Zielgruppenmanagement Stephan Duttenhöfer Leiter Marktforschung Allianz Deutschland AG Bernhard Keller erschienen in: Handbuch Zielgruppenmanagement S. Duttenhöfer, B. Keller, S. Vomhoff (Hrsg.) Fritz Knapp Verlag GmbH, Frankfurt 2009 Zielgruppenmanagement von Stephan Duttenhöfer und Bernhard Keller 1 Zielgruppen 1.1 Vom Individuum zur Zielgruppe 1.2 Zielgruppendefinition 1.3 Online als Differenzierungskriterium für eine Zielgruppe 1.4 Mitarbeiterauswahl 2 Segmentierungsansätze 2.1 Demografische Ansätze 2.2 Statusbasierte Zielgruppen 2.3 Einstellungsbasierte Zielgruppen 2.4 Ähnlichkeitsansatz: Beispiel Zielgruppen mit Migrationshintergrund 3 Welche Vertriebswege brauchen die Kunden? Zum Stellenwert der Filialen 4 Customer Relationship Management 5 Zielgruppensegmentierung in der Praxis 6 Fazit 1 Zielgruppen 1.1 Vom Individuum zur Zielgruppe Die kleinste operative Einheit im Marketing bildet der Mensch. Viele Menschen mit gleichen Eigenschaften sind eine Gruppe. Und der Ludger, der Zielgruppen-Manager ist, weiß was diese Menschen wollen. So oder so ähnlich könnte man sich die Definition des Begriffs Zielgruppe am Sonntagvormittag bei der Sendung mit der Maus vorstellen. Dass hinter diesem Konstrukt vergleichsweise mehr steckt als nur äußerliche Ähnlichkeiten soll im Folgenden hergeleitet werden. In erster Linie geht es darum aufzuzeigen, welche Facetten in der Zielgruppenentwicklung stecken und wo es Klippen im Zielgruppenmanagement zu überwinden gilt. Zielgruppen bilden bei Marketiers eine beliebte Spielwiese, weil sich so zuweilen auf vermeintlich einfache Art eine neu Orientierungslinie für den eigenen Marketing-Mix schaffen lässt. Befassen wir uns mit der Evolution von Zielgruppen, so sehen wir, dass es unterschiedliche Entwicklungsstufen gibt, die unmittelbar an die Wohlstandssituati- 2 Stephan Duttenhöfer und Bernhard Keller on einer Gesellschaft oder eines Angebotsfeldes geknüpft sind. Gesellschaften, wie die bundesdeutsche nach den Kriegsjahren, die sich auf äußerst geringem Wohlstandsniveau bewegen, brauchen keine Zielgruppen. Denn alle Marktteilnehmer befinden sich tendenziell in gleicher materieller Ausstattung und sichern sich ihren Grundbedarf. Mit zunehmendem Wohlstand entsteht eine Bedarfs- und Konsumdifferenzierung. Dies war beispielsweise in der Nachkriegsgeschichte der Deutschen zu beobachten, als es in den sechziger Jahren zu deutlichen Ausdifferenzierungen der Lebenssituationen kam. In dieser Phase markierten vorwiegend physische Ähnlichkeiten oder räumliche Gemeinschaften die Absatzzielgruppen. Zu Beginn der siebziger Jahre, als der private Konsum die ersten Stagnationen zeigte, weil die kriegsbedingten Ausfälle weitgehend nachgeholt waren, fand im Zuge des einsetzenden Wertewandels erstmalig ein Wandel beziehungsweise ein Evolutionsschritt statt. Als Ausfluss der gesellschaftlichen Diskussion um die Individualisierung wurde die Zielgruppengestaltung weiterentwickelt. Gemeinschaften wurden aufgrund ihrer Werte und Einstellungen geclustert. Es beginnt das „Zeitalter“ der mentalen Gemeinsamkeiten. 1.2 Zielgruppendefinition In der Praxis sind zwei Herangehensweisen an die Zielgruppenbildung zu erkennen. Die eine definiert Zielgruppen aus einer Mengenbetrachtung heraus und folgt der Logik, dass beobachtbare Größen immer auch relevant sein müssen. Beispiele dafür sind Türken, die Generation 50plus oder Berufseinsteiger. Diese Vorgehensweise dominiert die Zielgruppendefinition, weil sie Geschäftserfolg mit Pragmatismus verbindet. Der Geschäftserfolg resultiert bei so mancher Zielgruppenaktion aus dem Umstand, dass er dem Gesetz der großen Zahl folgt und vergleichsweise schnelle Erfolge ermöglicht. Denn im übertragenen Sinn folgt diese Vorgehensweise dem Argument, dass sich immer etwas verkaufen lässt, wenn es nur vielen Kunden angeboten werden kann. Die Gefahr bei dieser Art des (Rechen-)Maschinen-Marketings besteht aber bei zunehmend gesättigten Nachfragermärkten wie dem Finanzmarkt darin, dass am Bedarf vorbei segmentiert und konzipiert wird. Ein entscheidender Hinweis auf eine andere Herangehensweise an eine modernere Art der Zielgruppenbildung liegt im Bedarf. Wenn als Grundthese gilt, dass die Konsumenten mit Produkten weitgehend gesättigt sind, dann braucht es Produkte und Angebote, die den Wunsch nach Austausch befördern. Eines der besten Beispiele für diese Art des emotionalen Vorgehens der Bedarfsweckung stellt die FC Bayern SparCard der HypoVereinsbank1 dar. Das Produkt selbst wirkt nüchtern betrachtet wie ein Sparbuch aus der guten alten Zeit. Die Emotionalisierung über den FC Bayern und die Kopplung an die sportlichen Erfolge führte aber in der Konsequenz dazu, dass man die Identifikationsbereitschaft von Fußball-Fans mit ihrem Verein dazu genutzt hat, eine neue Zielgruppe zu konstituieren, in der Kommunikation zu adressieren und durch dieses Angebot zu aktivieren. 1 Vgl. dazu auch die Darstellung von Armin Herla und Clemens Mulokozi: Innovation im Finanzmarketing, in: Duttenhöfer, Stephan et al (Hrsg.): Handbuch Kommunikationsmanagement, Frankfurt, 2005, Seite 311-328 Einleitung: Zielgruppenmanagement 3 Das Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass Zielgruppen nicht fest definierte „Schubladen“ sind, in denen die Individuen quasi gefangen sind. Je nach Anlass, sei es der vermutete Bedarf einer Menge oder ihre Einstellung zu einem Produkt, sei es die Lebensphase, in der sie sich befindet oder die Profitabilität für die Bank – Zielgruppenzusammensetzungen ändern sich, sie müssen flexibel sein, jederzeit je nach den notwendigen Rahmenbedingungen und Anforderungen neu sortierbar werden. Martin Nitsche (Dresdner Bank) und Peter Klenk (Prof. Homburg & Partner) demonstrieren dies am Beispiel Die Zielgruppe ist tot, es leben die Zielgruppen. Auch Stephan Teuber und Kurt Imminger (GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung) sehen Zielgruppen nicht als starre Formationen: Vom Beziehungsangebot zur Zielgruppe: Zielgruppen als dynamische Beziehungsaggregate heißt ihr Beitrag. Sie führen damit einen Prozess weiter, der eigentlich existiert, seit Menschen auf der einen Seite als „Verkäufer“ ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, dass sie den Menschen auf der anderen Seite als „Käufer“ etwas übergeben. Der Erfolg in Konkurrenzmärkten hing schon immer von der Art und Weise ab, wie dieses Übergeben gestaltet wurde. Heute nennen wir das in Erinnerung an unsere ersten Erfahrungen „Tante Emma“-Laden. Schon damals gab es Segmentierungen und wie diese heute vorgenommen werden, beschreibt Marcus Gebauer (Axciom Deutschland) in Kundensegmentierung oder die Digitalisierung des "Tante-Emma Prinzips" Gibt es in Zielgruppenmanagement und –segmentierung Barrieren? Andreas Hahn (Volksbank Mittelhessen) hat einen sehr umfassenden Beitrag über die Grenzen der Zielgruppensegmentierung: hybride Kunden, Marktentwicklung und Gewinnorientierung verfasst. Wir haben diesen Beitrag als ersten gesetzt, weil er den Rahmen der Entwicklung im Bankenmarkt und die Aktionsmöglichkeiten einer stark expandierenden Genossenschaftsbank beschreibt. 1.3 Online als Differenzierungskriterium für eine Zielgruppe Zielgruppen differenzieren sich nicht nur über ihren Bedarf. Zielgruppen differenzieren sich auch – und in Zukunft wahrscheinlich noch deutlich stärker – über den Mix an Kommunikations- und Interaktionskanälen. Sowohl in der Banken- als auch in der Versicherungsbranche fand bei einem bestimmten, meist besser gebildeten Teil der Kunden eine Emanzipation von bestehenden Betreuungsmustern statt. So war das Online-Banking entwicklungs- und damit zielgruppenprägend. Aus einem technischen Angebot entwickelte sich Zug um Zug ein Bedarf. Denn es zeigt sich eine Zielgruppe, die durch einen Kanalbedarf einerseits, aber auch durch einen Entscheidungsbedarf andererseits kennzeichenbar ist. Die dauerhafte Verfügbarkeit und die uneingeschränkte Zugangsfähigkeit zum Kanal bedienen einen spezifischen Kundenbedarf. Gleichzeitig zeichnen sich Online-Kunden auch durch den Wunsch nach selbstbestimmten Entscheidungen aus. Für das Kundenmanagement der Online-Zielgruppe bleibt aber unternehmensseitig festzustellen, dass Kaufentscheidungen hinausgezögert werden oder gar nicht vollzogen werden, weil ein Übermaß an Information- und Vergleichsmöglichkeiten im Netz sich als Kaufhemmnis erweisen. 4 1.4 Stephan Duttenhöfer und Bernhard Keller Mitarbeiterauswahl Brauchen Zielgruppen einen bestimmten Typus als Verkäufer? Eine goldene Regel lässt sich nicht aufstellen, aber es zeigen sich Beispiele, die als Ausgangsanalyse in der Zusammenschau hilfreich sein können. Das bekannteste Beispiel für die besondere Passung von Verkäufer und Kunde gibt es bei MLP. Mit einem überproportionalen Anteil an akademisch (aus)gebildetem Verkaufspersonal gelingt es offensichtlich, Kunden mit akademischem Hintergrund zielgerichtet und sozialadäquat anzusprechen und zu binden. Diese Logik geht im Falle MLP auf. Ähnlich liegt die Mechanik bei der Deutschen Bank AMIZ, wobei es in diesem Fall ein unabdingbarer Bestandteil des Geschäftsmodells ist. Auch in den Segmenten Frauen und Jugend / junge Erwachsene waren in der Vergangenheit Versuche zu beobachten, mit Angehörigen des Segmentes Beratungs- und Verkaufsprozesse zu gestalten. Man wird mit Sicherheit immer wieder Einzelfälle finden, wo sich Verkäufer auf eine Zielgruppe spezialisieren – meist weil sie selbst zu dieser Gruppe gehören – und diese dann im Rahmen ihres Produktportfolios ausstatten. Ein Trend, der in der Versicherungswirtschaft häufiger zu finden ist als im Bankgewerbe und eng mit der verkäuferischen Freiheit eines Versicherungsvermittlers verbunden ist. Nicht zuletzt bilden die Vertriebler, Verkäufer, Berater selbst eine Zielgruppe. Denn ihnen wird nach ihrem Leistungsgrad oder ihrer Kundenstruktur, nach dem Zuschnitt ihrer Filiale oder dem Potenzial im Markt eine Leistungsvorgabe gegeben. Wie das praktisch umgesetzt wird, zeigt Jan Horstkotte (Sparkasse Bielefeld) am Beispiel seines Arbeitgebers: Zielgruppe Vertrieb: Faire Zielverteilung – Wie mikrogeografische Informationen den Vertriebserfolg fördern. 2 Segmentierungsansätze In der Literatur lässt sich eine Vielzahl von Segmentierungskriterien finden2, so: • demographische Segmentierungskriterien • Einstellungen als Segmentierungskriterium • Preissensibilität als Kriterium • der Kaufentscheidungs-Prozess als Segmentierungsmerkmal • das Nutzungsverhalten als Merkmal • Lebens- oder Unternehmenssituation als Merkmal • Wettbewerbsprodukte als Segmentierungskriterium In der Praxis zeigen sich bei der Analyse der Zielgruppensegmentierungen im Wesentlichen vier Grundmuster: 2 Vgl. http://www.perspektive-mittelstand.de/pages/wissen-und-praxis/wissen-undpraxis_detail.php?ID=889 Einleitung: Zielgruppenmanagement • demografische Ansätze • statusbasierte Ansätze • motivationale oder einstellungsbasierte Segmentierungen • Ähnlichkeitsansätze. 2.1 Demografische Ansätze 5 Der zurzeit populärste Zielgruppenansatz im Finanzdienstleistungsbereich segmentiert Menschen in der zweiten Lebenshälfte als Zielgruppe 50plus. Die Attraktivität der Zielgruppe basiert auf ihrer zahlenmäßigen Größe, auf den in dieser Gruppe vorhandenen Einkommen und die Sparguthaben innerhalb dieser Gruppe. Die Zielgruppe 50plus besitzt einen weiteren positiven Aspekt. Der jüngere und gut situierte Teil der Gruppe, der aktuell noch im Beruf steht, beginnt mit der Planung für den Ausstieg aus dem Berufsleben und entwickelt aus dieser Lebenssituation heraus einen neuen Produktbedarf. Finanzplanung für das Alter und das gezielte Entsparen im Alter sind genauso relevant wie die Frage nach der Pflegevorsorge oder nach seniorenspezifischen Unfallversicherungsprodukten. Diese große, fast amorphe Masse hat inzwischen eine weitere Differenzierung erfahren. Denn das Segment 50plus umfasst mehr als 20 Millionen Menschen, deren Gemeinsamkeit ein Alterskorridor ist. Subsegmente umfassen die Mobilität einzelner Lebensphasen und die daraus resultierenden kurzfristigen Sparpläne für den Konsum genauso wie die Phase der Passivität3 oder gar Fremdbestimmung durch Immobilität bis hin zum Pflegeheim. Georg Bringmann (Sparkasse Bremen) gibt einen Einblick in die Zielgruppe Erblasser: Generationenmanagement als Geschäftsfeld mit Zukunft. 2.2 Statusbasierte Zielgruppen Status als Segmentierungsmerkmal liefert für Marketing- und Verkaufsaktivitäten einen nahrhaften Boden. Zahlungskräftige Kunden mit dauerhaftem Anpassungsbedarf wie DINKS (Double Income No Kids), Affluents oder Jungakademiker sind die Aushängeschilder dieses Zielgruppensegments. In der Analyse zeigt sich, dass der gemeinsame Nenner dieser Gemeinschaft zunächst auf einem überdurchschnittlichen Einkommen basiert und in der Folge auch auf das persönliche Vermögen konstituierend wirkt. Noch nüchterner betrachtet bleibt die Feststellung, dass statusbasierte Zielgruppen unterschiedliche Ausprägungen von Einkommen in verschiedenen Lebensphasen darstellen. Deutlich werden die Möglichkeiten dieser Zielgruppe in der Analyse der Aktivitäten von MLP. Der typische Zielkunde eines MLP-Beraters besucht im letzten Jahr die Universität als äußeres Erkennungszeichen. Die Bedarfssituation dieser Zielgruppe zeichnet sich aufgrund der meist sporadischen Grundversorgung durch einen hohen 3 Stellvertretend für Senioren und die Subgruppen unter den Senioren, siehe Keller, Bernhard: Banking: Einstellungen und Verhalten der Best Ager, in Gerstner, Reinhard / Hunke, Guido (Hrsg.): 55plus Marketing, Stuttgart 2006, Seite 55-67 6 Stephan Duttenhöfer und Bernhard Keller Bedarf in allen Facetten der Finanzdienstleistungsangebote aus. Am Beispiel dieser Zielgruppe wird ein weiteres Phänomen im Rahmen des Zielgruppenmanagements deutlich: Das Passungsverhältnis von Kunden und Vertriebsmitarbeitern. Während viele Vertriebsmannschaften in der Finanzdienstleistungsbranche einen Querschnitt durch die Gesellschaft abbilden, zeichnet sich bei MLP ein hoher Anteil der Mitarbeiter durch einen akademischen Bildungshintergrund aus. Mit dieser Leitlinie gelingt es offensichtlich, eine besondere Ähnlichkeit zwischen den Kunden- und Beratererfahrungen herzustellen. 2.3 Einstellungsbasierte Zielgruppen Das wohl bekannteste Modell der Zielgruppensegmentierung auf Basis von Einstellungen ist das Sinus-Milieu-Konzept. Auch GIM (Trendgalaxie) und TNS Infratest (Semiometrie) sowie Psychonomics nutzen Einstellungsfragen für Kundensegmentierungen4. Die Nutzungsmöglichkeiten des auf Individualdaten basierenden SemiometrieAnsatzes zur werteorientierten Kundensegmentierung in Marketing, Vertrieb und Kommunikation werden von Bernhard Keller und Mark Lammers (TNS Infratest) dargestellt. Sie zeigen die Einsatzmöglichkeiten der Segmentbildungen über Einstellungen und Verhalten, Produktnutzung und Markenaffinität für Halte- und auch Gewinnungsaktivitäten in Vertrieb und Kommunikation auf. 2.4 Ähnlichkeitsansatz: Beispiel Zielgruppen mit Migrationshintergrund Die Deutsche Bank hat mit BANKAMIZ eine spezielle Vertriebsorganisation gegründet, mit der eine Zielgruppe in ihrer eigenen kulturellen Identität als Kundengruppe identifiziert, adressiert und fokussiert wird. Gerade die Kunden mit türkischem Migrationshintergrund, zahlenmäßig die stärkste Gruppe mit ethnischem Hintergrund in Deutschland, waren lange ohne Berücksichtigung. Diese kulturelle Ähnlichkeit nutzen Finanzdienstleister zur Zielgruppenbestimmung. Am Beispiel der „Türken“ wird aber auch eine besondere Herausforderung für die Zielgruppenbearbeitung deutlich. Es gibt nicht d i e T ü r k e n. Türken teilen sich, wie andere Migrantengruppen auch, in unterschiedliche Phasen der Migration. Vereinfacht dargestellt lässt sich festhalten, dass die erste Generation der Türken in Deutschland mittlerweile das Rentenalter erreicht hat. Die ersten von ihnen wohnen mittlerweile in Altenheimen ihres türkischen Kulturkreises. Die oftmals erhoffte Rückwanderung ist ausgeblieben. Die zweite Generation, die ihre Primärsozialisation noch in der Türkei erlebt hat, zeichnet sich einerseits durch Einschränkungen in der Verwendungsfähigkeit der deutschen Sprache und andererseits durch hohe türkische Kulturverbundenheit aus. Die dritte Generation wurde in Deutschland geboren und sozialisiert. Immer grö- 4 Zu den Sinus-Milieus, der GIM-Trendgalaxie sowie der Semiometrie siehe auch den Beitrag von Keller und Lammers in diesem Band. Zur Typologie von Psychonomics siehe den Beitrag von Hauck und Tröstrum ebenfalls in diesem Band Einleitung: Zielgruppenmanagement 7 ßere Teile dieser Gruppe sind sehr gut in die deutsche Kultur und Sprache integriert beziehungsweise wandern zwischen den beiden Welten. Wie die BANKAMIZ Kunden mit türkischem Migrationshintergrund gewinnt, beschreiben die Autoren Fabian Gleisner (E-Finance Lab) und Patrik Pohl (BANK AMIZ) in ihrem Beitrag Zielgruppe: Kunden mit Migrationshintergrund. Tim Zuchiatti (BVR) und Hermann-Josef Kanders (Volksbank Rhein-Ruhr) zeigen auf, dass auch die Einbindung der türkischen Kunden auf der lokalen Ebene gut funktioniert – sie schreiben aus der Sicht einer Volksbank über Zielgruppe türkische Gemeinde: direkter Draht statt bloße Annäherung. Aber nicht nur Migranten, auch Kunden aus dem Nachbarland, die in deren eigenen Sprache angesprochen und betreut werden, sind für grenznahe Banken eine profitable Klientel. Siegfried Koch (Sparkasse Hanauerland) stellt die Akquisition französischer Grenzgänger und die Vorteile für beide Seiten – für die Sparkasse in Kehl wie auch die Kunden aus dem Elsaß - in Zielgruppe Grenzgänger: Frankreich dar. 3 Welche Vertriebswege brauchen die Kunden? Zum Stellenwert der Filialen Einerseits werden Filialen geschlossen, was betriebswirtschaftlich als notwendig deklariert wird und in der Regel den Zorn der betroffenen Bevölkerung hervorruft. Dabei sind die Filialen noch die einzigen Begegnungsstätten in der Hoheit der Banken – der mobile Vertrieb bewegt sich auf fremdem Terrain. Andererseits werden neue Filialen eröffnet, weil Direktbanken oder ausländische Anbieter den direkten Kontakt zu den Kunden suchen – ohne einen solchen scheint es nicht zu gehen. Gleich drei Beiträge haben die Filiale beziehungsweise die Filialkunden im Fokus. Dominik Georgi und Nicolas Bourbonus (Frankfurt School of Finance & Management) heben in Zielgruppe Filialkunden: Die Bedeutung der Filialgestaltung den Stellenwert der lokalen Präsenz hervor. Bei Martin Engstler (Fraunhofer IAO) geht es um Zielgruppe Filialkunden: Kundenansprache und Markenkommunikation der Zukunft und Jan Borcherding und Bernhard Keller (TNS Infratest) fragen, ob die Zielgruppe Filialkunden: eine Rarität im Markt? wirklich eine Zukunft hat. Denn trotz der Beschwörungen der Kunden, sie könnten auf den Filialbesuch für Beratungszwecke nicht verzichten, besucht der überwiegende Teil die Filialen nur, weil dort die Automaten stehen. Daran ändern alle Versuche im Markt, über besondere Filialgestaltungen den Besuch attraktiver zu machen, kaum etwas. Dabei gibt es Filialen für spezielle Segmente schon lange – und schon lange nicht mehr. Wer erinnert sich noch an die Jugendfilialen der Volksbanken und Sparkassen, wie sie in den achtziger und neunziger Jahren eingerichtet wurden? Eine nachhaltige Breitenwirkung konnte diese Art von Ansprache und Vertrieb aber nicht erreichen, obwohl einzelne Häuser sehr gute Erfahrungen damit gemacht haben. Dass Zielgruppenmanagement im Jugendbereich auch ohne Jugendfilialen funktioniert, zeigen die Praktiker aus der Sparkassenorganisation Baden-Württemberg. Seit einigen Jahren haben sich einzelne Banken auf die Zielgruppe der Kreditnehmer spezialisiert. In den Fußgängerzonen der Mittel- und Großstädte, aber nicht notwendi- 8 Stephan Duttenhöfer und Bernhard Keller gerweise in den A-Lagen, werden immer häufiger EasyCredit-Shops neben FortisAgenturen und RBS-Shops aufgemacht. Es werden Finanzdienstleistungen sehr punktuell für einen bestimmten Bedarf angeboten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir in den nächsten Jahren Vertriebskonzepte für Senioren vorfinden werden. Wodurch werden sich diese Konzepte von konventionellen Ansätzen unterscheiden? Neben einem spezifischen Produktangebot, das es bereits heute schon in den meisten Produktkategorien gibt, wird mit Sicherheit eine Vernetzung von seniorenspezifschen Dienstleistungen rund um das Thema Geld, Vorsorge, Pflege und Sterben entstehen, wie es Georg Bringmann in seinem Beitrag (siehe oben) ja andeutet. Um den speziellen Anforderungen von Senioren gerecht zu werden, werden auch mobile Verkäufer eingesetzt werden, die dann, wenn ihre Kunden nicht mehr ausreichend mobil sind, auch Haus – oder (Wohn)-Heimbesuche durchführen. 4 Customer Relationship Management Mit jeglicher Form der Zielgruppenbildung als operative Steuerungsgröße benötigen Unternehmen ein Verkaufsprogramm als Basis für die Zielgruppenbearbeitung, das wesentlich stärker aus den Angeboten und Leistungen kommt als aus der Technik einer Datenbank. Diese ist nur ein Hilfsmittel, Kunden zielgerichteter, also Streuverluste minimierend und Belästigungsärger durch wiederholtes Adressieren vermeidend, anzusprechen Zu Beginn eines Zielgruppenengagements steht im Rahmen einer Marketing- und Vertriebskonzeption zunächst immer die Analyse. Jede definierte Zielgruppe sollte in einem ersten Schritt auf ihren zahlenmäßigen Umfang geprüft werden. Nur eine ausreichende Menge potentieller Konsumenten lässt überhaupt eine sinnvolle Bearbeitung zu. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Unternehmen sehr stark regional engagiert ist. Wenn die Mengenfrage positiv beantwortet werden kann, sollten im darauffolgenden Schritt die Aktivitäten des Wettbewerbs analysiert werden. Wird eine Zielgruppe bereits von einigen Anbietern adressiert, ist zu entscheiden, ob das eigene Unternehmen als ein Anbieter unter vielen eine Marktchance hat oder ob es sinnvoller sein kann, sich nicht in das bestehende Marktumfeld einzubringen. Als Beispiel für Erfolg trotz einer Vielzahl von Wettbewerbern gilt die ING DiBa, die im Bereich der Tagegeldkonten auf einen tendenziell gesättigten Markt traf. Trotzdem ist es ihr gelungen, deutliche Marktanteile zu gewinnen, weil sie ein Produkt etabliert hat, das einerseits durch günstige Konditionen (Zinsen) herausragte und andererseits durch ein einfaches KontoHandling per Telefon oder Internet zu erlangen war. Mit dieser Strategie konnten „Kleinsparer“, deren Zinsaufkommen mit klassischen Sparbüchern doch recht bescheiden war, angezogen werden. Der Erfolg der ING DiBa beruht auf immensen Kommunikationsaktivitäten auf der Makroebene und einem detailliert CRM-gesteuerten Kampagnenmanagement auf der Mikroebene. Dieses beschreiben Martin Schmidberger und Andreas Babiuch-Schulze (ING DiBa) in ihrem Beitrag Zielgruppenansprache: Optimierung von Direktmarketing durch systematische Kundendatenanalyse. Die Anzahl der Konsumenten in der Zielgruppe und die Aktivitäten der Wettbewerber sind im Vergleich zu dem Produktangebot fast zu vernachlässigen, wenn das angebotene Produkt deutliche Innovationen gegenüber dem vorhandenen Angebot des Marktes Einleitung: Zielgruppenmanagement 9 aufweist. Ein Beispiel zeigt sich bei der Ideal Versicherung, die mit ihren Seniorenprodukten mittlerweile in dieser Zielgruppe konzeptionell aber auch marktanteilsmäßig ein etablierter Anbieter ist. Hier zeigt sich eine weitere Herausforderung im Kampf um eine Zielgruppe. Es gibt einen spezifischen Bedarf, den alle Anbieter gleichermaßen zu bedienen versuchen. Deshalb liegt der kritischste aller Erfolgsfaktoren im offerierten Angebot. Zielgruppen definieren viel stärker über ihren Bedarf als über ihre offensichtliche Ähnlichkeit. Diese Situation führt unweigerlich dazu, dass man einer Gruppe mit einem spezifischen Bedarf auch eine ebenso spezifische Produktlösung anbieten sollte. An dieser Stelle wird für jeden Zielgruppen-Manager deutlich, dass eine effektive Marktbearbeitung nur mit einem relevanten Produktangebot erfolgreich sein wird. Das Produkt fungiert letztlich das operative Schmiermittel der Kundenbeziehung. Im Rahmen einer konsequenten Marketingstrategie gilt es, ein zielgruppenspezifisches Kommunikationskonzept umzusetzen. Instinktive Reaktion der allermeisten Werber – Umsetzung einer Print-Kampagne in „Special-Interest-Magazinen“. Hier lohnt es sich etwas länger und genauer über die eigene Situation und die der Zielgruppe nachzudenken. Die Umsetzung einer konventionellen Strategie beinhaltet immer auch ein „mee to“ und den Kampf mit anderen Anbietern um die Aufmerksamkeit der Konsumenten. An dieser Stelle soll sensibilisiert werden für ebenso spezifische Kommunikationsmaßnahmen innerhalb der avisierten Zielgruppe. Ein hoch emotionales Beispiel für diese Art der Kundenansprache ist der Allianz mit ihrer EnkelPolice gelungen. Großeltern schenken ihren Enkeln eine Absicherung und im Falle des Todes des Großelternteils zahlt die Allianz bis zum 18 Lebensjahr weiter. Die Ansprache erfolgte unter anderem über einen Steiff Teddy, der den Großeltern als haptische Verlängerung für das eigentliche Geschenk gegenüber ihren Enkeln dienen kann. Im Vorfeld dient der Bär guten Verkäufern als Einstieg in das Produkt. Der Einfallsreichtum dieser Übung kennt keine Grenzen und bietet für die Werber einen großen Spielraum. Zielgruppen zu bearbeiten impliziert in der Konzeption immer auch eine gewisse Nachhaltigkeit des Engagements. Um diese Nachhaltigkeit sicher zu stellen benötigt ein Unternehmen eine entsprechende Datenbank, um das CRM über Maßnahmen und Aktivitäten zu steuern. Denn die Flexibilität in der Kundensegmentierung führt häufig dazu, in den Neusortierungen der Adressen für das Kampagnenmanagement die Ansprachehistorie pro Kunde zu ignorieren. Dann reagieren Kunden unwillig, weil ihre Ansprachebereitschaft überstrapaziert wird und sie sich nicht mehr informiert, sondern bedrängt fühlen. 5 Zielgruppensegmentierung in der Praxis In der Praxis findet sich eine Reihe von Zielgruppensegmentierungen, die größtenteils in diesem Band beschrieben werden. Für Jugendliche und junge Erwachsene hat die Branche ein sehr detailliertes Instrumentarium zur Akquisition und Betreuung entwickelt. Sergej Ladewig und Wolfgang Braner (Sparkassenverband Baden-Württemberg) widmen sich den Nachwuchskunden - die Altersvorsorge der Banken und Sparkassen. Manfred Knopp (Sparkasse Zollernalb) schildert die Praxiserfahrungen in Vom Spaßinstitut zum seriösen Geschäftspartner. Erfolgreiche Produkte für den Jugendmarkt. 10 Stephan Duttenhöfer und Bernhard Keller Um die „verlorene Generation“, weil in der Regel zwischen Jugendfokus und Seniorenbetonung vernachlässigt, kümmern sich Wolfgang L. Brunner (FHTW Berlin) und Reinhard Carl (metamorf): Born in the nineteensixties – die Sandwichgeneration im Vertrieb von Banken. Das Segment der Frauen ist immer noch aktuell, auch wenn es in letzter Zeit in den Medien kaum behandelt wurde. Christian Rauscher (emotion banking) demonstriert am Beispiel der österreichischen Raiffeisenbank Gastein, dass die konsequente Ausrichtung auf die Zielgruppe Frauen: „Frau sein – frei sein“ lohnenswert ist – wenn man weis, wie sie zu adressieren ist. Kunden einer besonderen Art haben Claudia Barghoorn und Norman Böhm (Commerzbank) im Visier. Sie legen dar, dass zuerst das Produkt und dann die Zielgruppe dafür konzipiert wurde. Spannend ist ihre Begründung in Zielgruppe Neukunden: das kostenlose Girokonto. Oder wie man es verkehrt herum richtig macht. Norbert Kerkhoff (PSD Bank Westfalen-Lippe) spinnt den Faden weiter, in Zielgruppe Neukunden: gewonnen und dann? hinterfragt er die Betreuung der mühsam akquirierten Kundschaft. Eine besondere, weil durchaus profitable Zielgruppe fassen Lothar Sauter (Management Partner Unternehmensberater) & Bernd Georges (KSK Esslingen-Nürtingen) ins Auge: die Zielgruppe Gewerbekunden - Bäcker, Metzger und Wirte. Passend dazu präsentieren Jörg Baston und Carsten C. Wendt (Investors Marketing Management Consultants) ihre Ideen und Ergebnisse zur nicht minder deckungsbeitragsstarken aber zuweilen im Niemandsland zwischen Privat- und Firmenkunden ins Hintertreffen geratende Zielgruppe Freie Berufe - attraktiv, anspruchsvoll und vernachlässigt. Ein Bild des Erfolges, Firmenkunden mithilfe der Marktforschung neu zu segmentieren und über angepasste Betreuungskonzeptionen profitabel zu führen, zeichnet Norbert Martin (KSK Ravensburg) mit Zielgruppen-Management im Firmenkundengeschäft: Von Kundenerwartungen zur Profitablität. Von der Produktnutzungsseite her skizziert Leonhard Zintl (Volksbank Mittweida) die Zielgruppe Baufinanzierer: Marktbearbeitung einer Volksbank in Sachsen. Im Mittelpunkt steht die Wohnbaufinanzierung als ein Schlüsselprodukt im Genossenschaftlichen Finanzverbund. Besondere Zielgruppen, die oft vergessen werden, weil sie nicht im Ziel des Vertriebes, sondern der Kommunikation stehen, sind die Journalisten und PR-Fachleute, oft vernachlässigte Multiplikatoren in der Umwelt der Kunden, wiewohl einerseits Medienberichterstattung immer noch glaubwürdiger ist als Werbung und andererseits gerade in Krisenzeiten die Äußerungen von Journalisten den Stab über ein Unternehmen brechen können. Zielgruppen durch PR zu Käufern machen ist das Credo von Jörg Forthmann (Faktenkontor), mit dem er die Kommunikationsspezialisten überzeugt, mit herausragenden Maßnahmen die Absatzstrategien ihrer Unternehmen zu fördern. Während Jörg Forthmann für den Input in die Medienwelt verantwortlich zeigt, sorgen sich Andrea Jaap und Jörg Kramer (Presswatch) um den Output. Wie können veröffentlichte Äußerungen in der on- und offline-(Medien)welt bewertet und auf ihre Auswirkung hin ana- Einleitung: Zielgruppenmanagement 11 lysiert werden. Mit Zielgruppe Journalisten: Kommunikationsmanagement durch Medienresonanzanalysen ist ihr Beitrag überschrieben. 6 Fazit Zielgruppenmanagement startet mit der Frage, ob und nach welchen Kriterien die Bildung von Zielgruppen für einen Finanzdienstleister überhaupt Sinn macht. Segmentierungen sind entsprechend so vielfältig anzutreffen, wie es Gründe für ihr Zustandekommen gibt. Dafür gibt es eine Reihe von Verfahren, die schon bei der Konzeption zum Einsatz kommen. Stefan Tuschl (TNS Infratest) demonstriert die Segmentierungsmöglichkeiten in der Marktforschung am Beispiel fortgeschrittener Analyseverfahren. Ebenfalls über Marktforschungsdaten, angereichert mit Befragungsdaten, erschließen Steffen Adlung (LBS Nord) und Jens Lohse (TNS Infratest) die optimale Ausschöpfung von Potenzialen: das zielgruppenspezifische Vertriebssteuerungsinstrument der LBS Nord. Einen anderen Weg, Zielgruppenmanagement mit Drittdaten zu betreiben, zeigen Thomas Hauck und Kai Tröstrum (Siegfried Vögele Institut) auf. ZielgruppenManagement mit externen Daten: Neue Kunden gewinnen, Bestandskunden binden ist ihr Thema. Und wie sieht die Zukunft aus? Einen Fingerzeig in die digitale Welt gibt Stephan Noller (nugg.ad). Die Möglichkeiten des Targeting im Internet diskutiert er in: Intelligentes Zielgruppenmanagement Online. Lernen von anderen? Ein Blick über den Tellerrand? Rainer Mutschler und Alexander Wehrle (VfB Stuttgart Marketing) entführen die Leser in eine sehr emotionale Welt, in die des kommerziellen Fußballs. Auch dort wird sehr rational Zielgruppenmanagement betrieben, was viele von uns TV-Puristen nie sehen, was die Fans im Stadion aber life erleben: Zielgruppenmanagement im Profifußball. Literatur DUTTENHÖFER, STEPHAN / KELLER, BERNARD: Banken- Marketing, in: Absatzwirtschaft 3/2003, Seite 40-46 HERLA, ARMIN / MULOKOZI, CLEMENS: Innovation im Finanzmarketing, in: Duttenhöfer, Stephan / Keller, Bernhard / Braun, Uwe / Rossa, Henning (Hrsg.): Handbuch Kommunikationsmanagement, Frankfurt, Seite 311-328 KELLER, BERNHARD: Banking: Einstellungen und Verhalten der Best Ager, in: Gerstner, Reinhard / Hunke, Guido (Hrsg.): 55plus Marketing, Stuttgart 2006, Seite 55-67