historische Entwicklung und die sozialen Zusammenhänge zu informieren.
Wenn die chinesischen Studierenden in
den Semesterferien nach China zurückkehren, fungieren sie oft als Botschafter
der deutschen Kultur und tragen im
gewissen Maße auch zu der Gestaltung
des Deutschlandbildes der Chinesen
bei. Eine Interviewte beschrieb diesen
Aspekt folgendermaßen:
„Ja, ich lebe und studiere schon 7 Jahre
in Deutschland. Jedes Mal, wenn ich von
Deutschland nach China zurückkam,
stellten meine chinesischen Freunde
sehr viele Fragen über Deutschland.
Manchmal wurde ich auch eingeladen
von Bekannten zu den Schulen, um dort
Vorträge über Deutschland zu halten.
Ich habe auch viele Fotos in Deutschland
gemacht und zeige sie auf meiner Internetseite meinen Freunden und Bekannten
in China und sie sind sehr interessiert.“
(L. He)
Zugleich fungieren die in Deutschland
studierenden Chinesen auch als Botschafter der chinesischen Kultur. Viele
haben das Phänomen geschildert, dass
ihre chinesische Identität stärker und
ihnen bewusster geworden ist, seitdem
sie in Deutschland leben. Viele Befragte haben die Erfahrung gemacht, dass
ihr Chinawissen sie in Deutschland zu
attraktiven Kommunikationspartnern
mache, da viele Deutsche an China,
insbesondere an der traditionalen chinesischen Kultur interessiert sind. Dies
führe sie dazu, mehr über die chinesische Kultur zu lernen, um sie besser zu
verstehen und zu vermitteln.
Viele sehen die chinesische Identität als
ihre Stärke in der interkulturellen Kommunikation mit den Deutschen an. Ein
chinesischer Student berichtete:
„Solange man in China lebt, ist einem
nicht ganz bewusst, dass man Chinese ist.
Jetzt lebe ich in Deutschland und es ist
mir viel bewusster, dass ich Chinese bin.
Mir sind jetzt die Besonderheiten der chinesischen Kultur auch viel bewusster. Ich
habe den Eindruck, dass die Deutschen
keine Zuneigung zu Menschen haben, die
ihre eigene Kultur nicht wertschätzen.
Wenn du deine eigene Kultur nicht kennst
und nicht in der Lage bist, über deine
eigene Kultur zu sprechen, gewinnst du
76
auch nicht den Respekt der Deutschen.
Die Deutschen erwarten gar nicht von
uns, dass wir genau so denken und uns so
verhalten wie die Deutschen. Im Gegenteil, ihre Bereitschaft mit uns zu kommunizieren ist größer, wenn wir authentisch
chinesisch bleiben.“ (K. Dai)
Viele befragte chinesische Studierende
stellten fest, dass der Studienaufenthalt in Deutschland ein Prozess ist, in
dem sie immer mehr Interessen an der
deutschen und chinesischen Kultur
entdeckten, beide Kulturen aus neuen
Perspektiven und in einer neuen Tiefe
kennenlernen und verstehen.
3.2.3. Die Entwicklung zu mehr
interkultureller Handlungskompetenz
Nach Aussagen der Interviewten
kommt der Kommunikationsfähigkeit
eine zentrale Rolle zur Entwicklung der
interkulturellen Kompetenz während
des Studienaufenthaltes in Deutschland
zu. Dabei haben fast alle Interviewten
betont, dass die Beherrschung der deutschen Sprache für einen erfolgreichen
Studienaufenthalt in Deutschland von
entscheidender Bedeutung ist. Es gibt
an deutschen Hochschulen zwar Studiengänge, die auf Englisch angeboten
sind, aber um den Deutschlandaufenthalt mehr als Chance zur Entwicklung
interkultureller Kompetenz und letztendliche auch als Chance zur Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen, seien
Deutschkenntnisse unentbehrlich.
Ein chinesischer Student misst der
Sprachkompetenz große Bedeutung bei:
„Wenn man gut Deutsch sprechen kann,
gewinnt man in Deutschland Respekt.
Die Sprachkompetenz wird oft automatisch mit Kompetenz in anderen Bereichen verbunden. Wenn du gut Deutsch
sprichst, unterstellt man, dass du auch in
anderen Bereichen kompetent bist.“
(K. Dai)
Sprachkompetenz sei eine wichtige
Voraussetzung für die Chinesischen Studierenden, sich in Deutschland zu integrieren. Außerdem trage die Tatsache,
dass jemand gut Deutsch kann, auch
dazu bei, dass er mit dem Aufenthalt in
Deutschland zufrieden ist.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Frau V. Yu vom Deutschen Studentenwerk, die lange Jahre u. a. chinesische
Studenten in Deutschland betreut, beschrieb die Situation folgendermaßen:
„Die Sprache befähigt zu kommunizieren. Die interkulturelle Kompetenz
finde ich z.B. wenn man weiß, ich kann
dahin gehen, ich habe Problem und kann
darüber kommunizieren. Ich muss nicht
deshalb mit allen Deutschen befreundet
sein. Das ist nicht unbedingt das Ziel der
Integration. Aber die Integration für mich
ist schon, wenn jemand Problem hat und
weiß, er kann in der Sprache über das
Problem reden. Das ist schon der erste
Schritt. Deshalb ist es auch wichtig, dass
die chinesischen Studierenden mit den
Deutschen Kontakte haben, um mit ihnen
zu kommunizieren.“ (V. Yu)
Anders als das Modell der zentralen
Studienorganisation in China, die den
Studenten nur wenig Möglichkeit für
individuelle Gestaltung ihres Studiums
zulässt (Song 2008:190), müssen die
chinesischen Studierenden in Deutschland ihr Studium eigenständig und in
voller Selbstverantwortung gestalten.
Dies sei nach Ansicht vieler Interviewten in der Anfangsphase belastend, aber
durch diese Selbstorganisation könnten
sie Selbstständigkeit und Selbstsicherheit entwickeln, was wiederum zum
souveränen Handeln im interkulturellen
Kontext verhelfe.
Viele Interviewte meinten, dass eine
andere Kultur in den Lehrveranstaltungen, insbesondere in den Seminaren,
als in China vorherrscht. Sie müssen
zu Worten kommen und sich aktiv
beteiligen, während in China viel mehr
das Zuhören in den Lehrveranstaltungen wichtig ist. In dieser neuen Kultur
können die chinesischen Studierenden
ihre Kommunikationsfähigkeit und
Diskursfähigkeit entwickeln.
Wenn sie aber den Raum der Universität verlässt und in der Alltagskommunikation ist, seien die meisten Deutschen
nach Ansicht vieler Interviewten nicht
mehr so aktiv in der Kommunikation
mit Fremden. Die Deutschen seien
nicht gleich herzlich gegenüber Fremden. Umso mehr fanden die Interviewten wichtig, Initiative zu ergreifen und
gute Annäherungsstrategien zu entwickeln.
Auf jeden Fall sehen fast alle Interviewten die Kommunikationsfähigkeit
als Schlüsselkompetenz zur Erlangung
der interkulturellen Kompetenz. Im
Interview betonte eine chinesische
Studentin:
„Reflexion ist wichtig, um interkulturelle
Kompetenz zu fördern, aber nur reflektieren allein reicht nicht aus. Interkulturelle
Kompetenz erwirbt man hauptsächlich
durch Kommunizieren mit Mitgliedern
aus einer anderen Kultur und für uns
bedeutet dies, durch Kommunizieren mit
den Deutschen.“ (J. N. Wu)
Allerdings ist darauf hinzuweisen,
dass Kommunikationsfähigkeit nach
Ansicht der Interviewten in China und
Deutschland unterschiedlich interpretiert wird: In China ist es in der Kommunikation wichtig, zuzuhören und
wenn jemand etwas sagt, achtet er zuerst
darauf, dass er als bescheiden und höflich angesehen wird. In China gehöre
es zur Kommunikationsfähigkeit, dass
Teilnehmer in der Kommunikation immer wieder erwägen, was sie sagen und
wie sie etwas sagen und wie das Gesagte
bei anderen Kommunikationspartnern
ankommt. In Deutschland hingegen
sagen viele Deutsche viel offener ihre
Meinungen, ohne sich groß Gedanken
dabei zu machen. Jemand gilt als kommunikationsfähig, wenn er schlagfertig
ist und klare Ansichten hat.
In China gilt es eher als unhöflich,
wenn jemand zu direkt seine eigenen
Wünsche und Meinungen ausdrückt.
In Deutschland müssen die Kommunikationsbeteiligten sich verteidigen
können und lernen, offen ihre Meinung
zu äußern. Sie sollten nicht abwarten,
dass andere die Gedanken des Kommunikationspartners ablesen können. Eine
Studentin hat die Erfahrung gemacht,
„wenn du alles einfach geschehen lässt,
giltst du in den Augen der Deutschen als
charakterlos. Wenn du offen deine Meinung äußerst und deine Einstellung auch
rechtfertigen kannst, wirst du respektiert.
Das ist ganz anders als das, was wir in
China gelernt haben.“ (D. Lü)
77
Es gibt auch andere Begriffe, die für die
Kommunikation wichtig sind, die aber
in China und Deutschland unterschiedliche Bedeutungen haben. Höflichkeit ist
einer davon. J. N. Wu beschrieb:
„Wenn man in China als junge Frau
im Bus einem älteren Herrn ihren
Sitzplatz anbietet, gilt es als höflich. In
Deutschland wird dies nicht immer gerne
angenommen. Denn erstens denken die
Männer, dass sie als Männer Frauen zu
beschützen haben und ihnen nicht den
Sitzplatz wegnehmen sollten. Zweitens
könnte der betroffene Mann denken, ‘ah,
ich bin doch noch nicht so alt!’ Er freut
sich also gar nicht darüber, dass ihm eine
Frau ihren Platz anbietet.“ (J. N. Wu)
Diese Andersartigkeiten, die die chinesischen Studierenden in Deutschland
erleben, sind zunächst Herausforderungen für sie. Zugleich stellten die interviewten Studenten fest, dass sie dadurch
auch gelernt hätten, ihre gewohnten
Denk- und Verhaltensweisen zu reflektieren und neue Kommunikationsstrategien zu entwickeln, um sich besser in
Deutschland kulturell anzupassen.
Viele Interviewte fügten hinzu, dass
auch Teamfähigkeit eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg des Studiums
in Deutschland sei, weil die Studierenden in den Seminaren oft Gruppenarbeit durchführen müssen. Dafür müssen
sie sich in die Gruppe integrieren und
sich einbringen.
Zusammenfassend fanden die Interviewten, dass der Aufenthalt in
Deutschland für die chinesischen Studierenden in vieler Hinsicht eine große
Herausforderung ist. Zugleich können
sie dabei aber auch viele Kompetenzen
entwickeln, die letztendlich zur Förderung interkultureller Kompetenz
beitragen.
4. Interkulturelle Vorbereitung chinesischer Studierenden auf den Studienaufenthalt in Deutschland
Im Allgemeinen ist festzustellen, dass
die chinesischen Studierenden, die als
Austauschstudenten oder unterstützt
durch einen chinesischen oder deut-
78
schen Förderer in Deutschland studieren, viel zielgerichteter an ihr Studium
herangehen und ihren Deutschlandaufenthalt viel effektiver nutzen als die
sogenannten Selbstzahler. Die letzteren
müssten meistens alleine kämpfen, um
an der deutschen Hochschule zurechtzukommen und dies dauerte meistens
ein Jahr oder noch länger. Nach Angaben der Bildungsabteilung der chinesischen Botschaft in Berlin sind aber
90 Prozent der insgesamt über 25.000
chinesischen Studierenden, die an deutschen Hochschulen eingeschrieben sind,
Selbstzahler.
Fast alle Interviewten haben darauf
hingewiesen, dass der Studienaufenthalt in Deutschland den chinesischen
Studierenden zwar eine Chance für die
Entwicklung interkultureller Kompetenz bietet, aber diese Chance zu nutzen
fordert wiederum u. a. starke Eigeninitiative und Eigenverantwortung,
Lernbereitschaft und Lernkompetenz,
Durchsetzungsfähigkeit und nicht
zuletzt Diskurs- und Kommunikationsfähigkeit. Diese Eigenschaften und
Kompetenzen seien auch wichtige
Voraussetzungen dafür, das Studium an
einer deutschen Hochschule erfolgreich
zu gestalten und abzuschließen. Zum
Teil sind dies ganz andere Eigenschaften
und Kompetenzen, als die, die für ein
erfolgreiches Studium in China vorausgesetzt werden. Für das Letztere seien
z. B. viel mehr Fleiß, Selbstdisziplin und
Teamfähigkeit erforderlich.
Nach der Untersuchung kann zwar
die Schlussfolgerung gezogen werden,
dass die Austauschstudenten bereits in
China schon mehr oder weniger auf
den Studienaufenthalt in Deutschland
vorbereitet sind. Eine systematisch
konzipierte interkulturelle Vorbereitung
hat es aber bei keinem der 18 befragten
Studenten gegeben. Dabei sind fast alle
Interviewten der Ansicht, dass so eine
Vorbereitung notwendig sei, um die
Effizienz des Deutschlandaufenthaltes
und damit die Erfolgschancen chinesischer Studierender in Deutschland zu
erhöhen.
Nach der oben dargestellten Untersuchung und auch basierend auf anderen
Untersuchungen über chinesische Stu-
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
dierende in Deutschland (Guan 2007,
Song 2009, Zhou 2010) sind insbesondere folgende Aspekte bei der interkulturellen Vorbereitung chinesischer
Studierenden auf den Studienaufenthalt
in Deutschland zu berücksichtigen:
■■ Positive Einstellung zur interkulturellen Kommunikation,
■■ Lernbereitschaft und Lernkompetenz,
■■ Deutsche Kulturgeschichte und
Werteorientierungen der Deutschen,
■■ Deutschland aus Innen- und Außensicht,
■■ Chinesische Kulturgeschichte und
Hauptzüge des Konfuzianismus,
Taoismus und Buddhismus,
■■ China aus Innen- und Außensicht,
■■ Studien-Organisation in Deutschland,
■■ Interkulturelle Sensibilität und Multiperspektivität,
■■ Kommunikationsstile der Deutschen
und Annäherungsstrategien mit den
Deutschen,
■■ Fähigkeit zu Kommunikation (einschl. Diskursfähigkeit und Umgang
mit Kritik) und Metakommunikation und
■■ Umgang mit psychischen Schwankungen in einer fremden Umgebung.
Es ist ein Desiderat, dass in China Trainingskonzepte ausgearbeitet werden,
die die obigen Aspekte miteinbeziehen.
Zum einen ist es notwendig, interkulturelle Bildung in das ganze Studium
fächerübergreifend zu integrieren,
zum anderen sollten durch ein- bis
zweiwöchiges interkulturelles Training
den Studierenden die Besonderheiten
des Studienaufenthaltes im Gastland
vermittelt werden. Dadurch können
interkulturelle Schlüsselkompetenzen,
die für den Erfolg ihres Studiums im
Gastland von großer Bedeutung sind,
gefördert werden. Auf diese Weise wer-
den die Studierenden diesen Aufenthalt
besser als Chance zur Weiterentwicklung von interkultureller Kompetenz
nutzen können.
5. Literatur
Bolten, J. (2007): Interkulturelle Kompetenz.
Thüringen: Landeszentrale für politische
Bildung.
Guan, H. (2007): Anpassung und Integration der chinesischen Studierenden in Deutschland - eine Untersuchung anhand des
Beispiels an der Universität Bremen. Bremen:
Universität Bremen.
Lo, D. (2005): Interkulturelle Kommunikation - Neue Forschungsperspektiven. Taipei:
Fu Jen Catholic University Press.
Lustig, M. W. / Koester, J. (2007): Intercultural Competence: Interpersonal Communication across Cultures. Shanghai: Shanghai
Foreign Language Education Press.
Pan, Y. (2008): Interkulturelle Kompetenz
als Prozess – Modell und Konzept für das
Germanistikstudium in China aufgrund
einer empirischen Untersuchung. Sternenfels:
Wissenschaft und Praxis.
Rathje, S. (2006): Interkulturelle Kompetenz
– Zustand und Zukunft eines umstrittenen Konzepts. URL: zif.spz.tu-darmstadt.
de/jg-11-3/docs/rathje.pdf [Zugriff am
10.10.2012].
Thomas, A. (2003): Interkulturelle Kompetenz – Grundlagen, Probleme und Konzepte. Erwägen, Wissen, Ethik 14(1),
S. 137-156.
Sun, J. (2008): Rekonstruktion von interkulturellen Differenzen im Hochschulstudium
zwischen China und Deutschland aus Sicht
chinesischer Studierender in Deutschland:
Eine explorative Fallstudie an der Ruhr-Universität Bochum. Bochum: Ruhr-Universität
Bochum.
Song, J. (2009): Cultural experiences of
German and Chinese exchange students
and implications for a target group-oriented
intercultural training program. Freiburg:
Universität Freiburg.
Zhou, J. (2010): Zwischen „Elite von morgen“ und Liu Xue La Ji („Müllstudenten“)
– Chinesische Studenten in Deutschland.
Münster: WV Wissenschaft.
79
Endnoten
1. Die Nummerierung basiert auf der
zeitlichen Reihenfolge der durchgeführten
Interviews.
Der Aufsatz entsand im
Rahmen eines Forschungsprojekts (Projektnummer:
11YJA740069), gefördert
durch das Bildungsministerium der VR China.
80
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Rezension Review
Ursula Reutner
„Von der digitalen zur interkulturellen Revolution“
Alexandra Stang
Masterstudium Educational Media – Medien und
Bildung an der Universität
Duisburg-Essen
„Die digitale Revolution hat unser aller
Leben in kürzester Zeit verwandelt“
(Reutner 2012:9). In der Tat haben
das Internet und die digitalen Medien
insbesondere in den letzten Jahren der
Entstehung von vernetzten OnlineCommunities Vorschub geleistet. Die
Nutzung dieser Kommunikations- und
Informationsmöglichkeiten und Angebote wie Social Networks, Wikipedia
oder Youtube gehören vielfach zum
Alltag. Durch die technologische Infrastruktur haben die Nutzer heute die
Möglichkeit, international auf digitale
Inhalte zuzugreifen und mit anderen
weltweit zu teilen. Die Welt scheint
auf dem Weg zu einem „global village“
zu sein (McLuhan 1962). Mit anderen
Worten: Die digitale Gesellschaft bietet
sowohl neue Entfaltungsmöglichkeiten für jeden Einzelnen als auch neue
Herausforderungen für die zunehmend
globalisierte Wissensgesellschaft. Es
entstehen andere Öffentlichkeiten, andere Austauschverhältnisse und andere
Kulturtechniken. Web 2.0 Anwendungen verändern somit das private und
berufliche Kommunikationsverhalten.
Auf der einen Seite ergibt sich hieraus
die Möglichkeit, eigene Beiträge ins
Netz zu stellen, andere Beiträge zu
kommentieren und sich international
zu Themen in Social Communities
auszutauschen. Auf der anderen Seite
steht die Frage nach der Kulturspezifik
von solchen Angeboten sowie mögliche Sprachbarrieren, die dazu führen
können, dass die Nutzer vielfach in
den von der eigenen Kultur geprägten
virtuellen Räumen verharren. Somit
rücken neue Themen in den Fokus der
interkulturellen Kommunikationsforschung und -praxis. Vor dem skizzierten
Hintergrund stellt Ursula Reutner,
Herausgeberin des Sammelbandes „Von
der digitalen zur interkulturellen Revolution“, in ihrer Einleitung (2012:9) die
berechtigte Frage: „Doch wie sehr wird
das interkulturelle digitale Kommunikationspotenzial bislang ausgeschöpft?“
Die vorliegende Publikation ist Bestandteil eines Kolloquiums, das vom
Institut für Interkulturelle Kommunikation und der Romanischen Sprachwissenschaft im Juli 2011 an der Universität Passau organisiert wurde. Der Band
zeichnet sich durch eine beeindruckende Vielfalt an interdisziplinären
Perspektiven einer renommierten Autorenschaft aus Wissenschaft und Praxis
aus. Das Ergebnis ist eine umfangreiche
Sammlung von theoretischen als auch
empirischen Beiträgen aus der Ethnologie, der Medien-, Sprach- und Kulturwissenschaften zu den Chancen als
auch Herausforderungen der virtuellen
interkulturellen Kommunikation und
Zusammenarbeit.
81
Das Buch gliedert sich in drei große
Themenschwerpunkte und bietet dem
Leser die Möglichkeit, sich mit kulturgeprägten Handlungsmustern, sprachlichen Herausforderungen sowie Forschungsmethoden auseinanderzusetzen:
Der Bereich Identität und Persönlichkeit
beinhaltet Aufsätze zur digitalen Diaspora, Erinnerungskulturen, Kulturspezifik von Textsorten und kommunikativen Stilen sowie kulturvergleichende
Analysen virtueller Portale und Diskussionsforen.
Der Abschnitt Teams und Kollektive
widmet sich Fragen zur Kulturalität,
den Besonderheiten des virtuellen interkulturellen Dialogs, Teamkonflikten als
auch Fragen des Wissensaustauschs in
virtuellen Räumen.
Der letzte Schwerpunkt Zensur und
Selbstzensur beschäftigt sich im Kern
mit Fragen der Öffentlichkeit und Privatheit sowie Cyberimperialismus. Besonders hervorzuheben ist die kritische
Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Insgesamt bietet das Buch dem Leser
eine gute Grundlage und einen Einstieg
in das breite Themenspektrum. Die Publikation spiegelt den aktuellen Stand
der Literatur wieder und eignet sich für
Studierende und Wissenschaftler, die
sich theoretisch und praktisch mit Fragen der virtuellen interkulturellen Kommunikation sowohl in Wirtschafts- als
auch Bildungskontexten beschäftigen.
Literatur
Reutner, U. (2012): Von der digitalen zur
interkulturellen Revolution. Baden-Baden:
Nomos Verlag.
McLuhan, M. (1962): The Gutenberg
Galaxy: The Making of Typographic Man.
London: Routhledge & Kegan Paul.
Reutner, Ursula (2012):
Von der digitalen zur interkulturellen Revolution.
Baden-Baden:
Nomos Verlag.
499 Seiten.
Preis 49,00 EUR.
ISBN 978-3-8329-7880-8.
82
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Rezension Review
Judith Schmidt / Sandra Keßler / Michael Simon
„Interkulturalität und Alltag. Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie / Volkskunde“
Luciole Sauviat
M.A., Projektkoordinatorin / Dozentin,
Freiberuflich
Wo sind Sie gerade während Sie diese
Rezension im Interculture Journal lesen?
Ist Journals lesen eine Vergnügung und
Teil Ihrer Freizeit? Schlagen Sie die Zeit
tot, im Bus oder der U-Bahn? Sind Sie
im Büro und arbeiten? Ist das Lesen von
solchen Artikeln Teil Ihrer Routine,
Ihres Alltags oder ist es eine außergewöhnliche Situation, die Sie aus dem
Alltag herausreißt?
Letzteres wird es kaum sein, denn was
ist schon Nicht-Alltag? Schon Norbert
Elias hatte Schwierigkeiten mit dem
Begriff des Alltags:
„Handelt es sich bei ihm (dem Alltag)
und dementsprechend auch bei seinem
Gegenstück dem `Nicht-Alltag´, um
unterscheidbare Sphären, Sektoren oder
Regionen menschlicher Gesellschaften?
[...] man könnte erwägen, ob man sich
hier nicht einfach mit Hilfe einer esoterischen Abstraktion auf Eigentümlichkeiten
der gegenwärtigen Arbeits- und Berufsgesellschaften bezieht, auf die man ebenso
gut auch durch Begriffe wie Freizeit, Privatsphäre und ihre Verwandten hinweisen
könnte und ganz gewiss ihr eigentümliches Gepräge durch die Gesamtstruktur
und dementsprechend auch die Machtverhältnisse industrieller Staatsgesellschaften
erhalten.“ (Elias 1978:28f.)
Kultur und Alltag, bzw. Lebenswelt ist
der Forschungsgegenstand der Cultural Studies und der Europäischen
Ethnologie; was dazu gehören kann
verdeutlicht die Heterogenität der
Artikel, die im Sammelband Interkulturalität und Alltag. Mainzer Beiträge
zur Kulturanthropologie / Volkskunde
vertreten sind. Dieser Sammelband
ist das Ergebnis eines studentischen
Projekts des Fachschaftsrats des Faches
Kulturanthropologie / Volkskunde der
Mainzer Universität. Mit einer Ringvorlesung, die den gleichen Titel wie
das Buch trug, organisierten im Jahr
2010 die Studierenden interdisziplinäre
Vorlesungen, die sich mit Fragen der
Interkulturalität in der gegenwärtigen
Lebenswelt auseinandersetzten und den
Stand der Forschung darstellen sollten.
Dafür wurden in Deutschland lebende
Wissenschaftler/innen eingeladen, deren überarbeiteten Vorträge die meisten
Beiträge dieses Sammelbandes bilden.
Das Ergebnis ist ein Buch in einem
zugänglichen Schreibstil mit Autoren
aus u. a. der Volkskunde / Europäische
Ethnologie, Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Sprachwissenschaft und
Geographie. Die Themen, die behandelt
werden, sind entsprechend vielfältig.
Der einführende Aufsatz von Roth hebt
hervor, dass Alltag und Interkulturalität
als Veralltäglichung der Fremdbegegnung
und des Fremdverstehens ein ziemlich
neues, unerforschtes und zunehmendes
Phänomen in den Industriegesellschaften sei. Für die europäische Ethnologie
käme es darauf an die stattfindenden
83
interkulturellen Interaktionen zu behandeln und „wie die Menschen im Alltag
tatsächlich mit der Differenz umgehen“
(Roth in Schmidt / Keßler / Simon
2012:27). Silke Meyer schreibt vor
allem von west-europäischen Beispielen
ausgehend über Stereotypen in interkulturellen Kontexten, deren allgemeine
Struktur, Wirkweise und Funktion
(sowohl als Orientierungsraster wie
als Bestätigung eines Wir- und die
Anderen-Gefühls). Dabei behandelt sie
verbale, visuelle, lautliche und materielle
Stereotypen und schließt damit ab, dass
Stereotypen in unserer globalen Welt
weiter bestehen würden.
Andere Autoren des Sammelbands
beziehen sich auf scheinbar eher abgrenzte gesellschaftliche Phänomene
des Alltags, wie der Beitrag von Sandra
Keßler über den Konsum von Sushi.
Durch ihre Befragungen stellt sie fest,
dass Sushi-Konsum zwar als Fremdbegegnung mit ethnisch-Anderen aber
gelöst von seiner japanischen Herkunft
angesehen wird und u. a. deshalb als
Global Food bezeichnet werden kann.
Mattias Kulinna kritisiert den Essentialismus von Ethnomarketing, stellt aber
fest, dass neuere Werbepraktiken den
Konstruktionscharakter von Ethnizität
besser gerecht werden. Miguel Souza
schreibt über kommunikative Praktiken von Haupt- und Realschülern mit
Migrationshintergrund. Dabei stellt
er eine Analysemethode vor, die die
Erforschung der interkulturellen Kommunikation auf transkulturelle Aspekte
erweitert, indem die Rolle der sozialen
Partizipation der Interaktanten und des
Forschers hervorgehoben werden.
Der Sammelband enthält aber auch Artikel die wenig auf die Gegenwartswelt
in Europa bezogen sind. Das Paradebeispiel dafür ist die ethnolinguistische
Untersuchung von Svenja Völkel über
kognitive Referenzsysteme anhand
von Fallbeispielen aus Ozeanien. Sie
zeigt, dass es bezüglich der Verwandtschaftsterminologien, der räumlichen
Koordinaten, der Language of Respect
und den Gesprächskonventionen Unterschiede zu westlichen Sprachen gibt,
die unterschiedliche kulturelle Werte
und Systeme zum Ausdruck bringen.
84
Weiterhin enthält das Buch drei Beiträge, die sich mit kultureller Produktion
im engeren Sinne (Comics und Musik)
und ihre Bedeutung für den Ausdruck
und die Vermittlung von trans- bzw.
interkulturellen Inhalten auseinandersetzen. Jonas Engelmann beschäftigt
sich mit der sogenannten hybriden
Ästhetik von Comics; am Beispiel von
einerseits Hergés hochproblematischen
Comic Tim in Kongo, bezüglich seiner
rassistischen Projektionen auf Afrika,
und andererseits den südafrikanischen
Bittercomix von Botes und Kannemeyer,
die Critical Whiteness zum Ausdruck
bringen bzw. ihre Position als weiße
Südafrikaner reflektieren. Er zeigt,
dass in Comics „[...] Fragen nach den
eigenen Bildern und dem Wissen, aus
dem sich diese speisen, gestellt werden“
(Engelmann in Schmidt / Keßler / Simon 2012:93). Schließlich beschäftigen
sich zwei Aufsätze mit musikalischer
Produktion. Wolfram Knauer schreibt
über den Jazz-Musiker Peter Kowald,
der Improvisationen mit Musikern aus
anderen musikalischen Kulturen als hervorragendes Mittel für interkulturelle
Konversationen ansah. Diese Konversationen waren für ihn die Möglichkeit,
dass jeder in seiner Sprache kommuniziert, sich jeder zuhört und ein
gemeinsames Neues entsteht. Für Sacha
Seiler, der sich mit der interkulturellen
Transtextualität in den Songs von Paul
Simons auseinandersetzt, geht es auch
um das Entstehen von etwas Neuem im
Rahmen der interkulturellen Kommunikation. Dies zeigt er anhand von
Paul Simons Songs, in denen Text und
Musik sich zu widersprechen scheinen
und trotzdem ein Ganzes bilden: z. B.
evoziert seine Musik die lateinamerikanischen Anden, während der Text eine
klassische US-amerikanische Geschichte
erzählt.
Falls es überhaupt sinnvoll ist, diese
heterogenen Aufsätze zu kategorisieren, dann könnte man sagen, dass
manche Autoren eher die kulturelle
Differenz betonen (Roth, Völkel,
Meyer) sowie die Missverständnisse
oder Konflikte die daraus entstehen
können. Während dessen andere eher
Phänomene der Transkulturalität und
den hybriden Charakter von Kultur
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
betonen (Engelmann, Seiler, Souza).
Dieser hybride Charakter ist laut den
Herausgebern das, was das Titelbild des
Bandes thematisieren soll. Darauf sind
die Werbebanners eines Restaurants zu
sehen, das japanische, koreanische und
chinesische Speisen anbietet. Die Abbildung des Banners, das auf Sushi und
Maki zum Mitnehmen hinweist, soll
wahrscheinlich mit seinen unglaublich
wirkenden Orthographiefehlern den
Leser zum Schmunzeln bringen. Ob es
dabei um Hybridität geht oder angedeutet werden soll, dass Migranten kein
richtiges Deutsch können, bleibt dahin
gestellt. Es ruft bei manchen vielleicht
in Erinnerung, dass mit dem Begriff der
Hybridität nicht nur die Mischung von
Kulturen, sondern auch Subversion und
Machtverhältnisse thematisiert werden
sollen. Bei Homi Bhabha (1994), der
das Konzept entwickelte, war Hybridität subversiv, weil es die Zuschreibungen
des Kolonisators in Frage stellte, ihn
verunsicherte und das Scheitern der
Unterwerfung der Kultur der Anderen
verdeutlichte. In diesem Fall ist Hybridität diskursive Macht:
„In my own work I have developed the
concept of hybridity to describe the construction of cultural authority within conditions of political antagonism or inequity.
[…] the hybrid strategy or discourse opens
up a space of negotiations, where power is
unequal but its articulation is equivocal.“
(Bhabha 1996:58)
Fragen der Macht, ob diskursiv oder
auf materieller Basis werden freilich
in diesem Band sehr unterbelichtet
(eine Ausnahme stellt der Aufsatz von
Engelmann dar). Dabei durchziehen
Machtverhältnisse interkulturelle
Beziehungen - u. a. durch die Definitions- und Deutungsmacht der Statushöheren (Auernheimer 2002) - sowie
unseren Alltag, sei es in der Privatsphäre
oder der öffentlichen Sphäre. Um auf
das Eingangszitat von Elias zurückzukommen, wenn es um den Alltag
geht, bezieht man sich eigentlich auf
„Eigentümlichkeiten der gegenwärtigen
Arbeits- und Berufsgesellschaften“, die
„ihr eigentümliches Gepräge durch die
Gesamtstruktur und dementsprechend
auch die Machtverhältnisse industrieller Staatsgesellschaften erhalten“ (Elias
1978: 28f.). Interkulturelle Phänomene
finden nicht in machtfreien Räumen
statt in denen die Akteure über die
gleichen symbolischen und materiellen
Ressourcen verfügen.
Es ist nicht die Aufgabe eines solchen
Buchs unsere gesamte Lebenswelt und
ihre interkulturellen Phänomene zu
beleuchten. Durch die Vielfältigkeit
seiner Beiträge zeigt es immerhin, dass
Interkulturalität unsere Lebenswelt
durchzieht, sei es in der Sprache, der
Musik, der Nahrung oder schlichtweg
den Begegnungen, wo auch immer sie
stattfinden. Jedoch ein wesentlicher
Bereich, der unseren Alltag oder das
eigentümliche Gepräge unserer Gesellschaft strukturiert, prägt, womit wir viel
unserer Lebenszeit verbringen, wird gar
nicht thematisiert: die Erwerbsarbeit.
Anbetracht der zahlreichen Literatur
zu Intercultural bzw. Cross-Cultural
Management (z. B. Christopher 2012,
Smith et al. 2008, Thomas 2008), liegt
die Vermutung nahe, dass Arbeiten zur
Interkulturalität, einerseits zwischen
interkulturellen Management und interkultureller Lebenswelt unterscheiden
und, dass andererseits, wenn Interkulturalität bei der Arbeit thematisiert wird,
zwischen Management und dem Rest
unterschieden wird. Der Rest, Angestellte, Selbständige, prekäre Beschäftigte,
etc. wird fast nicht thematisiert bzw.
ihr Arbeitsalltag wird als ManagementAufgabe verstanden.
Insofern verschafft das Buch gleichzeitig einen eher leichten angenehmen
Zugang zu der deutschen akademischen
Forschung im Bereich Interkulturalität
und Alltag, während es vorhandene
Trennungen und Auslassungen reproduziert.
Literatur
Auernheimer, G. (2002): Interkulturelle
Kommunikation, vierdimensional betrachtet.
URL: http://www.hf.uni-koeln.de/31372
[Zugriff am 30.04.2013].
Bhabha, H. (1994): The Location of Culture.
London / New York: Routledge.
85
Bhabha, H. (1996): Culture’s in Between.
In: Hall, S. / Du Gay, P. (Hrsg.): Questions
of Cultural Identity. London: Sage Publications, S. 53-60.
Christopher, E. (2012): International
Management. Explorations Across Cultures.
London: Kogan Page.
Elias, N. (1978): Zum Begriff des Alltags.
In: Hammerich, K. / Klein, M. (Hrsg.):
Materialien zur Soziologie des Alltags.
Sonderheft 20 der „Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie“. Opladen:
Westdeutscher Verlag, S. 22-29.
Smith, P. B. / Peterson, M. F. / Thomas,
D. C. (2008): The Handbook of Cross-Cultural Management Research. Los Angeles/
London / New Dehli / Singapore: Sage
Publications.
Thomas, D. C. (2008): Cross-Cultural Management Essential Concepts. Los Angeles/
London / New Dehli / Singapore: Sage
Publications.
Schmidt, Judith / Keßler,
Sandra / Simon, Michael
(2012): Interkulturalität und
Alltag. Mainzer Beiträge zur
Kulturanthropologie / Volkskunde.
Münster: Waxmann.
163 Seiten.
Preis: 24, 90 EUR.
ISBN 978-3-8309-2684-9.
86
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Rezension Review
Jutta Berninghausen
„Ausseneinsichten. Interkulturelle Beispiele von deutschen
und internationalen Studierenden über das Auslandsjahr“
Viola Strittmatter
M.A., Wissenschaftliche
Mitarbeiterin im Projekt
„Offene Hochschulen“ der
FH Diakonie Bielefeld
Deutschland ist eines der beliebtesten
und führenden Gastländer für ausländische Studierende (DAAD 2013). Nach
dem Internationalisierungsbericht des
BMBF aus dem Jahr 2010 studierten im
Wintersemester 2009/10 rund 245.000
ausländische Studentinnen und Studenten an deutschen Hochschulen, das
sind rund 12 Prozent aller Studierenden
in Deutschland. Die interkulturellen
Erfahrungen, die im Ausland gesammelt
werden, sind für die meisten Studentinnen und Studenten eine der wichtigsten ihres Lebens (vgl. Berninghausen
2012:Klappentext). Gleichzeitig aber
berichten sowohl Studierende als auch
Dozenten und Verwaltungsmitarbeiter
von Missverständnissen und Schwierigkeiten im Unialltag.
Welche Erfahrungen machen sogenannte Incomings in Deutschland und
Outgoings im Ausland? Wie erleben
sie die andere Kultur und die anderen
Studienbedingungen? Hierauf will das
Buch von Jutta Berninghausen Antworten geben.
Das Buch stützt sich auf die Erfahrungen der Autorin als Dozentin für
interkulturelle Kommunikation und
interkulturelles Management an der
Hochschule Bremen. Neben einer theoretischen Einführung zum Verständnis
von Interkultur liefert es zahlreiche
Erlebnisberichte (Fallbeispiele) von
ausländischen und deutschen Studierenden über ihr Auslandsjahr in Deutschland bzw. im Ausland. Mit ihrem Buch
möchte Berninghausen einerseits Eltern
und Studierende, die ein Auslandssemester planen, ansprechen. Andererseits
richtet es sich auch an Lehrende, die interkulturelle Fallbeispiele für Trainingssituationen suchen oder die Situation
von Auslandsstudierenden an deutschen
Hochschulen besser verstehen wollen.
Ausseneinsichten beginnt mit einem ersten Erlebnisbericht (Vorwort) und mit
einer kurzen Einleitung. Der Hauptteil
besteht aus vier Teilen (mit Unterkapiteln): „In den beiden einleitenden Teilen wird ein wenig Hintergrundwissen
vermittelt und der Rahmen beschrieben, in den die Fallbeispiele (3. und 4.
Kapitel) eingeordnet werden können.“
(Berninghausen 2012:9)
Im ersten Teil führt die Autorin in die
interkulturelle Theorie ein. Sie beschreibt u. a. die logischen Ebenen von
Kultur und ihre gegenseitige Beeinflussung. Nach der Erläuterung der
kulturellen Prägung und der Kulturdimensionen von Edward T. Hall, Geert
Hofstede und Fons Trompenaars im
zweiten Kapitel beschreibt Berninghausen im dritten was interkulturelle Kompetenz ist. Hierfür gibt sie u. a. die Definition des Instituts für Interkulturelles
Management, wonach „interkulturelle
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Kompetenz […] die Fähigkeit [ist], sich
in einer fremden Kultur so zu verhalten,
dass die eigenen Absichten verstanden
werden und die Verhaltensweisen der
Umgebung richtig interpretiert werden
können“ (Berninghausen 2012:26).
Anschließend stellt die Autorin das am
Zentrum für interkulturelles Management (ZIM) der Hochschule Bremen
entwickelte und auf einem Modell von
Darla Deardorff basierende Prozessmodell für interkulturelle Kompetenz
vor. Die beschriebenen Elemente dieses
Modells (Bewusstsein, Handlungskompetenzen, Wissen) können in einem
interkulturellen Training vermittelt
werden und stellen die Grundlage von
interkulturellen Vorbereitungen und
Sensibilisierungstrainings dar. Um eben
diese Trainings geht es im vierten Kapitel, wenn die Autorin die Frage beantwortet, ob und wodurch interkulturelle
Kompetenz erlernbar ist:
„Interkulturelles Lernen findet auf unterschiedliche Art und Weise statt. […] Um
die interkulturelle Kompetenz zu fördern,
sind besonders Lernerfahrungen wichtig,
die das Individuum dazu veranlassen,
die eigene Weltsicht zu hinterfragen. Gewährleisten tun dies insbesondere 2 Arten
von Erfahrungen, die aus diesem Grund
im Curriculum einiger Studiengänge
der Hochschule Bremen verankert sind:
Auslandsaufenthalte und interkulturelle
Trainings.“ (Berninghausen 2012:32)
Da jedoch, so stellt Berninghausen fest,
Auslandsaufenthalte allein nicht automatisch zu einer größeren interkulturellen Sensibilität führen, sondern gegebenenfalls sogar zu einer Ablehnung der
fremden Kultur, könnten interkulturelle
Trainings hier einen wichtigen präventiven Ansatz darstellen. In den Trainings
sollen die Teilnehmer lernen, „Erfahrungen in interkulturellen Begegnungen
so zu verarbeiten, dass sie gegenseitiges
Verständnis maximal fördern und Frustration und Missverständnisse vorbeugen bzw. produktiv nutzbar machen“
(Berninghausen 2012:34).
Auf solch einem erfahrungsorientierten Ansatz basiert auch der vom
ZIM entwickelte und von der Autorin
vorgestellte interkulturelle Trainingsansatz. Dieser ZIM-Ansatz behandelt
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drei Stufen interkulturellen Lernens
(Bewusstmachung interkultureller Unterschiede und Missverständnisse, die
Wissensvermittlung unterschiedlicher
Kulturmodelle und Methoden und das
Erlernen von Fähigkeiten zum Umgang
mit interkulturellen Begegnungen).
Zum Abschluss des ersten Teils werden
im fünften Kapitel ausgewählte Methoden zum Umgang mit interkulturellen
Konfliktsituationen dargestellt (z. B. das
Wertequadrat von Schulz von Thun).
Der zweite Teil des Buches handelt von
der Mobilität an der Hochschule Bremen. Er beginnt mit einer Vorstellung
der Hochschule Bremen als „eine der internationalsten Hochschulen Deutschlands“ (Berninghausen 2012:41) bzw.
des multikulturellen Campus an der
Fakultät Wirtschaft, wo ca. ein Viertel
aller Lehrveranstaltungen auf Englisch
stattfinden (1. Kapitel). Zur Vermittlung kommunikativer Fertigkeiten und
interkultureller Kompetenz werden
dort die interkulturellen Erfahrungen
der Studierenden auch wissenschaftlich
thematisiert und von verpflichtenden
interkulturellen Trainings begleitet. So
ist im Curriculum jedes internationalen
Studiengangs eine Auslandsvor- und
-nachbereitung integriert, in der die
Studierenden über die sozialen, kulturellen und politischen Besonderheiten
des Gastlandes informiert werden.
Im zweiten Kapitel (Campuskulturen)
gibt Katrin Nissel einen Überblick
über die verschiedenen Campusansichten sowie Lehr- und Lernstiele
an Universitäten. Außerdem stellt sie
das unterschiedliche Verständnis von
Teamarbeit bzw. vom Verhältnis zur
Professorenschaft vor. Dabei geht sie der
Frage nach, wie diese Unterschiede das
Leben von Studierenden und Dozenten beeinflussen und welche Probleme
daraus resultieren können. Anschaulich
beschreibt sie diese Unterschiede anhand eigener Erfahrungen als Dozentin
in Deutschland, China und Brasilien.
So komme beispielsweise in Deutschland der Professorenschaft die Rolle
der Wissensvermittlung zu; in Brasilien
und China hingegen seien die Professoren auch eine Art Lebensratgeber und
Freunde.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
Anne Löhr stellt im dritten Kapitel die
Ergebnisse einer Studierendenbefragung
vor, mit der sie in ihrer Diplomarbeit
nachweisen konnte, dass interkulturelle
Trainings im Rahmen der Lehre an
Hochschulen, insbesondere im Zusammenhang mit einem Auslandsaufenthalt, zu einer signifikant höheren
interkulturellen Sensibilität (IS) führen.
Das Interkulturelle Sensibilität Phasenmodell des ZIM, das die Grundlage der
Messung zur Entwicklung von Kompetenz bildet, orientiert sich am Stufenmodell interkultureller Sensibilität nach
Milton Bennett und am ersten Teil
vorgestellten ZIM-Prozessmodell zur
interkulturellen Kompetenz.
Mit dem Fragebogen zur Interkulturellen Sensibilität (FIS) kann die Entwicklung interkultureller Sensibilität anhand
der drei Skalen Ethnozentrismus, Ethnouniversalismus und Ethnorelativismus beurteilt werden. Geeignet sei der
Fragebogen insbesondere als Screening
zur IS, als Grundlage zur Planung von
Trainingsschwerpunkten, als didaktisches Hilfsmittel zur Motivation durch
Selbstpositionierung, um Ziele in der
Entwicklung von Teilnehmenden genau
zu benennen und zur Evaluation von
Trainingsmaßnahmen.
Das Kernstück der Arbeit sind die
86 Fallbeispiele im dritten und vierten Teil des Buches. In den beiden
einleitenden Kapiteln zum dritten
Teil (Incomings) bzw. vierten Teil des
Buches (Outgoings) werden jeweils
die Hintergründe bzw. Entstehungsgeschichten der Fallbeispiele erklärt: Sie
sind alle im Rahmen des Studiengangs
Global Management entstanden, der
die Studierenden gezielt auf Managementtätigkeiten in international
operierenden Firmen vorbereitet. Die
Studierenden sollen im Rahmen eines
Kurses bei der Autorin ihre Austauschpartner (Incomings) interviewen und
dabei Fallbeispiele für unterschiedliche
Umgangsformen, Lernkulturen oder
besondere Schwierigkeiten sammeln.
An jedes Fallbeispiel (ca. eine halbe
Seite) ist ein kurze Interpretation angehängt (ca. eine halbe Seite), die von den
Studierenden selbst erstellt wurde und
mit den Kulturdimensionen von Hall,
Hofstede oder Trompenaars bzw. mit
den von Thomas entwickelten Kulturstandards erklärt werden. So beschreibt
ein Student beispielsweise das etwas
andere Präsentationsschema eines
brasilianischen Austauschstudenten,
der nach seinem Referat nicht verstand,
warum seine deutschen Kommilitonen
dieses kritisierten. Anders als in Brasilien finden die Deutschen es beispielsweise nicht gut, wenn ein Referat abgelesen
oder auswendig gelernt vorgetragen
wird. In Brasilien hingegen ist Ablesen
und Auswendiglernen üblich, um sich
nicht zu versprechen und so den Redefluss zu gewährleisten.
Den Fallbeispielen von Incomings folgen
Fallbeispiele der Outgoings. In den
Rückkehrworkshops präsentieren und
interpretieren Studierende ungewohnte
oder sehr prägende Situationen, die sie
im Ausland erlebt haben. So berichtet
eine Studentin davon, dass ihre brasilianischen Kommilitonen in fachlichen Diskussionen immer sehr schnell
persönlich würden. Andere Fallbeispiele
erzählen von unruhigen und fast chaotischen Vorlesungen in Brasilien oder
einem fast unterwürfigen Verhältnis von
Studierenden zu ihren Professoren in
Indonesien.
Eigentlich habe ich aufgrund des Untertitels des rezensiertes Buchs - Interkulturelle Fallbeispiele von deutschen und
internationalen Studierenden über das
Auslandsjahr - etwas anderes erwartet
(längere und ausführlichere Fallbeispiele, weniger Theorie). Der theoretische
Teil beinhaltet auch nicht wirklich
Neues. Allerdings ist es aber gerade die
Kombination von theoretischem Basiswissen und praktischen Beispielen bzw.
knappen, interpretierten Fallbeispielen, die dieses Buch ausmacht. Zudem
dient das Basiswissen – wie die Autorin
eingangs erwähnt – insbesondere zum
besseren Verständnis des Rahmens, in
den die Fallbeispiele eingeordnet werden können.
Die Fallbeispiele sind einfach zu lesen
und ich hatte teilweise das Gefühl, die
darin beschriebenen Situationen selbst
schon einmal erlebt zu haben bzw.
konnte mich an ähnliche Situationen
während meines eigenen Studiums erin-
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nern. Neben diesen Fallbeispielen finde
ich auch die Beispiele aus der Praxis –
also die Darstellung des internationalen
Campus an der Hochschule Bremen,
die Erläuterung des ZIM-Ansatzes und
insbesondere die anschauliche Beschreibung der eigenen praktischen Erfahrungen der Autorinnen – besonders interessant. Denn dadurch gelingt es ihnen, die
unterschiedlichen Lehr- und Lernkulturen und somit die Notwendigkeit der
Vermittlung interkultureller Kompetenz
in speziellen Trainings deutlich zu
machen. Hervorzuheben ist in diesem
Zusammenhang das Kapitel von Katrin
Nissel über die verschiedenen Campuskulturen, da dieser wichtige Aspekt
im Hochschulalltag selten thematisiert
wird, aber wichtig für den Umgang mit
ausländischen Studierenden ist.
Durch die verständliche Sprache, die
vielen Abbildungen und den übersichtlichen Aufbau ist das Buch gut lesbar.
Jedes Kapitel steht als abgeschlossene
Einheit für sich, so dass man das Buch
nicht linear lesen muss. So habe ich
zunächst die Fallbeispiele und dann
darauf aufbauend die Ansätze und Trainingsmodelle gelesen. Dadurch konnte
ich dem entgehen, dass das Buch in
seiner ursprünglichen Reihenfolge sehr
plötzlich endet. Denn nach der Aneinanderreihung von Fallbeispielen und
ihren studentischen Interpretationen
folgt kein abschließendes Kapitel. Es
geht der Autorin primär darum, die Erfahrungen der Studierenden im Ausland
bzw. der internationalen Studierenden
in Deutschland darzustellen – was ihr
zweifelsfrei gut gelungen ist - jedoch
stehen diese recht unverbunden hintereinander. Obwohl die Interpretationen
der Studierenden ohne Frage interessant
sind, fehlen mir am Ende des Buches ein
paar abschließende Worte der Autorin.
Insgesamt liefert Berninghausen mit
ihren Ausseneinsichten einen guten Einblick in die Situation ausländischer Studierender und in die Theorie interkultureller Kompetenz. Daher wäre vielleicht
der Titel: Ausseneinsichten. Basiswissen
und interkulturelle Fallbeispiele passender. Geeignet ist es sowohl für Lehrende, die ausländische Studierende besser
verstehen wollen, als auch für diejeni-
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gen, die interkulturelle Kompetenz auf
der Grundlage von Fallbeispielen lehren
möchten. Ob Studierende vor ihrem
Auslandsaufenthalt tatsächlich dieses
Buch lesen, stelle ich in Frage (außer
vielleicht Studierende eines speziellen
Studiengangs, wie z. B. Global Management an der Hochschule Bremen).
Berninghausen leistet mit dieser Arbeit
einen wichtigen Beitrag für ein besseres
Verständnis der Situation ausländischer
Studierender an deutschen Hochschulen, da sie nicht nur bei einer Situationsbeschreibung stehen bleibt, sondern
auch die Probleme, ihre Ursachen und
konkrete Lösungsansätze vorstellt.
Literatur
BMBF (2010): Internationalisierung des
Studiums. Ausländische Studierende in
Deutschland. Deutsche Studierende im
Ausland. Ergebnisse der 19. Sozialerhebung
des Deutschen Studentenwerks durchgeführt
durch HIS Hochschul-Informations-System.
URL: http://www.studentenwerke.de/pdf/
Internationalisierungbericht.pdf [Zugriff
am 20.05.2013].
DAAD (2013): Strategie. Strategy. DAAD
2020. URL: https://www.daad.de/portrait/
presse/pressemitteilungen/2013/Strategie2020 [Zugriff am 20.05.2013].
Berninghausen, Jutta
(2012): Ausseneinsichten.
Interkulturelle Fallbeispiele
von deutschen und internationalen Studierenden über
das Auslandsjahr.
Bremen, Boston:
Keller.
201 Seiten.
Preis 16,90 EUR.
ISBN 978-3939928-78-2.
interculture j ourna l 12/21 (2 0 1 3 )
interculture j ourna l
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