Abteilung: Sendereihe: Sendedatum: Produktion: Kirche und Religion Gott und die Welt 15.01.2017 09.01.2017 Redaktion: Autor/-in: Sendezeit: Anne Winter Gisela Keuerleber 9.04-9.30 Uhr/kulturradio 9.15-17.00 Uhr/T9 _____________________________________________________________________________ Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt; eine Verwertung ohne Genehmigung des Autors ist nicht gestattet. Insbesondere darf das Manuskript weder ganz noch teilweise abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Eine Verbreitung im Rundfunk oder Fernsehen bedarf der Zustimmung des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg). _____________________________________________________________________________ GOTT UND DIE WELT Rühren, Kneten, Meditieren – Vom Glück des Selbstgemachten Sprecherin: Cornelia Schönwald Regie: Clarisse Cossais 2 1.OT Atmo Käsemachen, rühren, gießen 2.OT Ute Rohrbeck: Der interessante Teil des Käsemachens ist, wenn es in Richtung Abschöpfen geht, der ist so, dass es darauf ankommt, in Zeitlupe hochmeditativ die Sache zu machen, und nicht hektisch schnell darin rumzurühren.... 3.OTAtmo kochen, brodeln 4. OT Reinhardt Da gibt es die Rinderbeinscheibe noch dazu, das ist jetzt hier vom Metzger aus dem Nachbarviertel. 5.OT Praetorius Wenn ich Freunde einlade zum Essen, das ich nicht eingekauft habe im Supermarkt, sondern das ich von Grund auf, sogar vielleicht mit eigenen Gemüse aus dem Garten hergestellt hab, dadurch drücke ich meine Einzigartigkeit aus und das ist was urmenschliches. 6.OT Klingel, Anja Das müsste eigentlich mal raus kommen, sieht gut aus, gut braun, ich glaub ich hol’s einfach mal raus, uh heiß, das ist jetzt mein zweites Brot, beim ersten Mal war es ganz schön feucht innen drin, /ich hab es extra dieses Mal etwas länger gehen lassen...das soll wohl ein bisschen luftiger werden....(Geräusche Küche aufräumen, Mixer) Titelsprecherin: Rühren, Kneten, Meditieren – Vom Glück des Selbstgemachten Eine Sendung von Gisela Keuerleber 7. OT Atmo Küchengeräusche Erzählerin: In deutschen Küchen wird gerührt, geknetet und gehackt wie vor hundert Jahren. Alte Traditionen werden wieder lebendig – ob in der Küche, der Werkstatt oder im Nähatelier. D.I.Y.: Do it Yourself – so heißt die Devise, die seit einigen Jahren den Zeitschriften- und Buchmarkt beherrscht. Vor allem aber: Das Internet. 8.OT Reinhardt Ich hab angefangen Rezepte aufzuschreiben und dann kamen häufig Nachfragen von Freunden, kannst du mir das Rezept schicken, von dem, was wir damals gemacht haben, und das war dann immer kopieren und hin und herschieben. Und dann hab ich gesagt, probiers doch einfach mit dem Blog. 3 Erzählerin: Jochen Reinhardt – Ende dreißig, leidenschaftlicher Genießer und Hobbykoch – arbeitet in der IT-Branche. Da lag es nahe, seine Rezepte ins Internet zu stellen. Von selbst gebrautem Bier, grillen ohne Salz bis zum Brombeer-Pesto können Kochbegeisterte auf seiner Seite ‚Viva culinaria’ viel Neues entdecken. 9. OT Reinhardt Es kommen mal Cocktailrezepte, dann Kochrezepte, mal Fleisch, mal vegetarisch, mal vegan, so dieses bewusste Hinschauen, welche Zutaten, das ist zwar immer da, aber relativ breit aufgestellt, mit allem was man genießen kann. Und ansonsten wenn’s zeitlich reicht und immer dann, wenn ich was hab, jawohl, das ist so gut, dass ich es auch teilen möchte. Erzählerin: Im richtigen Leben bekocht Jochen Reinhardt seine Familie und Freunde. Nach der Arbeit stellt er sich in die Küche, denn es gibt für ihn nichts Schöneres als nach einem anstrengenden Tag einzukaufen und zu kochen. Außerdem liebt er es, Cocktails zu kreieren und Bier zu brauen, etwa ein rotes Nikolaus-Bier, das er Anfang Dezember gebraut hat, erzählt er, während er die Zutaten für das Abendessen zusammenstellt: 10. OT Reinhardt Heute bereite ich – neudeutsch heißt es Beef Tea vor, altmodisch würde es einfach eine Consommé sein - also Rinderbrühe, eine Kichererbsen-Pizza, also was Toskanisches und dazu gibt es dann noch aus eigenen Blattstil ein Pesto. Erzählerin: Die Lebensmittel kauft er am liebsten in kleinen Geschäften, da könne man eher erfahren, woher die Produkte kommen, sagt er. Fleisch wünscht er sich von artgerecht gehaltenen Tieren und Gemüse holt er auf dem Wochenmarkt. 11. OT Reinhardt Sellerie, Rindfleisch, was ich immer gerne hab, ist einfach zu wissen, wo kommt das her, das sind meistens die kleineren Läden, die wissen, wo sie einkaufen, wie sie einkaufen/ 10 dann kommen noch Zwiebeln dazu, Möhren, noch Gewürze, Lorbeer, Muskat, Pfeffer, Salz, wenig Exotisches, soll ja am Ende dieser kräftige Rindergeschmack rauskommen. (Geräusche Flasche). ..jetzt noch ein Schluck Rotwein , um das Aroma zu verstärken, und der Rest ist einfach Wasser. (Geräusche....gießen, plätschern) 4 Atmo Käseseminar 12. OT Käseseminar Schritte... hallo, schön dass sie alle da sind, ich bin Ute Rohrbeck, ich werde ihnen heute 100 Sachen erzählen Erzählerin: Berlin-Kreuzberg an einem Samstagnachmittag. Sechs neugierige Teilnehmer wollen von Ute Rohrbeck lernen, wie man Käse selber macht. Ein nostalgisch gestaltetes Ladenlokal im Souterrain mit Tante Emma-Feeling, hinten, im ehemaligen Kohlenkeller ist eine Küche, wo auf einem großen Tisch elektrische Wasserbadkocher bereit stehen. 13. OT Atmo, Rohrbeck: ...das ist immer wichtig Käse zu machen im Wasserbad...Geräusche...zuhause kleiner Topf in großen Topf stecken.... muss das Wasser kochen?... sie erklärt weiter – historische Entdeckung von Milchsäurebakterien, Haltbarmachen... Erzählerin: Aufmerksam hören die Teilnehmer zu. Denn bevor es ans Käsemachen geht, gibt es viel zu lernen, über Milchsäurebakterien, Schimmel und die richtige Milch als Grundstoff. 14. OT Atmo: Rohrbeck erklärt, dazu Geräusche: Temperatur der Milch messen Erzählerin Sechs Hobby-Käser hantieren mit Thermometer und Rührkelle. Ein junges Paar hat den Käse-Kurs als Hochzeitsgeschenk bekommen – sie sind große Käseliebhaber. Drei Frauen, um die sechzig, freuen sich auf die Herausforderung. Denn backen, kochen, Marmelade machen gehört für sie schon lange zum Standard. Die Käseherstellung ist hingegen Neuland: 15. OT Atmo Rohrbeck und Teilnehmer: Wollen Sie das zuhause denn probieren? (Frauen) Erstmal schauen wir schwer das ist, ob es sich leicht zuhause nacharbeiten lasst, was man braucht, wieviel Zeit, wieviel Geduld, und ob‘s gelingt, mal schaun. / Andere Frau: Muss man sich da irgendwelche Arbeitsmittel anschaffen, um das zuhause machen zu können? Rohrbeck: Nein, wichtig ist ein Thermometer und Frischhaltebüchsen... 5 Erzählerin: Die Milchsäurebakterien müssen in der warmen Milch ihre Arbeit tun, danach werden wenige Tropfen Lab hinzugefügt und die Milch verwandelt sich in eine dickliche Masse wie ein Wackelpudding. Geduld, Gefühl und Erfahrung erfordere das Handwerk des Käsemachens, sagt Ute Rohrbeck. Und ein Gespür für den richtigen Augenblick: 16. OT Rohrbeck ..und wie lange rührt man und wie lange nicht, dafür muss man ein Gefühl für kriegen / und man lernt dabei sehr gut, den Dingen ihre eigene Zeit zu lassen. Erzählerin: Ute Rohrbeck hat vor 16 Jahren das Käsemachen autodidaktisch gelernt. Sie ist Mitte fünfzig, trägt ihre langen braunen Haare gezwirbelt und in zwei Schnecken oben auf dem Kopf. Hinter der knall-türkisfarbenen Brille freundliche wache Augen. Bunter Ringelpullover, braune Kordhose, grüne Schuhe. 17. OT Rohrbeck Und jetzt können Sie alle mal, ganz wenig, so seitlich wackeln, ....dann sieht man, dass es Wackelpudding artig Götterspeisen artig fest ist.... Erzählerin: Die Hobby-Käser und Käserinnen sind hoch konzentriert, wenn Ute Rohrbeck die verschiedenen Arbeitsschritte anleitet. Was ist das Faszinierende beim Do it yourself? Ist es das Eintauchen in eine andere Welt? Ist es die Freude am praktischen Werkeln, das Ausprobieren und Experimentieren? 18.OT Rohrbeck Es ist deutlich, dass die Menschen im Moment alles Mögliche ausprobieren. Die, die hier zum Käsekurs kommen, die waren auch schon beim Bierbrauen, Nudeln machen oder kochen selber Marmelade oder backen ihr Brot selbst. Und manche kommen einfach, weil sie nun das mit dem Käse interessiert, weil sie den gerne essen. Aber das nimmt schon zu, dass die Leute sich über die vielen Dinge informieren, um beim Konsum einschätzen zu können, was ne gute und was ne schlechte Ware ist. Erzählerin: Wenn Büroangestellte nach Feierabend zu Bierbrauern, Bäckern oder Käsemachern mutieren, steckt oft mehr als Neugier und Experimentierlust dahinter. Soziologen und 6 Philosophen interpretieren den Trend zum Selbermachen auf verschiedene Weise: Die einen sehen darin eine Art Rückzugsbewegung, ja eine Flucht hin zum Überschaubaren der heimischen Küche, des Hobbykellers oder des Nähateliers. Die anderen sehen es als eine Gegenbewegung in einer immer abstrakter werdenden digitalisierten Arbeitswelt. 19. OT Praetorius: Selbermachen hat mit verstehen zu tun, es hat damit zu tun, die Welt zu verstehen: In Form von einem Pullover z.B. oder einem Gartenbeet oder dem Gemüse, das ich esse. Je mehr ich am Produzieren beteiligt bin, desto besser versteh ich, wie das funktioniert. Erzählerin: Die Schweizer Theologin Ina Praetorius beschäftigt sich mit Wachstums- und Konsumkritik. Sie ist eine leidenschaftliche Hobbygärtnerin. 20. OT Praetorius: Je mehr die Technologie voran schreitet, besonders in der Computertechnologie, /das gibt mir ein Unbehagen, obwohl ich es nicht vermeiden kann, /Aber ich glaube, der Impuls zu sagen, wenigstens so viel wie geht, möchte ich verstehen / das gibt einerseits so eine Verwurzelung in der Welt , und auch ein Wohlgefühl, dass ich sehe, wie der Salat wächst in meinem Garten, wenn ich ihn selber gepflanzt hab und gegossen und gedüngt, zumindest das versteh ich. Erzählerin: Die Belohnung für Stunden mühevoller Handarbeit sei der Genuss und eine tiefe Befriedigung, die sich beim bloßen Konsumieren nicht einstellt: 21.OT Praetorius Es ist natürlich eine Anstrengung, stricken, gärtnern ,nähen, all das , was ich mache, die aber sehr sehr zufrieden macht. ()Die Müdigkeit ist größer, das ist eine ganz andere Lebensqualität, und das erlebe ich in allen Bereichen, in denen ich mich wirklich der Anstrengung unterziehe, selber etwas zu tun. Das kann auch das Kochen sein. 22.OT Reinhardt ...wir machen jetzt das Pesto. Was ist das? Darf ich hoch? Willst die Nüsse reinwerfen? (Geräusch Nüsse)...noch Knoblauch rein, / müssen wir erstmal schälen... 7 Erzählerin: Jochen Reinhardts Rinderkraftbrühe und toskanische Pizza sind fast fertig, die beiden kleinen Jungen warten schon auf das Abendessen. Stress? Keine Spur, sagt der junge Familienvater. 23.OT Reinhardt Kochen ist so ein Stück weit weg von allem anderen, wenn viel los ist und alles rechtzeitig, und gleichzeitig fertig werden soll, dann ist es eine Frage der Konzentration, und von dem her, kann man da auch richtig drin versinken, und wenn dann die Teller angerichtet sind und alles rüber ins Esszimmer geht, dann hat die Welt mich wieder. Das ist die nächste Phase der Entspannung, wenn man gemeinsam genießen kann, was man da produziert hat. Erzählerin: Selbermachen - das ist für viele Menschen ein Korrektiv zu ihrer Arbeitswelt: Im Dampf eines brutzelnden Bratens lösen sich Berufsstress und Spannung auf – denn in der wohlriechenden Anderswelt von Chili und Knoblauch gibt es keinen Raum für Zahlenkolonnen, Deadlines und Termindruck. 24.OT Reinhardt Das Berufsleben ist was komplett anderes, ich bin Pressesprecher einer IT-Firma und in der Küche, das ist mein Rückzugsort, wo ich mich austoben kann und auch entspannen kann. Je mehr es in der Küche blubbert und zischt und zu machen ist, desto entspannter ist es für mich. Erzählerin: Die Arbeitsprozesse unserer Gesellschaft werden komplexer, die Organisationsformen umfangreicher – und so erleben nicht nur Sales manager, Executive assistents oder Abteilungsleiter ihre Arbeit als nie beendet. Alleine die Diskussion um die ständige Erreichbarkeit per mail und Mobiltelefon zeigt, die Anforderungen und der Arbeitseinsatz drohen grenzenlos zu werden. Andreas Lingg, Soziologe an der Universität Witten-Herdecke: 25.OT Lingg Weil wir nie genug Information haben, um die richtige Entscheidung zu treffen, und wir haben auch nie alle Variablen bedacht. Der Manager, die Managerin kann hinter jeder Ecke eine weitere Aufgabe finden und diese Nichtabschließbarkeit ist 8 interessant für die DiY –Kultur. Weil diese Art des selber Tuns, in der wir einen klar definierten Anfang haben, auch ein klar definiertes Ende, wann ist meine Hausfassade fertig gebaut, wann ist mein Werkstück abgeschlossen und das kann vor dem Hintergrund unseres alltäglichen Arbeitslebens psychologisch als Geschenk wahrgenommen werden. 26.OTAtmo Teigschüssel rühren Erzählerin: Anja, Ende 20, arbeitet in einer Berliner PR-Agentur - am Wochenende backt sie gerne ihr eigenes Brot und vor Weihnachten hat sie Freunde und Kollegen mit selbst gemachten Plätzchen beschenkt. 27.OT Anja Für mich ist das ne absolute Entspannung weil ich jeden Tag 8 Stunden vor‘m Computer sitze, egal, was man heute macht, ist es doch ein Computerjob und das ist für mich echt super, mal nicht auf einen Bildschirm mit flimmernden Buchstaben zu gucken. Und inhaltlich ist es für mich eine Befriedigung, dass man selber was gemacht hat, was man vorzeigen kann, guck mal, hab ich selber gemacht. Erzählerin: Stolz auf das Eigene – ein vorzeigbares Produkt, dessen Entstehung von Anfang bis Ende in den eigenen Händen liegt. Das sei das Beglückende, sagen alle Do-it-yourselfFans. Anja hat vor kurzem auch das Nähen entdeckt. In einem Nähcafé in BerlinFriedrichshain hat sie das erste Kleidungsstück in Angriff genommen. 29. OT Anja Nähmaschine Das wird jetzt mein allererster Rock mit einem dunkelblauen Wollstoff, dazu ein gelbes Futter und auch einen gelben Reißverschluss. Ich bin in einen Nähladen gegangen und hab dort Anleitung bekommen, hab 8 Euro die Stunde gezahlt, die ersten Nähversuche gemacht, jetzt den Rest mach ich zuhause, weil das jetzt tatsächlich nur nähen ist, das kann ich mittlerweile auch. Erzählerin: In allen größeren Städten gibt es inzwischen Näh-Cafés: Sie heißen „Roter Faden“, „Salon Fadenschein“, „Die tapfere Schneiderin’ oder „Bunte Fetzen“– die Namen sind Programm: Junge Frauen schneidern sich gegen den Massentrend individuelle Kleidung, originell und frech – klassisch streng, günstige oder teure Stoffe – je nach Stimmung. 9 29. OT Anja Das ist eben ein Rock, wie ihn nur ich hab und ich hab ihn mir selber ausgedacht, wie er aussehen soll. Das ist schon ne Fummelarbeit, man muss schon eher eine geduldige Person sein, die ich jetzt nicht unbedingt bin, d.h. ich mach schon mal eine Naht wieder auf, wenn sie schief und krumm ist, dann sieht man das am Ende, vor allem bei den Abnähern. Das bollert dann an der Hüfte, das sieht nicht gut aus und dann muss man es eben nochmal machen. Erzählerin: Die Freude am Kreativsein ist immer auch ein kleiner Schöpfungsakt, Fehler und aufribbeln inbegriffen – anders als im Berufsalltag. Die Schweizer Theologin Ina Praetorius hält viel von Fehlern, von Perfektion hingegen wenig: 30.OT Praetorius Perfektion ist für Menschen eigentlich überhaupt nicht zu erreichen, und im DiYBereich kann man das auf genüssliche Art entkräften, diesen Imperativ, immer perfekt sein zu müssen, weil oft ja gerade der Fehler im Strickmuster ist ja der Reiz, darüber kann man eine Geschichte erzählen. Und das ist ein ganz anderer Wert, als wenn das so glatt und schön aussieht wie von der Stange und das erhöht den Wert des Selbstgemachten, dass ich erzählen kann, wann hab ich das gemacht, in welcher Situation, mit welchen Leuten, wer hat mir das beigebracht, da kann ich ganze Geschichten erzählen, und das ist ja, was das menschliche Leben eigentlich ausmacht. Erzählerin: Ina Praetorius ist selbst begeisterte Do it yourself-Anhängerin. In ihren Büchern und Vorträgen beschäftigt sie sich mit alternativen Wirtschaftsformen und stellt den Ressourcen verschlingenden Wachstumswahn in Frage. Selbermachen – so ihre These – sei ein Statement gegen Massenkonsum. 31. OT Praetorius Es wird in unserer Gesellschaft nicht unterstützt, der Mainstream will ja, dass wir Fertiges konsumieren, ist sogar manchmal dagegen, dass man selber macht, weil ich dadurch ja viel Zeit brauche, die ich nicht mit konsumieren zubringen kann. Von daher muss man immer auch gegen den kapitalistischen Imperativ des Konsumierens angehen. Aber das macht Spaß. 32. OT Anja Ich plan das jetzt auch weiter zu betreiben. Also Brot backen ist, glaube ich, eher die Ausnahme, weil es dauert einfach lange. So am Wochenende kann man das mal machen, an so einem regnerischen Sonntag ist es perfekt. Aber das Klamottennähen, für den Sommer so ein Sommerkleidchen, das geht dann teilweise ruckzuck. 10 Erzählerin: Inmitten einer schier endlos produzierenden Konsumwelt gibt es immer mehr Inseln, in denen Nachhaltigkeit praktiziert wird. Auf Tauschbörsen und in offenen Werkstätten oder repair-shops stehen Werkzeug, Maschinen und überzählige Produkte allen offen. Tauschen, teilen und reparieren heißt es hier, anstatt kaufen und nach kurzem Gebrauch wegwerfen. Im Internet bilden sich Netzwerke und so genannte communities, je nach Thema und Tätigkeiten. Handarbeiten, Basteln, Imkern oder Möbel bauen – für alle erdenklichen Projekte gibt es Tipps, nützliche Adressen und gemeinsame Börsen. So treffen sich beispielsweise die Strickbegeisterten in verschiedenen Städten zu Wollfestivals. Handgefärbte und –gesponnene Wolle sei zurzeit im Trend, sagen Experten. Aber immer gehe es auch um den Austausch von Erfahrungen: 33.OT Praetorius Es ist viel intensiver und es stiftet viel verbindlichere Beziehungen, wenn ich gemeinsam etwas tue. Wenn die Freundin zu Besuch kommt, dann gehen wir erstmal in den Garten und gucken, wie meine Pflänzchen wachsen, dann kann sie mir Tipps geben und sagen, ja das hättest du vielleicht besser machen können, dann wär der Blumenkohl gekommen, nicht nur so ein Riesenblatt, das sind auch Geschichten, die auch humorvoll sind oft. 34. OT Reinhardt In der community der Foodszene gibt’s auch immer so einen Austausch, guck mal ich hab hier das und das gekocht, oder hier spezielles Gewürzsalz, wo man dann sagt, ich tausch dein Brot, dein Gewürz oder wie auch immer und da kommt man immer an ganz neue Ideen und Sachen ran./Da sind durchaus Bekanntschaften entstanden, dass man schon Rezepte für eine Bar gemacht hat zusammen, zusammen gekocht auch, da entwickelt sich immer was bis hin zu gemeinsamen Events. Erzählerin Ist der Do it Yourself-Trend als Einspruch gegen die globalisierte Massenproduktion zu sehen? Handelt es sich um eine Wiederauflage der Rebellion des Selbermachens gegen eine anonyme industrielle Massenproduktion, wie sie Europa im 19. Jahrhundert schon einmal gesehen hat? Als die Arts and Craft-Bewegung in England mit hochwertiger Handarbeit gegen schlechte Massenware und entfremdete Arbeit protestierte? Zwar liegt die Maschinenstürmer-Zeit des 19. Jahrhunderts längst hinter uns – doch 11 ein wenig Protestpotential enthält wohl jeder Akt des Selbermachens: 35.OT Praetorius: Ein lustvoller widerständiger Akt. Ich gehe nicht auf die Straße und protestiere, sondern ich sage, ich kauf euch den Ramsch nicht ab, den ihr mir anbietet, sondern ich stelle selber her, und das ist ein widerständiger Akt. /Und das Schöne daran ist auch, ich kann sicher sein, wenn ich mir einen Pullover stricke, dass ich niemand begegne, der denselben Pullover anhat. Und natürlich kann ich mich fragen, warum ist das so wichtig? Es ist aber wichtig, das Gefühl als Mensch, ich bin einzigartig. Und das drücke ich dadurch aus, dass ich etwas Einzigartiges anziehe. 36.OTAtmoKäse Rühren Erzählerin: In Berlin Kreuzberg geht das Käseseminar in die Endphase. Weiße Krümel schwimmen in der Molke, es wird gerührt und dann in siebartige Plastikförmchen geschüttet, so dass die Molke ablaufen kann. Ein junger Mann aus der Ukraine, von Beruf Projektleiter in der Entwicklungshilfe, hat seinen Käse in eine Herzform gegossen. 37.OT...für meine Frau, wenn es fertig ist es für sie, Ludmilla Erzählerin: Er hat schon andere Käseseminare besucht, erzählt er. Sein Traum ist es, eine Ziegenfarm in seiner Heimat, der West-Ukraine, aufzubauen, um hochwertigen Ziegenkäse herzustellen. 38.OT Diese Seminare, die ziehen Menschen an, die sich für das natürliche Leben interessieren und gottseidank wissen wollen, woher das Essen kommt und verschiedene Lebensmittel kommen. Weil dadurch bleiben wir in der Verbindung mit der Natur und mit sich selbst. Erzählerin: Ute Rohrbeck veranstaltet fast jede Woche zwei Käseseminare – in Berlin und auf ihrem Bauernhof am Schaalsee. In stetig sich wandelnden Zeiten suchen die Menschen wohl einen Halt, meint sie: 39. OT Rohrbeck Das hat eigentlich mit einer Verunsicherung in der Welt zu tun, dass die Leute überhaupt Sachen selber vermehrt machen wollen. Das hängt damit zusammen, dass die Welt sich erneuert und sich verändert und dass es in unsicheren Zeiten besser ist, 12 man ist in gewissen Dingen autark und dann sollen es doch wenigstens die simplen basics sein, wo man noch weiß, wie die gehen, wenn es zu Schwierigkeiten im Alltag kommt. Erzählerin: Achtsamkeit und Nachhaltigkeit – diese beiden Begriffe klingen beim Selbermachen immer wieder an. Dinge, die man sorgsam und mit Zeitaufwand herstellt, werden lange aufbewahrt, denn sie sind etwas Besonderes und werden wertgeschätzt. Bei selbst gemachten Lebensmitteln spielt vor allem die Qualität der Produkte eine wichtige Rolle. 40. OT Praetorius Wenn ich jetzt z.B. so convenience Food kaufe, dann habe ich auch ein Geschmackserlebnis, aber ich weiß nicht, ist das jetzt synthetisch, kommt das aus der Chemiefabrik oder ist das ein echtes Kraut, das da drin ist. Wenn ich es hingegen selber gemacht habe, dann weiß ich, wie es zustande gekommen ist, weiß was drin ist und drittens, habe ich das Erfolgserlebnis, dass ich dieses Geschmackserlebnis in die Welt gebracht hab. Erzählerin: Die Theologin Ina Praetorius, die gärtnert und strickt, sieht im Selbermachen daher noch eine höhere Bedeutungsebene. 41. OT Praetorius, Ein ganz wichtiger Satz ist ja, dass wir Ebenbild Gottes sind, dass wir schöpferische Wesen sind, weil Gott auch Schöpfer ist. Im Sinne des biblischen Menschenbildes, dass ich gewollt bin als schöpferisches Wesen und nicht nur als konsumierendes Wesen, das sich bedienen lässt von einem großen Apparat, sondern, das die eigene Erfüllung, das eigene Glück, die eigene Freiheit darin findet, Dinge in die Welt zu setzen, die vorher nicht da waren. 42. OT Atmo Käse rühren 43. OT Frau Sind wir jetzt am Ende mit dem Käse machen? Ja, fast gut jetzt, das muss noch mal umgedreht werden, und dann kriegen wir noch ne Erklärung für zuhause ... (Rohrbeck:) Also wenn ihr zuhause Käse machen wollt, könnt ihr die Molke nehmen, anstatt Bakterien. Erzählerin Natürlich hat der Trend zum Selbermachen selbst wieder einen Markt geschaffen – 13 das machen die unzähligen Handarbeits-Bastel-oder Koch-und Back- Zeitschriften deutlich, sowie die Shops im Internet, in denen Selbstgemachtes vertrieben wird. Und so scheint es beides zu geben: Selbermachen als Trend, der im Mainstream angekommen ist und Selbermachen, als Entspannung und Hobby. Aber ob Käsemachen, Brot backen oder Pullover stricken: Die Herstellungsprozesse dauern, sie erfordern viel Geduld, die manche Hobby-Bäcker erst wieder lernen müssen. Und für ein paar Stunden erfüllt das Selbstgemachte dann vielleicht die Sehnsucht nach Entschleunigung in einer sich beschleunigenden Welt. Titelsprecherin: Rühren, Kneten, Meditieren – Vom Glück des Selbstgemachten Sie hörten eine Sendung von Gisela Keuerleber Es sprach: Cornelia Schönwald Ton: Martin Scholz Redaktion: Anne Winter Regie: Clarisse Cossais Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion bestellen, aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171. Oder per email: [email protected]. Und zum Nachhören oder Lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter kulturradio.de