© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift Für Soziologie, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1979, S. 315 - 329 Die gesellschaftliche Entdifferenzierung Eugen Buß, Martina Schöps Gesamthochschule Siegen, Fachbereich 1 - Philosophie, Religionswissenschaften, Gesellschaftswissenschaften Adolf-Reichwein-Straße 2, D-5900 Siegen 21 Z u s a m m e n f a s s u n g : Im Zusammenhang mit der neuerlich intensivierten Theoriediskussion über die ge­ sellschaftliche Differenzierung erscheint es unter empirischen Gesichtspunkten geboten, die auf die stetige Aus­ differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche gerichtete Betrachtungsweise um die Komponente der Entdifferenzie­ rung sozialer Teilsysteme zu erweitern. Das Drei-Stufen-Konzept der gesellschaftlichen Differenzierung unterschei­ det typologisch zwischen undifferenzierten, ausdifferenzierten und entdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen. Sein analytischer Interpretationsrahmen ermöglicht gegenüber der Sichtweise gewissermaßen rein unilinearer und für moderne Gesellschaften als charakteristisch unterstellter Ausdifferenzierungsprozesse einen modifizierten Betrach­ tungsansatz. Die Vorzüge einer um die soziale Entdifferenzierung erweiterten Theorie der gesellschaftlichen Diffe­ renzierung liegen vor allem in der Berücksichtigung zentraler sozialer Strukturverschiebungen, die nicht nur unter den Gesichtspunkten der „thematischen Reinigung“, „relativen Autonomie“ und „funktionalen Spezialisierung“, sondern auch vor dem Hintergrund der Strukturmerkmale „relative Heteronomie“, Rollenkompatibilität, Rollen­ transfer, Übernahme von Fremdfunktionen und Öffentlichkeitsbezug zu klären sind. Es wird versucht, die Elemen­ te der dreiteiligen Strukturtypologie in eine integrierende theoretische Perspektive einzubringen. In der soziologischen Diskussion der vergangenen Jahre steht das Thema der gesellschaftlichen Dif­ ferenzierung wieder im Blickpunkt neuer For­ schungsansätze (z.B. Parsons, Eisenstadt; in neue­ rer Zeit besonders Luhmann). Dabei spielen zwei Gesichtspunkte offensichtlich eine beson­ dere Rolle. Zunächst lautet die zentrale Frage­ stellung, wie das Konzept der sozialen Ausdiffe­ renzierung gesellschaftlicher Teilbereiche, so zum Beispiel von Familie, Wirtschaft und Recht etc. in den Interpretationsrahmen der entsprechen­ den Spezialsoziologien eingebracht werden kann. Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist der Aufsatz von Hartmann Tyrell (1976) mit dem Thema: „Probleme einer Theorie der gesell­ schaftlichen Ausdifferenzierung der privatisier­ ten modernen Kernfamilie“. Zweitens sind allem Anschein nach im Zusam­ menhang mit dem Differenzierungskonzept jene Fragen von besonderer Bedeutung, die sich auf seine evolutive Komponente und die mir ihr ver­ bundenen Vorstellungen des gesellschaftlichen Wandels richten. Man geht zumeist von der An­ nahme aus, daß die Prozesse der funktionalen Differenzierung gewissermaßen evolutiv und irre­ versibel verlaufen, d.h. der Anspruch des Dif­ ferenzierungskonzeptes zielt letztlich auf eine Strukturebene, auf der die unterschiedlichen Er­ klärungsansätze zum sozialen Strukturwandel in eine integrierende evolutive Perspektive ein­ gebracht werden können. Die moderne Soziolo­ gie scheint in diesem Punkt in der Tradition Spencers zu stehen, in der eine eher lineare Sicht sozialer Evolution vorherrscht. Spencers Grundprinzip der „Transformation vom Homo­ genen zum Heterogenen“ oder präziser: der Entwicklung von unspezifizierten Aggregaten zu funktionsspezifischen Einheiten spiegelt letzt­ lich ein rein evolutionstheoretisches Denkmodell wider, das Gesellschaft als expandierende Sy­ stemdifferenzierung betrachtet (Kiss 1977: 257). Spencers Vorstellung von der funktionalen An­ passung an die soziale Umwelt, der zunehmen­ den Autonomisierung der Systemteile und den komplementären Prozessen von Differenzierung und Integration schafft bereits den Ansatz, auf dem die aktuelle Thematik der gesellschaftlichen Differenzierung fußt. Der evolutive Aspekt ihres gegenwärtigen Diskussionsstandes läßt sich im wesentlichen unter folgenden vier Gesichtspunk­ ten zusammen fassen: 1. Die Diskussion ist angesiedelt im Schnittfeld der allgemeinen Systemtheorie und ihrer An­ wendung auf Spezialsoziologien. Bezeichnend vor diesem Hintergrund ist der Versuch, das Ka­ tegoriensystem eines evolutiven Modells in einen strukturtheoretischen Rahmen zu bringen. Die Differenzierung, d.h. die fortschreitende Teilung von Funktionen, gilt als primärer Faktor des sozialen Strukturwandels oder sozialer Verände­ rungen (vgl. Tilly 1972). 2. Zweitens wird angenommen, daß die Struk­ tur einer Gesamtgesellschaft unter dem Gesichts­ punkt einer stetigenUnauthenticated Steigerung der funktionalen Download Date | 2/13/17 10:48 PM Ausdifferenzierung zu erklären ist. Es wird hauptsächlich solchen Prozessen Aufmerksam­ 316 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1979, S. 315 - 329 keit geschenkt, durch die „zuvor strukturell fu­ sionierte heterogene Funktionsbereiche der Ge­ sellschaft auseinandertreten und sich im Gefolge davon tendenziell ein Nebeneinander funktional spezialisierter Teilbereiche ausbildet (. . .)“ (Tyrell 1978: 175). Devolutive Gesichtspunkte sind zumeist ausgeklammert. 3. Das Konzept der gesellschaftlichen Differen­ zierung akzentuiert im besonderen die relative Autonomie und die aus diesem Umstand resul­ tierende Problemstellung der Kompatibilität so­ zialer Teilbereiche. Die im Zuge der Ausdiffe­ renzierung zunehmende funktionale Spezialisie­ rung, „thematische Reinigung“ und Polarisierung rücken nämlich gerade jene Fragen in den Vorder­ grund des Interesses, die das Binnenverhältnis ausdifferenzierter Subsysteme untereinander the­ matisieren, wie z.B. Gesichtspunkte der Integra­ tion, Generalisierung, Inklusion oder Interpene­ tration (vgl. Parsons 1972a, Parsons 1976). Die­ se Begriffe umschreiben im evolutiven Prozeß der Differenzierung höchst heterogene Erschei­ nungen, die die relativ autonomen Systeme wie eine gesamtgesellschaftliche Klammer umgeben und den konstitutiven Grundkonsensus herstellen sollen. quasi irreversibel oder evolutionäre Veränderun­ gen in der Gesellschaft seien zumeist differenzie­ rende Prozesse, ist sicherlich falsch (vgl. Tilly 1972). Da an diesem Punkt in der makrosoziologischen Theorienentwicklung ein Diskussionsdefizit be­ steht, hat hier eine erweiterte konzeptuelle Sicht­ weise anzusetzen. Der rein evolutiv orientierte Ansatz des Diffe­ renzierungskonzeptes kann in zweierlei Hinsicht ergänzt werden. Erstens: Er ist um eine Betrach­ tungsweise zu erweitern, der auch devolutive gesellschaftliche Prozesse berücksichtigt, wor­ auf Tilly zu Recht kritisch hin weist (vgl. Tilly 1972: 113 ff). Dabei bleibt zunächst fraglich, inwieweit devolutive Bewegungen in den syste­ matischen Begriffszusammenhang des Differen­ zierungskonzeptes eingebaut werden können. Tilly nennt eine Fülle gut dokumentierter histo­ rischer Fälle von gleichzeitiger, sich gegenseitig bedingender Evolution und Devolution (Tilly 1972: 117)1. Er verweist darauf, daß jede ge­ sellschaftliche Theorie schwach entwickelt ist, die die Devolution, d.h. die Rückentwicklung, den Niedergang und den Anpassungsabfall eines 4. In engem Zusammenhang mit dem Differen­ gesellschaftlichen Teilsystems nur als eine Rand­ zierungskonzept steht schließlich die Thematik größe berücksichtigt und die Wechselbeziehun­ der Komplexitätssteigerung der Gesellschaft. Na­ gen von Evolution und Devolution außer acht mentlich Luhmann diskutiert alternative Mecha­ läßt. Devolutionäre Strömungen sind demzufol­ ge stärker in das Interessenfeld der Soziologie nismen zur Reduktion der Komplexität, die wiederum neue Ausdifferenzierungsprozesse er­ zu rücken. möglichen. Der evolutive Aspekt der Betrach­ Zweitens: Der differenzierungstheoretische An­ tungsweise impliziert, daß Prozesse der gesell­ schaftlichen Komplexitätssteigerung im Zuge der satz ist um die Problematik der Entdifferenzie­ Ausdifferenzierung gewissermaßen zwangsläufig rung zu erweitern. Die Entdifferenzierung ist sind und daß entsprechend das Selektionsvolu­ ihren Erscheinungsformen nach zwar als ein evomen trotz vorhandener Reduktionsmechanismen lutiver Prozeß anzusehen, zielt aber deutlich auf eine andere Ebene als die Ausdifferenzierung wie Vertrauen, Liebe, Geld, Zeit, Macht und Wahrheit eher zunimmt (Luhmann 1974/1975a). gesellschaftlicher Teilbereiche. Im Gegensatz zu Tüly, der mit dem Begriff der EntdifferenzieAus diesem sehr knapp gefaßten Resümee des aktuellen Diskussionsstandes des Differenzierungs­ Tilly kritisiert nicht nur den seiner Ansicht nach konzeptes entsteht der Eindruck, als sei die gesell­ 1 zu einseitig evolutiven Ansatz der modernen So­ schaftliche Ausdifferenzierung ein sozialer Evolu­ ziologie, sondern versucht auch durch eine Reihe tionsprozeß, dem kaum strukturelle Schranken ge­ von Beispielen seine These von der Wechselwirkung von Evolution und Devolution zu belegen. Er führt setzt sind; oder anders formuliert: Esensteht der aus, wie das evolutionäre Wachstum der Industrie Eindruck, als entspreche jede weitere soziale Evo­ in Europa im 19. Jahrhundert von devolutionären lutionsstufe einem höheren Ausdifferenzierungs­ Gegenströmungen,Unauthenticated z.B. Verländlichung, Stadtflucht, status der Gesellschaft. Dieses jedoch ist nicht der Wideraufnahme nicht-industrieller Arbeit begleitet Date | 2/13/17 10:48 PM Fall. Die Annahme, die Ausdifferenzierung verlaufe Download wurde (Tilly 1972: 117 ff). E. Buß/M. Schöps: Die gesellschaftliche Entdifferenzierung rung einen devolutionären Vorgang bezeichnet, der sich im Verschwinden von gesellschaftlichen Gebilden ausdrückt, die zuvor ihrer Struktur und Funktion nach selbständig waren (Tilly 1972: 114), sollen im Rahmen dieses Beitrags mit Entdifferenzierung jene Prozesse charakteri­ siert werden, die ausdrücklich evolutiv sind, aber nicht hinreichend plausibel mit dem diffe­ renzierungstheoretischen Ansatz erklärt und be­ schrieben werden können. Die Thematik der gesellschaftlichen Entdifferen­ zierung befaßt sich mit einem materiell neuen Strukturprinzip in hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften. Sie unterstellt, daß neben der Ausdifferenzierung zugleich oder nachgelagert eine Bewegung einsetzt, die die Eigen them atik, Eigenrationalität und Eigendynamik ausdifferen­ zierter Teilsysteme in neuartige Assimilations-, Reintegrations- und Identitätsprozesse umformt. Die Entdifferenzierung behandelt jenen sozialen Prozeß, der die Struktur gesellschaftlicher Sub­ systeme, um einen ökonomischen Terminus zu verwenden, gewissermaßen diversifiziert: nicht die thematische Reinigung, sondern gerade die thematische Vielfalt, nicht die relative Autono­ mie, sondern die relative Heteronomie, nicht die funktionale Spezialisierung, sondern die funk­ tionale Verflechtung und funktionale Erweite­ rung stehen im Vordergrund; konkret: gesell­ schaftliche Teilbereiche übernehmen ursächliche Fremdfunktionen, um dadurch Unvereinbarkei­ ten zwischen kontrastierenden Zielen einzelner gesellschaftlicher Teüsysteme zu reduzieren und die Koordinationsanstrengungen der Gesellschaft zu entlasten. Entdifferenzierung meint somit nicht einen de­ volutionären Prozeß im Strom der Ausdifferen­ zierung. Entdifferenzierung ist auch keine rück­ wärts gewandte Bewegung zu einfachen, undif­ ferenzierten Strukturen, ist keine devolutive Ge­ genströmung, die Anpassungsabfall, Niedergang, Desintegration oder Zusammenbruch sozialer Teilsysteme zur Folge hat und büdet letztlich auch keinen revolutiven Sprung, mit dem die Komplexität moderner Gesellschaften überwun­ den wird. Im Gegenteil: Entdifferenzierung ist ein evolutiver Prozeß, der nach der Ausdifferen­ zierung oder zumindest parallel zur Ausdifferen­ zierung einsetzt und die gesellschaftlichen Teil­ systeme weiterentwickelt. Die Entdifferenzie­ rung büdet eine evolutive Phase, in der bestimm­ 317 te Ausdifferenzierungsprozesse einen qualitati­ ven Umschlag erleben in der Weise, daß über die Koordination von Funktionen hinaus neue sy­ stemfremde Funktionen in das eigene systemspe­ zifische Bezugsfeld eines gesellschaftlichen Teil­ bereiches eingebunden werden. Der entscheiden­ de Schritt zu einer evolutiv höheren Entwick­ lungsstufe erfolgt danach nicht mehr nur durch ein „Mehr“ an funktionaler Ausdifferenzierung, sondern auch dadurch, daß sich gesellschaftliche Teüsysteme strukturell zu assimüieren beginnen und Probleme der Sinn- und Funktionskorre­ spondenz sowie des gesellschaftlichen Interessen­ zusammenhangs neu formuliert und gelöst wer­ den. Aufgrund sich empirisch abzeichnender Tenden­ zen erscheint es daher notwendig, das eher zwei­ stufig orientierte Konzept der sozialen Differen­ zierung um eine dritte Stufe, die der sozialen Entdifferenzierung zu erweitern. Dies bedeutet, daß evolutions- und strukturtheoretisch zwischen undifferenzierten, ausdifferenzierten und entdifferenzierten Gesellschaften oder Gesellschafts­ bereichen zu unterscheiden ist. Zweifellos bilden diese Typisierungen hochkomplexe Kategorien, in denen zahlreiche, oft mit fließenden Über­ gängen versehene Entwicklungsstufen theoretisch auf einem Nenner zusammengefaßt werden. Das Konzept der Entdifferenzierung akzentuiert deutlich anders als die rein differenzierungstheo­ retischen Prämissen die evolutionären Wand­ lungsprozesse. In engem Zusammenhang mit der Differenzierung behandelt beispielsweise Parsons zwei weitere Prozesse des strukturellen Wandels: 1. die Inklusion, 2. die Generalisierung von Handlungswerten (value-generalization)2. Der Aspekt, der sich in der Inklusion ausdrückt, ist dadurch an die Differenzierung gekoppelt, daß Integrationsprobleme nur durch Einbezie­ hung neuer Strukturen und Mechanismen in den normativen Rahmen der Gesamtgesellschaft ge­ löst werden. „Wenn zum Beispiel (. . .) Betrie­ be vom Famüienhaushalt differenziert werden, müssen die Autoritätssysteme beider Gesamthei­ ten stärker in der Normenstruktur der Gesell­ 2 Als vierten und letzten Wandlungsprozeß neben der Differenzierung, der Inklusion und der Generalisie­ Unauthenticated rung nennt Parsons die Standardhebung durch An­ Download Date | 2/13/17 10:48 Parsons PM passung (adaptive upgrading; 1972: 20). 318 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1979, S. 315 - 329 schaff verhaftet werden.“ (Parsons 1972: 41). Die Inklusion projiziert gewissermaßen system­ spezifische Mechanismen und Strukturen auf den gesamtgesellschaftlichen Normenhaushalt, ohne an der Struktur eines Teilsystems selbst etwas zu ändern. Dagegen geht die Entdifferen­ zierung einen Schritt weiter. Sie stellt die in­ stitutionalisierte Beschäftigung mit systemexter­ nen Bezügen, Kriterien und Funktionen dar, bis diese schließlich selbst strukturbüdend in den Handlungsaufbau eines Subsystems eingehen. Die Entdifferenzierung bildet eine materiel­ le Strukturänderung eines gesellschaftlichen Teilsystems und ist insoweit ein viel umfassen­ derer Prozeß als die Inklusion. hen, die angesichts divergierender Pole in der Ge­ sellschaft eine Einbettung verschiedener Mechanis­ men und Strukturen in den gesamtgesellschaft­ lichen Normenhaushalt vornehmen (Parsons 1963). Die generelle Lösung des Integrationsproblems eines sich differenzierenden Zusammenhangs, den die Gesellschaft als soziales System dar­ stellt, bilden die kollektiven Organisationen, die auf rechtlicher oder konventionell-gewohnheitlicher Basis entstehen und in ihrer Gesamtheit das „kommunale“ System bilden (Parsons 1975). Anders als die Differenzierung, die vor diesem Hintergrund Integrationsprobleme besonders durch kommunale Systeme, durch institutiona­ lisierte Rechte und Verpflichtungen löst, über­ Ein anderer Aspekt, den Parsons in engem Zu­ nimmt die Entdifferenzierung gewissermaßen sammenhang mit der Differenzierung sieht, ist eine selbstregulative Verantwortung und Einbe­ ziehung von Prozessen und Funktionen aus die Generalisierung von Werten. Darunter ver­ Fremdsystemen in das eigene Bezugssystem. Die steht Parsons, daß Wertmuster selbst auf einer höheren Allgemeinheitsstufe fixiert werden müs­ Entdifferenzierung wirkt integrativ durch struk­ sen, falls das Netz sozial strukturierter Situatio­ turelle Assimilation systemfremder Prinzipien nen komplexer wird (Parsons 1972: 41). Gesell­ und Funktionen und durch Einbettung von schaften, die ihre strukturelle Einheit bewahren Fremdmustern und Kulturmustern, seien sie öko­ und Integrationsleistungen durchsetzen wollen, nomischer, politischer, religiöser, ästhetischer müssen konstruktiv vermittelnde „generalisie­ oder ethischer Art, in das systemeigene Hand­ rende Mechanismen“ aufbauen. Die generalisie­ lungsfeld. renden Mechanismen repräsentieren das norma­ tive Medium, in dem sich Werte und Interessen In engem Zusammenhang mit den untrennbar komplementären Prozessen der Differenzierung einer Gesellschaft zu integrieren haben. und Integration behandelt Parsons noch einen Gegenüber der Generalisierung umschreibt die weiteren Aspekt der Systemverbundenheit: Er sucht nach Mechanismen, die die wechselseitige Entdifferenzierung nicht einen Abstraktions­ prozeß von Werten, eine Rückbeziehung von Verbundenheit von Phänomenen herstellen. „In­ Funktionen auf einen gemeinsam zugrundelie­ terpenetration“ ist ein wichtiger Faktor, der die­ genden Nenner, sondern die Wirkungsweise von se wechselseitige Durchdringung von Sozialsy­ Prinzipien, die von einem Teilsystem direkt in stemen charakterisiert (Parsons 1976, Luhmann die Binnensphäre eines anderen gesellschaftlichen 1977, Jensen 1978). Unbeschadet der Meinungs­ Teübereiches eingreifen und dort normative Gel­ verschiedenheit von Luhmann und Jensen über tung erhalten. Unter dem Gesichtspunkt der den Interpretationsrahmen des Begriffes Interpe­ Entdifferenzierung werden gerade jene Struktur­ netration legt eine weite Auslegung dieses Begrif­ muster und Mechanismen interessant, die unmit­ fes die Vermutung nahe, daß Interpenetration telbare systemüberlagernde Geltung beanspru­ noch am ehesten in die Richtung zielt, die in diesem Beitrag mit Entdifferenzierung umschrie­ chen, ohne sich zu verallgemeinern. ben werden soll. Im Parsonsschen Begriffszusammenhang evolu­ tionärer Wandlungsprozesse spielt zudem der Be­ Denn unter Interpenetration wird ein generali­ griff der Integration eine wichtige Rolle. Aller­ sierender Mechanismus verstanden, der gesell­ dings unterscheidet sich der Begriff der Integra­ schaftliche Teüsysteme dadurch wechselseitig tion deutlich von den Prozessen der Inklusion und verbindet, daß er Kulturmuster in den Hand­ Generalisierung. Die Integration büdet eine Haupt­ lungszusammenhang von Subsystemen einbet­ Unauthenticated funktion der Inklusion, d.h. der Integrationsbe­ tet (Jensen 1978: 118). „Das gesamte Konzept Date | 2/13/17 10:48seinen PM griff ist vor dem Hintergrund jener Prozesse zu se­ derDownload Interpenetration gewinnt eigentlichen E. Buß/M. Schöps: Die gesellschaftliche Entdifferenzierung Sinn erst dann, wenn man es auf den Begriff der Kulturmuster und das Problem ihrer Einbet­ tung in die Struktur des Handelns bezieht“ (Jen­ sen 1978: 126). Der Prozeß der Interpenetra­ tion thematisiert die internen Relationen der ge­ samten Handlungssysteme in der Weise, daß kul­ turelle Musterbildungen wie eine Welle durch die Handlungssysteme laufen und dadurch eine wechselseitige Verflechtung herbeiführen (Jensen 1978: 128). 319 Regel werden evolutionstheoretische Gesell­ schaftstypen konstruiert, die einen jeweils ge­ steigerten funktionalen Ausdifferenzierungsstan­ dard verkörpern. So charakterisiert etwa Tenbruck die Typen der primitiven Gesellschaft, der Hochkultur und der modernen Gesellschaft in der Weise, daß jeweils unterschiedliche Diffe­ renzierungsprozesse maßgeblich sind (vgl. Tenbruck 1972: 54—71). Diesen Gedanken hat Nik­ las Luhmann aufgegriffen, der sagt, die Komple­ xität einer Gesellschaft hänge davon ab, welches Prinzip für die primäre Differenzierung gewählt werde: archaische Gesellschaften seien in ihrer Primärstruktur segmentär differenziert, Hochkul­ turen schichtungsmäßig differenziert, die moder­ ne Gesellschaft dagegen funktional differenziert (vgl. Niklas Luhmann 1975a: 198). Das Schlüs­ selargument einer Theorie des evolutionären Entwicklungsstandes einer Gesellschaft ist also ihr jeweils aktualisiertes Differenzierungspoten­ tial, oder mit anderen Worten: ihr als gewisser­ maßen linear unterstelltes Ausdifferenzierungs­ niveau innerhalb der gesellschaftlichen Teilsy­ steme. ,,Der entscheidende evolutionäre Zuge­ winn (. . .) liegt ( . . . ) in der Entflechtung tra­ ditioneller Strukturen ( . . . ) und damit in der gesellschaftlichen Freigabe und Aufdauerstellung der spezifischen funktionalen Eigenthematik und Eigenrationalität etwa der Wirtschaft, der Politik, des Rechts, der Wissenschaft, der Reli­ gion, der Famüie usw.“ (Tyrell 1978: 176). Der Prozeß der Entdifferenzierung treibt die ge­ sellschaftliche Verflechtung allerdings noch ein erhebliches Stück weiter, da sich die gesellschaft­ lichen Teilsysteme nicht nur im Hinblick auf kulturell-normative Muster interpenetrieren, son­ dern weil darüber hinaus der ausdifferenzierte Handlungszusammenhang eines gesellschaftlichen Teilsystems in der Weise umgebildet wird, daß auch Fremdfunktionen und unspezifische Rol­ lenkontexte neu in den Verhaltensorganismus aufgenommen werden. Während Interpenetration im Grenzbereich von Kultur und Sozialsystem bzw. Sozialsystem und Personalsystem eher die Funktion einer Internalisierung ausübt, etwa in dem Sinne, wie komplexe Umweltsysteme für den Aufbau eines unbestimmten personalen Sy­ stems aktiviert werden können (Luhmann 1977), bildet Entdifferenzierung eine aus der System­ verbundenheit resultierende Schranke zu weite­ rer funktionaler Spezialisierung und signalisiert den Umschlag, in dem wieder Fremdmechanis­ men, Fremdstrukturen und Fremdfunktionen in Einen modifizierten Ansatz vertritt Lipp (1971). Lipp stellt den Prozessen der Differenzierung das eigene Bezugsfeld eingebunden werden. und den aus diesen Prozessen resultierenden Polarisierungen, d.h. sich feindlich gegenüber­ Aus dieser Darstellung ist zu resümieren, daß stehenden Wertbereichen das Modell eines re­ Entdifferenzierung nicht direkt aus dem Parsonsschen Begriffszusammenhang ableitbar ist, duktiven Mechanismus gegenüber, das durchaus sondern als ein strukturell neuartiger Prozeß zu auch devolutive Komponenten enthält. Die Pola­ verstehen ist. Gleichwohl ist Entdifferenzierung, risierung des sozialen Lebens, d.h. die strategi­ wie bereits oben betont, als ein evolutiver Vor­ sche antagonistische Normverletzung, erfordert gang anzusehen. Sie folgt der Phase der Ausdif­ geradezu die Generalisierung von Werten, die Ge­ ferenzierung, wenn auch ihre Prozesse oft syn­ neralisierung von polarisierten Identitäten, die vom Kreislauf des Handelns und der sozialen chron verlaufen. Die Ausdifferenzierung wie­ Funktionen nicht mehr erreicht werden (Lipp derum befaßt sich mit der strukturellen Tren­ 1971: 377). Die Generalisierung bildet die Rück­ nung ursächlich fusionierter, gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge, d.h. sie folgt einem beziehung von Funktionen auf einen gemeinsa­ men Nenner, auf eine Grundfunktion. Insoweit undifferenzierten Gesellschaftsstatus. ist die Generalisierung als Resultante eines reduk­ Diese aus heuristischen Gründen entwickelte Ty­ tiven Mechanismus zu begreifen (Lipp 1971: pologie unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen 377). Das von Lipp entworfene systemtheore­ Unauthenticated tischorientierte Modell des reduktiven Mechanis­ ist vor dem Hintergrund der Interpretation Download Date | 2/13/17 10:48 PM der Zivilisation gesellschaftlichen Wandels zu beurteilen. In der mus zeichnet die Entwicklung 320 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1979, S. 315 - 329 als Transformationsprozeß nach, „in welchem Werte und normative Ordnungen, soziale Kontrollinstanzen kontinuierlich durch ihre Bezugs- * faktoren, durch Interessen, Handlungsmotive und Bedürfnisse substituiert werden. Es wird festgehalten, daß diese Faktoren ( . . . ) in se­ quentieller Schaltung dabei ihrerseits die Funk­ tionen von Führungswerten übernehmen“ (Lipp 1971: 380). „Reduktive soziale Mechanismen bewirken (. . .) historisch so gesehen die Aus­ koppelung der Religion, des religiös bestimm­ ten Kulturlebens durch die in Funktion treten­ den Systeme des Naturrechts; im nächsten Schritt die Ablösung des Rechts durch den Re­ gulierungsfaktor der Politik ( . . . ) , schließlich aber das Zurücktreten der Politik zugunsten der Dominanz des Wirtschaftslebens“ (Lipp 1971: 378). chen vorgestellt werden. Wenn es auch noch ein weitgehend unerforschtes Feld ist, in welchen sozialen Teilbereichen die verschiedenen Diffe­ renzierungsprinzipien wirksam sind, so scheint es doch wichtig zu sein, ihre charakteristischen Merkmale zu typisierenden Gestaltkonfigura­ tionen zusammenzufassen. Der erste Problemkomplex bezieht sich auf den sogenannten „undifferenzierten“ Status nicht­ entwickelter Gesellschaften. Dabei wird oftmals ohne hinreichenden empirischen Fundus unter­ stellt, daß ihre Funktionszusammenhänge derart miteinander verflochten sind, daß sie allenfalls analytisch unterscheidbar sind. Im Kontrast zu hochdifferenzierten Gesellschaften werden auf dem Boden der Differenzierungstheorie die nicht­ entwickelten oder „primitiven“ Gesellschaften als segmentär differenziert oder funktional diffus Die insgesamt vor dem differenzierungstheoreti­ bzw. undifferenziert-multikfunktional bezeich­ schen Hintergrund entwickelten Ansätze zur Er­ net, und zwar seit Dürkheim in dem Sinne, daß klärung evolutiver Prozesse in der Gesellschaft sich die Gesellschaft in ein segmentäres Neben­ spielen eine zentrale Rolle, doch offenbart die einander von strukturell immer gleichen sozia­ ausschließliche, auf die funktionsspezifische Aus­ len Einheiten unterteilt (vgl. Tyrell 1978: 177). differenzierung konzentrierte Betrachtungsweise Das bedeutet, daß zwar eine segmentäre Gliede­ ein konzeptuelles Defizit. Deshalb wird vorge­ rung, jedoch keine funktionale Gliederung exi­ schlagen, das eher linear vorgesehene evolutio­ stiert und die gesellschaftlichen Teile miteinan­ näre Differenzierungskonzept der Gesellschaft der nur minimal verflochten sind. durch eine Typologie zu ersetzen, die neben der Steigerung der gesellschaftlichen Differenzierung Trotz der individuellen Funktionsvielfalt, der un­ auch strukturell andersartige Prozesse der Ent­ spezifischen, vielheitlichen Rollenstrukturen, be­ differenzierung in ihr Kategoriensystem einbe­ herrschen eindeutige Regulationsmechanismen zieht. das Zusammenleben. Der individuelle Handlungs­ spielraum ist entsprechend tradierten Mustern Die Schematik oder Typologie der undifferen­ eingeschränkt: machbar ist das Notwendige, das zierten, ausdifferenzierten und entdifferenzierten den Bestand der Gesellschaft erhält, wobei die gesellschaftlichen Struktur vermag daher das Verknüpfung mit dem naturhaften Geschehen Grobgerüst für eine sozialhistorische Analyse sehr eng ist. Diese Umstände führen als Folge zu büden, mit der eine Aufarbeitung höchst un­ die hohe gesellschaftliche Transparenz herbei. terschiedlicher Gesellschaftsformen möglich ist. Hoch bedeutsam ist vor dem Hintergrund des Zwar besteht die Gefahr, daß das dreiteilige scheinbar organisch gewachsenen, durch mate­ Grundschema aufgrund seiner überzeichnenden rielle und Sinnintegration gekennzeichneten so­ Vereinfachung kritisiert wird, oder auch schnell zialen Systems die personale Interdependenz: zu einer Formel erstarrt, doch dient es in erster legitime Handlungserwartungen richten sich Linie der Illustration für eine empirisch sich ab­ nicht an anonyme Institutionen und Rollenträ­ zeichnende Entwicklung, die unter der alleini­ ger, sondern an den nächst erreichbaren Inter­ gen Perspektive der gesellschaftlichen Ausdiffe­ aktionspartner, und zwar aufgrund einer trans­ renzierung theoretisch nicht mehr adäquat er­ parenten Kompetenzverteilung an ihn „persön­ faßt werden kann. lich“. Das tragende Prinzip dieses Handlungs­ musters ist das auf Gegenseitigkeit beruhende, Unauthenticated Im folgenden sollen prototypisch einige Struk­ homogenes Sinnpotential voraussetzende Soli­ Download Date | 2/13/17 10:48 PM turmerkmale von unterschiedlich differenzierten daritätsprinzip des gesellschaftlichen Personals Gesellschaften und gesellschaftlichen Teilberei­ untereinander. E. Buß/M. Schöps: Die gesellschaftliche Entdifferenzierung Nach Parsons sind die „primitiven“ Gesellschaf­ ten deshalb undifferenziert, weil sie die zentra­ len gesellschaftlichen Funktionen nicht trennen, sondern im engen Strukturkontext des Ver­ wandtschaftssystems abwickeln. Damit wird ge­ wissermaßen eine multifunktionale Monostruk­ tur des verwandtschaftlichen Systems behauptet. Während in der ausdifferenzierten Gesellschaft der Neuzeit das zentrale Gliederungsprinzip die Funktion ist, d.h. daß bestimmten gesellschaft­ lichen Teilbereichen spezifische Funktionen zuge­ ordnet werden, verhält sich die undifferenzierte Gesellschaft gegenüber der Zuordnung von funk­ tionsspezifischen Kriterien wie z.B. öffentlich und privat, Arbeit und Freizeit usw. neutral. Au­ tonome Teilbereiche mit Zuständigkeitskompe­ tenzen oder eine Verteilung gesellschaftlicher Funktionen auf relativ selbständige Subsysteme sind per definitionem nicht gegeben. 321 niveau korrespondiert eng der zweiseitige Pro­ zeß der Funktionsspezialisierung und der Zustän­ digkeitsverweisung an das entsprechende gesell­ schaftliche Teilsystem. Konkret gesprochen bringt die gesellschaftliche Ausdifferenzierung die Sphäre der „reinen“, hochdisziplinierten Arbeit hervor; die Monopoli­ sierung der legitimen physischen Gewaltverhält­ nisse beim Staat; die „Verstaatlichung“ der Rechtsnormen; die Säkularisierung des Alltags­ lebens; den Rückzug der Kirchen auf eine eigene Zuständigkeitssphäre, die strukturelle Entflech­ tung der Gesellschaft wie z.B. die Entfamüialisierung der Politik und der Wirtschaft; die Entökonomisierung und Entpolitisierung und damit die Privatisierung der Familie. Unterteilung und Spe­ zialisierung nach Funktionen setzen voraus, daß unterschiedliche, partikulare Handlungsdimensio­ nen - religiöses, politisches, wirtschaftliches und Mit dieser eher universalistisch geprägten Inter­ familiales etc. Handeln — erkannt und ausgefüllt pretation des gesellschaftlichen Funktionsrah­ werden können. Soziale Ausdifferenzierung ist mens lassen sich zwar charakteristische Aussa­ also keineswegs zu verwechseln mit gesellschaft­ gen über die Sozialstruktur undifferenzierter Ge­ licher Arbeitsteilung, die ja lediglich eine Vertei­ sellschaften treffen, doch ob die immanent po­ lung von Personen auf verschiedene Funktionen stulierte Undifferenziertheit positives Struktur­ meint. Die einzelnen Teilbereiche sind zumeist merkmal ist, bleibt umstritten. Tyrell hat auf analytische Konstrukte. Sie bedeuten spezifische die Unausgewogenheit des Kontrasts zwischen Handlungsthematiken, Rationalitätsmuster und primär segmentärer und primär funktionaler Sinnkontexte. Differenzierung hingewiesen, da es nicht unbe­ denklich sei, zentrale Problemlagen primitiver Im Rahmen der funktionalen Spezialisierung ent­ Gesellschaften weitgehend vom Differenzierungs­ ledigen sich die einzelnen sozialen Teilbereiche niveau der Moderne aus rekonstruieren zu wol­ systemfremder Funktionen. Die Familie agiert len und das waltende sachliche Differenzierungs­ nur noch in pratikularen, als familial definierten prinzip primitiver Gesellschaften nicht eigent­ Handlungsdimensionen, die Wirtschaft entspre­ lich zu nennen (vgl. Tyrell 1978: 178-179). chend in ökonomischen, die Politik in öffentli­ chen etc. Mit der quantitativen Reduktion der Während unter einem differenzierungstheoreti­ subsystemeigenen Funktionen werden die gesell­ schen Gesichtspunkt angenommen wird, daß schaftlichen Erwartungen an die Qualität und sich die erforderlichen gesellschaftlichen Funk­ Effektivität ihrer Realisierung heraufgesetzt. tionen in „primitiven“ Gesellschaften durch Sinnintegration legitimieren und vor allem in Gleichzeitig schirmen sich die Teilbereiche struk­ einem fusionierten Kontext institutionalisiert turell gegen externe direkte soziale Kontrolle ab. werden, wird im Zuge einer höheren sozialen Dies bedeutet nicht, wie Tyrell (1976: 396) Ausdifferenzierung das gesellschaftliche Perso­ klargelegt hat, Unabhängigkeit oder Autarkie, nal auf Dauer in spezialisierte Rollen gedrängt, sondern „Reduktion der legitimen Chancen auf bis sich schließlich funktional autonome Teil­ Intervention und Steuerung der Binnenprozesse systeme bilden (Wirtschaft, Recht, Familie usw). der betreffenden Sphäre von außen“, und kenn­ Der Strukturtypus der ausdifferenzierten Ge­ zeichnet den Tatbestand der „relativen Autono­ sellschaft produziert ein klares Funktionspro­ mie“ der sozialen Teilbereiche. gramm, das gewissermaßen zur Leitformel für Unauthenticated partikulare Handlungsdimensionen in den unter­ Mit der funktionalen Entlastung und der gestei­ Download Date |Autonomie 2/13/17 10:48geht PM die gesteigerte schiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen gerten relativen avanciert. Mit dem wachsenden Differenzierungs­ funktionale Interdependenz der ausdifferenzier- 322 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1979, S. 315 - 329 ten gesellschaftlichen Teilbereiche zusammen: Da die einzelnen Teilbereiche ihrerseits nun nur noch für spezielle Leistungen kompetent sind, wächst ihre Abhängigkeit von der Leistungser­ bringung der anderen Teilbereiche. Gleichwohl entwickeln die verschiedenen Subsysteme vor dem Hintergrund der funktionalen Entlastung eine ihre strukturelle Eigenständigkeit unterstrei­ chende Eigendynamik. Dieser Prozeß mündet ein in die strukturelle Exklusivität der Teilbe­ reiche. Die thematische Zentrierung der ausdifferenzier­ ten Subsysteme, d.h. die Eliminierung von Sinn­ komponenten und Motivlagen, die innerhalb des Subsystems als sinnfremd erscheinen, kommt dem Prozeß der Eigendynamisierung helfend ent­ gegen. (Z.B. verschwindet das ökonomische Kal­ kül aus dem familialen Zusammenleben. Intimi­ tät und Solidarität werden betont und Affekti­ vität in besonderem Maße zugelassen.) Es entwickeln sich teilsystem-spezifische Interak­ tionsstile, die die Orientierung erleichtern und zugleich auf der Handlungsebene die System­ grenzen durch unterschiedliche Verhaltensmodi signalisieren. Dem Prozeß einer potentiellen Desintegration der Teilbereiche, deren Heterogenität sich mit fortschreitender Ausdifferenzierung permanent verstärkt, wirkt das Postulat der Kompatibilität der Teilbereiche entgegen: Nicht nur strukturell, sondern auch funktional und zeitlich muß die Möglichkeit des Nebeneinanderexistierens einer Pluralität heterogener, funktional jeweils ganz unterschiedlich spezialisierter Teilsysteme beste­ hen. Weder dürfen sich die Teilsysteme durch das ihnen eigene kulturelle Orientierungssystem störend auf andere Teilsysteme auswirken, noch darf die innergesellschaftliche Umwelt die einzel­ nen Teilbereiche mit einengenden Existenzbe­ dingungen konfrontieren. Hinzu kommt, daß die Funktionen und Aufgabenstellungen der Teilsy­ steme sich nicht in ihren Intentionen wider­ sprechen und sich in ihrer Wirkung für das um­ greifende soziale System nicht gegenseitig aufheben dürfen. Schließlich müssen die Teilberei­ che zu ihrer Realisierung untereinander zeitlich vereinbar sein. ferenzierung: Nicht nur zwischen den Teilberei­ chen werden Funktionen und Aufgaben verteilt, sondern auch innerhalb der Teilbereiche zeich­ nen sich mehr oder weniger verdeckte Struktu­ ren spezifischer Rollen aggregate ab, die nach Maßgabe einer hierarchischen Binnenordnung auf ihre Mitglieder verteilt werden. So ist die Familie ein eindrucksvolles Beispiel für eine ge­ schlechtsspezifische Binnendifferenzierung, die Mann und Frau jeweils mit unterschiedlichen Status versehene Tätigkeiten zuweist. Ersichtlich wird hieraus, daß die jeweiligen Teilsysteme ei­ nen hohen Informationsgehalt über die in ihnen bereitstehenden und auszufüllenden spezialisier­ ten Rollen und Handlungsdimensionen einschliessen. Die bereitgehaltenen Orientierungsmuster sind sowohl exklusiv, also nicht auf andere Sy­ steme übertragbar, als auch hochartikuliert, also nur äußerst bedingt der individuellen Interpreta­ tion anheimgestellt. Mit zunehmender intersystemischer und binnen­ systemischer Differenzierung geht die Steigerung der Komplexität der Gesellschaft einher. Durch die Lockerung traditionaler Verhaltensbeschrän­ kungen nehmen objektive Handlungsmöglichkei­ ten und -erwartungen zu, d.h. die Welt läßt schließlich mehr Handlungsmöglichkeiten zu, als innerhalb einer begrenzten Zeit Wirklichkeit wer­ den können (vgl. Luhmann 1971: 143—164). Die Konsequenz aus fortgeschrittener sozialer Ausdifferenzierung ist die erhöhte Störanfällig­ keit des Sozialzusammenhangs. Mehr und mehr Steuerungs-, Überwachungs- und Kontrollorga­ ne müssen institutionalisiert werden, um die Integration der Gesamtgesellschaft zu wahren. Es bedarf erhöhter organisatorischer Leistungen, um das Zusammenspiel der Teilbereiche zu ge­ währleisten. Hierzu müssen permanent die kom­ munikative Selbstgenügsamkeit („Fachsprachen“) der Teilbereiche durchbrochen und Verständnis­ schwellen überwunden werden. Diese im Resümee knapp umrissenen Struktur­ merkmale ülustrieren den Wandel von einem undifferenzierten zu einem ausdifferenzierten Gesellschaftstypus. Wie bereits vorher betont, ist jedoch dieser Prozeß von einer segmentären Strukturform zu einer funktionsspezifischen und spezialisierten Gesellschaft nicht so zwangs­ Unauthenticated Parallel zur Ausdifferenzierung der sozialen Teil­ läufig und eindeutig, als sei sie gewissermaßen Download Date | 2/13/17 10:48 bereiche vollziehen sich Prozesse der Binnendif­ unilinear. Vielmehr stoßen wirPMzum Kern eines E. Buß/M. Schöps: Die gesellschaftliche Entdifferenzierung 323 Ein zentrales Strukturkriterium für Entdifferen­ zierungsvorgänge ist der Aspekt der relativen Heteronomie. Er meint, daß spezifische Ord­ nungsprinzipien eines Teilsystems direkt in die Binnensphäre eines anderen gesellschaftlichen Teübereiches eingreifen und dort normativ wirk­ sam werden, d. h., daß zentrale Funktionen eines Teübereiches wie z.B. der Wirtschaft von Fremdthematiken oder Fremdnormen in einer Weise überlagert werden, daß sie einen unauflös­ Das Konzept der sozialen Entdifferenzierung be­ baren Konstitutionszusammenhang büden. Wäh­ rend in der Phase der Ausdifferenzierung die faßt sich mit Strukturmustern, die die ausdif­ ferenzierte Eigenthematik und Eigenrationalität Bildung von Systemgrenzen im Vordergrund steht, die unter dem Gesichtspunkt der relati­ gesellschaftlicher Teilbereiche überlagern. Es zielt auf Kompatibilitäts- und Kongruenzchan­ ven Autonomie gezogen werden, bedeutet die cen, die systemübergreifende Funktionszusam­ relative Heteronomie, daß Werte, Funktionen und Rollen einen übergreifenden Geltungsan­ menhänge ermöglichen, und es stellt letztlich den expliziten Systemcharakter gesellschaftlicher spruch stellen. Teilbereiche insoweit in Frage, als die sozialen Einheiten nicht mehr nur nach Maßgabe der re­ In diesem Zusammenhang sei auf das Institut lativen Autonomie, Kompatibilität und funktio­ der Sozialbilanz in einzelnen Unternehmen ver­ neilen Interdependenz zu untersuchen sind, son­ wiesen, in denen ursächlich exklusive Unterneh­ dern auch nach Gesichtspunkten der funktionel­ mensinteressen auf ihre außerökonomische Wir­ len Verflechtung und strukturellen Assimilation. kungsintensität hin untersucht und ggf. modi­ fiziert werden (Dierkes 1976). Wenn auch die­ Die Entdifferenzierung ist die dritte Stufe in ei­ ser Prozeß erst sehr zögernd an Bedeutung ge­ nem Interpretationsrahmen, der neben der Ent­ winnt, so signalisiert er doch die Intention na­ mentlich großer multinationaler Unternehmen, flechtung und Trennung sozialer Funktions­ bereiche auch die Dimension ihrer neuerlichen eine Synthese zwischen ökonomischer Auto­ nomiesphäre und sozialen Erfordernissen und qualitativ hochentwickelten Überlagerung be­ rücksichtigt. Sozialsysteme können sich danach Funktionen zu schaffen. Das Konzept der Sozialbüanz geht im wesentlichen davon aus, mög­ in einem evolutionären Sinn auch entwickeln, ohne sich zu differenzieren, d.h. ohne neue Teil­ liche Diskrepanzen zwischen ökonomischen und systeme zu bilden, jedoch dadurch, daß sie re­ außerökonomischen Teilbereichen unter der gulative Strukturen formen, die die Möglichkei­ Maßgabe eines um gesellschaftliche Komponen­ ten erweiterten innerbetrieblichen Zielkataloges ten für partielle Systemkongruenz schaffen. Während bislang unter dem differenzierungstheo­ zu minimieren. Die relative Heteronomie sozialer retischen Standpunkt angenommen wurde, daß Teilbereiche bedeutet also, daß im Hinblick auf ,,von einer gewissen (ziemlich geringen) Schwel­ die eigene Stabüisierung sowie im Hinblick auf le der Komplexität ab Sozialsysteme, wie übri­ den Erfolg des gesellschaftlichen Gesamtsystems gens alle Systeme, nur noch weiterwachsen, in­ Teübereiche wie Wirtschaft, Medizin, Bürokratie dem sie sich differenzieren, d.h. Teile bilden, die und andere sich dem Geltungskontext von Hand­ ebenfalls Systemcharakter haben, also eigene lungsnormen öffnen, die ihnen nicht direkt zu­ Grenzen stabil halten und ( . . . ) eine gewisse zuordnen sind und deren Genese sich in anderen Autonomie besitzen“ (Luhmann 1967: 629), Teilbereichen der Gesellschaft vollzog. weisen die Entdifferenzierungsprozesse auf eine qualitativ neue Form der gesellschaftlichen Ent­ Während sich in der Phase der Ausdifferenzie­ wicklung hin. Nach ihrer funktionalen Bedeu­ rung soziale Teilsysteme in ihrer strukturellen tung für das von Luhmann zu Recht benannte Exklusivität und Exponiertheit gegen Fremd­ zentrale Problem der Komplexitätsreduktion funktionen abschirmen, schaffen andererseits die sind Prozesse der Ausdifferenzierung und Ent­ Entdifferenzierungsprozesse ein breites Angebot differenzierung zu unterscheiden. Im folgenden von Handlungsmustern, Unauthenticated die explizit systemfrem­ Date Dabei | 2/13/17 10:48 PM sollen einige Merkmale der sozialen Entdifferen­ derDownload Natur sind. werden die spezifischen zierung vorgestellt und erläutert werden. Orientierungsnormen im Binnenmüieu der Teil- Vergleichs in einem evolutionären Sinn unter­ schiedlicher Gesellschaftsstadien und Gesell­ schaftstypen erst vor, wenn wir die Entdifferen­ zierung als prinzipiell neuartigen Strukturtypus begreifen. Im Modell der dreiteiligen Gesell­ schaftstypologie spielt die Entdifferenzierung jene qualitativ neue Ordnungsrolle, die die struk­ turelle Assimilation von hochgradig ausdifferen­ zierten Teilbereichen vorsieht. 324 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1979, S. 315 - 329 Systeme in einer Weise erweitert, daß ihr über­ akzentuierter Ausschließlichkeitsanspruch aufge­ hoben wird. Dies bedeutet nicht, daß sich gesell­ schaftliche Teilbereiche ausschließlich unter der Maßgabe der Kompatibilität entwickeln, um ge­ genseitige Blockierungen und Störanfälligkeiten zu verhindern. Dies bedeutet auch nicht, daß sich die Teilsysteme im Hinblick auf die rein funktionelle oder interessengesteuerte Interde­ pendenz ausformen. Vielmehr liegt die entschei­ dende Leistung der Entdifferenzierung darin, daß Funktionen, Interessen und diskutable The­ men nicht a priori in den ausschließlichen Zu­ ständigkeitsbereich eines Teilsystems verwiesen werden, sondern intermediär sind in der Art, daß ihre Bedeutung, Reichweite und Wirksam­ keit verschiedenen gesellschaftlichen Teilberei­ chen zurechenbar werden. Unter dem Aspekt der dreiteiligen Strukturtypologie der un-, ausund entdifferenzierten Gesellschaftsform bedeu­ tet dies, daß sich funktional ausdifferenzierte soziale Teilbereiche nicht nur nach Maßgabe der Sachkompatibilität entwickeln können, sondern im Gegenteil auch ihren ausschließlichen funk­ tionalen Zuständigkeitsanspruch einbüßen kön­ nen. Es wächst die Zahl der Funktionen, die sich gegenüber der exklusiven Zuordnung zu be­ stimmten sozialen Teilbereichen neutral verhal­ ten. Im Zuge der Ausdifferenzierung erreichen die Eigendynamik und die sogenannte themati­ sche Reinigung ihren Grenznutzen: Durch die Übernahme von ursächlich aus dem Außenbe­ reich stammenden Funktionen, Rollenerwartun­ gen und Themen gewinnt die ausdifferenzierte Binnensphäre eines sozialen Teilsystems qualita­ tiv neuartige und materiell entdifferenzierte Konturen. Dagegen weisen die Entdifferenzierungsprozesse auf gegenläufige Erscheinungen, in denen gerade Rollenanforderungen von Fremdsystemen direkt und unmittelbar in andere soziale TeÜbereiche hineinstrahlen. Rollenkonfigurationen sind vor diesem Hintergrund nicht mehr ausschließlich thematisch gebunden, nicht mehr nur an eine spezifische funktionelle Zuständigkeit geknüpft, sondern werden kompatibel und verhalten sich gegenüber einer bestimmten Systemzuordnung neutral. Rollenerwartungen — und das ist für entdifferenzierte Gesellschaftsformen typisch — unterliegen einer legitimen Einmischung von außen, d.h. Binnen- und Außengrenzen sozialer Teilbereiche verlieren ihre scharfen Konturen. Neutralisierte Rollenkonfigurationen begründen höhere Assimilierungschancen sozialer Teilbe­ reiche. In dem Maße, in dem gesellschaftliche Teilsyste­ me ursächlich fremde Themen und normative Rollensegmente nicht nur in ihr funktionelles Kalkül ziehen, sondern auch zur verinnerlichten Richtschnur ihres Handelns machen, überlagern sich die ausdifferenzierten Systeme und werden in einem gewissen Sinne subsidiär und unspezi­ fisch. Dies bedeutet, daß die systemintern gebo­ tene funktionale Spezialisierung auf entspezialisierte Rollenkonstellationen trifft, die ihre be­ grenzte Zuständigkeit eingebüßt haben. An der sich neuerdings abzeichnenden Kritik, daß in der Planungsbürokratie Interessen der Familie vernachlässigt werden, läßt sich der Trend zu einer mehr entdifferenzierten Betrach­ tungsweise der sozialen Wirklichkeit ablesen. Die Rollenkonstellation des Famüienvaters ist unter diesen Vorzeichen nicht ausschließlich auf das familiale Teilsystem beschränkt, sondern Ein weiteres Merkmal für Prozesse der Entdif­ wird gewissermaßen auf bürokratische Prozesse ferenzierung ist die Rollenkompatibilität oder die Neutralisierung von Rollenkonfigurationen. transferiert. Verwaltungsentscheidungen werden Wenn die Ausdifferenzierung von Teilsystemen nicht mehr nur nach eigenbürokratischen Vorga­ ben und nach Maßgabe funktionaler Verwaltvorwiegend auf der Rollenebene erfolgt, wie Luhmann z.B. im Falle des politischen Systems barkeit getroffen. Vielmehr dringen Interessen darlegt (Luhmann 1968), so ist zu unterstellen, und Funktionen aus Fremdsystemen, aber auch daß die Rollen innerhalb eines ausdifferenzier­ ganz konkret familiale Rollenkonfigurationen mit ihren normativen Implikationen in das Han­ ten Systems von externen Rollen unabhängig werden. Rollen innerhalb ausdifferenzierter Sy­ deln der Bürokratie. Dies bedeutet, daß das Ei­ gengewicht und die Autonomie systemimmanen­ steme haben miteinander zahlreichere Berüh­ ter Prozesse abnimmt und an ihre Stelle die Be­ rungspunkte als mit den Rollen der Umwelt, d.h., sie werden bis zu einem gewissen Grade rücksichtigung systemfremder oder auch system­ Unauthenticated gegenüber Veränderungen in ihrer Umwelt indif­ unabhängiger Komponenten tritt. In raumplane­ Download Date | 2/13/17 10:48 PM ferent. rische oder städteplanerische Maßnahmen wer­ E. Buß/M. Schöps: Die gesellschaftliche Entdifferenzierung 325 den dann Funktionen und Werte der Menschen eine eigentümliche Doppelnatur: Erstens leistet in ihrer Eigenschaft als Familienmitglied und sie nach wie vor die Voraussetzung für die sy­ Planungsmitarbeiter einbezogen. Die Rollenkon­ stemintern gebotenen Binnenprozesse und Funk­ figuration im entdifferenzierten System ist nicht tionen, doch zweitens erleichtert die entdiffe­ unabhängig von externen Rollen, d.h. mit der renzierte Rollenkonstellation die Orientierung Entdifferenzierung geht insoweit auch eine Ent­ in Fremdsystemen und vor allem die normative bürokratisierung der Bürokratie, eine Entökono- Kompatibilität der gesellschaftlichen Teübereimisierung der Wirtschaft usw. einher. che untereinander. Gleichzeitig werden die insti­ tutioneil überakzentuierten Funktionen in den Im Zusammenhang mit der städtebaulichen ausdifferenzierten Teilsystemen in der Weise um­ Raumplanung gibt es in jüngerer Zeit Hinweise geformt, daß sie nicht mehr systemspezifisch, für eine entdifferenzierte Betrachtung. Zwar bil­ sondern systemüberlagernd sind. Dadurch lassen det der lokale Zusammenschluß der sozialen sich Entfremdungserscheinungen, die ja zu einem Handlungsfelder Arbeiten, Wohnen, Einkäufen, stabilitätsgefährdenden Merkmal ausdifferenzier­ Freizeit noch nicht direkt ein Element der Ent­ ter Gesellschaften geworden sind, in ihrer Wir­ differenzierung, aber es könnten mittelbar durch kungsweise tendenziell verringern. Die Aufgabe eine größere Verschränkung von Zeitbudgets und des Autonomieanspruchs sozialer Teübereiche durch eine gegenseitige Transparenz der Hand­ führt neben der Übernahme von Fremdfunktio­ lungsfelder langfristige Faktoren der Entdifferen­ nen ja auch zu einer Generalisierung sozialer zierung gefördert werden. Normen. Daraus resultiert nicht zuletzt eine Art Klammer der sozialen Orientierung über die he­ Auch innerhalb des famüialen Rahmens werden terogenen Teübereiche. in zunehmendem Maße Komponenten der Ent­ differenzierung wirksam. Die neuartige Konstel­ Ein weiteres Strukturkriterium der Entdifferen­ lation der partnerschaftlichen Ehe signalisiert zierung ist ihr Öffentlichkeitsbezug. Es wurde im mikrosoziologischen Bereich, daß die exklu­ bereits angesprochen, daß gegenüber der eher sive Korrespondenz von geschlechtsspezifischer defensiven Komponente der Ausdifferenzierung famüialer Rolle und Funktion in der traditionel­ die Entdifferenzierung einen offensiven Charak­ len Form nicht zwangsläufig aufrechterhalten ter hat. Das bedeutet, daß die Rollen- und wird. Vielmehr bewirkt ein Rollentransfer inner­ Funktionszuweisungen in den gesellschaftlichen halb der familialen Binnenspäre, daß sich Ele­ Teüsystemen nicht mehr gegen externe soziale mente der Partnerschaftlichkeit, unterstützt Kontrollen und Themeneinflüsse abgeschirmt, durch die positiv bewertete Berufstätigkeit der sondern mit einer neuartigen öffentlichen Sensi­ Frau und die positive Beurteüung des demokrati­ bilität ausgestattet sind. Der ursächlich offensi­ schen Stüs, durchsetzen können. Durch die Ein­ ve Charakter der Öffentlichkeit liegt darin, daß bringung eines ursächlich fremdfamüialen Ele­ sie Rollenanforderungen neutralisiert, die aus ments wir des demokratischen Stils erzielt die den ausdifferenzierten Teilsystemen der Gesell­ Bindung zwischen den Beteüigten eine höhere schaft stammen (Luhmann 1975b: 21). Variabilität in der Wahrnehmung und Ausübung von Rollenanforderungen. Der in diesem Zusammenhang intendierte Sinn des Öffentlichen liegt nicht in einer fingierten Auch die Rechtsfigur des Ehevertrags deutet Übereinstimmung gesellschaftlicher Werte, son­ auf die gegenseitige Durchdringung von Hand­ dern in der sehr expliziten Projektion von lungsnormen aus unterschiedlichen sozialen TeÜ- Handlungsnormen eines Teilsystems auf andere bereichen hin. Mit der notariell beurkundeten Teilsysteme. Der Öffentlichkeitsbezug der Ent­ Regelung rein ökonomischer Vermögensansprü­ differenzierung neutralisiert daher die Relevanz che hält das wirtschaftliche Kalkül wieder Ein­ des Binnenmüieus und die Überakzentuierung zug in den famüialen Bereich. systemimmanenter Rollenkonstellationen. Ihre Wirkung liegt vor allem darin, Selbstbindungen des einzelnen in den diversen Teüsystemen auf­ Durch den Rollentransfer und durch die Ein­ bringung und Übernahme ursächlich systemfrem­ zuheben (Luhmann 1975b: 21) und in einer Unauthenticated Sphäre materiell der Themen und Funktionen erhält die Rollen­ gewissermaßen neutralisierten Download Date | 2/13/17 10:48 PM Reintegrationsleistungen zu erzeugen. konstellation in entdifferenzierten Teüsystemen neue 326 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1979, S. 315 - 329 Die Entdifferenzierungsprozesse bilden ein struk­ turell neuartiges Netz quasi öffentlicher Bezie­ hungen, die sich zu sozialen Reintegrationsmu­ stern zusammenknüpfen. Ihre Besonderheit liegt weniger darin, daß sich die Funktionen der Teil­ systeme nach wie vor ausdifferenzieren können, als vielmehr darin, daß diese überakzentuierten, spezialisierten Funktionen an Bedeutung verlie­ ren und an deren Stelle ein auf Reintegration und Konsensus basierender Beziehungszusam­ menhang der Teüsysteme tritt. In der relativ autonomen Binnensphäre sozialer Teübereiche wandelt sich der Wirkungsgrad öf­ fentlicher und systemfremder Meinungs-, Funktions- und Themenbildung. Zur Eigendynamik der Teilsysteme tritt die Fremddynamik anderer Systeme. Das heißt, daß sich die ausdifferenzie­ rungstypische Konzentrierung der Teilsysteme auf spezifische Interaktionsstile und Funktions­ arten allmählich in ihr Gegenteü wendet und sich gegenüber externen sozialen Kontrollmechanismen öffnet. Dadurch erweitern sich die Chan­ cen, auf die Steuerung der Binnenprozesse von außen einzuwirken und zu einem unspezifischen Interaktionsstil beizutragen. Außenkontrollen werden legitim und tragen zu neuen Sinnge­ bungsprozessen innerhalb der Teilbereiche bei. Dies wird besonders bei dem neuerlich zu beob­ achtenden Strukturwandel der Wirtschaft deut­ lich. Die ökonomischen Entscheidungsprozesse namentlich in überregionalen und multinationa­ len Unternehmen unterliegen einem wachsen­ den Spannungsfeld betriebswirtschaftlicher wie auch gesellschaftlicher und sozialpolitischer Komponenten. Am Beispiel der Diskussion über die Arbeitslo­ sigkeit und die Bereitstellung von Arbeitsplätzen läßt sich ablesen, inwieweit das Öffentlichkeits­ prinzip eine geradezu institutionalisierte Rele­ vanz erhalten hat und das ausdifferenzierte Sy­ stem der Wirtschaft der bindenden Wirkung fremdökonomischer Werte und Funktionen un­ terstellt. Unter dem Titel der sozialen Verant­ wortung macht die Entdifferenzierung als Mittel sozialer Integration insoweit Karriere, als kon­ kret nach Möglichkeiten gesucht wird, ökono­ mische und außerökonomische Funktionen und Ziele aufeinander beziehen und sie zusammen in das Entscheidungskalkül eines Unternehmens integrieren zu können. Öffentliche, d.h. in diesem Fall nicht-ökonomi­ sche Interessen und ökonomische Interessen gehen eine bislang nicht gekannte Wahlverwandt­ schaft ein. Die zunehmende wechselseitige Durchdringung wirtschaftlicher und gesellschafts­ politischer Sinnbezüge findet in einer entdifferenzierten Zone sowohl gesellschaftsbezogen agierender Unternehmen wie wirtschaftsbezogen agierender sozialer Organisationen statt. Der Plausibilitätsverlust der immer wieder zitierten Eigenrationalität des Marktes büdet in dieser Hinsicht nur ein, wenn auch sehr markantes Zei­ chen für den neuen Status wirtschaftlichen Han­ delns. Dieser zunächst kritische Entdifferenzie­ rungsprozeß wird problematisch in dem Sinne, daß sich unternehmerisches Kalkül mit außer­ ökonomischen Publikumswerten und gesell­ schaftlichen Themen auseinanderzusetzen hat. Die Thematisierurig des Umweltschutzes oder der Sozialbilanzen liefert Hinweise, in welchem Umfang Investitionsentscheidungen über die Schranken privater Unternehmensautonomie ge­ hoben werden. Dabei handelt es sich primär weniger um eine Auseinandersetzung zwischen den Unternehmern, konkurrierende Marktansprüche besser zur Gel­ tung zu bringen, als vielmehr um einen Prozeß der Ausbalancierung und strukturellen Assimi­ lation ökonomischer Individualinteressen und öffentlicher Interessen. Im theoretischen Grenz­ fall sind ökonomische und nicht-ökonomische Interessen identisch, d.h. im Zuge der Entdif­ ferenzierung gleichen sich die Interessen und Sinnbezüge des ökonomischen Systems und an­ derer Systeme an. Dieser Vorgang hat soziologisch betrachtet er­ hebliche Konsequenzen: Im Vollzug außerwirt­ schaftlicher, d.h. ursächlich systemfremder In­ teressen wird das strukturelle Konfliktpotential reduziert, das sich in einer ausdifferenzierten, ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunk­ ten fungierenden Wirtschaft entfalten würde. In dieser spezifischen Antizipation systemfremder Interessen, Themen und Funktionen realisiert sich die Reintegrationsgestalt der sozialen Ent­ differenzierung. Zugleich, und dies ist der zwei­ te Aspekt, entwickeln sich in ihr die systemübergreifenden Stabilisierungsfunktionen öffent­ licher Kontrollmechanismen. Unauthenticated Download Date | 2/13/17 10:48 PM E. Buß/M. Schöps: Die gesellschaftliche Entdifferenzierung Es handelt sich demnach bei der Entdifferenzie­ rung nicht um eine Umweltkompatibilität, son­ dern um die Assimilation sozialer Teilbereiche, ihrer Sinnbezüge, Interessen und Funktionen. Daraus resultiert, daß soziale Kontrollmechanismen entstehen, die systemüberlagernden Charak­ ter haben. An die Stelle systeminterner Inter­ ventionsrechte treten systemexterne Kontrollinstanzen. Ihre entdifferenzierenden Mechanismen begrenzen das latente Ausdifferenzierungspoten­ tial gesellschaftlicher Teilbereiche und führen zu einer besseren Erfassung und Reduktion der so­ zialen Komplexität. 327 angesichts der individuellen Ohnmacht vor den unüberschaubaren Strukturen und Sachgesetzlichkeiten sekundärer Systeme kumuliert, und letztlich aus dem gesellschaftlichen Sinnent­ zug, der mit dem Maße der Ausdifferenzierung und Komplexität zu korrespondieren scheint, resultiert der prinzipiell neuartige Plausibilitäts­ verlust traditionell gewachsener Gesellschaftsfor­ men. Es ist naheliegend, daß eine solche Ent­ wicklung veränderte Motivationskonstellationen schafft, die auf eine Rückkehr zu überschauba­ ren und organisatorischen Handlungsweisen zielt. Die Medizin bietet in diesem Zusammenhang ein treffendes Beispiel: Während in undifferen­ zierten Gesellschaftsformen die Bedeutung des Medizinmannes aus dem institutionalisierten Zusammenwirken physischer, geistiger und psy­ chischer Komponenten im Heilungsverfahren resultiert, hat sich im Verlauf der industriellen Entwicklung die Medizin als soziales Teilsystem unter dem ausschließlichen Aspekt der Behand­ lung von Einzelorganen funktional ausdifferen­ ziert. Parallel dazu vollzog sich eine drastische Entwicklung von apparativen Verfahren unter Nutzung von chemotechnischen und biotechni­ Stark spezialisierte Teilbereiche werden, wie schen Behandlungsmethoden. Die neuerlich wie­ bereits ausgeführt, komplementär und funkti­ der wachsende Bedeutung des Hausarztes bzw. onal abhängig. Die Komplementarität schafft die Institutionalisierung des Facharztes für All­ deshalb neuartige Integrationsprobleme, da gemeinmedizin, die Anerkennung naturkund­ auf jeder höheren Ausdifferenzierungsstufe es licher Heilverfahren, die stärkere Berücksichti­ schwieriger wird, die spezialisierten Hand­ gung psychischer Komponenten charakterisieren, lungsketten in die Außensysteme zu integrie­ daß in der Medizin die Schranken für weitere ren (Eisenstadt 1964: 376). Dadurch wird nicht nur die Einsicht in die gesamtgesellschaft­ Ausdifferenzierungsprozesse erkannt worden liche Homogenität erschwert, sondern es findet sind. Zwar bedeutet dies nicht den Verzicht auf technisch-apparative Errungenschaften, aber als auch eine organisatorische Belastung in den Ursachen für Krankheiten werden in zunehmen­ hochdifferenzierten Teilbereichen statt. Denn in dem Maße der Funktionsspezialisierung wach­ dem Maße nicht nur rein organische Störungen, sondern auch der sozial-psychische Hintergrund sen die organisatorischen Anforderungen, den des Patienten einbezogen. Funktionszusammenhang zu wahren und zu den Fremdsystemen kompatibel zu halten. Wirtschaft und Wissenschaft bilden geradezu Mit der Entwicklung veränderter Motivations­ prototypische Beispiele, wo die organisatori­ konstellationen und Betrachtungsarten zeich­ sche Überlastung nicht nur in der Binnensphä­ nen sich Entdifferenzierungserscheinungen ab, re zu mangelnder Transparenz führt, sondern die unter dem Etikett der Basisprozesse system­ auch im gegenseitigen Verhältnis fühlbare In­ überlagernde Perspektiven eröffnen. Basisprozes­ kompatibilitäten herstellt. se, definiert als nicht-institutionalisierte, quasi autonome Interrelationen, bilden eine wichtige Komponente der sozialen Konfliktregulierung. Aus der organisatorischen Überlastung, Funk­ tionsketten in die Gesamtgesellschaft zu integrie­ Wenn z.B. Mülionen von Frauen autonom und zudem fast synchron die Püle absetzen, wenn ren, aus Entfremdungserscheinungen, die von Unauthenticated die Datenschutzproblematik in den Vordergrund hochbürokratisierten Teilbereichen herrühren, Download Date | 2/13/17 10:48 zahlreicher Diskussionen gerät,PMwenn Bürgerini­ aus einer Art partieller Massenfrustration, die Wenn sich auch die Hinweise auf Prozesse der sozialen Entdifferenzierung vermehren und sich ihre Konturen klarer abzuzeichnen begin­ nen, so ist soziologisch doch unerforscht, wel­ che Strukturprinzipien diese Prozesse in Gang setzen. Unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit und des konzedierten präempirischen Status der Aussagen lassen sich doch Hinweise auf einige Ursachen von Entdifferenzierungsvorgän­ gen finden. 328 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 4, Oktober 1979, S. 315 - 329 tiativen für Umweltschutz und gegen Atomkraft­ werke fechten und wenn z.B. der Club of Rome unter dem Gesichtspunkt der Grenzen des Wachstums vor der Abernte der irdischen Roh­ stoffe warnt, so sind dies nicht mehr als Indizien für die Suche nach schlichten Chancen der Par­ tizipation und nach Selbststeuerungsmöglichkei­ ten innerhalb und zwischen den ausdifferenzier­ ten gesellschaftlichen Teilbereichen. Doch unter einem entdifferenzierungstheoretischen Aspekt bedeutet dies, daß soziale Teilsysteme ihre au­ tonom-funktionale Zuständigkeit allmählich ein­ zubüßen beginnen, Systemüberlagernde Hand­ lungszusammenhänge und Fremdthematiken er­ langen einen höheren Stellenwert ohne gleichzei­ tig die Eigenthematik der jeweiligen Teilbereiche zu vernachlässigen. lierungschancen gesellschaftlicher Teilsysteme. Dies führt jedoch nicht zwangsläufig zu einer Abnahme der Spezialisierung in der Binnensphä­ re, sondern die Entdifferenzierung schafft im Prinzip sogar erweiterte Möglichkeiten der Spe­ zialisierung, deren Entwicklung eher durch die Komponenten der Zeit und der organisatorischen Überlastung gehemmt wird. Die Thematik der sozialen Entdifferenzierung unterstellt also, daß neben den Ausdifferenzierungsprozessen zugleich oder nachgelagert das Entdifferenzierungsprinzip wirkt. Insofern ist es ein Prinzip der hochindu­ strialisierten Gesellschaften. Da vorläufig jeglicher empirischer Fundus fehlt, der seine generelle Be­ deutung umreißen könnte, kann nur spekulativ auf seine wachsende Wirkung in den diversen ge­ sellschaftlichen Subsytemen verwiesen werden. Allerdings häufen sich die Indizien, die die zu­ Entdifferenzierungsprozesse sind insofern höchst nehmende Kraft dieses Prinzips deutlich machen. ambivalent: Zum einen setzen sie zu ihrer Wirk­ samkeit gerade ausdifferenzierte Strukturen vor­ Es ist möglich, daß sich das strukturelle Primat von der Ausdifferenzierung zur Entdifferenzie­ aus, andererseits bilden sie jedoch gleichzeitig die Komponenten, die die relative Souveränität rung verschieben kann. Daher bietet das im ein­ der Teilsysteme wieder in Frage stellen. zelnen noch zu erforschende Kategoriensystem ' der dreiteiligen Strukturtypologie ein Interpreta­ Zugleich jedoch - und dies ist für hochkomple­ tionsraster, an dem konstrastierende Komponen­ xe Gesellschaften entscheidend — begründet die ten unterschiedlicher Gesellschaften und Gesell­ Funktionsüberlagerung, die Themen- und Werte­ schaftsbereiche dargestellt und soziologisch ana­ kompatibilität und die tendenziell wachsende lysiert werden können. Rollenkompatibilität entschieden höhere Assimi- Literatur: Dierkes, M., 1976: Sozialbilanzen in Betrieben. Vorle­ sungsmanuskript zum Seminar Systemtechnik II/ 1976. Hg. Brennpunkt Systemtechnik an der Tech­ nischen Universität Berlin Eisenstadt, S.N., 1964: Social Change, Differentiation, and Evolution. American Sociological Review 29, 375-386 Jensen, S., 1978: Interpenetration - Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme? 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