Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Verstimmungen im Alter: Bin ich einfach nur traurig oder schon depressiv? Aktionstage Psychische Gesundheit und Bündnis gegen Depression Solothurn, 29. Oktober 2016 Prof. Dr. med. Martin Hatzinger Direktor Psychiatrische Dienste & Chefarzt KPPP Professor für Psychiatrie, Universität Basel Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Verstimmungen im Alter Bin ich einfach nur traurig oder schon depressiv? 1. Einleitung 2. Epidemiologie: Häufigkeiten 3. Eine Krankheit und die Folgen: Depression 4. Prävention: Bündnis gegen Depression 5. Therapiemöglichkeiten Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Häufigkeit in CH Psychische Erkrankungen Prävalenz: 10% der Bevölkerung leiden innerhalb des Zeitraumes von 12 Monaten an einer diagnostizierbaren psychischen Störung → CH: 600 000 – 800 000 Menschen → SO: 20‘000 – 25 000 Menschen Oft treten verschiedene Störungen miteinander auf (50%) Inzidenz: 1-2% der Bevölkerung erkranken innerhalb des Zeitraumes von einem Jahr neu an einer diagnostizierbaren psychischen Störung → CH: 60‘000 – 80‘000 → SO: 2‘500 – 4‘000 Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Was ist eine Depression ? Depression ist nicht einfach Trauer Die Veränderungen sind nicht nur eine nachvollziehbare vorübergehende Reaktion auf eine äußere Belastung (z.B. Verlustsituation) Die Beschwerden bestehen über Wochen und Monate, ohne dass es zu einer „Anpassung“ an die Situation kommt Der äußere Anlass allein erklärt nicht die depressive Symptomatik (häufig reichen „kleine“ Auslöser) Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Depression Gestörte Funktionsbereiche • Psychische Symptome • Psychomotorische Symptome • Körperliche Symptome Dauer: mindestens 2 Wochen Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Symptome der Depression Hauptsymptome 1. Gedrückte Stimmung 2. Interessen-/Freudlosigkeit 3. Antriebsstörung Weitere Symptome 1. Gestörtes Selbstwertgefühl 2. Denk-/Konzentrationsstörung 3. Suizidalität 4. Gestörte Psychomotorik 5. Schlafstörungen 6. Appetitstörungen Dauer Min. 2 Wochen Melancholia, A. Dürer Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Schweregrade der Depression • Leicht • Mittelgradig • Schwer • Wahnhafte Depression Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Subtyp der Depression ? Alter • Involutionsdepression (Emil Kraepelin 1910) • Unterform der unipolaren Depression (ICD-9) • Spätdepression: Erstmanifestation nach dem 45. Lebensjahr • Altersdepression: Erstmanifestation nach dem 60. Lebensjahr • Heute: Depression im Alter Lehrbuch für Psychiatrie, Kraepelin 1910; ICD-9, WHO 1982; ICD-10, WHO 1994 Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Depression im Alter unterscheidet sich vom normalen Alterungsprozess meist gleich wie bei jüngeren Erwachsenen kein spezifischer Subtyp ABER: teilweise andere Klinik: - Traurigkeit weniger beklagt - Körperliche Symptome im Vordergrund, weniger Traurigkeit Wenig Antrieb Grosse Ängstlichkeit Kognitive Symptome Chronifizierungstendenz, besonders bei fehlender sozialer Unterstützung Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Symptome der Depression 69% der Patienten mit Depression suchen ihren Hausarzt ausschliesslich aufgrund von körperlichen Beschwerden im Rahmen der Depression auf ! Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Körperliche Symptome der Depression in der Allgemeinpraxis häufigstes Erscheinungsbild Gelenkschmerzen Rückenschmerzen Kopfschmerzen Brustschmerzen Arm-/Beinschmerzen Bauchschmerzen Müdigkeit Schwindel Kroenke et al 1994. Arch of Fam. Med. 36.7 % 31.5 % 24.9 % 24.6 % 24.3 % 23.6 % 23.6 % 23.3 % Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Depression im Alter Wichtige körperliche Krankheiten Prävalenz Depression 1. Demenz 30 - 50 % 2. Parkinson-Syndrom 4 - 70 % 3. Stroke 20 - 65 % 4. KHK ca. 25 % Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel “Winterdepression”: Seasonal Affective Disorder Saisonale Verlaufsform: SAD Regelmässig wiederkehrende depressive Episoden vom Schweregrad einer Major Depression (nach DSM-IV), die ungefähr zur selben Zeit eines Jahres beginnen (z.B. September-Oktober) und enden (z.B. März-April). Volle Remission der depressiven Symptome zu einer anderen Jahreszeit (z.B. Mai-August; im allgemeinen sollten die PatientInnen mindestens 2 Monate symptomfrei sein, damit man von Remission sprechen kann). Saisonal abhängige Episoden treten häufiger auf als nicht-saisonal abhängige Episoden. Saisonal abhängige depressive Episoden treten in mindestens zwei aufeinander folgenden Jahren auf. Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Depression und Burn-Out Burnout = Zustand der totalen Erschöpfung (ICD-10: Z* 73.0) Keine Krankheitskategorie Keine diagnostischen Leitlinien * Faktoren zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Burnout-Syndrom: Symptome Verminderte Leistungsfähigkeit Emotionale und körperliche Erschöpfung Gleichgültige, negative und zynische Haltung gegenüber der Arbeit und Mitmenschen Überzeugt, beruflich versagt zu haben und überfordert zu sein Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Burnout-Syndrom: Stress Häufigste psychiatrische Erkrankungen Depression Angststörungen Missbrauch von Alkohol, Tabak und Beruhigungsmitteln Schlafstörungen Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Konsequenz nicht behandelter Depressionen (1) Schrumpfung von Gehirnteilen (Hippokampus) in Abhängigkeit der Dauer von unbehandelten Depressionen (Kernspintomographische Volumenmessung des Hippokampus 38 Patientinnen mit remittierter rezidivierender Depression) Sheline et al. 2003 Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Konsequenz nicht behandelter Depressionen (2) Kardiovaskulaere Erkrankungen ! 3-fach erhöhtes Risiko für Herzinfarkt Risiko für plötzlichen Herztod erhöht Diabetes mellitus Rudish B, Nemeroff Ch, Biol Psychiatry 2003; Roose S, Biol Psychiatry 2003; Carnethon et al., Arch Int Med 2007 Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Konsequenz nicht behandelter Depressionen (4) ca. 15% mit schwerer Depression versterben durch Suizid ca. 25% weisen einen Suizidversuch auf ca. 70% haben Suizidgedanken 90% der Suizidenten litten unter psychiatrischen Erkrankungen, am häufigsten Depression (40-70%) Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Folgen der unerkannten Depression Zusammenfassung Chronifizierungstendenz Verlust der Lebensqualität Soziale Isolierung Erhöhtes Risiko für andere körperliche Erkrankungen Erhöhte Gesundheitskosten Erhöhte Sterblichkeit: Selbstmord (Suizid) Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Depression: Stigma oder Krankheit? Umfrage zur öffentlichen Wahrnehmung Anteil der Befragten Angenommene Ursache einer Depression 71 % 65 % 45 % 43 % 35 % 10 % Emotionale Schwäche Böse Eltern Betroffene sind selber schuld; Willenssache Unheilbar Sündhaftes Verhalten Biologischer Grund, Hirnkrankheit Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Solothurner Bündnis gegen Depression • Entstigmatisierung • Bessere Früherkennung • Optimierte Versorgungsstrukturen Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Wichtige Botschaften Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Angebot für Angehörige und Betroffene Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Woher kommen Depressionen ? Gene Depression Umwelt Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Depression Genetik Lebenszeitprävalenz Kontrollen 7% Verwandte 1. Grades 15% Beide Elternteil 50% Zweieiige Zwillinge 15% Eineiige Zwillinge 65% Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Psychosoziale Risikofaktoren bei Depression Hatzinger., SANP, 2011; 162 (5): 179-189 Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Depression: Therapie Frühe Diagnostik !!! da lebensbedrohliche Krankheiten Frühe Therapie !!! da bessere Prognose Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Therapie der Depression Bio-psycho-sozial Schweregrad Psychosoziale Massnahmen Psychotherapie z.B. Umgang mit Stress, Stressoren reduzieren Medikamentöse Therapie Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel Depression im Alter Zusammenfassung 1. Epidemiologie: Depression häufigste psychiatrische Erkrankung, auch im Alter 2. Symptomatik: Grundsätzlich kein Unterschied zu jüngeren, aber andere Präsentation 3. Ursachenhypothesen: analog bei jüngeren Erwachsenen, ABER altersspezifische auslösende Faktoren (Psychosoziale Faktoren, körperliche Krankheiten) 4. Folgen: Körperliche Erkrankungen, Suizid 5. Therapie: immer - „biopsychosozial“ Universitäres Partnerspital der Med. Fakultät Basel