Widerspruch jüdisches Denken – jüdische Philosophie In den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Ärzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter den härtesten persönlichen Zwängen festhielten und Europa gegen Asien verteidigten.“ Friedrich Nietzsche Der größte jüdische Denker ist nur ein Talent. (Ich z.B.) Ludwig Wittgenstein Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – jüdische Philosophie (2001) INHALTSVERZEICHNIS jüdisches Denken jüdische Philosophie Zum Thema Artikel Konrad Lotter Judentum und Philosophie. Stichpunkte und Grenzziehungen Thomas Meyer Standortbestimmungen. Zum Problem einer „jüdischen Philosophie“ Umfrage 7 Fragen zur jüdischen Philosophie heute 8 26 42 Astrid Deuber-Mankowsky Wer ist z.B. Heidegger? Zur Konjunktion von deutscher Philosophie und religiöser Tradition 43 Richard Faber Überlegungen zum Jüdischen im Christlichen 50 Martin D. Kogut Answers 57 Daniel Krochmalnik Jüdische Philosophie – Gestern und Morgen 59 Friedrich Niewöhner Jüdische Philosophie - Versuch einer Begriffsbestimmung 66 Bücher Werner Stegmaier Von Juden lernen 69 Giuseppe Veltri Fragen zur jüdische Philosophie als Wagnis der Eigenart 76 Michael Zank Antworten 80 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition zum Thema Ignaz Knips 85 Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass. Martin Schraven 88 Amitai Etzioni Martin Buber und die kommunitarische Idee Marianne Rosenfelder 90 Richard Faber, Eveline Goodman-Thau, Thomas Macho (Hg): Abendländische Eschatologie. Alexander von Pechmann Münchner Philosophie 92 Leon Roth: Is there a Jewish Philosophy? Marianne Rosenfelder 93 Werner Stegmaier (Hg): Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition Georg Koch 95 Joachim Valentin, Saskia Wendel (Hg): Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts Alexander von Pechmann 98 Günter Zöller Lehr- und Wanderjahre 100 Neuerscheinungen Theodor W. Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit Roger Behrens 107 Gerd Becher, Elmar Treptow (Hg.): Die Gerechte Ordnung der Gesellschaft Reinhard Jellen 108 Ernst Bloch/Wieland Herzfelde: Wir haben das Leben wieder vor uns Roger Behrens 110 Stefan Bollinger: 1989. Eine abgebrochene Revolution. Fritz Vilmar (Hg.): Zehn Jahre Vereinigungspolitik. Ulrich van der Heyden 111 Reinhard Brandt, Karlfriedrich Herb (Hg): Jean-Jacques Rousseau (Reihe: Klassiker Auslegen) Manuel Knoll 113 Judith Butler: Psyche der Macht Olaf Sanders 115 H. Drüe, A. Gethmann-Seifert, C. Hackenesch et al. (Hg.): Hegels „Enzyklopädie der Wissenschaften“ Georgios Karageorgoudis 116 Wolfgang Fritz Haug: Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern Klaus Weber 117 Christoph Hubig, Alois Huning, Günter Ropohl (Hg.): Nachdenken über Technik Michael Ruoff 119 Harald Lemke: Freundschaft Alexander García Düttmann: Freunde und Feinde Roger Behrens 120 Mike Sandbothe (Hg.): Die Renaissance des Pragmatismus Chantal Mouffe (Hg.) : Dekonstruktion und Pragmatismus María Isabell Peña Aguado 122 F.W.J. Schelling: Von der Weltseele Martin Bondeli 125 Bettina Schmitz: Die Unterwelt bewegen María Isabell Peña Aguado Anhang 128 Hans-Martin Schönherr-Mann: Das Mosaik des Verstehens Bernd Mayerhofer 131 Joachim Schulte, Uwe Justus Wenzel (Hg.): Was ist ein philosophisches Problem? Jadwiga Adamiak 134 Clemens K. Stepina: Handlung als Prinzip der Moderne Percy Turtur 135 Dieter Sturma: Person Moderne Percy Turtur 135 Rainer E. Zimmermann: Die Rekonstruktion von Raum, Zeit und Materie Ernst Sandvoss 136 AutorInnen Impressum 139 138 In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – jüdische Philosophie (2001), S. 7-8 AutorenInnen: Redaktion Zum Thema Zum Thema jüdisches Denken – jüdische Philosophie Die Faszination, die vom jüdischen Denken ausgeht, liegt nicht zuletzt in seiner Vieldeutigkeit und seinen Widersprüchen begründet. Zum einen wird es nicht selten mit Kabbala und Geheimlehre assoziiert, deren Endzeit- und Erlösungsvorstellungen die europäische Mystik durchziehen und sich bei Herzl mit zionistischer, bei Benjamin und Bloch mit kommunistischer Politik verbinden. Zum anderen wird eine Affinität des jüdischen Denkens zur Rationalität des Kapitalismus unterstellt, die Juden in der führenden Rolle des kapitalistischen Zirkulationsprozesses gesehen (Sombart, Horkheimer). Aber auch Neukantianismus und Lebensphilosophie, Phänomenologie und analytische Philosophie sind maßgeblich durch Juden repräsentiert, so dass das jüdische Denken überhaupt als zur Philosophie prädestiniert oder prädisponiert erscheint. Auch der Begriff der jüdischen Philosophie, der doch Erwartungen von festen Grenzen und Systematik schürt, erweckt ganz verschiedenartige Assoziationen. Den einen bezeichnet er eine bestimmte, vor allem im Mittelalter beheimatete Religionsphilosophie (Halevi, Maimonides), d.h. eine Art prä-modernen Denkens, das noch ganz unter dem Patronat des Glaubens steht. Die anderen hingegen meinen, in ihr das Paradigma einer neuen, post-modernen Rationalität zu erkennen, die ihre dekonstruktivistischen Verfahren an der rabbinischen Auslege-Kunst orien- zum Thema tiert und, unter dem Ausschluss einer absoluten Wahrheit, Raum für „Differenzen“ schafft (Derrida, Bloom). Schließlich ist auch die Frage der Geltung oder der Verbindlichkeit weitgehend offen und ungeklärt. Plausibel zwar und gut begründet erscheint der Vorwurf des Partikularismus. Jüdisches Denken ist das Denken eines („ausgewählten“) Volkes, das sich durch seine exklusive Beziehung zu seinem Gott (dem „Gott Israels“) auszeichnet und eigensinnig auf Abgrenzung beharrt. Gleichzeitig aber werden Abweichung und Fremdheit zum Vorbild und Modell eines neuen Universalismus, der das Partikulare nicht identifizieren, homogenisieren und vereinnahmen möchte, sondern Offenheit und Vielstimmigkeit zu seinem Prinzip hat. Das vorliegende Heft versucht, Grenzlinien zu ziehen und einen Orientierungsrahmen zu vermitteln. Über das bloß begriffliche und (philosophie-) geschichtliche Interesse hinaus, zielt es auf die Erneuerung eines Dialogs, der durch Nationalsozialismus und Holocaust gewaltsam beendet worden und auch unter den Bedingungen der Berliner Republik nur zögerlich wieder aufgelebt ist. In einem einführenden Artikel unterscheidet Konrad Lotter sechs Perspektiven, unter denen „Judentum“ zur philosophischen Kategorie geronnen ist. Durch Stichpunkte, inzwischen „klassisch“ gewordenen Fragestellungen und Debatten werden diese Kategorien in ihren Umrissen skizziert und ihrer Tragfähigkeit problematisiert. – Speziell am Begriff der jüdischen Philosophie selbst (der 1818 erstmals von Leopold Zunz verwendet wurde) zeigt Thomas Meyer die Schwierigkeiten einer – zwischen religiöser, sozialer oder ethnischer Identität schwankenden – Definition. Unter bewusstem Verzicht auf Allgemeinheit und Verbindlichkeit konzentriert er sich darauf, einzelne hervorragende Positionen zu bestimmen. Eine Umfrage des Widerspruch, an der Astrid Deuber-Mankowsky, Richard Faber, Daniel Krochmalnik, Friedrich Niewöhner, Werner Stegmeier, Giuseppe Veltri und Michael Zank teilgenommen haben, problematisiert den Begriff der jüdischen Philosophie und fragt nach deren Stellung zur einen Philosophie. Es geht, metaphorisch ausgedrückt, um das Verhältnis „Athen und Jerusalem“, um die Möglichkeiten einer Erneuerung jüdischer Denktraditionen bzw. um die „Säkularisierung“ und Aufhebung religiöser Denkfiguren im aktuellen philosophischen Diskurs. zum Thema In unserer Reihe „Münchner Philosophie“ erscheint diesmal ein autobiographischer Bericht von Günter Zöller, der ... Im abschließenden Rezensionsteil werden 19 aktuelle Neuerscheinungen aus der Philosophie vorgestellt. Die Redaktion 9 In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 9-25 Autor: Konrad Lotter Artikel Konrad Lotter Judentum und Philosophie. Stichpunkte und Grenzziehungen Das Thema „Judentum und Philosophie“ ist umfangreich und vielfältig. Es erscheint daher sinnvoll, mehrere Aspekte grundsätzlich zu unterscheiden: I. Jüdisches Denken und jüdische (Religions-) Philosophie II. Das Judentum als Gegenstand und Begriff der Philosophie III. Die „Judenfrage“. Philosophische Diskussion der Juden-Emanzipation IV. Juden in der deutschen bzw. europäischen Philosophie V. Jüdische Selbstreflexion VI. Jüdische Philosopheme. Philosophische Motive der jüdischen Tradition I. Jüdisches Denken und jüdische (Religions-) Philosophie Zuallererst wird jüdisches Denken wohl mit der Tradition des jüdischen Schrifttums assoziiert. Deren Grundlagen sind: 1. die hebräische Bibel, das Alte Testament (AT), das – einschließlich der Apokryphen – eine Sammlung von Schriften vieler Autoren darstellt, zwischen 1200 und 100 v. Chr. entstanden ist und historische Berichte, Gesetzesvorschriften, Gedichte, prophetische Reden etc. enthält; 2. die sog. mündliche Überlieferung, die Kommentare zum AT beinhaltet, Diskussionen (aus den Lehrhäusern) aufbewahrt, Lehren aus dem AT für das Leben zieht etc. Sie stammt von etwa 2500 Autoren und wurde später ebenfalls schriftlich fixiert. Diese Überlieferung, der Talmud, der eine Weiter- 10 Konrad Lotter entwicklung des AT darstellt (und insofern dem Neuen Testament, der christlichen Bibel, entspricht), zerfällt a) in die Mischna (hebräischer Rechtskodex: in 6 Abteilungen wird die Begehung des Sabbats und anderer Feste geregelt, das Zivil-, Straf- und Handelsrecht dargestellt, detaillierte Ehevorschriften, Reinheitsgebote etc. formuliert), die um 200 n.Chr. aufgezeichnet wurde und b) in die Gemara, die in einer palästinensischen und einer (bedeutenderen) babylonischen Version überliefert ist, an die Gliederung der Mischna anknüpft, aus Kommentierung und Diskussion besteht und um 400 n.Chr. in aramäischer Sprache redigiert wurde. – Zu etwa 2/3 besteht der Talmud aus der sog. Halachá (Recht bzw. Religionsgesetz), zu 1/3 aus der Haggáda (Schriftauslegung, Theologie, Philosophie, Legende); 3. die Kabbala oder die jüdische Mystik ist zwischen dem 9. und dem 13.Jh. entstanden und erhielt in Spanien ihre klassische Ausbildung. Ihre Hauptwerke sind Jezirah („Schöpfung“) und Sohar („Glanz“). Sie verbindet Elemente des Neuplatonismus (das „Eine“, „Emanations“-Vorstellungen etc.) mit Geheimlehre und Zahlenspielerei (Vokale sind im Hebräischen zugleich Ziffern, so dass sich Begriffe auch als Zahl, Quersumme etc. angeben lassen). Dominant darin sind die messianischen Erlösungsvorstellungen, die geschichtlich mit der Vertreibung der Juden aus Spanien zusammenhängen und die Grundlage messianischer Volksbewegungen (Isaak Luria, 15341572) sowie des ostjüdischen Chassidismus werden, die dem starren Gesetz eine lebendige Frömmigkeit entgegensetzen. (Der Zerfall des Chassidismus seit dem Ende des 19. Jh.s ist das Thema der großen Romane von Isaak B. Singer, z.B. „Die Familie Moschkat“, „Das Landgut“, „Das Erbe“.) Vor dem Hintergrund dieser Tradition scheint es plausibel, dass der Begriff der jüdischen Philosophie zumeist als problematisch, d.h. die Philosophie nicht als authentischer Ausdruck des Judentums angesehen wird. Julius Guttmann, der bedeutende Historiker der jüdischen Philosophie, beginnt seine Darstellung mit den Worten: „Das jüdischen Volk ist nicht aus eigener Kraft zu philosophischem Denken gelangt. Es hat die Philosophie von außen her empfangen, und die Geschichte der jüdischen Philosophie ist eine Geschichte von Rezeptionen fremden Gedankenguts, das dann freilich unter eigenen und neuen Gesichtspunkten verarbeitet wird“1. Philo von Alexandrien (gest. 45 n.Chr.) hat demnach das jüdische Gedankengut, vor allem 1 J. Guttmann: Die Philosophie des Judentums (1933), Wiesbaden 1985, S.9. Judentum und Philosophie 11 den Monotheismus, im Sinne Platons, Maimonides (1135-1204) im Sinne von Aristoteles interpretiert. Hermann Cohens (1842-1918) „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ ist durch die Philosophie Kants, Franz Rosenzweigs (1886-1929) „Stern der Erlösung“ durch die Philosophie Hegels inspiriert. Begreift Guttmann die Philosophie des Judentums wesentlich als Religionsphilosophie, so betonen H. und M. Simon, dass die jüdische Philosophie letztlich keine Religionsphilosophie, sondern nur eine „an Religion gebundene Philosophie“2 sei. Neben den religiösen Aspekt (Synthese von Philosophie und jüdische Religion) tritt hier ein geschichtlicher, sozialpsychologischer Aspekt: das Verständnis der Philosophie als Krisensymptom. Ihre Blütezeiten nämlich erlebte die jüdische Philosophie im antiken Alexandrien, im mittelalterlichen Spanien und in Deutschland um die Wende vom 19. zum 20.Jh., d.h. dort, wo das Judentum durch die griechische, die islamische und die aufgeklärt-christliche Kultur besonders bedroht war, durch Assimilation oder Verfolgung und Vernichtung seine Identität zu verlieren. Sie ist also wesentlich auch Selbstvergewisserung oder Selbstbehauptung der eigenen Identität, die nicht nur religiös, sondern auch ethnisch begründet ist. Auch für Norbert M.Samuelson steht der Krisen- und Bedrohungscharakter im Vordergrund: die großen Zeiten der jüdischen Philosophie waren das Mittelalter „als die Juden vom Islam“ und das moderne Deutschland „als sie vom Christentum bedroht waren“3. Daraus leitet Samuelson ihren „zwangsläufig polemischen“ Charakter ab. An diese doppelte (philosophische und sozialpsychologische) Begründung schließt sich auch Michael Zanks Unterscheidung von jüdischer Philosophie und jüdischem Denken (bzw. „Denken Israels“) an4. Was jüdische Philosophie ist, wird demnach nicht an den Autoren oder Denkern, sondern an den Werken festgemacht und dem Interesse, das diese Werke verfolgen. Besteht vorrangig ein theoretischer (weltdeutender) Anspruch, wie z.B. in Maimonides’ „Führer der Unschlüssigen“, so handelt es sich um Philoso2 H. Simon/M. Simon: Geschichte der jüdischen Philosophie, München 1984, S.18. Hervorhebung von mir. 3 N.M. Samuelson: Moderne jüdische Philosophie. Eine Einführung, Reinbek 1995, S.8 und S.327. 4 M. Zank: Einige Vorüberlegungen zur jüdischen Philosophie am Ende des 20. Jahrhunderts. Entwurf einer Antrittsvorlesung zur MartinBuber Stiftungs-Gastprofessur für jüdische Religionsphilosophie, Frankfurt/Main, J.W. v.Goethe-Universität, 3. Mai 1999. 12 Konrad Lotter phie; ist ein Werk dagegen auf praktische Belange der religiösen und nationalen Selbsterhaltung gerichtet, wie der „Mishnah Torah“ (ein systematischer Gesetzeskodex), so haben wir es mit jüdischem Denken zu tun. In Deutschland endet die Tradition der jüdischen Philosophie mit Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ (1922) und Martin Bubers „Ich und Du“ (1923). Ihre weitere Entwicklung findet teils in den USA statt, wohin J. Guttmann, N.N. Glatzer u.a. nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus emigriert sind (Mordechai Kaplan, Emil Fackenheim u.a.), teils in Israel, unter dem Einfluss Bubers und dem aus Litauen stammenden Yeshayahu Leibowitz. II. Das Judentum als Gegenstand und Begriff der Philosophie Judentum als Gegenstand der Philosophie bezeichnet vor allem den Versuch, den jüdischen „Volksgeist“ zu charakterisieren, seine geschichtliche oder geschichtsphilosophische Bedeutung darzustellen und ihn zu anderen „Volksgeistern“ ins Verhältnis zu setzen. Herder etwa sieht den jüdischen Volksgeist vor allem durch drei Eigenschaften geprägt: die Klage über das verlorene und die Sehnsucht nach dem zukünftigen Paradies, die „Anfang und Ende der ebräischen Dichtkunst“5 sind, das Bewusstsein, ein „freies Volk“ zu sein, bei dem zwar das Gesetz (das Mosaische Gesetz), aber kein Gesetzgeber herrscht, schließlich das Gefühl der Fröhlichkeit und des Stolzes, das aus seinen nationalen Festen (Passah-, Laubhüttenfest) abzulesen ist, die an den Ausgang aus der ägyptischen Gefangenschaft erinnern. Weniger freundlich fällt das Bild aus, das Hegel (in seiner frühen Frankfurter Zeit) zeichnet, wobei er die jüdische Mythologie mit der griechischen vergleicht. Hauptthese: der jüdische Geist ist der Geist der Trennung und der Absonderung – und zwar „ohne Not“ – gegenüber der Natur ebenso wie gegenüber den Menschen. Noah will die Menschen nach der Flut (im Gegensatz zu Deukalion und Pyrrha) nicht mit der Welt versöhnen und den Bund der Liebe erneuern. Er will sich „gegen die feindselige Macht“ der Natur sichern, indem er „sie und 5 J.G. Herder: Vom Geist der ebräischen Poesie, in: Herder. Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin-Weimar 197810, S.101. Judentum und Philosophie 13 sich einem Mächtigeren unterwirft“6. Abraham wird zum Stammvater der Juden indem er „das Band des Zusammenlebens“ zerreißt; Kadmos oder Danaos hingegen verlassen ihr Vaterland, um neuen Raum für Freiheit und Liebe zu finden. Die Motivation der Juden, mit Moses aus Ägypten zu ziehen, entspringt nicht der Sehnsucht nach Freiheit, sondern der charismatischen Führerfigur und dem Eindruck, den Moses mit seinen Wunder-Kunststücken auf sie gemacht hat. Die Juden sind ein Volk, das gesiegt hat ohne zu kämpfen, ein passives, schadenfrohes und feiges Volk, ein sklavisches Volk „ohne ... Bedürfnis der Freiheit“, ein Volk, das vom „Dämon des Hasses“ beherrscht ist.7 Die Griechen sollten – gemäß dem Gesetz des Solons und des Lykurg, das das Eigentum beschränkte – „gleich sein, weil alle frei“ waren; die Juden hingegen sollten nur deshalb gleich sein, weil „alle ohne Fähigkeit des Selbstbestehens“ waren.8 Unter dem Einfluss des Rassentheoretikers Gobineau und dem (Sozial-) Darwinismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts mutiert der „Volksgeist“ bei Nietzsche zur Rasse-Eigenschaft. Die Juden werden zum Volk der Rache, des Hasses, der List und der Lüge, zum Volk des Ressentiments und des Priesterbetrugs, das gegen die „blonde ... arische Eroberer-Rasse“9 den „Sklavenaufstand“ in der Moral unternommen und alle vornehmen Werte umgewertet hat. Im Juden verkörpert sich der Geist der Askese, der Hass auf das Leben, die Feigheit vor dem offenen Kampf. Mit seiner GleichheitsForderung pflanzt sich der jüdische Geist fort in den demokratischen und sozialistischen Gedanken der Neuzeit. – Schwer vereinbar mit dieser geschichtsphilosophischen Wertung erscheint Nietzsches persönliche Hochachtung von Juden und sein Widerwille gegenüber dem Antisemitismus Richard Wagners oder Eugen Dührings. Für die „Kritische Theorie“ der 30er und 40er Jahre repräsentieren die Juden eine ökonomische Kategorie: die Zirkulation. Die eigene Zeit diagnostiziert Horkheimer als den Übergang vom (liberalen) Hoch- oder Konkurrenz6 G.W.F. Hegel: Der Geist des Judentums, in: Werke, Frankfurt/M. 1970, Bd.1, S.276. ebd., S.282 und S.287. 8 ebd., S.290. 9 F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Werke, München 1958 u.ö. (Schlechta), Bd.2, S.776. 7 14 Konrad Lotter Kapitalismus zum (totalitären) Spät- oder Monopol-Kapitalismus, bei dem der freie Tausch und die Vertragsfreiheit durch das Diktat über die Arbeit verdrängt werden. Im Verlauf dieses Übergangs verliert die Zirkulation, die traditionell das Geschäft der Juden war, an ökonomischer Bedeutung. Darin wird zugleich die reale Basis für den neuen Antisemitismus gesehen: „Der neue Antisemitismus ist der Sendbote der totalitären Ordnung.“10 III. Die „Judenfrage“. Philosophische Diskussion der Juden-Emanzipation Geprägt wurde der Begriff der Judenfrage in Deutschland um 1840. Infolge der rechtlichen Gleichstellung durch die Französische Revolution und die Verkündung der Menschenrechte verließen viele Juden die Gettos, so dass sich das Problem der Eingliederung und des Zusammenlebens neu stellte. Mehr oder weniger existierte das Problem allerdings schon (wie Lion Feuchtwanger, mit mancher Anspielung auf die Gegenwart, in seiner Josephs-Trilogie scharf herausarbeitet) seit der Antike, seitdem die Juden nach dem Jüdischen Krieg und der Zerstörung des Tempels (70 n.Chr.) zerstreut und in der Diaspora lebten. Zunächst ein Thema der Antisemiten, wurde die Judenfrage, weil sie ein reales Problem bezeichnete, auch von den Juden selbst aufgegriffen und diskutiert. Bekannt ist die Diskussion zwischen Bruno Bauer und Marx aus dem Jahr 1843. Solange der Jude jüdisch und der Staat christlich ist, solange kann es eine politische Emanzipation der Juden nicht geben: das ist die Position Bauers. Zuerst muss sich der Staat selbst von der Religion emanzipieren, d.h. die Religion zur Privatsache des Bürgers werden, erst dann können die Juden politisch, d.h. rechtlich gleichgestellt werden. Marx setzt der politischen die menschliche Emanzipation entgegen. „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum“11, Judentum aber ist gleichbedeutend mit Kapitalismus. „Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf... Der Wechsel ist der wirkliche Gott der Juden“12. Gelöst wird die Judenfrage infolgedessen letztlich erst durch die Aufhebung der kapitalistischen Verhältnisse. 10 M. Horkheimer: Die Juden und Europa (1939), in: Gesammelte Schriften, hg. von A. Schmidt und G. Schmid-Noerr, Frankfurt/Main 1985 ff., Bd.4, S.308. 11 K. Marx: Zur Judenfrage, in: MEW 1, S.373. 12 ebd. S.374 f. Judentum und Philosophie 15 Vor und nach dieser Diskussion hat es verschiedene andere Beantwortungen der Judenfrage gegeben, von denen ich nur die drei wichtigsten nenne: - das klassisch-humanistische Konzept von Lessing, Goethe und W.v. Humboldt: die religiöse Gleichstellung der Juden durch Toleranz, die Förderung ihrer Assimilation durch Erziehung und Bildung. - das zionistische Konzept von Moses Heß13 und Theodor Herzl14 (auch Werner Sombarts15 u.a.): die nationale Gleichstellung der Juden durch Gründung eines eigenen jüdischen Staats. - das kosmopolitische Konzept Hermann Cohens u.a.: Einigung der Menschheit durch die Juden. Die Idee der einen Menschheit verdanken wir „den jüdischen Propheten ... und nicht den griechischen Philosophen“; die „Eine Menschheit ist das Korrelat zur Einen Gottheit“16; die Einigung der Menschheit zu einem Staatenbund signalisiert, am Ende der Tage, die Ankunft des Messias. Damit beginnt die Zeit des Friedens, der Brüderlichkeit, des Sozialismus. Die Judenfrage richtet sich nicht nur auf die Möglichkeit des Zusammenlebens von Juden und anderen Völkern, sie richtet sich auch auf das Problem der jüdischen Identität selbst. Für Martin Buber („Drei Reden über das Judentum“, 1911) z.B., um nur zwei extreme Antworten zu skizzieren, ist dies ein Problem der individuellen (religiösen) Existenz: „was ein auf die einsamste unzugänglichste Insel verschlagener Jude noch als ‚Judenfrage’ anerkennt, das einzig ist sie“. Für Jean Paul Sartre hingegen („Reflexions sur la question juive“, 1946) wird der Jude erst durch die Anderen bzw. durch die gesellschaftliche Situation zum Juden gemacht. „Die Judenfrage ist durch den Antisemitismus entstanden“, was dann auch heißt: „wir müssen den Antisemitismus abschaffen, um sie zu lösen“.17 IV. 13 Juden in der deutschen bzw. europäischen Philosophie „Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage“ (1862). „Der Judenstaat“ (1896). 15 „Die Zukunft der Juden“ (1912). 16 H. Cohen: Jüdische Schriften, hg. von B.Strauß, Bd.1, Berlin 1924, S.213. 17 vgl. A. Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, Stuttgart 1980. Das zweibändige Werk ist das Standardwerk zu diesem Thema. Es stellt auch die Positionen Mendelssohns, Kants, Fichtes, Hegels, Dührings, E.v.Hartmanns, Nietzsches u.a. dar. 14 16 Konrad Lotter Alle bedeutenden Schulen oder philosophischen Richtungen des 20. Jahrhunderts werden, zum großen Teil sogar in ihren Gründern und Hauptvertretern, von Juden repräsentiert: - Neukantianismus (Cohen, Lask, Cassirer u.a.), - Lebensphilosophie (Bergson, Georg Simmel, Th. Lessing), - Phänomenologie (Husserl), - Neomarxismus (R. Luxemburg, Lukács, Bloch u.a.), - Neopositivismus (Wittgenstein, Neurath, Popper), - Wissenssoziologie (K. Mannheim, Scheler), - Frankfurter Schule (Benjamin, Horkheimer, Adorno, Marcuse u.a.), - Existenzphilosophie (Löwith, H.Arendt, Buber), - Ökologische Philosophie (G.Anders, H.Jonas, J.Améry, E.Chargaff), - Postmoderne/ Dekonstruktivismus (Derrida, Lyotard, Levinas u.a.). Gibt es Merkmale, die die Juden, quer zu den Grenzlinien der philosophischen Schulen miteinander verbinden und es als gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem „typischen jüdischen Denken“ zu sprechen? Nach Ansicht der auf der Rassentheorie aufbauenden Nazi-Ideologie: ja. H.A. Grunsky zufolge gibt es nur „eine einzige jüdische Philosophie“18, die vor allem zwei Merkmale aufweist: „nichtjüdisches Geistesgut ... in die jüdische Gesetzesvorstellung hineinzuziehen und ihr unterzuordnen“ (S.16), d.h. alle Themen der „großen arischen Philosophie“ zu „talmudisieren“ (S.34). Arische Schöpfung einerseits und jüdische Verfälschung andererseits zeigen sich, Grunsky zufolge, in den Verhältnissen von Maimonides zu Aristoteles, von Spinoza zu Descartes, von Newton zu Einstein, von Cohen zu Kant, von Marx zu Hegel, von Freud zu Nietzsche; Rabulistik, spitzfindige Rechthaberei, die von der Auslegung der Thora auf die Auslegung anderer Texte übertragen wird (S.18 ff.). Auch für Ernst Nolte stellt die jüdische Philosophie eine Einheit dar, was u.a. damit begründet wird, dass in der Geschichte „die nationale und religiöse Solidarität weitaus stärker war als das Empfinden klassenmäßiger Zusammengehörigkeit, und keineswegs nur bei Juden“19. Letztlich dient das jüdische Denken (als Sonderform oder Funktion quasi des „Willens zur 18 19 H.A. Grunsky: Einbruch des Judentums in die Philosophie, Berlin 1937, S.34. E. Nolte: Geschichtsdenken im 20.Jahrhundert, Berlin-Frankfurt/Main 1991, S.576. Judentum und Philosophie 17 Macht“) der Selbstbehauptung des jüdischen Kollektivs, darin besitzt es seine letzte Gemeinsamkeit. Micha Brumlik wehrt sich zwar gegen Noltes „ethnozentrische Perspektive“, die von jüdischer Abstammung auf jüdische Selbstbehauptung schließt, hält aber trotzdem an der Einheit des jüdischen Denkens fest, das er allerdings auf ein Denken einschränkt, das drei Kriterien erfüllt, nämlich - dass die Denker oder Denkerinnen „selbst Juden oder Jüdinnen“ sind, - dass sie zu ihrem Judentum in einem „bewussten und reflektierten Verhältnis stehen“, - dass ihr Denken „in der denkenden Entfaltung des Glaubens an den einen, gestaltlosen und geschichtsmächtigen Gott, dessen Taten und Worte zum Buch wurden“20. Benjamin wäre demnach ein „jüdischer Denker“, Hannah Arendt hingegen nur eine „bewusste Jüdin“, da sie sich vom Denken des Judentums weit entfernt hat. M.E. lässt sich die Heterogeneität der genannten jüdischen Philosophen inhaltlich überhaupt nicht überbrücken. Höchstens lassen sie sich, wie das Brumlik ansatzweise tut, nach ihrer Nähe oder Ferne zur jüdischen Religion klassifizieren, also danach, inwieweit sie ihre philosophischen Argumente aus der jüdischen Tradition entwickeln. Offensichtliche Übereinstimmung allerdings herrscht in der außergewöhnlichen formalen (analytischen, kritischen) Befähigung zur Philosophie bzw. zur geistigen oder künstlerischen Tätigkeit überhaupt. Nehmen wir z.B. das erste Drittel des 20. Jahrhunderts: der Bevölkerungsstatistik zufolge lebten im Jahr 1925 in Deutschland 564.000 Juden, das entsprach 0,93% der Gesamtbevölkerung.21 Vergleicht man diese Zahl mit den oben genannten Philosophen, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass in dieser Zeit weniger als 1% der deutschen Bevölkerung den – aus heutiger Perspektive – Hauptteil der deutschen Philosophie repräsentiert haben. Das ist erklärungsbedürftig und wird in der Regel folgendermaßen erklärt: durch den Ausschluss der Juden von vielen (handwerklichen) Berufen, was zu einem verstärkten Andrang in anderen, vor allem „freien“, d.h. kauf- 20 M. Brumlik: Jüdische Philosophie – Jüdische Denker oder Denken des Judentums?, Vortrag im AudiMax der Universität München am 3. Februar 1993. 21 R. Hirsch/ R. Schuder: Der gelbe Fleck, Berlin 1989, S.740. 18 Konrad Lotter männischen oder intellektuellen Berufen (wie eben Journalist, Kritiker, Schriftsteller, Musiker, Philosoph); durch die besondere Beziehung der Juden zum „Buch“, da die jüdische Identität weniger durch das Land oder die politischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten vermittelt ist, als die immer neue Auslegung, Diskussion und Kommentierung der heiligen Schriften; durch die Bedingungen der Humboldtschen Schul- und Universitätsreform, die auf dem Weg der Bildung, über die Aneignung der klassischen Literatur und Philosophie, die Assimilation bzw. die Emanzipation fördert oder überhaupt ermöglicht; durch die soziale Situation der Fremdheit, der Bedrohung und der Verfolgung, die eine besondere Wachheit für die sozialen und politischen Lebensbedingungen bewirkt und auch für geistige Veränderungen sensibel macht. Robert Jungk spricht von der Heimatlosigkeit als einem philosophischen „Stimulans“22. Die Frage, inwieweit die jüdische Religion selbst (und zwar in einem größeren Ausmaß als die christliche oder andere Religionen) das philosophische Denken fördert und prägt, wird weiter unten aufgegriffen. V. Jüdische Selbstreflexion Von den zahlreichen Reflexionen jüdischer Philosophen über ihre Zugehörigkeit zum Judentum möchte ich nur einige wenige anführen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Typologie, d.h. um anzudeuten, welche wiederkehrenden oder typischen Argumente oder Probleme dabei angesprochen werden. Georg Lukács skizziert in „Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog“, auf wenige Worte beschränkt, das Milieu assimilierter Juden in seiner Heimatstadt Budapest: „Aus rein jüdischer Familie. Gerade darum: Ideologie des Judentums gar keinen Einfluss auf geistige Entwicklung“. 23 Zur Erläuterung fügt er hinzu: seine Familie sei, wie alle Familien aus der Leopoldstadt, in religiösen Fragen vollkommen gleichgültig gewesen; die Religion interessierte nur als Teil des häuslichen Protokolls, bei Eheschliessungen und der Abwicklung sonstiger Zeremonien. (Dazu im Widerspruch gibt 22 23 H.J. Schulz (Hg.): Mein Judentum, Stuttgart-Berlin 19792, S.281. Frankfurt/Main 1981, S.39 und S.241. Judentum und Philosophie 19 Lukács in der Selbstkritik von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ zu, philosophische Fehler infolge seines „messianischen Utopismus“ begangen zu haben; siehe unten.) Von ganz anderer Tragweite ist eine Äußerung von Benjamin, der seine Beziehung zum Judentum als eine Quelle fortwährender Inspiration darstellt: „Ich habe nie anders forschen und denken können, als in einem, wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn – nämlich in der Gemäßheit der talmudschen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle“24. Das ist, wohlgemerkt, 1931 geschrieben, also nicht zu der Zeit, als Benjamin seine frühe Sprachphilosophie aus dem AT abgeleitet hat, sondern nachdem er längst zum Marxismus „übergetreten“ ist. Über die Verbindung von Judentum und Philosophie bei Benjamin existiert inzwischen eine kleine Bibliothek.25 Th. Lessing versucht das Lebensgefühl, die „Grundbefindlichkeit“ der jüdischen Existenz, zwischen der Innenperspektive des „ausgewählten Volks“ und der Außenperspektive des Fremden, des Verachteten, des Außenseiters (die auf die Innenperspektive zurückschlägt) darzustellen. Von ihm stammt das Wort vom „jüdischen Selbsthass“26. – Kleine Anekdote: der jüdische Schriftsteller Benedikt Friedlaender verübte, von Eugen Dührings Tiraden über die Minderwertigkeit der Juden bewegt, Selbstmord; er setzte Eugen Dühring als Erben seines beträchtlichen Vermögens ein. Wenn nicht von Selbsthass, so zumindest von Selbstzweifeln ist Wittgensteins Verhältnis zum Judentum geprägt. Einerseits hebt er zwar die Intellektualität und geistige Beweglichkeit hervor: „Der Jude ist eine wüste Gegend, unter deren dünner Gesteinsschicht aber die feurig-flüssigen Massen des Geistigen liegen“.27 Andererseits spricht er den Juden, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst, geistige Eigenständigkeit ab und gesteht ihnen nur die Fähigkeit des Kopierens, Reproduzierens und des hermeneutischen Nachvoll24 Brief an Max Rychner, den Herausgeber der „Schweizer Rundschau“, vom 7. März 1931, in: Briefe, hg. von G.Scholem und Th.W. Adorno, Frankfurt/Main 1978, Bd.2, S.524. 25 vgl. den Artikel „Theologie“ von A. Pangritz, insbesondere die Liste der über 50 Veröffentlichungen zu diesem Thema, in: M. Opitz/ E. Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt/Main 2000, Bd.2, S.822f. 26 Lessing beschäftigt sich in zwei Werken mit dem Judentum: „Deutschland und seine Juden“ (Prag 1923) und „Der jüdische Selbsthaß“ (Berlin 1930). 27 L. Wittgenstein: Über Gewißheit, Werkausgabe Bd.8, Frankfurt/Main 1984, S.468. 20 Konrad Lotter zugs zu: „Der größte jüdische Denker ist nur ein Talent. (Ich z.B.) – Es ist, glaube ich, eine Wahrheit darin, wenn ich denke, dass ich eigentlich in meinem Denken nur reproduktiv bin. Ich glaube, ich habe nie eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie wurde mir immer von jemand anderem gegeben. Ich habe sie nur sogleich leidenschaftlich zu meinem Klärungswerk aufgegriffen.“28 Wittgenstein führt das darauf zurück, dass die Juden den Basistext ihrer Kultur nur (auf dem Sinai) empfangen, – im Gegensatz zu den Griechen, die ihn (Homer) selbst erzeugt haben. Für viele überraschend (vor allem für seine marxistischen Anhänger, trotz vieler Hinweise, wie z.B. von Martin Jay29) kamen die „Enthüllungs-Interviews“ Horkheimers im „Spiegel“ und in anderen Zeitschriften, in dem er auf die jüdischen Quellen seiner und Adornos Philosophie hingewiesen hat. Vor allem seit Beginn der 60-er Jahre hat sich Horkheimer verstärkt mit Fragen der Religion und des Judentums auseinandergesetzt.30 „Theologie bedeutet ... das Bewusstsein davon, dass die Welt Erscheinung ist, dass sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist ... die Hoffnung, dass es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibt“. Mit Bezug auf das jüdische Bilderverbot heißt es: er und Adorno hätten „nicht mehr von Gott, sondern von der ‚Sehnsucht nach dem Anderen’ gesprochen“31. Damit ist nicht nur der Marxismus als Grundlage der „Kritischen Theorie“ abgelöst und durch die jüdischen Theologie ersetzt; mehr noch: Marxismus und „Frankfurter Schule“ werden gewissermaßen als zwei Filialen der jüdischen Theologie dargestellt, nur dadurch unterschieden, dass die eine den Messianismus, die andere das Bilderverbot zur Geschäftsgrundlage hat. „Marx ist meinem Gefühl nach vom Messianismus des Judentums bestimmt worden, während für mich die Hauptsache blieb, dass Gott nicht darstellbar ist, dass aber dieses Nicht-Darstellbare der Gegenstand unserer Sehnsucht ist“.32 28 ebd. - vgl. auch S.476 f. M. Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt/Main 1976. 30 „Über die deutschen Juden“ (1961), „Religion und Philosophie“ (1967), „Psalm 91“ (1968), „Bemerkungen zur Liberalisierung der Religion“ (1971) u.a. 31 M. Horkheimer: Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, in: Gesammelte Schriften a.a.O., Bd.7, S.351. 32 ebd., S.398. 29 Judentum und Philosophie 21 Völlig andersgeartet ist die Reflexion von Ernst Tugendhat, der Rechenschaft ablegt über seine Stellung „als Jude in der Bundesrepublik Deutschland“ und über die Möglichkeiten des deutsch-jüdischen Dialogs unter der geschichtlichen Voraussetzung des Holocaust33. Vor allem entwirft er, gegen Gershom Scholem gerichtet (der die religiöse Identität als die einzige anerkennt), vier Möglichkeiten jüdischer Identität: 1) Religion, 2) Assimilation, 3) Sozialismus und 4) Zionismus. Die Reihe ließe sich fortsetzen, z.B. durch die Äußerungen von Robert Jungk, Jean Améry, Günther Anders u.a.34, die nicht nur die Bedeutung ihrer jüdischen Herkunft für die eigene Sozialisation und den Verlauf ihres (wissenschaftlichen) Lebens reflektieren, sondern auch z.T. ausführlich begründen, weshalb sie nicht in Israel leben wollten und könnten. VI. Jüdische Philosopheme. Philosophische Motive der jüdischen Tradition Auch nach der Emanzipation der Philosophie von der Religion oder Theologie gibt es Motive, Argumentationsstrukturen etc., die überleben, eine säkularisierte Gestalt annehmen und in die Philosophie eingehen.35 Solche Motive sind: der Messianismus. Bloch, Benjamin, Horkheimer, Löwenthal u.a. (auch Lukács) weisen in ihrer philosophischen Entwicklung auffallende Parallelen auf: Sie beginnen beim Neukantianismus der Marburger und der Südwestdeutschen Schule (Cohen, Rickert, Windelband, Lask), vollziehen eine Wende zur Lebensphilosophie (Simmel), politisieren sich durch den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution, kommen zum Marxismus nicht über die Vermittlung Hegels (dessen Philosophie z.T. vehement abgelehnt wird), sondern über mystische (Jakob Böhme, Ketzer-Bewegungen, Franz v.Baader), zum großen Teil über jüdische Quellen (Kabbalistik, Chassidismus). Der Kommunismus erscheint ihnen als messianische, radikal- 33 E. Tugendhat: Ethik und Politik, Frankfurt/Main 1992, S.80ff. Vgl. die entsprechenden Beiträge in H.J. Schulz (Hg.): Mein Judentum, a.a.O. 35 Von Gegenwarts-Philosophen jüdischer Abstammung ausgehend, zeigt das von Joachim Valentin und Saskia Wendel herausgegebene Buch „Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20.Jh.s“ (Darmstadt 2000) eione Fülle solcher Motive auf. 34 22 Konrad Lotter ethische, mystische „Erlösung“ aus dem „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit“36. die Negativität. Maimonides zufolge lässt sich das Wesen Gottes mit keinem positiven Attribut erfassen; zur Erkenntnis Gottes gelangt man infolgedessen nur durch verneinende Aussagen, d.h. durch Aussagen dessen, was Gott nicht ist. Gottesdienst ist in erster Linie Überwindung des Götzendienstes. Der Kampf gegen die Götzen (Baal) ist eines der Hauptthemen des ATs. Allgemein steht „Götze“ auch für Entfremdung, Ideologie, falsche Positivität. Gott bzw. Wahrheit sind nur negativ, in kritischer Absetzung gegen das Falsche zu entwickeln. Dass die Wahrheit ex negativo in dem von ihr Verlassenen aufgesucht wird, ist eine Gemeinsamkeit von kritischer Gesellschaftstheorie (richtiges Leben als Negation des falschen) und Psychoanalyse (Gesundheit als Negation der Krankheit), die beide von Juden begründet wurden. Zwei entgegengesetzte Formen der Negativität sind: das Bilderverbot (das Verbot Gott und auch den Menschen als sein Ebenbild darzustellen) und die Allegorie (die indirekte, über beliebige Zeichen vermittelte, verschieden ausdeutbare Darstellung). Ästhetische Konsequenz davon ist z.B. die Bevorzugung der Musik und Dichtung vor der Malerei und Bildhauerei oder die Bevorzugung der „offenen“ und vieldeutigen vor der realistischen Darstellung. Eine Konsequenz der Allegorie wäre die Tendenz zur (quasi-religiösen) Avantgarde („leere Transzendenz“) oder auch zur Postmoderne bzw. zum Dekonstruktivismus. Derridas neugeprägter Begriff der „différance“ meint a) Verschieden-sein (Unerschöpfbarkeit der „Schrift“ aufgrund der eigenen Brüche, Widersprüche, Polysemien), b) (zeitliche) Aufschiebung jedes endgültigen, verbindlichen Verstehens. Er erhebt Einspruch gegen die eindeutige Zuordnung von „signifiant“ und „signifié“, die Identifikation der Dinge durch das Zeichen. Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“: „Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unter36 Vgl. A.Münsterberg: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von E.Bloch, Frankfurt/M. 1982. M.Löwy: Idéologie révolutionaire et messianisme mystique chez le jeune Lukács (1910-1919), in: Archives de Science sociales des Religions Nr.45/1 (1978). Löwy stellt die These auf, religiös-mystische Sozialrevolutionäre wie z.B. die Figur des Vanja in Savinkows Roman „Das bleiche Pferd (1900) hätten Lukács’ Bild der Oktoberrevolution mitgeprägt. Judentum und Philosophie 23 pfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns.“37 Verbot des Bildes als Unterpfand der Rettung: damit wird dann auch die philosophische Überlegenheit der jüdischen über die christliche Religion begründet (S.167). Habermas bringt den letzten Satz von Wittgensteins „Tractatus“, wovon man nicht sprechen kann, davon soll man schweigen, in Verbindung mit der jüdischen Tradition: "Ein solches Schweigen hat transitiven Sinn. Noch das Ausgesprochene muss in das gebrochene Schweigen wieder zurückgenommen werden. Wie ein Kommentar liest sich Rosenzweigs Bemerkung: ‚Es gibt nichts im tieferen Sinn Jüdisches als ein letztes Misstrauen gegen die Macht des Wortes und ein inniges Zutrauen zur Macht des Schweigens’. – Weil die eigene Sprache, das Hebräische, nicht die Sprache des Alltags, sondern als die heilige Sprache diesem entrückt war, ist dem Juden die letzte und selbstverständlichste Unbefangenheit des Lebens, in seiner Qual zu sagen, was er leidet, genommen.“38 Weitere Motive oder Züge, die die Philosophie beeinflusst haben, wären etwa - Widerständigkeit. Es gibt im Judentum keine päpstliche Autorität, keine Institution für Inquisition, keinen Kardinal Ratzinger. Der Talmud kennt kein Verfahren der Synthetisierung, der Ausschließung von Widersprüchen. Bewusst sind einander widersprechende Texte und Kommentare aufgenommen. Aufgabe des gläubigen Juden ist es, seinen eigenen Weg zu Gott zu finden. (Trotzdem hat sich auch eine jüdische Orthodoxie ausgebildet: eine besonders strenge Gesetzesgläubigkeit.) - Rationalität. Das jüdische Verhältnis zu Gott ist weniger durch den Glauben und die Offenbarung als durch das Studium der Thora vermittelt. Fragen den Glaubens werden nicht an kirchliche Instanzen delegiert. Der Spott über „zwei Juden, drei Meinungen“ kann auch positiv, als Selbständigkeit des Denkens, gedeutet werden. (Unter den Irrationalisten der europäischen Philosophie befinden sich kaum Juden.) 37 M. Horkheimer/Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1971, S.24f. 38 J. Habermas: Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen, in: Th.Koch (Hg.): Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte, Köln 1961, S.109. 24 Konrad Lotter - Diesseits-Orientierung. Leo Baeck hebt hervor, dass die Sehnsucht, die die jüdische Welt der Propheten beschreibt, eine Horizontale ist, d.h. auf die geschichtliche Zukunft gerichtet ist; bei der christlichen Welt der Apokalypse handelt es sich dagegen um eine Vertikale, sie ist auf eine jenseitige Welt gerichtet.39 „Erlösung“ bezeichnet für die Juden ein innerweltliches Ereignis. - Naturfremdheit als Konsequenz des Monotheismus, der die Welt nur als Schöpfung Gottes (und deshalb nur als Zeichen seiner Größe und Allmacht), nicht in ihrer materiellen Eigengesetzlichkeit und Selbständigkeit wahrnimmt.40 Der Beschneidungsritus könnte als ein Heraustreten aus der Natur bzw. als Eintritt des Menschen die religiöse Gemeinschaft gedeutet werden. Der jüdischen Philosophie gebricht es, wie oftmals festgestellt wurde, an einer Ontologie41. In der Selbstkritik (1967) von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ führt Lukács das Leugnen der Naturdialektik und der Abbildlichkeit des Erkennens u.a. auf seinen „damaligen messianischen Utopismus“ und den Primat der Praxis in seinem frühen Denken (d.h. auf jüdische Einflüsse) zurück.42 - Primat des Ethischen bzw. der Praxis. Im jüdischen Denken liegt das Schwergewicht nicht auf dem Wissen über Gott, sondern auf der Nachahmung Gottes, d.h. auf der rechten Art zu leben. „Halacha“43 bezeichnet den Weg, sich durch richtiges Handeln an Gott anzunähern.44 - Plötzlichkeit bzw. Ereignis. Zu den Grundansichten des Judentums gehört, dass man den Messias zwar nicht herbeizwingen kann, dass man seiner aber in jedem Augenblick gewärtig sein muss. Er kann jederzeit kommen, denn: 39 Vgl. L. Baeck: Judaism and Christianity, Philadelphia 1958, S.31. Auch G.Scholem: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/Main 1970, S.121. 40 Vgl. E. Treptow: Die erhabene Natur. Entwurf einer ökologischen Ästhetik, Würzburg 2001. „Während für die griechisch-römische Antike die Anschauung typisch ist, dass die schöne und die große Natur an sich selbst göttlich ist, respektiert die Bibel die eigenen Maße der Natur nicht. Sie unterstellt, dass die Natur ein Mittel der Verherrlichung des naturtranszendenten Gottes und seiner übernatürlichen Zwecke ist. Um sich als Herr seiner absoluten Souveränität zu zeigen, durchbrach Jahwe die Naturordnung, tat er Zeichen und Wunder.“ (S.204, vgl. S. S.151f. Als Beleg führt Treptow vornehmlich Stellen aus dem AT an. 41 Z.B. in dem von A. Diemer und I. Frenzel herausgegebenen Fischer-Lexikon Philosophie, Frankfurt/Main 1958 u.ö., Stichwort „Jüdische Philosophie“ (C.Colpe). 42 G. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied-Berlin 1970, S.27. 43 Vgl. E. Fromm: Ihr werdet sein wie Gott, Reinbek 1980, S.145 ff. 44 Das ethische Fundament der Philosophie Adornos ist wohl eher hier zu suchen, als, wie mein Freund Manuel Knoll meint, in der Ethik des vögelnden Parasiten Aristipp. Judentum und Philosophie 25 „Verflucht seien die Gebeine dessen, der das Ende (die Ankunft des Messias) berechnet“45. Seine Ankunft ist an keine Voraussetzung oder Entwicklung geknüpft. Nicht jede Epoche, sondern jeder Augenblick steht so unmittelbar zu Gott. Plötzliche Ereignisse können unser Leben ändern. Im Gegensatz zu Hegels Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität wird die Geschichte als etwas Brüchiges, Diskontinuierliches, Sprunghaftes begriffen. Darin liegt die Verbindung der jüdischen Theologie zum Geschichtsbild des Anarchismus, zu Benjamins „Jetztzeit“ oder Adornos Begriff der apparition, des „Himmelszeichens“ 46, in dem das Absolute blitzhaft aufleuchtet. 45 46 Talmud, Sanhedrin 97 b. (Vgl. E. Fromm, a.a.O., S.126 f.) Th.W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main 1970, S.125. In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 26-41 Autor: Thomas Meyer Artikel Thomas Meyer Standortbestimmungen Zum Problem einer „jüdischen Philosophie“* I. Annäherungen Zumindest der Zeitpunkt scheint einigermaßen gesichert: 1818 veröffentlichte Leopold Zunz (1794-1886) seine Schrift „Etwas über die rabbinische Literatur“, in der es hieß: „Aber auch nur diese höhere Ansicht geziemt der Wissenschaft, die, erhaben über alle Erden-Kleinigkeit, Länder und Nationen überlebt; nur sie kann uns einst zu einer wahren Geschichte der jüdischen Philosophie führen, worin der Ideengang der Köpfe ausgemittelt und verstanden und mit den strengen Vorschriften der Geschichte verfolgt werden muß.“1 Damit ist Friedrich Niewöhners an vielen Stellen nachzulesende Behauptung, so in Ritters „Philosophischem Wörterbuch“, widerlegt, dass die Zusammensetzung „jüdische Philosophie“ erst in den 1840er Jahren zustande kam. Die Fragen, die eine Bestimmung dessen, was „jüdische Philosophie“ heißt, stellen, bleiben jedoch die gleichen. Denn schon Zunz tat sich schwer, jüdischer Philosophie einen genau definierten Inhalt neben den anderen Bindestrichphilosophien zu geben. Konsequent ist es daher, was der wohl beste Kenner der Problematik einer jüdischen Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nämlich Julius Guttmann (1880-1950), * Den Aufsatz möchte ich dem Andenken des Münchner Philosophen Richard Hönigswald widmen. 1 Leopold Zunz, Etwas über die „rabbinische Literatur“, in: Ders., Gesammelte Schriften. Band I, Berlin 1875, S.31. Thomas Meyer seit 1919 Dozent für Religionsphilosophie an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, später deren Leiter, in seinem maßgeblichen Werk „Die Philosophie des Judentums“, schrieb: „Es hat niemals eine jüdische Philosophie in dem Sinne gegeben, in dem es eine griechische oder römische, eine deutsche oder französische gibt. Die jüdische Philosophie ist seit der Antike ihrem Wesen nach Philosophie des Judentums... Ihre Selbständigkeit und Eigenart liegt ganz in dieser religiösen Richtung, mag sie nun das überkommene Gedankengut zur Begründung des religiösen Judentums verwenden oder die Gegensätze wissenschaftlicher und religiöser Wahrheit auszugleichen suchen. Sie ist Religionsphilosophie im dem spezifischen Sinne, der durch die Eigenart der monotheistischen Offenbarungsreligion gegeben ist, die sich durch die Energie ihres Wahrheitsanspruches wie durch die Tiefe ihres geistigen Gehaltes der Philosophie als eine eigene Macht gegenüberstellte.“2 Gleichwohl, so überzeugend Guttmanns Bestimmung ist, so sehr bedarf sie der Korrektur. Überzeugend ist sie da, wo Guttmann von der nicht aufzulösenden und stets mitzudenkenden Verzahnung von jüdischer Religion und jüdischer Philosophie spricht. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Wer sich also mit jüdischer Philosophie als einem historischen und aktuellen Phänomen auseinandersetzt, muss Abschied nehmen von den historisch ausgebildeten Formationen der nichtjüdischen Philosophie, die eine Entwicklung hin zur Trennung von Religion und Philosophie kennt.3 Natürlich gibt es Vorstellungen von „jüdischer Philosophie“, die versucht, eben keine „jüdische Religion“ zu denken; doch diese kommen, wie wir sehen werden, nicht um die Frage nach der Konzeption und vor allem nach ihrer Legitimation herum. Korrigiert werden müssen Guttmanns Behauptungen dort, wo er allzu leichtfertig „jüdische Philosophie“ als monolithischen Block versteht, der durch die Zeitläufte einen Wesenskern beibehalten habe und unveränderlich sei. „Jüdische Philosophie“ ist nämlich von Beginn an in mehreren Gestalten aufgetreten. Zwar verfügen die einzelnen Ausprägungen wiederum über einen gemeinsamen Bezugspunkt, doch 2 Julius Guttmann, Die Philosophie des Judentums (1933), Wiesbaden 1985, S.10. Sieht man einmal von Martin Heideggers Verdacht ab, dass alle Philosophie ihren „ontotheologischen“ Charakter stets beibehalten habe. Siehe dazu die präzise Untersuchung von Rudolf Brandner, Heideggers Begriff der Geschichte und das neuzeitliche Geschichtsdenken, Wien 1994. 3 Standortbestimmungen zumindest die Rezeptionsgeschichte widerspricht Guttmanns Vorstellung von der „jüdischen Philosophie“. Wer das allerdings behauptet, der muss über ein Begriffsnetz verfügen, das sich gerade in der Retrospektive bewährt. Ein solches hat der Religionsphilosoph Michael Zank vorgelegt. Die ‚Formationen’ – um es zunächst neutraler zu sagen – jüdischen Denkens, lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen: einmal die „jüdische Philosophie“ selbst, das „jüdische Denken“ („Jewish Thought“) und das „Denken Israels“ („machsevet Israel“).4 Diese drei Kategorien sind jedoch sehr unterschiedlich konstruiert. Während die „jüdische Philosophie“ in der Philosophie ihren Oberbegriff hat, sind die beiden anderen letztlich am religiös gedachten Oberbegriff Israel orientiert, so daß selbst der Einordnungsversuch von historischen Gestalten oder Denksystemen unter einer besonderen Schwierigkeit steht. Die Vielgestaltigkeit, die am Anfang steht, erinnert an Derridas Rede von den „mehreren Ursprüngen“, die ein Phänomen hat. Der gewohnte hermeneutische oder begriffsgeschichtliche Zugriff erweist sich als verfehlt; er sucht eine Eindeutigkeit, die die Texte nicht hergeben. Zanks Unterscheidung wird noch vertieft durch die Problematik: Ist zum Beispiel Walter Benjamin ein „jüdischer Philosoph“? Oder sind seine „Geschichtsphilosophischen Thesen“, seine Gedanken über den Messianismus dem „Denken Israels“ zuzuordnen? Dort, wo ‚westliche Selbstverständlichkeiten’ und die Annahmen einer ganzen Tradition sofort zu greifen scheinen, nämlich bei der Vorstellung einer „jüdischen Philosophie“, entsteht tatsächlich sehr schnell die Notwendigkeit zur Differenzierung und Präzisierung. Denn das, was man gewohnt ist durch Analyse entkoppeln zu können, erweist sich als nicht auflösbar – es sei denn, um den Preis der Zerstörung des Inhaltes. Freilich ist dies bei Maimonides etwa eher der Fall als bei Moses Mendelssohn. Wer aber nur über Kenntnisse mittelalterlichscholastischer Philosopheme verfügt, wird Maimonides’ „Sefer“ ebenso wenig verstehen wie der, der Mendelssohns „Phaidon“ nur als Auseinandersetzung mit Plato liest. Er wird beide zwar auf unterschiedliche Art falsch 4 Die folgenden Überlegungen orientieren sich an Michael Zanks Antrittsvorlesung am 3. Mai 1999 in Frankfurt/Main, gehalten anlässlich der Übernahme der Martin-BuberGastprofessur für jüdische Religionsphilosophie. Der Text ist unter "http://www. bu.edu/mzank/Michael_Zank/JuedischePHil.html" im Internet zugänglich. Thomas Meyer verstehen, was aber für eine Bestimmung des Begriffs „jüdischer Philosophie“ auch nicht gerade tröstlich ist. Ein weiterer Aspekt, der die Problematik nur unterstreicht, ist die historische Zuordnung jüdischer Denker. Natürlich wäre es einfach, eine Geschichte der „jüdischen Philosophie“ zu erzählen, die sich auch gegenüber dem „jüdischen Denken“ sowie dem „Denken Israels“ verantwortlich zeigt. Man hätte so zu sprechen von Philo von Alexandrien, Moses Maimonides, Spinoza, Moses Mendelssohn, Hermann Cohen und Martin Buber bis hin zu Emmanuel Levinas und Ze’ev Levy. Aber unabhängig von der zeitlichen Richtigkeit dieser Folge ist dann zu fragen, ob und inwiefern die Genannten sich in das gängige Schema von Antike, Mittelalter, Aufklärung und Moderne einordnen lassen. Wie verhalten sich Aufklärung und Haskala, die jüdisch-deutsche Aufklärung? Kann man die Texte der Philosophen in eine zeitliche Reihenfolge bringen, um Geschichte dann als Abfolge von Systemen zu formulieren, wie dies etwa Ernst Cassirer getan hat?5 Mit ebenso guten, das heißt: erkenntniskritischen und hermeneutischen, Gründen hätte man das Recht, die Texte als philosophische Auseinandersetzung zwischen der je gegenwärtigen Philosophie und den Lehren des Judentums sowie dem Judentum der Autoren zu lesen. Für ein solches Deutungsmuster haben die Werke des Breslauer Rabbiners und Religionsphilosophen Albert Lewkowitz ein bedeutendes Beispiel geben.6 Diese Fragen nach der historischen Zuordnung scheinen sich unabhängig von jenen zuvor angegebenen drei Kategorien zu stellen, da es sich hierbei um Übertragungsversuche in ein der „jüdischen Philosophie“ – im weitesteten Sinne gebraucht – zunächst inadäquates, weil im logoszentrierten westlich-griechischen Denken fundiertes Geschichtsschema handelt. 5 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Berlin/Göteborg 1906-1950. Das Werk erschien in vier Bänden, der letzte wurde fünf Jahre nach Cassirers Tod in Englisch publiziert, eine deutsche Übersetzung erfolgte erstmals 1957. 6 Albert Lewkowitz hat drei Monographien geschrieben, die jeweils in Breslau veröffentlicht wurden und unter dem Obertitel „Das Judentum und die geistigen Strömungen der Neuzeit“ standen : zur Renaissance (1929), zur Aufklärung (1929) und zum 19. Jahrhundert (1935). – Zu Lewkowitz siehe vom Verfasser: Thomas Meyer, Ernst Cassirer und Albert Lewkowitz. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Philosophiegeschichte?, in: Trumah 11 (2001), S.81-97. Standortbestimmungen Desweiteren wäre die Frage zu beantworten, ob und wie die genannten drei Kategorien durch das nichtjüdische Umfeld Veränderungen erfahren haben. Die Konzepte von Assimilation und Akkulturation oder die Versuche der Isolierung, kurz alle jüdischen Reaktionsweisen auf ihre nichtjüdische Umwelt, müssten auch für die Problematik einer „jüdischen Philosophie“ Anwendung finden. Philosophiegeschichte müßte in unserem Zusammenhang unbedingt um die Dimension des Historischen, das heißt um sozialgeschichtliche und ideengeschichtliche Aspekte, erweitert werden. Schon längst ist in der geschichtlichen Forschung ein Konsens darüber erzielt worden, dass Judentum und Nichtjudentum in komplexen Austauschverhältnissen standen, dass etwa karolingische Pauluskommentare voller verheimlichter Midraschtexte sind, und daß sich in dem umfänglichen Korpus mittelalterlicher Traktate jüdischer Autoren auf Schritt und Tritt Übernahmen der aristotelischen und christlichen Philosophie finden lassen. Wer dabei von „Austausch“ redet, müßte allerdings genau angeben, wo jeweils die ideologischen, religiösen und sozialen Grenzen dieses Verhältnisses lagen.7 Keine leichte Aufgabe; denn die Integration von methodischen Überlegungen aus anderen Disziplinen ist bisher nicht die Stärke der Philosophiegeschichtsschreibung. Diese sozialgeschichtlichen Fragestellungen aber haben Bedeutung für die Gegenwart. Denn bei all den Unterscheidungen steht unausgesprochen ein Komplex im Hintergrund, der für jede Beschäftigung mit dem Judentum konstitutiv ist: Was heißt „Judentum“? Welcher Aspekt soll betont werden: Gesetzestreue, rabbinische Tradition? Oder soll nach liberalen, orthodoxen oder rekonstruktivistischen Formen des religiösen Judentums unterschieden werden, die von den wiederum zahllosen Typen eines säkularen Judentums zu unterscheiden sind? Allein die Frage nach einer „jüdischen Philosophie“ zu stellen, bedarf also einer Vielzahl von Vorüberlegungen, die ihrerseits voller normativer Annahmen sind, wie Willi Goetschel in einem wichtigen Aufsatz gezeigt hat.8 Daher kann – nach der vorgenommenen, keineswegs vollständigen De7 Dazu ist soeben ein neues Standardwerk erschienen, das diesen Fragenkomplex mustergültig vor allem aus der Sicht des Historikers und Ideengeschichtlers darstellt: Andreas Gotzmann, Rainer Liedtke, Till van Rahden (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1930, Tübingen 2001. 8 Willi Goetschel, „Jüdische Philosophie“ – Ein Querverweis, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 13-14 (1994), S.119-132, hier S.119 f. Thomas Meyer konstruktion der Selbstverständlichkeit von „jüdischer Philosophie“ – weder eine Definition des Gegenstandes gegeben, noch soll eine bloß weitere Geschichte der jüdischen Philosophie erzählt werden. Ich beschränke mich daher im folgenden auf die Darstellung einiger Positionen, die versucht haben, das Problem einer „jüdischen Philosophie“ möglichst komplex zu diskutieren, die allerdings unserer weitgehenden Infragestellung noch nicht gefolgt sind. Dies hätte wohl als eine allzu schnelle Erledigung der Problemstellung gewirkt. – Danach werde ich anhand des Philosophen Hermann Cohen einige ungeordnete Überlegungen darüber anstellen, wie problematisch, aber auch erkenntniserschließend es sein kann, wenn man von ihm als „jüdischem Philosophen“ spricht. II. Positionen 1999 erschien eine Essaysammlung aus dem Nachlaß von Leon Roth. Unter dem Titel „Is there a Jewish Philosophy?“9 wurden Aufsätze zusammengestellt, die erwarten ließen, von prominenter Seite endlich eine Antwort auf die wohl rhetorisch gestellte Frage zu bekommen. Weit gefehlt. Der von 1928 bis 1951 an der Hebrew University in Jerusalem lehrende, einflussreiche Philosoph Leon Roth, der seine Fakultät bewusst unter den bis heute gültigen Namen „Denken Israels“ gestellt hatte, umkreist zwar das im Titel genannte Thema und gibt sogar eine Definition „jüdischer Philosophie“, aber statt Kriterien für seine Begriffsbestimmung zu nennen, übt er sich in der Analyse unterschiedlicher Autoren. Für Roth ist „jüdische Philosophie” wohl „the thinking and rethinking of the fundamental ideas involved in Judaism and the attempt to see them fundamentally, that is, in coherent relation one with another so that they form one intelligible whole.“10 Vielleicht klingt es etwas hart, doch ganz Unrecht hatte der Rezensent Kenneth Seeskin nicht, als er diesen Definitionsversuch „platitudinous“ nannte.11 Obwohl Roth ein äußerst subtiler Kenner der Tradition jüdischen Denkens war und sein ganzes Leben mit deren Erforschung verbrachte, erscheint 9 Leon Roth, Is there a Jewish Philosophy? Rethinking Fundamentals. Library of Jewish Civilization, Oxford 1999. – Siehe Rezension in diesem Heft. 10 Leon Roth, a.a.O., S.8. 11 Kenneth Seeskin, Review: Leon Roth, in: Shofar. An interdisciplinary Journal of Jewish Studies 19 (2001) 3, S.180 f., hier S.181. Standortbestimmungen sein Vorschlag tatsächlich ein wenig dünn. Er stellt ein bekanntes Rationalitätskriterium an das Ende seiner Definition: „one intelligible whole“, an dem sich seine Auffassung von „jüdischer Philosophie“ orientiert. Nicht nur, dass damit etwa kabbalistische Formationen ausgeschlossen werden, – er übernimmt auch ein scheinbar genuin idealistisches Argument und verpflanzt es unter großem Erklärungsvertrauen in einen fremden Zusammenhang. Im weiteren Verlauf des Buches wird allerdings klar, in welchem Zusammenhang seine Rede vom „intelligiblen Ganzen“ steht. Für Roth steht das monotheistische Judentum vor allem für eine universalistische Ethik, eine Doktrin, die auf der Vorstellung eines transzendenten, von der Welt separierten Gottes beruht. Kontextualisiert man diese Definition Roths, dann muss auch Seeskins Vorwurf relativiert werden. Es wäre dann auch Hermann Cohens Projekt einer „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“12 in den Kontext einzubeziehen. Dort entwickelt der Marburger Neukantianer eine Philosophie, die zwar als der formale Abschluss seines an Kant ausgerichteten System verstanden werden kann, aber in einem tieferen Sinn eine Auseinandersetzung mit dem Satz darstellt: „Die Vernunft hat den Zwiespalt in den Menschen mit seinem Gotte gebracht.“13 Cohen schreibt hier keine bloße Theodizee, sondern breitet das Konzept eines ethischen Universalismus aus, das sich als „detaillierte Interpretation religiöser Glaubensinhalte und religiöser Lebensführung im Horizont der Vernunft“14 präsentiert. Es geht Cohen nicht länger um einen Gegensatz zwischen Philosophie und Theologie, sondern um deren Einheit, wie sie die jüdischen Propheten in ihren Schriften vorlegten. Sein Programm unternimmt den Versuch, den Kantischen Begriff der Vernunft als Instrument für die Lektüre der prophetischen Schriften nutzbar zu machen, wobei er sich selbst verändert und schließlich die Berechtigung seines Einsatzes ebenso hervorscheint wie die 12 Siehe die gleichnamige programmatische Schrift, die in ihrer zweiten Auflage bewusst auf das immer wieder fälschlicherweise hinzugefügte „Die“ verzichtet: Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (19292). Aus dem Nachlass herausgegeben von Bruno Strauß, Wiesbaden 19953. 13 Hermann Cohen, a.a.O., S.272. 14 Helmut Holzhey, Der systematische Ort der „Religion der Vernunft“ im Gesamtwerk Hermann Cohens, in: Helmut Holzhey, Gabriel Motzkin, Hartwig Wiedebach (Hg.), „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“. Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk, Hildesheim u.a. 2000, S. 7-59, hier: S.50. Thomas Meyer Notwendigkeit seiner Veränderung. Die transzendentale Methode wird sukzessive zu einer religionsphilosophischen Methode, die als Einheit beider erscheint. Wichtig war und ist Cohens Position. War und ist doch selbst von dem Judentum grundsätzlich wohlgesonnenen Richtungen, wie dem Kulturprotestantismus von Harnacks, Troeltschs und ihren zeitgenössischen Schülern, immer wieder verdeutlicht worden, wie sehr man das Judentum als eine historisch längst überwundene Religion hält. Erst auf dem Hintergrund der Vorlesungen Harnacks über das „Wesen des Christentums“ werden die explizit ethischen Positionen verständlich, wie sie die Vertreter der „Wissenschaft vom Judentum“ favorisierten. Bis heute weigert man sich in Deutschland, ihre Forschungen, wie die von Benzion Kellermann, Uriel Tal, Steven S. Schwarzschild oder jüngst Christian Wiese, in der nichtjüdischen Religionsphilosophie zur Kenntnis zu nehmen.15 Zeitgenössische Denker wie Micha Brumlik haben Cohen und seinen Schülern allerdings immer wieder eine Verwässerung „jüdischen Denkens“ vorgeworfen, weil diese letztlich eine Formel wie „Judentum + das Denken darüber = universalistische Ethik“ postulierten. Dabei wird jedoch häufig unterschlagen, dass das Judentum stets im Spannungsfeld von Universalismus und Partikularismus gestanden hat, daß für es also die Notwendigkeit einer ethischen Konzeption existenziell war: Ein universalistischer Anspruch, der gerade aus der Verantwortung, das ausgewählte Volk Gottes zu sein, auf die gesamte Menschheit ausgedehnt wurde und wird. – Die Partikularitäten, mit denen das Judentum sich konfrontiert sah und sieht, sind Legion. Doch die Zuweisung, diese Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus verweise in die lange Reihe von Heilsgeschichten, greift zu kurz. Denn sie ist weder aufzuheben noch entscheidbar; sie ist konstitutiver Teil des Judentums. In ihm wird Ethik, wenn die Rede überhaupt Sinn macht, als „Erste Philosophie“ präsentiert bzw. ist immer gegenwärtig. Sie kommt nicht, wie man es seit Aristoteles gewohnt ist, bloß hinzu. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses bedarf es eines Konzepts, das sowohl den Bestand der Religion als auch den Freiraum für die Reflexion über sie ermöglicht. Es ist der Vernunftbegriff, der genau hier einsetzt. Der von Cohen und auch von Hermann Levin Goldschmidt verwandte Begriff der Ver15 Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und Protestantische Theologie im Wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?, Tübingen 1999. Standortbestimmungen nunft zielt darauf ab, die Möglichkeit einer kritischen Reflexion auf die für die Tradition zentralen Begriffe des Ursprungs, des Gesetzes und der Quellen zu eröffnen, um sie für die jüdische Philosophie selbst zu verorten.16 Aber auch die Präzisierung von Roths Konzept bringt einen, wenngleich anderen, Argumentationsstrang hervor: In seiner Londoner Ringvorlesung, an deren Beginn die Frage „Is there a Jewish Philosophy?“ stand17, zeigt Roth, dass „jüdische Philosophie“ sich durch Diskontinuitäten auszeichne, die allein deshalb unvermeidlich waren, weil das Denken in keinem einheitlichen Raum zustande kam. Er greift das Motiv einer zersplitterten, sich erst immer wieder zu erobernden Sicht auf die philosophischen Probleme als Tradition jüdischen Denkens auf. Kontinuität bietet die jüdische Religion mit ihren mündlichen und schriftlichen Quellen; der Blick auf das aber, was in der nichtjüdischen Philosophie geschieht, ist durch vielfältige Hindernisse verstellt. Die Ausgrenzungsmechanismen nichtjüdischer Gesellschaften nehmen hier direkten Einfluss auf die Möglichkeit der Rezeption; ganz unabhängig davon, dass sich die traditionssichernde jüdische Religion und die philosophische Reflexion über sie in einer säkularen Umwelt abspielen.18 Hier zeigt sich das Wechselspiel zwischen Universalismus und Partikularismus in existenzieller Form erneut: in dem kompliziert korrelationalen Gefüge von Inklusion und Exklusion bildet sich eine Art offener Wunde aus. Damit aber verweisen all diese Überlegungen über jüdische Philosophie, jüdisches Denken und Judentum auf die Frage nach der „jüdischen Identität“. Lutz Niethammer hat in seinem brillanten Großessay „Kollektive Identität“19 völlig zu recht auf die Gefahren vor einer gedankenlosen Verwendung des „Plastikwortes“ (Uwe Pörksen) Identität gewarnt, – aber gleichzeitig den Diskurs um „jüdische Identität“ ausgenommen. Dies deshalb, weil hier mehr als irgendwo sonst die Problematik der Identität unmittelbar mit der Wesensfrage eines Kollektivs verbunden ist. Die von Roth und anderen benutzte Rede von der Diskontinuität der „jüdischen Philosophie“ verweist 16 Siehe dazu die von Willi Goetschel im Passagen Verlag (Wien) herausgegebenen Schriften Goldschmidts. Wichtig ist dafür der Aufsatz: Willi Goetschel, „Jüdische Philosophie“ – Ein Querverweis, a.a.O., S.129. 17 Raymond Goldwater (Hg.), Leon Roth: Jewish Philosophy and Philosophers, London 1962. 18 Siehe Kenneth Seeskin, Jewish Philosophy in a Secular Age, Albany 1990. 19 Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000. Thomas Meyer also stets auf die Frage nach der jüdischen Identität und somit auf das Problemfeld, das Arthur Hertzberg mit der Frage „Wer ist Jude?“ umschrieben hat.20 – Wenn also Diskontinuität und jüdische Identität existenziell aufeinander verweisen, und die eine Bestimmung sich von der anderen abhängig sieht, dann kann der eigentliche Denkraum niemals affirmativ sein. Zuspruch kann jüdisches Denken nur geben, wenn es sich auf die Tradition bezieht, in der die zahlreichen Spannungsverhältnisse ausgeglichen sind. „Ausgleich“ heißt dann gerade nicht, das Störende weggedacht zu haben, sondern ihm einen Platz gegeben zu haben. Sobald die Grenze des innerjüdischen Dialogs aber überschritten wird, so wäre zu folgern, beginnt der Kampf um Anerkennung erneut und in aller Schärfe. Durchaus im Einklang mit der philosophischen Tradition des Judentums kann daher Hertzberg schreiben: „Aber Gott und die Geschichte haben die Juden dazu gezwungen, den Herrschenden Dinge zu sagen, die sie vielleicht nicht hören wollen.“21 An diesem Punkt möchte ich die Darstellung von Positionen zur jüdischen Philosophie beenden. Die Monographien und Sammelbände, die sich mit dem Problem beschäftigen, ohne auf die hier aufgeführten Punkte zu verzichten, füllen inzwischen Bibliotheken. Wenn daher immer wieder betont wird, wie gleichzeitig eng und weit der in sich extrem heterogene Begriff „jüdischer Philosophie“ ist, dann kann vielleicht der Rückgriff auf einen konkreten Philosophen selbst mehr Klarheit bringen. III. Ein notwendiger Exkurs: Wendet man die letzten Überlegungen auf die Frage an, wer denn „jüdischer Philosoph“ sei, sieht man sich schnell vor große Probleme gestellt. Sicherlich sind Saadiah ben Yosef al Fayyumi, Moses Mendelssohn und Ernst Cassirer jüdische Philosophen. Gemessen an den Regeln der Halacha wäre dies religiös belegt durch ihre jüdische Herkunft. Aber was wäre „jüdisches Denken“ bei Cassirer, von dem es doch keine Zeile über ein genuin jüdisches Problem zu geben scheint? Was ist mit Philosophen wie Edmund Husserl oder Helmuth Plessner, die getauft waren, die aber von den nationalsozialistischen Rassengesetzen zu Juden gemacht wurden? 20 Arthur Hertzberg (in Zusammenarbeit mit Aron Hirt-Mannheimer), Wer ist Jude? Wesen und Prägung eines Volkes (1998), München 2000. 21 Arthur Hertzberg, a.a.O., S.12. Standortbestimmungen In diesen Fragen kommt ein Komplex zum Vorschein, der bis jetzt ausgeklammert wurde: Was verändert sich für das Feld einer „jüdischen Philosophie“ durch den Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums? Sind die Bemühungen jüdischer Philosophen vor der Shoah überhaupt noch für uns Heutige „erreichbar“, oder liegen sie nicht in einer Zeit voller Utopien und einer unerwiderten Liebe, die vom „Deutsch-jüdischen Parnass“ träumte, wie dies Moritz Goldstein tat? Zunächst drei Beispiele für philosophische Judenbilder22, die zeigen sollen, wie maßlos antisemitisch philosophische Reflexion werden kann und wie wenig diese Form der Argumentation auf die biographische Seite alleine geschlagen werden kann. Zugleich verweisen die Beispiele darauf, wie schmerzlich und blamabel es ist, dass es die deutsche Universitätsphilosophie bis zum heutigen Tage nicht für nötig hielt, eine Geschichte des Antisemitismus in der deutschen Philosophie anzuregen.23 Am 23. Februar 1929 hält der Wiener Wirtschaftswissenschaftler und Kulturkritiker Othmar Spann in der vollbesetzten Aula der Münchener Universität einen Vortrag mit dem Titel „Die Kulturkrise der Gegenwart“. Veranstalter ist der „Kampfbund für deutsche Kultur“. In dem Teilabdruck der Rede in den „Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur“ beklagt Spann, dass Philosophen wie „Cohen, Kastor und Cassirer, der heute noch in Hamburg lehrt“, das Monopol um die Kantdeutung an sich gerissen hätten. Nach den bekannten Phrasen der nationalistischen Kulturkritik, findet sich folgender Satz: „Das deutsche Volk musste sich die Kantische Philosophie wie eine fremde Kunst und auch noch von Fremden abermals erklären lassen.“24 22 Sehr differenziert zu den philosophischen Judenbildern der deutschen Idealisten und bei Karl Marx siehe jetzt: Micha Brumlik, Deutscher Geist und Judenhass, München 2000. – Siehe Rezension in diesem Heft. 23 Einen Vorstoß wird wohl die Studie von Christian Tilitzki machen, die leider erst Anfang 2002 erscheinen wird. Nach Angaben des Akademie Verlages (Berlin) wird das Werk cirka 1400 Seiten in zwei Bänden umfassen. Dargestellt werden soll der Zeitraum zwischen 1918 und 1945 für alle deutschen philosophischen Fakultäten, wobei nahezu 400 Philosophiedozenten in den Blick kommen. Die Arbeit argumentiert, so der Verlag, institutionengeschichtlich, biographisch und ideengeschichtlich. Die Untersuchung wird sicherlich im „Widerspruch“ nach Erscheinen ausführlich vorgestellt werden. 24 Othmar Spann, Die Kulturkrise der Gegenwart, in: Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur 1(1929) 3, S.33-44, hier: S.34. Thomas Meyer Genau dreizehn Jahre zuvor hatte der nicht minder bekannte Kantspezialist Bruno Bauch die Philosophen Cohen und Cassirer als „Fremde“ bezeichnet, die zwar herausragende Vertreter ihres Volkes sein mochten, besonders Hermann Cohen, die aber aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gar nicht in der Lage seien, den Nationalheros Immanuel Kant zu verstehen oder gar zu deuten.25 Soweit die feindliche Bestimmung dessen, was man unter „Jude“ zu verstehen habe. Man achte allerdings darauf, dass sowohl Bauch als auch Spann jeden Antisemitismus weit von sich weisen, ganz im Gegenteil: Sie seien zu ihren Thesen allein durch philosophische Reflexion gekommen. Noch immer nicht ausreichend in die Textgeschichte Martin Heideggers einbezogen, ist ein Gutachten, das er am 25. Juni 1933 auf Bitten des Bayerischen Kultusministeriums über den Münchener Philosophen Richard Hönigswald (1875-1947) angefertigt hat. Hönigswald war sicherlich der eigenständigste Kopf unter den sogenannten Neukantianern. Erst in Breslau, dann in München entfaltete er eine erfolgreiche Lehrtätigkeit. Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurde die Entlassung Hönigswalds betrieben. Es regte sich an der Münchener Universität und darüber hinaus, selbst bei Bruno Bauch, Widerstand. Die Studentenschaft favorisierte Heidegger als möglichen Nachfolger. Aus dem Gutachten selbst soll nur ein kurzer Abschnitt zitiert werden: „Die Gefahr besteht vor allem darin, dass dieses Treiben den Eindruck höchster Sachlichkeit und strenger Wissenschaft erweckt und bereits viele junge Menschen getäuscht und irregeführt hat.“26 Ähnliches hat man einst Sokrates vorgeworfen. IV. Hermann Cohen 25 Siehe dazu die hervorragende Edition von Ulrich Sieg, die außerdem Ernst Cassirers entschiedene Antwort auf Bauchs Ungeheuerlichkeiten enthält: Ulrich Sieg, Deutsche Kulturgeschichte und jüdischer Geist. Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit der völkischen Philosophie Bruno Bauchs. Ein unbekanntes Manuskript, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts, 88 (1991), S.59-91. Das unbekannte Manuskript findet sich auf den Seiten 73-87. 26 Martin Heidegger, Hönigswald aus der Schule des Neukantianismus, in: Martin Heidegger, Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Hg. v. Hermann Heidegger, Frankfurt/Main 2000, S.132 f., hier: S.132. Zuerst veröffentlicht in: Claudia Schorcht, Philosophie an den bayerischen Universitäten 1933-1945, Erlangen 1990, S.161. Standortbestimmungen Bisher wurden viele Fragezeichen gesetzt. Es konnte jedoch hoffentlich deutlich gemacht werden, dass „jüdische Philosophie“ keinesfalls durch Komplexitätsreduktion näher bestimmt werden kann. Im folgenden möchte ich in aller Kürze Hermann Cohen vorstellen. Es geht mir dabei gar nicht um eine Auflösung der Fragezeichen, vielmehr um den Nachweis der Vielheit der Stimmen aus der einen Vernunft, als die sich diese eine „jüdische Philosophie“ versteht. Man mag das nach dem Gesagten für problematisch halten; doch vielleicht ist es für einen Augenblick erlaubt, die Vernunft als „Maß“ zu nehmen. Vielleicht ist solche Überlegung wertlos; dann dient sie wenigstens der Erinnerung. In Hermann Cohens Denken zeigt sich die Schwierigkeit „jüdischer Philosophie“ exemplarisch. Verfolgen wir seinen Weg, der bis zuletzt der eines Außenseiters – ganz im Sinne Hans Mayers – war. Der 2. Februar 1876 ist ein besonderes Datum in der deutschen Philosophiegeschichte, denn an diesem Tag bestätigte das Preußische Kultusministerium den jüdischen Gelehrten als Nachfolger des verstorbenen Albert Lange in Marburg und damit war der erste jüdische Philosophieprofessor Deutschlands gekürt. (Noch Herbert Schnädelbach widmet in seiner Darstellung der deutschen Philosophie, die nach dem Tode Hegels einsetzt und vorgibt, ihre Entwicklung bis 1933 zu verfolgen, dem Ereignis keine Zeile.) Schon wenige Jahre später wird der überzeugte jüdische Deutsche in eine Debatte hineingezogen, die aufgrund der Struktur der Argumente bis heute paradigmatische Bedeutung hat: den sogenannten „Berliner Antisemitismusstreit“ (Walter Boehlich). Der preußische Historiker H.v. Treitschke hatte die deutschen Juden mal wieder zur Taufe und zur Aufgabe ihrer angeblichen Sonderexistenz aufgefordert. Neben zahlreichen anderen Vertretern des deutschen Judentums meldete sich auch Cohen zu Wort.27 „Es ist also doch wieder dahin gekommen, dass wir bekennen müssen. Wir Jüngeren hatten wol hoffen dürfen, dass es uns allmählich gelingen würde, in die ‚Nation Kants’ uns einzuleben; dass die vorhandenen Differenzen unter der grundsätzlichen Hilfe einer sittlichen Politik und der dem Einzelnen so nahe gelegten historischen Besinnung sich auszugleichen fortfahren würden; dass es mit der Zeit mögliche werden würde, mit unbefangenem Aus27 Hermann Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, Berlin 1880. Zitiert nach der leicht zugänglichen, jedoch sehr problematischen Ausgabe von Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt/Main 1965, S.126-151. Thomas Meyer druck die vaterländische Liebe in uns reden zu lassen, und das Bewusstsein des Stolzes, an Aufgaben der Nation ebenbürtig mitwirken zu dürfen. Dieses Vertrauen ist uns gebrochen: die alte Beklommenheit wird wieder geweckt.“28 In all seinen weiteren Veröffentlichungen, die einer strengen eigenen Systematik am Leitbild Kants verpflichtet sind, wird die in diesen Sätzen ausgedrückte Gleichzeitigkeit von jüdischem Selbstbewusstsein, Anspruch auf Teilhabe an dem Gefühl Deutscher zu sein und der philosophischen Dignität dieser Konstruktion betont.29 Der jüdische Philosoph Hermann Cohen hat jüdische Philosophie – jetzt können wir die Anführungszeichen erstmals weglassen – also in einer ganz bestimmten Hinsicht betrieben. Sein Projekt zielte ab auf eine Simultaneität, zumindest aber auf eine Parallelität, von „Deutschtum und Judentum“30. Mit der heute leichtfertigen – weil allzu schnell in den Geruch eines falsch zu verstehenden Romantizismus kommenden – Rede von der „deutsch-jüdischen Symbiose“ hat Cohens Projekt jedoch nur dem Namen nach etwas zu tun. Zwar fiel es Gershom Scholem nicht zuletzt deshalb leicht, die „deutsch-jüdische Symbiose“ zu kritisieren, weil aus ihr schnell eine inhaltsleere Pathosformel wurde. Und auch dass die eine solche Option immer nur für einen kleinen Teil des liberalen Teil des deutschen Judentums bestand, kann nicht verleugnet werden. Gleichzeitig aber bildete die Vorstellung der „Symbiose“, wie Michael Brenner sehr überzeugend zeigen konnte, ein tragendes Fundament für das, was er die „Renaissance“ des Jüdischen in der Zeit der Weimarer Republik nennt. Cohen hatte sich Kant nicht bloß deshalb ausgesucht, weil es Ende des 19. Jahrhunderts im akademischen Deutschland eine starke Bewegung hin zu 28 ebd., S.126 f. Zu Hermann Cohen siehe die Standardwerke von Geert Edel, Von der Vernunftkritik zur Erkenntnislogik. Eine systematische Rekonstruktion der Entwicklung der theoretischen Philosophie Cohens, Freiburg/München 1988; Helmut Holzhey, Cohen und Natorp. Bd. 1: Ursprung und Einheit, Bd. 2: Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Basel/Stuttgart 1986; Hartwig Wiedebach, Die Bedeutung der Nationalität für Hermann Cohen, Hildesheim u.a. 1997. Unerlässlich für jede Beschäftigung mit dem Marburger Neukantianismus ist die historisch und ideengeschichtlich argumentierende Arbeit von Ulrich Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994. 30 Siehe Hermann Cohen, Deutschtum und Judentum mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus. Durchges., erg. und mit einem kritischen Nachwort als Vorwort, Gießen 19163. 29 Standortbestimmungen Kant gab, sondern weil zahlreiche sowohl liberale als auch orthodoxe31 jüdische Denker in der Lektüre Kants Anschlussmöglichkeiten vorfanden, die mit ihrem Judentum und der Reflexion darüber in einem wesenhaften, zumindest sehr engen Zusammenhang standen. Die „jüdische Tat“ am neuen Kant-Verständnis Cohens war sicherlich die Leugnung der „Dingan-sich“-Problematik. Jener metaphysische Rest schien für den kritischen Erkenntnistheoretiker ein nicht hinzunehmender Störfaktor bei seiner Vorstellung von der „transzendentalen Methode“, die auch den Kantschen Grenzbegriff in den Verstehensprozess mit einbezieht. Die Ausdehnung des Abstrakten, die Entgegenständlichung, die in dieser „Tat“ steckt, weist zumindest hin auf das jüdische Bilderverbot. In Cohens Religionsbuch wird deutlich, wie sehr es ihm bei der Bestimmung von jüdischer Philosophie um eine Koppelung der gegenseitigen Ansprüche geht. Für Cohen ist die Vernunft der Ursprung der Religion, und ihre Urquelle das Judentum. Dabei wird schnell deutlich, was sich schon zuvor in den Werken vollzog, dass nämlich mit Kant nicht der Anfang zu machen ist. Lange Zeit ist Platon der Wegweiser, später – etwa in der umstrittenen „Logik der reinen Erkenntnis“ – kommen die Vorsokratiker hinzu. Cohen verdichtet die Philosophiegeschichte, die sich auch hier an kantianischen Vorgaben orientiert, zu einer nichtontologischen Geschichte des Seinsdenken wie der Verwobenheit von Ethik und Menschheitsgeschichte. Cohen macht sich zu keinem Zeitpunkt Illusionen über den Konstruktionscharakter dieser Vorgehensweise. Diese bewusst geschriebene „Philosophiegeschichtsphilosophie“ (Odo Marquard) erweist sich in der „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ als der historische Nachweis, das die Ursprünge des Judentums schon immer in der Gleichzeitigkeit von Religion, Sittenlehre und Philosophie lagen. Cohen kennt deren Ausdifferenzierungsprozesse; aber alleine die Möglichkeit und die Folgerichtigkeit seiner „Religion“-Schrift weisen nach, dass es etwas Unveränderliches in diesem dreifachen Ursprung gegeben hat, dessen genauere Architektur als Eckwerte einer spezifisch „jüdischen Hermeneutik“ (Almut Brucker und Reiner Wiehl) hier nicht näher ausgeführt werden kann. 31 Die Begriffe „liberal“ und „orthodox“ werden hier in Anlehnung an den üblich gewordenen Sprachgebrauch benutzt. Wissenschaftlich sind solche Kategorien allenfalls als Webersche Idealtypen vertretbar. Thomas Meyer Unter den genannten Fragen und Infragestellungen wäre Cohen neu zu lesen. Es ergäbe sich dann das Bild, dass jüdische Philosophie und jüdische Religion sich in Grundpfeilern der Versicherung der Existenz G’ttes, der Sittenlehre, den Lehren von Willensfreiheit und Unsterblichkeit wesenhaft verbunden sind. Ihre Gedoppeltheit macht beide einmalig in der Verantwortung für die Menschheit, die wiederum in der Auserwähltheit des Volkes Israels begründet liegt. „Nach schweren Kämpfen erst errang die Religion in der Gegenwart wieder ihr Recht, eine Wahrheit zu verkünden, die über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgreift. Es bedurfte der Tiefe des Widerstreites von Wissen und Glauben, um in umfassender Erkenntnis Wissenschaft und Religion in der Verschiedenheit ihres Sinnes zu erfassen. So gewiß es eine Kulturaufgabe der Menschheit ist, die Wirklichkeit in ihrer erweislichen Gesetzlichkeit zu erkennen, kann nie die Menschheit auf Wissenschaft allein ihr Leben gründen. Denn wofür der Mensch sein Leben einsetzt, wenn es Sinn und Wert haben soll, die Idee des Guten wird nirgends von der Wissenschaft als entscheidende Macht der Wirklichkeit festgestellt. Doch vertraut der der Idee sich weihende Mensch auf den Sieg des Rechts und der sittlichen Wahrheit. In der Kraft und Tiefe des religiösen Erlebens des Guten als Offenbarung Gottes erfüllt die Seele die Gewißheit, in der Welt der Endlichkeit und Verworrenheit zugleich und dennoch in einem Reich göttlicher Ziele zu leben. Im Glauben gewinnen die Ideen Kraft und Wahrheit, die Welt zu beherrschen und zu durchdringen. Es ist die Wahrheit der jüdischen Religion, die tiefsten Hoffnungen des Menschenherzens auf ein Reich sittlicher Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte zum lebendigen Erfassen göttlichen Seins und Wirkens gesteigert und dadurch in ihrem ewigen Recht befestigt zu haben. Darum gehört die jüdische Religion nicht der Vergangenheit einer überwundenen Kulturepoche an, sondern erweist ihr Leben in dem Segen, der von ihr in den Ernst der Kulturarbeit strömt. So lange die Menschheit über den Augenblick hinaus an Werten schafft, die keine Gegenwart vollendet sieht, ist der heilige Gott Hort und Zuversicht, Sehnsucht und Erquickung wahrhaften Menschentums.“32 32 Albert Lewkowitz, Zur Philosophie der jüdischen Religion, in: Jahres-Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung für das Jahr 1915, Breslau 1916, S.3-20, hier: S.19 f. In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 42-84 AutorenInnen: Astrid Deubler Mankowsky, Morton D. Kogut, Richard Faber, Daniel Krochmalnik, Friedrich Niewöhner, Werner Stegmaier, Giuseppe Veltri, Michael Zank Artikel Umfrage Fragen zur jüdischen Philosophie heute I. Bis 1933 spielten jüdische Denker in der deutschen Philosophie eine große Rolle. Durch die Rückkehr von Emigranten erlebte diese Tradition nach 1945 nochmals eine kurze Renaissance. Dann brach sie ab. Heute gibt es wieder Ansätze: etwa die Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg oder der Jüdische Verlag bei Suhrkamp. 1. 2. 3. Sehen Sie Chancen, daß sich heute in Deutschland und Mitteleuropa wieder ein jüdisches Geistesleben etabliert? Gibt es Ihrer Meinung nach aktuelle politische Tendenzen, aber auch mentale Einstellungen, die dem im Wege stehen? Worin sehen Sie den ‚Gewinn’ sowohl für Nicht-Juden als auch für Juden? II. In der Geschichte der Philosophie ist es üblich geworden, eine Rubrik „jüdische Philosophie“ zu bilden, unter der Denker wie Philon, Maimonides, Mendelssohn, Cohen und Buber zusammengefaßt werden. Dieser Rubrizierung entgegen steht allerdings die Auffassung, daß es im Grunde nur eine Philosophie gibt, die solche Etikettierungen nicht erlaubt. 1. Läßt sich Ihrer Meinung nach eine Denktradition identifizieren, die in dem Spannungsfeld zwischen „Athen und Jerusalem“ philoso- Umfrage 2. phiert und über die religiöse Motivation hinaus auf säkulare Weise argumentiert hat? Wenn ja, worin sehen Sie das Spezifische, das solches jüdisches Philosophieren ausgezeichnet hat und auszeichnet? III. Eine der Wurzeln jüdischen Denkens war die rabbinische Tradition, die in Deutschland ihre Schwerpunkte in Berlin und Breslau hatte. Nach dem neueren Antisemitismus in Europa, der im Holocaust gipfelte, hat auch bei anderen jüdischen Denkern eine Rückbesinnung auf das Judentum stattgefunden. 1. 2. Haben die Bemühungen, die aus der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit den europäischen Denkmustern hervorgegangen sind, die Gegenwartsphilosophie Ihrer Meinung nach insgesamt befruchtet oder eher gelähmt? Sehen Sie im jüdischen Philosophieren heute (neue) Konfliktlinien, die zwischen Traditionsbezug (etwa dem rabbinischen) und modernem bzw. postmodernem Denken verlaufen? Und wenn ja, welche? Astrid DeuberMankowsky Fragen zur jüdischen Philosophie heute Ad I. Es fällt mir schwer, die Frage nach den heutigen Chancen des jüdischen Geisteslebens zu beantworten. Je mehr ich darüber nachdenke, desto fragwürdiger erscheint sie mir. Dies beginnt eigentlich schon mit den ersten beiden Sätzen des Vorspanns. Wer ist gemeint, wenn von „jüdischen“ Denkern in der „deutschen“ Philosophie die Rede ist? Wäre Wittgenstein, Österreicher und Enkel eines zum Christentum konvertierten Juden, ein „jüdischer“ Denker in der „deutschen“ Philosophie? Fällt Georg Simmel – eigentlich ein Soziologe – der wegen seiner jüdischen Herkunft in Berlin keine Professur erhielt und deswegen nach Strassburg emigrieren musste – Umfrage unter die Rubrik? Martin Buber – ist er ein Philosoph im strengen Sinn und welche Rolle spielte er vor 1933 für die „deutsche“ Philosophie? Gehört Ernst Bloch dazu – auch er der Sohn einer zum Christentum übergetretenen Familie? Gershom Scholem, definitiv kein Philosoph? Cassirer – er spielte auch nach 1933 von den USA aus eine wichtige Rolle in der deutschen Philosophie. Ich befürchte, daß die Bezeichnung „’jüdische’ Denker in der ‚deutschen’ Philosophie“ vor allem zum Ausdruck bringt, wie wenig bisher im Rahmen der „deutschen“ Philosophie über das Verhältnis von Philosophie, Philosophen und deren unterschiedliche kulturelle, nationale, religiöse und nicht zuletzt geschlechterbedingte Lebenszusammenhänge nachgedacht wurde. Was ist z.B. Heidegger? Ist er ein „deutscher“ oder ein „katholischer“ Philosoph, der in der „deutschen Philosophie“ eine wichtige Rolle spielte? Wenn Franz Rosenzweig gemeint sein sollte, weiß ich nicht, von welcher Tradition nach 1945 die Rede ist, die noch einmal eine „kurze Renaissance“ erlebt hat. Mir fallen stattdessen Namen ein wie Hannah Arendt oder Ernst Tugendhat; – beide haben eine wichtige Rolle in der „deutschen Philosophie“ nach 1945 gespielt, wenn auch nicht immer von Deutschland aus. Freilich hat ihr Denken nichts zu tun mit den „jüdischen Studien“ in Heidelberg. Ihre wichtigsten Bücher sind auch nicht im „Jüdischen Verlag bei Suhrkamp“ erschienen. Ebenso wenig wie jene der „jüdischen“ Hausautoren von Suhrkamp, um nur Adorno und Benjamin zu nennen. Ist mit der angesprochenen Tradition die berühmte und großartige „Wissenschaft des Judentums“ gemeint? Die Frage nach ihrer Überlieferungsgeschichte nach 1933 ist freilich selbst ein Gegenstand der Forschung und kontroverser ländergrenzenübschreitender Debatten, in denen nicht zuletzt die Frage nach dem Selbstverständnis von jüdischer Geschichtsschreibung, jüdischer Geschichtsphilosophie und jüdischer Philosophie mitverhandelt wird. So hat sich etwa Gershom Scholem – einer der schärfsten Kritiker der „Wissenschaft des Judentums“ – als deren legitimer Erbe verstanden. Für ihn setzte sich die Tradition der Wissenschaft des Judentums an der Hebräischen Universität in Jerusalem fort, die er selbst mit seinen Forschungen vorantrieb und doch nicht weniger (selbst-)kritisch kommentierte als die „deutsche“ Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhundert. Anders als sein verstoßener Schüler Jacob Taubes hielt er eine Wiederaufnahme der Verbindung deutsch-jüdisch weder für möglich noch für wünschbar. Jacob Umfrage Taubes dagegen verstand sich als „Erzjude“ und Philosoph in Deutschland nach 1945. Er hat unter dem Titel „Hermeneutik“ Philosophie, Kulturwissenschaft und Religionswissenschaft verbunden, um an der Grundlegung einer bereits von Dilthey eingeforderten „Kritik der historischen Vernunft“ weiterzubauen und dabei die „Streitfrage zwischen Judentum und Christentum“ – so die Überschrift einer seiner Aufsätze – wie kaum jemand in seiner Generation öffentlich zur Diskussion gestellt. Daß seine Schriften in den letzten zwei Jahren eine neue Rezeption erfahren, könnte als Indiz dafür gedeutet werden, daß die Sensibilisierung für die Bedeutung wächst, die kultur- und religionswissenschaftliche Fragestellungen innerhalb der Philosophie und für die Philosophie haben. Ich befürchte jedoch in diesem Fall, daß die Rezeption seiner Schriften, wenn, dann höchstens in Randbereichen der disziplinären Philosophie geschieht. Die ausführliche Kommentierung des Vorspanns lässt mich nun die Frage, ob sich heute in Deutschland oder Mitteleuropa wieder ein jüdisches Geistesleben etabliere, kürzer beantworten. Wenn das „wieder“ suggeriert, es hätte einmal ein harmonisches, ein homogenes „jüdisches Geistesleben“ gegeben, so möchte ich auf die spannungsreiche Vieldeutigkeit hinweisen, die sich bereits aus der Frage ergibt, wer oder was ein „jüdischer Philosoph“ sein soll. Was heute als „jüdisches Geistesleben“ bezeichnet wird, war seit der Aufklärung und bereits bei Mendelssohn immer zugleich ein Ringen um das, was Jüdischsein in der Moderne bedeutet, wie sich Jüdischsein zu Religiössein auf der einen, wie sich Jüdischsein zu Deutschsein auf einer anderen Seite, das heißt zur Staatsangehörigkeit verhält. Das implizierte die Frage des Verhältnisses von Judentum und Christentum und zwar zu einem Christentum das zugleich Staatsreligion war und ausgestattet mit dem von Kant begründeten Anspruch auf den Status einer „universalen“ bzw. „Vernunftreligion“. War von jüdischer Seite her Deutschsein verbunden mit der Frage des Christentums, so konnte nur von deutsch-christlicher Seite her das Deutschsein selbst zu einer Quasireligion erklärt werden, wie es im Nationalsozialisten etwa die „Deutschen Christen“ taten. Ebenso konnte sich, wie die Geschichte von Heinrich Heine deutlich zeigt, auch nur ein Christ von seiner Religion emanzipieren, ohne von Staats wegen auf die religiöse Herkunft festgelegt zu werden. Eben diese „Freiheit“ hatte Heinrich Heine nicht. Nichtjüdinnen und Nichtjuden sahen sich in ihrem Bekenntnis zum preußischen Staat nicht zu einem Bekenntnis zum Christentum ge- Umfrage zwungen. Dies war für Jüdinnen und Juden anders. Der Philosoph Hermann Cohen hat dieses Ungleichgewicht im Verhältnis von deutschem Staat, Christentum und Judentum in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1916 „Der Jude in der christlichen Kultur“ mit allen Konsequenzen deutlich zum Ausdruck gebracht. Eine dieser Konsequenzen besteht darin, daß „Jüdischsein“ in der christlichen Kultur eine beständiges Bewußthalten der Fragilität der kulturellen Identität und der Notwendigkeit bedeutet, sich die eigene kulturelle Tradition in Erinnerung zu halten. Wenn sich nun heute „wieder“ ein „jüdisches Geistesleben“ etabliert, dann lebt auch dieses von Debatten um jüdische Identität. Ein Beispiel dafür sind die Romane, Gedichte und Essays der Berliner Schriftstellerin Esther Dischereit. Eines ihrer Bücher trägt den bezeichnenden Titel Übungen, jüdisch zu sein. Diese Debatten sind in Deutschland – durch die Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion – um die Frage der kulturellen Differenzen innerhalb der jüdischen Gemeinden noch einmal um einiges komplexer – und reicher – geworden. Ein Beispiel für einen kreativen Umgang mit den vorgefundenen Differenzen ist etwa die Gruppe „Meshulash“ in Berlin. Sie tritt, um schließlich noch die Frage nach „Mitteleuropa“ zu streifen, neben vielen anderen Aktivitäten auch als Herausgeberin eines „Europäisch-jüdischen Magazins“ mit dem Titel „Golem“ hervor. „Golem“ ist zweisprachig, englisch und deutsch und bekennt im Editorial der ersten Nummer programmatisch: „...wir behaupten, daß Juden in Europa nicht nur ihre Vergangenheit haben. Das europäische Judentum lebt – trotz aller gegenteiligen amerikanisch-israelischen Prophezeiungen –, es ist heterogen, und es wird auch in der Zukunft ein fester Bestandteil im Konzert der Völker Europas sein.“ Gibt es Ihrer Meinung nach aktuelle politische Tendenzen, aber auch mentale Einstellungen, die dem im Wege stehen? Politische Tendenzen, die Heterogenität, Vielfalt und Differenziertheit als positive Werte fördern, unterstützen auch Initiativen wie die erwähnten von „Meshulash“. Während politische Tendenzen, die homogene Identität versprechen und die Angst vor der Komplexität unserer Realität auf die Angst vor „Anderen“ projizieren, auch dem im Wege stehen. Die Formulierung „mentale Einstellung“ ergibt mir wieder keinen Sinn. Ich meine, es geht darum, kulturelle Werte und Denktraditionen stark zu machen, die eine Haltung der Neugierde, der Gastfreundschaft und des Inte- Umfrage resses an unbekannten Lebens- und Denkweisen fördern – und damit verbunden die Fähigkeit zu einer kritischen Reflexion auf die eigene Lebensund Denkweise und deren Geschichte. Dies setzt freilich voraus, daß die Berührung mit Unbekanntem nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung erfahren wird. Ad II. Tatsächlich gibt es die Gewohnheit, Philosophen wie Maimonides, Mendelssohn oder Cohen unter der Rubrik „jüdische Philosophie“ zusammenzufassen. Dies ist aus mehreren Gründen eine schlechte Gewohnheit, die man sich deshalb auch schnell abgewöhnen sollte. Einige dieser Gründe dürften sehr schnell deutlich werden, wenn man sich vor Augen hält, daß – außer Buber – keiner der Genannten mit dem Ausdruck „jüdische Philosophie“ etwas hätte anfangen können. Sie haben sich als Philosophen verstanden und als Juden. Freilich haben sie das Verhältnis zwischen Philosophie und Judentum philosophisch, also in ihrer Funktion als Philosophen und in ihren philosophischen Werken mit philosophischen Methoden reflektiert; so wie dies auch Thomas von Aquin in Bezug auf das Verhältnis von Philosophie und Christentum tat. Thomas hat sich dabei übrigens in zentralen Punkten seiner philosophischen Argumentation auf Maimonides gestützt. Auch für Kant war das Verhältnis von Philosophie und Christentum eine philosophische Frage, die er in intensiver Auseinandersetzung mit Mendelssohn reflektierte. Genauso wie für Hegel oder Schelling oder Nietzsche. Sie alle haben ihre philosophischen Konzepte in Abgrenzung, Ergänzung oder sogar unter ausdrücklichem Rekurs auf das Christentum formuliert: Ohne daß sie heute eine Rubrik „christliche Philosophie“ bilden. In einer Rubrizierung „jüdische Philosophie“ sehe ich die Gefahr, daß vergessen, oder verdrängt wird, daß die „eine“ Philosophie seit der Übersetzung der griechischen Klassiker aus dem Arabischen im Spanien des 9. Jahrhunderts nie ein Fakt, sondern immer ein Postulat war, um deren Einlösung man unter unterschiedlichen historischen Bedingungen aus jüdischer, christlicher und islamischer Perspektive gerungen hat. Im günstigsten Fall mit philosophischen Argumenten. Eben weil die Konjunktion von jüdisch und Philosophie an die zentrale philosophische Frage nach dem Verhältnis von Universalem und Partikularem rührt, möchte ich dafür plädieren, an dem Ausdruck „jüdische Philosophie“ festzuhalten, ihn jedoch zugleich als Herausforderung an die sich Umfrage als universal verstehende Philosophie zu betrachten. Diese Herausforderung bedeutet: Die Frage, die sich in der Konjunktion jüdisch – philosophisch als Frage nach dem Verhältnis von Universalem und Partikularem erhebt, auch an den als „eine Philosophie“ fungierenden Kanon zu stellen. Und zwar als Frage nach der untergründigen Bedeutung und Rolle, die dem Christentum in dieser als universal geltenden Philosophie zukommen. Die Frage nach dem Verhältnis von Universalität und Partikularität sollte uns zu den konkreten Partikularen führen. Dies sind im vorliegenden Fall die konkreten religiösen Traditionen des Judentums aber auch des Christentums und, wie immer deutlicher wird, auch die Tradition des Islam. Die Frage nach einer Denktradition, die im „Spannungsfeld zwischen ‚Athen und Jerusalem’“ philosophiert, bezieht sich, wie ich annehme, auf die „deutsche“ Philosophie. Wenn nicht, wäre als aktuelle Diskussion jene zu nennen, die Lévinas initiiert und Derrida fortgesetzt hat. Freilich zeigt sich just in dieser Diskussion, daß sich der Gegensatz, nimmt man den philosophischen Anspruch ernst, in ein sehr komplexes gegenseitiges Bedingungsverhältnis auflöst. Speziell für die „deutsche“ Philosophie möchte ich an das Werk von Hermann Cohen erinnern, der in geradezu paradigmatischer Weise im Spannungsfeld zwischen „Athen und Jerusalem“ philosophiert hat. Das zunehmende Interesse an seinem Werk und die Debatten, die sich an seine neuere Rezeption anschließen, lassen hoffen, daß es zu einer Wiederentdeckung dieser philosophischen Tradition auch im größeren philosophischen Rahmen kommt. Wenn ja, worin sehen Sie das Spezifische, das solches jüdisches Philosophieren ausgezeichnet hat und auszeichnet? Ich möchte, um Essentialisierungen auf der einen und Allgemeinplätze auf der anderen zu vermeiden, ein Beispiel anführen. Es zeigt weniger an, was „jüdisches“ Philosophieren auszeichnet, als was der philosophische Gewinn eines Philosophierens sein könnte, das sich auf die religiöse Tradition bezieht, um die eigenen Grundlagen zu reflektieren und Denkmöglichkeiten zu vergrößern. Das Beispiel stammt aus Hermann Cohens Ethik des reinen Willens und bezieht sich auf die zentrale Frage der modernen Philosophie, wie Universalität zu denken ist, ohne das Partikulare preiszugeben. Unter Bezugnahme auf die christliche bzw. jüdische Tradition unterscheidet Co- Umfrage hen zwei Formen, die Universalität der Menschheit zu denken. Die eine orientiert sich an der christlichen Erlösungslehre. Sie ist im Johannesevangelium in dem Satz (14,6) ausgedrückt „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“. Christus, der Gottessohn ist der exemplarische Mensch. Das heißt, wer im emphatischen Sinn Mensch werden, wer Anteil haben will an dem universalen Begriff der Menschheit, kann dies (nur) durch Christus, bzw. durch die Taufe. Er muss seine/ihre Vorgeschichte, seine/ihre alte Religion und, wenn nötig, auch die Familie aufgeben. Von diesem Modell, das im modernen Universalitätskonzept so wirksam und geschichtsmächtig geworden ist, unterscheidet Cohen nun ein Konzept der universalen Menschheit, das statt an Christus am Fremdling orientiert ist. Aus der exemplarischen Bedeutung, die der Fremdling für die Propheten spielt, leitet Cohen einen ethischen Begriff der Humanität ab. Dieser richtet sich an der Position des Fremdlings aus: Ist im christlich orientierten Konzept der Humanität Christus der exemplarische Mensch, so erhebt Cohen an dessen Stelle den Fremdling „zum Vertreter des Menschen unter den Völkern“. Damit löst Cohen im Rekurs auf die jüdische Tradition den Begriff der Menschheit von seiner Fixierung auf einen idealen Begriff des Menschen und misst ihn stattdessen an der Position, die in der postulierten Universalität dem Fremdling zugedacht ist. Er schreibt damit die Erfahrung des Fremdseins in den Begriff der Universalität ein. Die Frage, ob dies noch jüdisch ist, scheint mir weniger zentral, als jene, ob sich dieser Begriff der Universalität weiterdenken, universalisieren – und sowohl politisch wie philosophisch fruchtbar machen ließe. Ad III. Statt auf „Konfliktlinien“ möchte ich auf die befruchtende Verbindung hinweisen, die Talmudstudium und postmodernes Denken eingehen können. Dies zeigt sich etwa in den Arbeiten von Daniel Boyarin. Er ist Taubman Professor of Talmudic Culture an der University of California in Berkeley. In seinem jüngsten Buch Unherioc Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man zeigt er entlang einer talmudgeschulten Deutung von Texten der Tradition und aus der Moderne, dass das Männlichkeitsideal in den rabbinischen Texten keineswegs dem westlichen Ideal des agressiven, starken, dominanten Mannes entspricht. Vor dem Hintergrund seiner Talmudstudien einerseits und dem Denken von TheoretikerInnen wie Homi Bhaba, Jacques Lacan, Gayatri Spivak u.a. andererseits Umfrage macht Boyarin macht deutlich, daß die jüdische Tradition die Konstellation von Natur – Kultur – Geschlecht und Begehren anders gefaßt hat, als sie heute oft allzuschnell als Universale im Rahmen der abendländischen Geschichte propagiert wird. Damit gelingt es auch ihm, neue Denkmöglichkeiten und damit neue Horizonte zu öffnen. Richard Faber Überlegungen zum Jüdischen im Christlichen „Was verdankt man nicht alles den Juden! Dass man ihnen das Christentum selbst verdankt, will ich nicht erwähnen, da noch wenig Gebrauch davon gemacht worden ist.“ Wir Menschen, speziell wir Europäer und Deutsche verdanken den Juden sehr viel – nicht zuletzt das Christentum selbst. Man musste nicht unbedingt der hochdialektische (Anti-)Christ und (Anti-) Jude Heinrich Heine sein, um das schon im frühen 19. Jahrhundert zu erkennen. Doch waren es – vor wie nach Heine – nur wenige, die es tatsächlich taten, und noch weniger, die diese Erkenntnis ähnlich prononciert aussprachen wie er. Manch heutiger Philosemit verdrängt wiederum – geblendet vom nicht hoch genug zu veranschlagenden christlichen Antijudaismus bzw. Antisemitismus – die jüdische Deszendenz bis Essenz des Christentums (und spezifisch christliche Momente Jüdischer Philosophie1). Was die Persistenz des Jüdischen im Christlichen angeht, ist freilich von einem „Mehr oder weniger“ auszugehen. Doch das ist banal, nicht anders als – ähnlich fundamental – Differenzierungen im Begriff Christentum wie Judentum einzufordern. Erfüllt man dieses Postulat, ergibt sich das nur scheinbare Paradox, dass bestimmte Judentümer den ihnen analogen Christentümern näher stehen als anderen Judentümern und vice versa. Jacob Taubes hat z. B. gezeigt, dass Gershom Scholems strikte Entgegensetzung von christlichem und jüdischem Messianismus nicht ‚hinhaut‘, ganz abgesehen von der zum Messianismus insgesamt quer stehenden Gnosis, die auch 11 Vgl. R. Faber, Walter Benjamin und das „Vater unser“ – mehr als eine historisch-philologische Glosse, in: Zschr. f. Religions- und Geistesgeschichte 51 (1999), S. 70-74. Umfrage ein jüdisches Phänomen war – von der Kabbala an bis zu Benjamin und Taubes.2 Letztere waren sogar „moderne Marcioniten“, also – wie profan–philosophisch auch immer – Schüler des häretischen Paulus-Jüngers, ja „Erzketzers“ Marcion, dem der selbst moderne Marcionit Ernst Bloch einen „metaphysischen Antisemitismus“ bescheinigt hat. Doch vorerst genug der – mehr oder weniger paradoxen – Subtilitäten. Heines Aphorismus allein schon läßt die Frage nach Existenz, Legitimität und Notwendigkeit jüdischer Philosophie prinzipiell positiv beantworten, wobei ich selbstverständlich von hermeneutischer Philosophie spreche, einer Philosophie also, die gar nicht anders kann, als mit und gegen die Tradition zu denken: Aug‘ in Aug‘ mit ihr. (So wie noch der auch rabbinisch beeinflußte Jacques Derrida.) Besser wäre – nicht weniger evident –, von einem keineswegs einheitlichen Traditionsbündel zu sprechen, zu dem natürlich auch die gleichfalls in sich differenten griechischen und römischen Traditionsstränge gehören – gerade als ihrerseits religiöse. Nicht nur jüdische und christliche, sondern schon vor- und außerjüdische bzw. vor- und außerchristliche Philosophie war wesentlich Religionsphilosophie, wenn Religionskritik auch eher ein- als ausschließend. Authentische (Religions-)Philosophie ist keineswegs religiös – im kultischen Sinn –, weder irrational noch autoritär oder auch nur affirmativ. Sie ist wesensmäßig kritisch, wie prinzipiell schon die jüdische Prophetie3, der noch der Prophet aus Nazareth zuzurechnen ist. Die „Achsenzeit“, die griechische Philosophie und jüdische Prophetie, als erste Aufklärungen, miteinander verbindet4, ist mehr als eine ‚geschichtsphilosophische Kon2 J. Taubes, Walter Benjamin – ein moderner Marcionit? In: N. W. Bolz/R. F. (Hg.), Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins „Passagen“, Würzburg 1986, S. 31 ff.; vgl. ders., Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft. Gesammelte Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte, München 1996; ders. (Hg.), Gnosis und Politik, München u.a. 1984 sowie die einschlägigen Beiträge des Sammelbandes „Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes“, Würzburg 2001. 3 Vgl. u.a. P. Zenger, Prophetie und Prophezeiung, in: H. Schmidinger (Hg.), Zeichen der Zeit. Vorträge der Salzburger Hochschulwochen 1998, Innsbruck/Wien 1998, S. 68109. 4 Vgl. K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1963, S. 19-42, aber auch J. Ebach, Genie und Wahnsinn der Propheten? Suchbewegungen am Beispiel Ezechiels, in: B. Effe/R. F. Glei (Hg.), Genie und Wahnsinn. Konzepte psychischer ‚Normalität‘ und ‚Abnormität‘ im Altertum, Trier 2000, S. 25-44. – Ebach zeigt, ausgehend von analogen Ausführungen Platons, dass prophetischer Wahnsinn nicht zu leug- Umfrage struktion‘. Umgekehrt war und ist solche Aufklärung auf Mythologie (die selbstverständlich auch die Bibel kennt) verwiesen, arbeitet sich an ihr ab5 oder arbeitet sie – im günstigen Fall – durch6. Erst dann kann Philosophie die berühmt-berüchtigte „Dialektik der Aufklärung“ vermeiden, wie nicht nur Klaus Heinrich überzeugt ist, der immer wieder die philosophische Dignität der Freudschen Metapsychologie herausgestellt hat und – gleichzeitig – auf dem Unabgegoltenen griechischer, vor allem aber römischer Mythologie insistiert hat: für eine realitätstüchtige Zivilisationstheorie. Der überhaupt nicht „lügende“ Dichter Ovid ist Heinrichs Kronzeuge in diesem Prozess gegen Idealismus jeglicher Art7, aber auch die jüdische Prophetie gilt Heinrich ihres Protest- wie Bündnispotentials wegen als conditio sine qua non kompetenter Philosophie.8 Und auf eine solche – schon bei Heine und Benjamin – vorfindliche Vielstimmigkeit kommt es mir prinzipiell an: eine komplexe Traditionspflege – den Ausdruck „Pflege“ doppeltironisch verwendet.9 nen ist, jedoch in Relation zu gesellschaftlichem und rationalistischem gesehen werden muss, ja – auf provokative Weise – metaaufklärerisch fungiert. 5 Ich beziehe mich selbstverständlich auf Hans Blumenbergs berühmte „Arbeit am Mythos“ (Frankfurt/M. 1979), aber auch auf sein – so viel weniger beachtetes, in vielfacher Hinsicht jedoch komplementäres – Buch „Matthäuspassion“ (Frankfurt/Main 1988). – Zur politologischen Kritik an Blumenberg verweise ich auf: R. F., Der PrometheusKomplex. Zur Kritik der Politotheologie Eric Voegelins und Hans Blumenbergs, Würzburg 1984, Teil B. 6 Überragendes Beispiel für ein solches „Durcharbeiten“ ist Thomas Manns literarischphilosophischer bzw. philosophisch-literarischer „Josephs“-Roman. (Zu seiner Formbestimmung als literarisch-philosophisch bzw. philosophisch-literarisch vgl. R. F./B. Naumann (Hg.), Literarische Philosophie – Philosophische Literatur, Würzburg 1999; auf die speziell jüdische Literarizität der Tetralogie hat hingewiesen: E. Drave, Strukturen jüdischer Bibelauslegung in Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“. Das Beispiel Abraham, in: J. Ebach/R. F. (Hg.), Bibel und Literatur, München 1995, S. 195213.) 7 Vgl. die ersten vier Bände der „Dahlemer Vorlesungen“ Klaus Heinrichs und speziell ihren 7. Band: „psychoanalyse“ (Basel/Frankfurt 1981-2001). Zusätzlich verweise ich auf die leider nur hektographierte Vorlesungsmitschrift: Klaus Heinrich, Zivilisation und Mythologie III – Ovid Metamorphosen. Vorlesungen über Orpheus, Berlin 1983. 8 Vgl. die beiden frühen Bücher „Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen“ und „Parmenides und Jona“ (Frankfurt/M. 1964 bzw. 1966). Wichtige Ansätze Heinrichs werden weitergeführt von J. Ebach, Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals, Frankfurt/M. 1987. 9 Vgl. R. F., Kritik der Romantik. Zur Differenzierung eines Begriffs, in: U. Helduser/J. Weiß (Hg.), Die Modernität der Romantik. Zur Wiederkehr des Ungleichen, Kassel Umfrage Athen, Jerusalem und Rom sind nicht einfach zu ‚synthetisieren‘, doch unter Aushaltung teilweise zerreißender Spannung gleich unaufgebbare Bezugspunkte unserer kulturellen, nicht zuletzt philosophischen Überlieferung, wobei vor allem Jerusalem nach wie vor um seinen gleichberechtigte Rang zu kämpfen hat. Bis heute wird die mit seinem Namen verbundene Tradition zu einseitigen Gunsten der griechisch-römischen oder eines um sein Judentum weitgehend gebrachten Christentums allzu sehr vernachlässigt, wenn nicht mißachtet. – Selbst wenn die jüdische Kultur (inzwischen) hochgeachtet wird, bleibt nicht ausgeschlossen, dass sie als bloße (durchaus attraktive) Fremdkultur (exotistisch miß-)verstanden und ihr konstitutiver Beitrag zur eigenen: der christlich-europäischen Kultur beachtlich unterschätzt wird. Das „Abendland“ ist aber wesentlich auch jüdisch – ob das Nietzsche und den Seinen paßt oder nicht. Immerhin sind die Nietzscheaner konsequent, indem sie das Christentum, als „Judentum in zweiter Potenz“, in ihre entschiedene Feindschaft mit einbeziehen – im Unterschied zu Goethe etwa, der das Christentum „mit dem Judentum in einem weit stärkeren Gegensatz“ stehen sah als „mit dem Heidentum“. Schon diese Unterstellung war nicht ungefährlich, obwohl durch ein stark hellenisiertes bzw. romanisiertes, tatsächlich „um sein Judentum gebrachtes“ Christentum in gewisserweise legitimiert. – Nietzsche ist in jeder Hinsicht radikaler gewesen, hat das bleibend Jüdische eines authentischen Christentums erkannt, deswegen aber zugleich ein extremes Antichristen- und Antijudentum bekannt. Der fatale Neopaganismus des späten 19.- und frühen 20. Jahrhunderts – vor allem in Deutschland, jedoch auch Frankreich und Italien – ist ohne ihn undenkbar: jener Antihumanismus, der nur noch eine archaische und heroische, elitäre und immoralistische Antike kennen will, diese eben ‚dehumanisiert’.10 1999, S. 19-47 sowie ders., Von erotischer Mystik zu mystischer Erotik. Friedrich von Spee und Friedrich von Hardenberg im Vergleich, in: R. F./V. Krech (Hg.), Kunst und Religion. Studien zur Kultursoziologie und Kulturgeschichte, Würzburg 1999, S. 195213. 10 Ich teile die Interpretation von H. Cancik und H. Cancik-Lindemaier, in: Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland, Stuttgart/Weimar 1999, Kap. II; vgl. auch dies., Philhellénisme et antisémitisme en Allemagne: le cas Nietzsche, in: D. Bourel/J. Le Rider (Hg.), De Sils-Maria à Jérusalem. Nietzsche et le judaisme. Les intellectuels juifs et Nietzsche, Paris 1991, S. 21-46 sowie H. Cancik, Nietzsches Antike, Stuttgart/Weimar 1995 und R. F. (Hg.), Streit um den Humanismus, Würzburg 2002. Umfrage Ich zitiere pars pro toto folgende Passage aus Nietzsches „Genealogie der Moral“. „... ‚Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom‘: – es gab bisher kein größeres Ereignis als diesen Kampf, diese Fragestellung, diesen todfeindlichen Widerspruch. Rom empfand im Juden Etwas wie die Widernatur selbst, gleichsam sein antipodisches Monstrum; in Rom galt der Jude ‚des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht überführt‘: mit Recht, sofern man ein Recht hat, das Heil und die Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte Herrschaft der aristokratischen Werthe, der römischen Werthe anzuknüpfen.“ Nietzsche blieb, nicht der einzige, der davon überzeugt war, ein Recht, ja die Pflicht zu haben, „das Heil und die Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte Herrschaft ... der römischen Werthe anzuknüpfen“. Er und seine konservativ-revolutionären Rezipienten waren antijüdisch, weil prorömisch oder: prorömisch, weil antijüdisch. Sie unterlagen dem dualistischen Schema „Rom gegen Judäa“ und projektiv, wie sie generell waren, indem sie „Judäa“ bzw. „Juda“ zuerst „diesen todfeindlichen Widerspruch“ unterstellten: „Der Haß des Juden gegen den Römer ist der angeborene Haß des Parasiten gegen die staatliche Ordnungsmacht, der Haß einer asozialen Rasse gegen die mächtige Ordnung, die der römische Staat verkörpert, erwachsen aus dem sicheren Gefühl, dass der Jude nur da, wo der Staat schwach ist, sein Leben voll entfalten kann.“ Ich habe einen Satz Hans Oppermanns aus dem Jahre 1943 zitiert. Der damalige Straßburger Latinist behauptet – in der „Schriftenreihe zur weltanschaulichen Schulungsarbeit der NSDAP“: „Die Verjudung der alten Welt ging über alles hinaus, was wir uns aus eigener Erfahrung vorstellen können.“ – Oppermann, indem er psychologisch projiziert, reprojiziert ‚historisch‘. Und der antijüdische Kampf der (Prä-)Faschisten ist weithin ein Krieg auf (längst) vergangenem Boden, was ihm aber nichts an Gewicht nimmt. Als „Genealogen“, für die „Jud(ä)a“ der Keim aller (modernen) Übel ist, können sie gar nicht anders als sehr weitgehend einen ‚historischen Diskurs‘ zu führen, ihre aktuelle Ideologie historisch zu kostümieren. Ich bleibe historisch-kritisch und konstatiere insofern: Die spätjüdische Apokalyptik protestierte aktiv gegen den römischen Imperialismus – alles andere denn unehrenhaft, der Erzrabbiner Ben Sakkai zog sich jedoch prototypisch in eine staatsloyale Synagogalreligion zurück, und sein Zeitgenosse Flavius Josephus wurde sogar zu einem Propagandisten römischen Kaisertums Umfrage – obgleich in des jüdischen Gottes Namen. Dabei war ihm der erste jüdische Philosoph im engeren Sinn, der durchaus apologetische Alexandriner Philon, vorausgegangen. Zugespitzt kann man formulieren, dass Philon Platon ‚mosaisierte‘, indem er Moses ‚imperialisierte‘: Augustus zu dessen universalem Erben proklamierte – nicht anders als dann der christliche Theologe Eusebius Konstantin zum idealen Nachfolger Christi und Augusti zugleich. Sehr einflußreiche, obgleich unauthentische Religionsphilosophie, gar Theologie ist wesentlich apologetisch, ja ideologisch. Doch gibt es eine mehr oder weniger ausgeprägte – wenn meist auch ungewollte – Dialektik des Apologetischen. Hat zum Beispiel – um das Maimonides- und Spinoza-Problem auf sich beruhen zu lassen – Moses Mendelssohn die Aufklärung eher judaisiert oder das halachische Judentum eher rationalisiert? War (der späte) Hermann Cohen mehr ein kantianischer Jude oder ein jüdischer Kantianer? Man kann diese Fragen in einer wesentlichen Hinsicht auf sich beruhen lassen und – fruchtbarer wie entscheidender – auf das jeweilige emanzipatorische bis revolutionäre Potential der Synkrasien bzw. Symphilosophien abheben. Dann stellen sich – überrepräsentativ beim heterodoxen Marxisten Bloch – beachtliche jüdische Anteile heraus und unbeschadet dessen, dass sein religionsphilosophisches Hauptwerk mit „Atheismus im Christentum“ überschrieben ist. Pointe dieses 1968 erschienenen Buches ist, dass seine Religionsgeschichtsphilosophie – trotz „Atheismus“ und „Christentum“ – tief jüdisch ist, aber nicht, weil Bloch ein (so unzionistischer wie ungläubiger) Jude war, sondern ein hochreflektierter Biblizist – nicht zuletzt im Blick aufs Alte Testament, die Jüdische bzw. Hebräische Bibel. Vor’m Reden von Jüdischer Philosophie nur aufgrund der jüdischen Herkunft des jeweiligen Philosophen – in noch so gut gemeinter Anwendung der „Nürnberger Gesetze“ – ist nachdrücklich zu warnen. Ich will gar nicht von der zum Katholizismus konvertierten und als „christliche Märtyrerin“ verehrten Edith Stein sprechen (oder den sich allzu sehr mit der „Konservativen Revolution“ einlassenden Weltanschauungsproduzenten Karl Wolfskehl und Hans-Joachim Schoeps). Auch in den Fällen Cassirer, Kelsen, Wittgenstein und der meist jüdischen Mitglieder des „Wiener Kreises“ mag es gute kultur- und sozialpsychologische Gründe geben, von einer jüdisch mitbedingten Genese ihrer Theorie zu sprechen, ob sie aber substantiell jüdisch ist, scheint mir weitestgehend zu verneinen zu sein. Die (zeitweilige) Vertreibung dieser und anderer jüdischer Intellektueller, die Er- Umfrage mordung (nicht weniger) war Verbrechen und Verlust zugleich. Doch jüdische Philosophie (und Literatur allgemein) ohne jeden biblischen – nicht einmal vermittelt biblischen – Bezug scheint mir inhaltlich unmöglich Jüdisch sein zu können. Das im weitesten Sinne biblische Kriterium – Apokalyptik, Midrasch, Talmud, Kabbala usw. einbeschließend – erscheint mir so zentral, dass ich umgekehrt ‚Jüdischen Geist‘ dort am Werk sehe, wo bei Nichtjuden (auch) ein vor- und außerchristlicher Biblizismus konstitutiv ist – selbstverständlich auf die reflektierteste Weise, jede Substituierung vermeidend und die existentiell jüdische Differenz voll respektierend. ‚Nach Auschwitz‘ hat sich diese Differenz – selbst in den Augen eines so agnostischen Juden wie Jean Améry – nur vertieft: Sartres Dictum, dass der Antisemitismus den Juden zum Juden mache, hat dem Existenzial assimilierter Juden nach Auschwitz bloß zum Ausdruck verholfen. – Auschwitz stellt insgesamt eine fundamentale Zäsur dar. Denken (und Dichten) wird in jede nur vorstellbarer Zukunft hinein von ihm (und Hiroshima) außerordentlich herausgefordert sein. Dass der gleich Améry weitestgehend assimilierte und agnostisch gebliebene Günther Anders dies, wie kein anderer, auf den Begriff gebracht hat, hängt – kultur- und sozialpsychologisch – mit seinem unbeschadet dessen nie geleugneten Judentum zusammen, doch auch – und kaum weniger – mit seiner bibelexegetischen Kompetenz, die es Anders erlaubte, in Form „Profaner Theologie“ geistesgegenwärtige Zeitdiagnose zu betreiben. Dies ist mein aktuelles, wenn man will, analytisches Argument für auch Biblische und insofern Jüdische Philosophie, von mir „Profane“ bzw. „Negative Theologie“ geheißen. Ich verweise auf meinen Aufsatz „Profane Theologie hellenischer, jüdischer und christlicher Provenienz. Über Walter Benjamins Kafka-Studien“ im (zusammen mit Jürgen Ebach herausgegebenen) Sammelband „Bibel und Literatur“. – Was das Negative solcher Theologie oder besser Philosophie angeht, füge ich hinzu, dass Jüdisches – groß geschrieben, also inhaltlich verstanden -, der Gottesfrage nicht ausweichen, auf keinen Fall umstandslos atheistisch oder gar antitheistisch sein kann. Sinn für und Begehren nach Transzendenz – noch so anthropologisch bzw. soziologisch verstanden – sind Jüdischem unaufgebbar, wenigstens die Artikulation ihres Entzugs: die Klage über den Transzendenzverlust. Wieder ist mit Vorrang Franz Kafka zu nennen, der – nur konsequent – auch am Messianischen negativ festgehalten hat. Noch Agnes Heller ist ihm Umfrage verpflichtet, wenn sie politologisch (freilich mehr im Sinne Derridas als Benjamins) formuliert: „Der leere Stuhl wartet auf den Messias ... Die Politik kann diesen unbesetzten Stuhl nicht gebrauchen; aber solange man den Stuhl beläßt, wo er ist, genau dort ..., wo er in seiner warnenden, vielleicht sogar pathetischen Leere fixiert bleibt, müssen die politischen Handlungsträger sein Dasein immer noch in Rechnung stellen. Zumindest steht es ihnen frei, sein Dasein in Rechnung zu stellen. Alles übrige ist Pragmatismus.“ Ich selbst erinnere abschließend daran, dass der (Prä-)Faschist Charles Maurras nicht zuletzt deshalb Antijudaist war, weil er im jüdischen Gewissensgott die Referenz jeglichen Antiautoritarismus – unter Einschluß des Liberalismus – sah. Nicht nur er war tremendiert vom michaelischen – jegliches Seiende in die Schranken weisenden – Ruf: „Wer ist wie Gott?“ und von der aus dieser rhetorischen Frage folgenden Aufforderung, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (und ihren Institutionen). Auch der „Vulgärmaurrasist“ Adolf Hitler (Carl Amery) war überzeugt, dass das Gewissen „eine jüdische Erfindung“ sei. – Ich möchte – wie Heinrich Heine – nicht erwähnen, dass man den Juden das Gewissen selbst verdankt, da leider noch wenig Gebrauch davon gemacht worden ist. (Auch von den Juden nicht, wie kaum betont werden muss.) Morton D. Kogut Answers I'd respond to the questions in the order that they appear on the question page: I. l. Yes, l do, but not one that is intellectually grounded upon Jewish doctrines of revelation. 2. Traditional anti-Semitic attitudes are, of course, a negative factor, but far from fatal. Unless victimized by acts of physical violence, Jewish intellectuals should continue to function without whimpering or complaining. Only this approach will command respect for valid ideas and the persons presenting them. Neither attitudes nor respect can be leg- Umfrage isolated. 3. In my view, too many Jaws are disturbed by the fact that most nonJews disUke them. This often produces ideadonal inhibirion and general inumidation, perhaps nurtured by an unconscious urge to ingratiate. II. l. Philosophy can incorporate tradioonal religious ideas, including judgements about the existence or role of God, äs long äs it relies exclusively on the evidence of feason and experience. Howeyer, whenever articies of faith or divine revelation enter the fray as pnmises, we've moved from philosophy into sacred theology. This implies that (with a few exceprions) the main philosophical stream has been secular. 2. My answer to this question depends upon one's definition of "Jewish Philosophy." Does it mean: a) Philosophers who are ethnic Jews, but whose writings either scorn or ignore the claims of Jewish sacred truth — e.g., Spinoza, Marx, Bergson — or b) Philosophers who attempt to use reason and evidence about Torah-related themes? In this category l would place Philo, Maimonides, Saadya Goan, Halevi, Buber, and quite a few others in the Kabbalistic stream. III. l. l think that the very presentation of this question suggests a false view of the historical relationship of past and present. Tradirional philosophy is much more than the thoughts of our dead processors. It has established not only our issues of concern, but methodologies and ruies of evidence. For this reason, it must be reformed dialectically, and not by deconstrucrionist assault. The latter leads to a quasi-comical anarchy of ideas. 2. As l have already implied, l have little regard for rabbinical contributions to pure philosophy. Since rabbis regard the absolute truth of the Torah as unchallengeable, any attempt at inquiry leads to question begging treadmill. As for Kabbalistic writings, they are fascinating as literature, not rational thoughts. Umfrage Daniel Krochmalnik Jüdische Philosophie – Gestern und Morgen Für die ungeheuren Leistungen von Juden auf allen Gebieten der deutschsprachigen Kultur und Wissenschaft, insbesondere auf dem der Philosophie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gab es eine Reihe von unwiederbringlichen Rahmenbedingungen, von denen ich nur zwei in Erinnerung rufen will: Trotz der fortschreitenden Nationalisierung der deutschen Judenheit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts blieb die mittelalterliche Einheit des aschkenasischen Judentums (was ja eigentlich „deutsches Judentum“ heißt) in Mittel- und Osteuropa in manchen Hinsichten in den folgenden beiden Jahrhunderten noch erhalten – zum Beispiel in sprachlicher Hinsicht. Jiddisch war im Westen des Zarenreichs und im Osten des Kaiserreichs und der Donaumonarchie die Sprache der Judengasse, wie der Talmudakademie. „Vertaitschen“, „verdeutschen“ bedeutet auf jiddisch so viel wie „erklären“ – man machte sich die Sachen auf Deutsch deutlich. Zudem schritt zu Beginn des 19. Jahrhunderts getragen von deutschen Normal-Schulen die Germanisierung auch im jüdischen Schtetl Mittelosteuropas voran. – Die moderne Wissenschaft des Judentums ist entgegen gängiger Vorstellung und nach dem Eingeständnis ihres Gründervaters Leopold Zunz nicht in Berlin, sondern im Gefolge der deutschsprachigen Aufklärung in Ostgalizien entstanden. Zunehmend wanderten im Laufe des 19. Jahrhunderts, in den Idealen der Schriftgelehrsamkeit erzogene, bildungshungrige junge Juden aus den unterentwickelten und zunehmend judenfeindlichen jüdischen Siedlungsgebieten im Osten und den östlichen Grenzgebieten in die deutschsprachigen Universitätsstädte. Wir wollen nur einige Beispiele aus der modernen jüdischen Philosophie für diese Ost-West-Wanderung der jüdischen Intelligentia nennen. Als erstes prominentes Beispiel könnten wir Salomon Maimon anführen, der seinen Weg in seiner Lebensgeschichte sehr anschaulich beschrieben hat und als letztes Beispiel, Emmanuel Lévinas. Aber auch in den Lebensgeschichten von Umfrage Edmund Husserl, Edith Stein und Hannah Arendt u. a. findet diese zentripetale Bewegung von der Peripherie in die Zentren statt. Das Ostjudentum stellte für das mitteleuropäische Judentum vor dem 2. Weltkrieg ein weites Hinterland und ein scheinbar unerschöpfliches Reservoir von Talenten aller Art dar, die von den deutschen Bildungsstätten mit Weltruf wie durch Magnete angezogen wurden. In der Regel ging die Ost-West-Migration mit Traditionsverlust und Assimilation einher: Husserl wurde Protestant, seine Schülerin Stein Katholikin und Arendt promovierte bei dem protestantischen Theologen Bultmann über den Kirchenvater Augustinus. Dieser Weg von Ost nach West war aber keine Einbahnstraße: Junge assimilierte Juden lernen in Osteuropa, etwa in der Etappe der Ostfront im 1. Weltkrieg ein sozial kompaktes und religiös intaktes Judentum kennen und werden durch ihr Ostjudentum-Erlebnis zur religiösen Dissimilation angeregt. In diesem Zusammenhang wären etwa die bekannten Namen Martin Buber und Franz Rosenzweig zu nennen. Aber auch solche allgemein weniger bekannten modernen jüdischen Denker osteuropäischen Ursprungs, wie Abraham Jehoschua Heschel, Josef Dow Soloweitschik, Jeschajahu Leibowitz (hier wäre auch wieder Lévinas anzuführen), die nach dem zweiten Weltkrieg in ihren Zufluchtsländern die wichtigsten jüdischen Denker waren und in ihrem Philosophiestudium in Deutschland an Philosophen jüdischen Ursprungs, wie Max Scheler, Hermann Cohen und Edmund Husserl angeknüpft hatten, ließen ihr jüdisches Erbe nicht einfach hinter sich, sondern betrachten es als einen würdigen Gegenstand philosophischer Reflexion. Der deutsche Antisemitismus, der sich zunächst gegen die Ostjuden richtete, hat schließlich das Ostjudentum fast vollständig ausgemerzt. Eine so glücklichunglückliche Konstellation wie zwischen Ost- und Westjudentum am Ende des vorletzten und am Anfang des letzten Jahrhunderts wird es in den deutschsprachigen Ländern nie mehr geben. In diesem Zusammenhang muß auch eine zweite, eher negative Rahmenbedingung für die besondere Art der geistigen Kreativität des deutschsprachigen Judentums in diesem Zeitraum erwähnt werden. Anders als im russischen Reich, wo vor dem 1. Weltkrieg die Masse der Juden wohnte, wurden die Juden in Mitteleuropa nicht durch einen numerus clausus von den höheren Bildungseinrichtungen ferngehalten, sie wurden aber auch nicht wie in Westeuropa ohne weiteres zur höheren akademischen Laufbahnen zugelassen. Trotz formeller Gleichstellung blieb die jüdische Zugehörigkeit bis Umfrage in die Weimarer Republik ein unsichtbares Karrierehindernis. Das zeigte sich schon bei dem ersten modernen deutschjüdischen Philosophen Moses Mendelssohn. Ihm verweigerte Friedrich II. 1771 die Bestätigung als ordentliches Mitglied in der Klasse für spekulative Philosophie in der preußischen Akademie der Wissenschaften. Trotz der Emanzipation der Juden in Preußen (1812) war die Taufe im Zeitalter der Restauration das unumgängliche „Eintrittsbillett“ zur Universität. So mußte der Hegelschüler und Rechtsphilosoph Eduard Gans, wie Heinrich Heine es ausdrückte, „zu Kreuz kriechen“, ehe er 1826 zum außerordentlichen Professor der juristischen Fakultät in Berlin ernannt wurde. Das gleiche war selbstverständlich auch in Österreich, wo Joseph II. bereits 1781 ein Toleranzedikt erlassen hatte, ungeschriebenes Gesetz. Edmund Husserl mußte für seine akademische Karriere 1886 sein Gewissensopfer bringen und wurde im katholischen Land – immerhin Protestant. Hermann Cohen war (seit 1876) der einzige jüdische Lehrstuhlinhaber für Philosophie im Kaiserreich bis 1919. Bei vielen konnte aber nicht einmal das Taufwasser den „gelben Fleck“ abwaschen (H. Cohen an P. Natorp, 29.11.1916). So etwa in dem tragischen Fall von Georg Simmel. Sein von M. Weber, Windelband, Rickert und Jellinek befürworteter Ruf nach Heidelberg wurde 1908 durch ein rassistisches Gutachten von D. Schäfer zu Fall gebracht: „Ob Prof. Simmel getauft ist oder nicht,“ schreibt er, „weiß ich nicht, habe es auch nicht erfragen wollen. Er ist aber Israelit durch und durch, in seiner äußeren Erscheinung, in seinem Auftreten, in seiner Geistesart“. Auch die weltberühmten Vertreter der deutschen Wissenschaft des Judentums waren nie an deutschen Universitäten, sondern in Rabbinerseminaren in Berlin und Breslau angesiedelt. Die breite Masse der jüdischen Intelligenzija gehörte der Klasse der „sozial freischwebenden Intellektuellen“ (Karl Mannheim) an. Wie Michael Löwy (Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandschaft, 1997) und jüngst wieder Enzo Traverso (Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah, 2000) gezeigt haben, kompensierten sie ihre soziale Dystopie entweder durch eine übertriebene patriotische Eutopie wie Cohen und Simmel oder durch revolutionäre Utopie, wie der Cohen-Schüler Kurt Eisner, Gustav Landauer und Ernst Bloch u.a. Sie waren in der Weimarer Republik an allen philosophischen, wissenschaftlichen, literarischen, künstlerischen und politischen Avantgarden an vorderster Front beteiligt. Ihre exzentrische Positi- Umfrage onalität sicherte ihnen einen privilegierten Beobachtungsstand, von dem aus sie als „Fremde“ (G. Simmel) die Entfremdungserscheinungen der Gegenwart besser durchschauen und als „Feuermelder“ (W. Benjamin) die politischen Katastrophen mit prophetischer Hellsicht voraussehen konnten. Auch diese unglücklich-glückliche Konstellation ist unwiederbringlich verloren und man kann sich, wie Gershom Scholem in einem Brief an Walter Benjamin von Februar 1940 fragen: „wie würde ein Europa nach der Ausscheidung der Juden aussehen?“. Jedenfalls wird das deutsche, das europäische und das universale Denken noch auf lange hinaus von der Erbschaft dieser jüdischen Nonkonformisten zehren. Im grundlegenden jüdischen Gesetzeskodex, der Mischna heißt es: „Mit dem Tode (MiSchäMät) des R. Akiwa schwand die Herrlichkeit der Tora ... Mit dem Tode des Rabban Jochanan Ben Sakkais, schwand der Glanz der Weisheit etc.“ (Sota IX, 14). Dieser Satz stammt aus dem 2. Jahrhundert nach den vernichtenden Niederlagen der Juden gegen die Weltmacht Rom. Seither hat man das Studium der Tora und die jüdische Weisheit schon oft tot gesagt; doch nach jeder Katastrophe sind sie an anderen Orten wieder auferstanden. Ein quantitatives Argument dagegen ist nicht stichhaltig, denn die heutigen jüdischen Gemeinden in Deutschland, etwa in Mainz, Augsburg und Regensburg sind nicht kleiner als ihre mittelalterlichen Vorläufer, die das aschkenasische Judentum, ja das Judentum insgesamt doch unauslöschlich geprägt haben. Wenn wir zudem den Renouveau juif in Deutschland und Frankreich in diesem Jahrhundert studieren, dann sehen wir, daß es immer einzelne charismatische Persönlichkeiten waren, die eine Ausstrahlung auf Generationen von Schülern hatten. So übte etwa der Frankfurter Rabbiner Nechemia Nobel aus Frankfurt, der über Schopenhauer promoviert hatte, einen starken Einfluß auf wichtige Vertreter der Frankfurter Schule, wie Leo Löwenthal, Siegfried Kracauer und Erich Fromm aus. Plötzlich werden in ihrem Denken religiöse Begriffe wie Messias und Bilderverbot wieder aktuell, die ihnen aus ihrer areligiösen oder manchmal ausgesprochen antireligiösen Erziehung kaum vertraut gewesen sein dürften. Ähnlich intensiv war die Ausstrahlung Jakob Gordins, der aus Rußland stammte und in Berlin über Hermann Cohen promoviert hatte, auf junge jüdische Widerstandskämpfer während der deutschen Besatzung in Frankreich. Er hat die geistige Atmosphäre vorbereitet, in der Emmanuel Lévinas nach der Befreiung wirkte und jüdische Linksintellektuelle aus dem Umfrage Umkreis von Jean Paul Sartre, wie Arlette Elkaim Sartre, Benny Lévy, Bernard-Hery Lévy und Alain Finkielkraut Anfang der 80er Jahre im Anschluß an Lévinas die jüdischen Quellen wieder entdeckten. Trotz dieses Gesetzes von den kleinen Ursachen und großen Wirkungen, wonach im Reich des Geistes ein großes Licht tausend kleinere anzünden kann, müssen zumindest Kerzen vorrätig sein. Auch nach dem Krieg gab es jüdische Denker im deutschsprachigen Raum; doch konnten sie unter Juden kaum Schule machen. Die jüdischen Zentren in Mittel- und Osteuropa sind in Bezug auf die jüdische Gelehrsamkeit heute und auf lange Zeit Randbezirke geworden. Nach dem historischen Gesetz vom wandernden Gravitationszentrum des Judentums hat sich der geistige Schwerpunkt der jüdischen Diaspora nach Israel und Amerika verlagert. Wenn wir die langfristige Bewegung dieses Zentrums beobachten, dann zeigt sich, daß es sich in der islamischen Welt vom Osten nach Westen, von Babylon und Palästina nach Spanien und in der christlichen Welt von Westen nach Osten, von Frankreich nach Polen verschiebt. Mit der Rückkehr des Judentums nach Palästina in diesem Jahrhundert bekommt das jüdische Denken eine völlig neue Ausgangsbasis. Zum ersten Mal seit zweitausend Jahren unterliegt es nicht mehr den Bedingungen des Exils, mit seinen fremdbestimmten Lebensverhältnissen und mit seiner verzerrenden Fremdund Selbstwahrnehmung. Die geistigen Kräfte der Juden zerstreuen sich nicht in allen Richtungen des nichtjüdischen Lebens, sondern entspringen einem freien jüdischen Leben und beziehen sich darauf zurück. Auch das untergegangene Ostjudentum ist in Israel und Amerika gleichsam wieder auferstanden. In Israel gibt es zahlreiche Talmudakademien und chassidische Höfe, die die osteuropäischen Namen ihrer Herkunftsorte tragen (Brisk, Mir, Slabodka, Belz usw.) und noch niemals waren sie so stark frequentiert wie heute. Ja sogar die osteuropäische Kleidermode und die jiddische Sprache ist in diesen Einrichtungen üblich. Die jüdische Tradition überbrückt damit den tiefen Bruch der Katastrophe und stellt der Welt ungeniert ihre geistigen Schätze vor. Nicht weniger als drei große englischsprachige Talmudausgaben, z. T. mit erschöpfenden Kommentaren, werden derzeit ediert. Welche Zukunft freilich die jüdische Religionsphilosophie in Israel, die in der Vergangenheit oft einen apologetischen Zweck erfüllte, haben wird, muß hier dahingestellt bleiben. Philosophische Reflexionen auf der Höhe des Quellenstudiums finden sich bezeichnenderweise eher in der Umfrage Diaspora als in Israel. Die wenigen namhaften israelischen Philosophen verarbeiten meistens nur das europäische Erbe, sind eher Philosophiehistoriker als orginelle jüdische Philosophen. Im 5. Buch Mose sagt der Prophet Mose: „Seht, ich habe euch Gesetze und Rechtsvorschriften gelehrt (...). Beobachtet sie und übt sie aus, denn das ist eure Weisheit und Klugheit auch in den Augen der Völker; wenn sie alle diese Gesetze hören, dann werden sie sagen: fürwahr ein weises und kluges Volk ist diese große Nation“ (4,5-7). Daraus schließt Moses Maimonides in seinem Führer der Verirrten, daß das jüdische Gesetz keine arbiträre Ordnung ist (III, 31), sondern, recht verstanden, mit der Philosophie identisch sein muß (II,11). Für ihn handelte es sich dabei nicht um eine besondere „jüdische“, sondern um die allgemeine Weisheit. Ausdrücklich fordert er in seinem Kommentar zu den Weisheits-Sprüchen der Synagogenväter: „Höre die Wahrheit von jedem, der sie sagt!“ (arab.: WaIsma LCHaq MiMan Qaluhu, hebr.: USchma HaEmet MiMi SchäAmra). Wir dürfen nicht vergessen, daß die berühmte Antithese "Quid ergo Athenis et Hierosolymis?“, (Was hat Athen mit Jerusalem zu schaffen?) nicht vollständig ist, und mit der Frage schließt: „Was die Akademie mit der Kirche?“ (De praescr. Haeret. 7, 9). Sie stammt von Tertullian, einem christlichen Apologeten, der zugleich der Archeget der lateinischen Adversus-Judaeos-Literatur war. Wenn er von Jerusalem sprach, dann hatte er die den Juden verbotene, römische Aelia Capitolina vor Augen und er redete mit seinen Paradoxien nicht Zion, sondern ausdrücklich Golgatha das Wort. Die jüdischen Weisen (Chachamim) haben die Tora dagegen stets als Weisheit für die Welt, als Weltweisheit verstanden, und nicht als „Credo quia absurdum“ (Tertullian, De carne Christi 5). Nichtsdestotrotz gibt die Tora der Vernunft Inhalte zu denken, die sich die griechische Schulweisheit so leicht nicht hätte träumen lassen. Sie verlangt den Kosmos und den Anthropos von der Schöpfung her zu denken (Genesis), die Polis von der Sklavenbefreiung und Offenbarung her (Exodus), den Nomos von der Heiligung und Nachahmung Gottes her (Leviticus), die Historia von der zielgerichteten Vorsehung und Erlösung her (Numeri) und das Theion, das Göttliche vom transzendenten, personalen Gott her (Deuteronomium). Wenn wir das europäische Denken nicht nur als Erbe des griechischen, sondern auch der biblischen Denkaufgaben verstehen, dann sind Namen wie Philon, Maimonides, Spinoza, Mendelssohn, Cohen, Buber und Rosen- Umfrage zweig nicht nur irgendwelche Philosophen jüdischer Herkunft, sondern Schlüsselfiguren der europäischen Geistesgeschichte: Philon hat erstmals die biblische Botschaft in die Begriffe der platonisch-stoischen Philosophie übersetzt und damit der christlichen Patristik den Weg gewiesen und Maimonides hat sie in aristotelisch-neuplatonischen Begriffe ausgedrückt und damit der christlichen Scholastik den Weg geebnet. Spinoza hat dagegen die Bibel und Philosophie vollständig getrennt und damit sowohl die historisch-kritische Bibelwissenschaft begründet, wie die Emanzipation der Philosophie und Naturwissenschaft von der Offenbarung erstmals in der Neuzeit radikal vollzogen, Mendelssohn hat vor dem leibnizianischen, Krochmal vor dem hegelianischen, Cohen vor dem neukantianischen, Buber und Rosenzweig vor dem nietzscheanischen und kierkegaardschen Hintergrund die biblische Botschaft in ihrer jüdischen Auslegung behauptet. Hierbei handelt es sich nicht um müßige apologetische Übungen, sondern um den Versuch, die beiden Hauptquellen des europäischen Denkens zu verbinden. Jüdische Philosophie war und ist also nicht nur ein jüdisches Geschäft, sondern ein unverzichtbarer Beitrag zum europäischen Denken. Gewiß, für viele zeitgenössische jüdischen Philosophen stand nicht mehr das ihnen weitgehend fremd gewordene Judentum im Mittelpunkt des Denkens, wohl aber das Judesein. Für sie war die persönliche Erfahrung der rassistischen Stigmatisierung als Juden auch ein entscheidender philosophischer Denkanstoß. Aber für Denker, wie Theodor W. Adorno, Hanna Arendt, Günther Anders und Hans Jonas ist „Auschwitz“ keine speziell jüdische Erfahrung, sondern ein Menetekel für die ganze Menschheit. Stigmatisierung, Diskriminierung, Exilierung, Eliminierung droht in unserem Jahrhundert allen Menschen; die Menschheit blutet, wie Lévinas einmal sagte, durch jüdische Wunden. – Angesichts der verschärften Exils-Erfahrung im 2. Weltkrieg verfängt die optimistische Aufhebung der chronischen Dystopie in die Utopie nicht mehr, sondern wird, wenn man so will, in einer vollständigen Atopie überboten. Jüdische Denker, wie Emmanuel Lévinas, Jacques Derrida, Jean-Francois Lyotard vollziehen wie zuvor schon Adorno ihre radikale Revision des abendländischen Denkens mit negativen „Begriffen“ der Alterität, wie „L‘autre“, die „differance“, „Le différend“. Die an uns gestellte Frage der Redaktion des Widerspruch: „Haben die Bemühungen, die aus der mit (dem Holocaust und der Rückbesinnung auf das Judentum) einhergehenden Auseinandersetzung mit den europäischen Umfrage Denkmustern hervorgegangen sind, die Gegenwartsphilosophie Ihrer Meinung nach insgesamt befruchtet oder eher gelähmt?“ ist wohl eher eine Geschmacksfrage. Sicher aber ist, dass modernes und postmodernes Denken ohne diese Bemühungen undenkbar wäre. Umfrage Friedrich Niewöhner Jüdische Philosophie – Versuch einer Begriffsbestimmung Wie ist der Begriff "Philosophie" mit einem Adjektiv „jüdisch“ zu verbinden, das nicht selbstverständlich zur Philosophie hinzuzugehören scheint, das als in einem Spannungsverhältnis zur Philosophie angesehen werden kann, und das die Philosophie vielleicht verändert, ihr Grenzen setzt? Um es gleich vorweg zu sagen: es gibt nur eine Vernunft, die allgemeine Menschenvernunft. Es gibt weder eine spezifisch jüdische oder islamische oder christliche Vernunft; auch kein spezifisch islamisches, christliches oder jüdisches Denken mit je eigenen Rationalitätsstandards. Was für einen Sinn hat es dann aber, von einer "jüdischen Philosophie" zu sprechen? Warum bezeichnen erstmals Leopold Zunz (1818) und Salomon Munk (1849) im 19. Jahrhundert die Reflexionen der Juden im Mittelalter als "jüdische Philosophie"? Versuch einer Bestimmung: 1. Wenn ein Jude philosophiert, dann ist das nicht notwendig eine jüdische Philosophie. Beispiele: Baruch de Spinozas "Ethik", Karl Marx' "Das Kapital", Edmund Husserls "Ideen zu einer reinen Phänomenologie". 2. Wenn ein Jude (oder ein Christ, Muslim, Atheist) über Moses Maimonides oder Jehuda Halevi schreibt, dann ist das nicht notwendig eine jüdische Philosophie. So etwas wäre eher zu subsumieren unter "Geschichte" der Philosophie (wobei noch offen bleiben muß, ob Maimonides oder Halevi als Philosophen bezeichnet werden können). 3. Wenn ein Christ (oder ein Muslim oder ein Atheist) über das Judentum reflektiert, dann ist das noch keine jüdische Philosophie. In diesem Fall sollte man eher von Religionsphilosophie oder Religionsphänomenologie sprechen. 4. Wenn jedoch ein Jude über das Judentum als solches mit der allgemeinen Menschenvernunft reflektiert, dann ist das jüdische Philosophie. Jüdische Philoso- Umfrage phie ist "Philosophie des Judentums" (Julius Guttmann), wobei "des Judentums" sowohl genitivus objectivus als auch genitivus subjectivus ist. Begründung: Es ist Philosophie, weil die Reflexion mit der allgemeinen Menschenvernunft durchgeführt wird. Philosophie ist immer auch ein Nachdenken über uns selbst und über unsere Herkunft. Es ist jüdische Philosophie, weil das Judentum als solches von einem "Juden" reflektiert wird, er über seine Herkunft nachdenkt, über die Gemeinschaft reflektiert, zu welcher er gehört. Was ist der Unterschied zwischen der Reflexion eines Juden über das Judentum und der Reflexion eines Christen über das Christentum? Ein Jude kann über das Judentum mit der allgemeinen Menschenvernunft reflektieren, denn er braucht nicht gläubig (fromm, mosaischen Glaubens) zu sein. Er ist auch dann Jude, wenn er Atheist, Nietzscheaner, Kantianer oder Anarchist ist. Jude sein heißt nicht, Anhänger der mosaischen Religion zu sein, sondern Sohn einer jüdischen Mutter und so zu einer Gemeinschaft gehörend. Ein Christ jedoch, wenn er wirklich ein gläubiger Christ ist, kann über das Christentum nur in religiösen Kategorien reflektieren, denn "der Glaube ist höher als alle Vernunft". Das ist Theologie, aber keine christliche Philosophie. Es kann keine "christliche Philosophie" geben (Martin Luther, Karl Barth). Das heißt: nur ein Jude, der nicht gläubig ist, der sich aber dennoch zum Judentum als "seiner" Gemeinschaft bekennt, kann mit der allgemeinen Menschenvernunft über das Judentum reflektieren. Was ist der Unterschied zwischen einem Juden, der nicht gläubig ist und der über das Judentum reflektiert, und einem Christ, der nicht gläubig ist und über das Christentum reflektiert? Ein Christ, der nicht gläubig ist, ist kein Christ mehr – ein Jude, der nicht gläubig ist, ist dennoch ein Jude. Begründung: Aus dem Judentum kann man nicht austreten; man bleibt auch dann noch ein Jude, wenn man mit der allgemeinen Menschenvernunft philosophiert. Umfrage D. h.: jüdische Philosophie ist die Philosophie von einem Juden, der mit der allgemeinen Menschenvernunft das Judentum (als Religion oder Ethnizität) reflektiert. Das aber heißt nun zweierlei: 1. Jüdische Philosophie ist immer eine Philosophie von einem Denker, die ihn selbst angeht und notwendig ist, weil sie sich mit der Herkunft des Denkers, die er nicht abschütteln kann, auseinandersetzt. 2. Jüdische Philosophie hat es immer zu tun mit dem Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner Menschenvernunft und dem partikularen Judentum (als Religion oder Ethnizität). Weiterhin geschieht jüdisches Philosophieren immer in einer extremen Situation: im Exil, in einer die jüdische Tradition gefährdenden nicht-jüdischen Umwelt und in Auseinandersetzung mit nicht-jüdischen Gedanken, Glaubenssätzen und Philosophemen. Beispiele: Moses Maimonides' "Führer der Unschlüssigen" (in Auseinandersetzung mit dem Islam); Moses Mendelssohns "Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum" (in Auseinandersetzung mit dem Christentum); Leo Strauss' "Philosophie und Gesetz" (in Auseinandersetzung mit der Aufklärung). Wo dieses Spannungsverhältnis verneint wird, sollte man nicht von jüdischer Philosophie sprechen, sondern von Theologie. Beispiele: Jehuda Halevis "Kuzari"; Franz Rosenzweigs "Stern der Erlösung"; Hermann Cohens "Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums"; rabbinisches Denken. Ergebnis: Ist jüdische Philosophie die Philosophie eines Juden, der über das Judentum (als Religion oder Ethnizität) mit der allgemeinen Menschenvernunft reflektiert, weil diese Reflexion ihn notwendig angehen muß, dann wird ersichtlich, warum die jüdische Philosophie die allgemeine Gegenwartsphilosophie befruchten kann: Das Verhältnis und die Spannung von Partikularität und Universalität, Glauben und Wissen, Besonderem und Allgemeinen, Religion und Philosophie, Gesetz und Freiheit, Individualität und Objektivität etc. wird nirgendwo so radikal befragt wie in der jüdischen Philosophie, weil nur der jüdische Philosoph diese Fragen wegen seiner Herkunft stellen muß. Umfrage Jüdische Philosophie ist zwar eine Reflexion auf das Judentum, sie kann aber nicht von ihren Ergebnissen her bewertet werden. Da sie in Theologie umschlägt, wenn sie zu dem Ergebnis kommt, daß die Wahrheit allein bei den Rabbinern zu finden sei (wie bei Halevi), ist jüdische Philosophie nur dann gegeben, wenn die Spannungsverhältnisse nicht aufgelöst und nicht harmonisiert werden (wie z. B. bei Maimonides und Leo Strauss). Das wiederum hat zur Folge: Da jüdische Philosophie mit der allgemeinen Menschenvernunft reflektiert, muß sie notwendigerweise immer eine kritische Philosophie sein, kritisch gegen die Religion, Ethnizität, Partikularität, den Glauben etc. Als kritische Philosophie ist sie gegen jeden Dogmatismus. Diese Begriffe und Problemkomplexe beschreiben die Herkunft des jüdischen Philosophen, nicht seine Zukunft. Diese wird entworfen mit der allgemeinen Menschenvernunft, obwohl dieser Philosoph immer auch Jude bleiben wird. Zur Geschichte des Begriffs "Jüdische Philosophie": 1. F. Niewöhner: Vorüberlegungen zu einem Stichwort: "Philosophie, jüdische". In: Archiv für Begriffsgeschichte, Band 24, Bonn 1980, S. 195-220. 2. F. Niewöhner: Philosophie, jüdische. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, Basel 1989, Spalten 900-904. Werner Stegmaier Von Juden lernen In Deutschland kann man nach wie vor nicht unbefangen sein gegenüber allem, was als "jüdisch" gekennzeichnet wird. In Fragen des "Jüdischen" ist Objektivität kaum möglich. Es ist zu viel Schlimmes geschehen, und es kann noch Schlimmeres geschehen, und kein Urteil, so "objektiv" es sich Umfrage gegeben haben mag, war daran ganz unschuldig und wird daran ganz unschuldig gewesen sein. Alles "Jüdische" wirft in Deutschland unmittelbar Fragen der "Schuld" auf. Jedoch nicht nur in Deutschland. Als der amerikanische Jude Daniel Jonah Goldhagen so weit ging, Deutschland mit einem spezifisch "eliminatorischen" Antisemitismus lange vor der Naziherrschaft zu belasten, löste er entgegen seiner Absicht eine Debatte über Schuld gegenüber den Juden auch im übrigen Europa aus. Sie ließ seither selbst die Länder nicht aus, die am schlimmsten unter der Naziherrschaft zu leiden hatten. Zuletzt hat sie Polen erschüttert. Die Schuld gegenüber den Juden gewann eine europäische Dimension. Nun stand und steht Europa in Frage, Europa mit seiner "jüdisch-christlichen" Tradition, die in der Moderne zu einer "humanistischen" geworden und mitten im 20. Jahrhundert mitten in einem seiner humanistischsten Länder völlig entgleist war, in dem Land, das man als "Land der Dichter und Denker" gerühmt hatte. Die Verbrechen im Namen Deutschlands sind dadurch in nichts "entschuldigt". Ihre zu lange und zum Teil wissentliche Duldung durch das übrige Europa und durch die USA werfen dennoch Fragen nach dem europäischen Humanismus als solchem auf und dem Denken, das ihn trägt. Es könnte 1933 bis 1945 nicht nur versagt, es könnte selbst zu Totalitarismus und Judenvernichtung beigetragen haben. Es könnte dazu beigetragen haben, weil es sich für "objektiv" hielt. Der Anspruch auf "Objektivität" ist der Anspruch, über "Objekte" Aussagen machen zu können, die jeder mit "Vernunft" Begabte teilen muß. Aus Vernunft objektiv zu urteilen, ist das Ethos des europäischen Humanismus. Ihm entsprang die europäische Wissenschaft ebenso wie der europäische Rechtsstaat, im Blick auf beides weiß sich Europa allem anderen Denken in der Welt überlegen, an ihm mißt es das Denken und Leben der übrigen Welt. Die USA, die sich als die wahren Erben des europäischen Humanismus betrachten, ordnen von ihm aus die Welt, wenn es ihnen notwendig erscheint, unter Einsatz militärischer Macht. Auch wenn der westliche Humanismus auf Vernunft, nicht auf Macht beruhen soll, kann in seinem Namen doch Macht ausgeübt und durch ihn gerechtfertigt werden. Friedrich Nietzsche hat der Redlichkeit dieses Humanismus nicht mehr getraut. Er hat ihn als eine unter anderen "Moralen" gesehen, die, wie alle anderen Moralen auch, "zur Macht wollen". Dennoch war diese Moral für ihn eine besondere. Mit ihrem Anspruch auf Objektivität habe sie die Redlich- Umfrage keit zur obersten Tugend gemacht und über Jahrtausende hinweg zu ihr erzogen. Nun zwinge sie ihre Redlichkeit, den letzten Schluß zu ziehen und sich auch selbst als Wille zur Macht zu sehen. Unter dem Gesichtspunkt der Macht bedeutet der Anspruch auf Objektivität, so auf der Rede von Objekten zu bestehen, daß jedem, der sich ihr nicht anschließt, Vernunft abgesprochen wird. Im Namen der Objektivität aus Vernunft lassen sich vernünftige Menschen von unvernünftigen, rationales von irrationalem Denken trennen. Die ebenfalls Jahrtausende alte jüdisch-talmudische Tradition der Auslegung der Tora erschien der europäischen Philosophie und Wissenschaft im wesentlichen irrational. Sofern die Juden dem von ihr definierten Anspruch auf Objektivität aus Vernunft nicht folgen wollten, hätten sie sich selbst aus dem Humanismus ausgeschlossen. Sie standen damit jedem Verdacht offen. Nietzsche hat die Juden und Europa stets zusammengesehen. Er griff "das Christentum" dafür an, daß es seine jüdischen Ursprünge mit Hilfe griechischer Begriffe zu einer selbstgerechten Moral verfestigt habe, und "die Juden", weil sie – damals – das Christentum hervorgebracht hätten. Zugleich aber erwartete er von den - nun über ganz Europa zerstreuten - Juden für die Zukunft ein besseres, ein "gutes" Europa. Hannah Arendt hat in ihren „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“ (München 1986, 71 f.) zu den "wenigen Europäern", die um den "gesamteuropäischen Aspekt der Judenfrage" wußten, gerade Nietzsche gezählt, "dessen so vielfach mißverstandene Bemerkungen zur Judenfrage durchweg der Sorge um das ‚gute Europäertum’ entspringen und dessen Einschätzung der Juden im Geistesleben seiner Zeit daher so erstaunlich gerecht ist, frei von Ressentiment, Schwärmerei und billigem Philosemitismus". "Gut" konnte Europa für Nietzsche werden, wenn es lernte, seine Moral und seine "moralische Ontologie" von andern her zu perspektivieren und damit auch diesen anderen Moralen und Seinslehren gerecht zu werden, ihnen nicht mehr – nach Mt. 5, 39 – als einem "Bösen" zu "widerstehen". "Gute Europäer" konnten darum gerade "die Juden" sein: zum einen, weil sie keinen Nationalismus brauchten, um ein Volk zu sein, und keinen Sozialismus, um Gerechtigkeit zu lernen, und in der Diaspora zu beidem in Distanz geblieben waren, zum andern, weil sie, wichtiger noch, von Anfang an anders als griechischchristlich zu denken und immer wieder umzudenken gelernt hatten. Sie waren über Jahrtausende Juden geblieben, hatten es, unter der Feindschaft ge- Umfrage gen ihr Denken und die Lebensformen, die sich um es bildeten, selbst gegen ihren Willen bleiben müssen, und ihre bürgerliche Emanzipation hatte zu einem neuen Antisemitismus geführt, mit dem sie sich neu auseinandersetzen mußten. Wenn sie in den Anfängen Europas die Kraft zu einer "radikalen Umwerthung" der damals herrschenden Werte hatten, so konnten sie auch jetzt, so Nietzsche, in den Zeiten des Zweifels und der Verzweiflung an den "obersten Werthen" Europas, am ehesten zu einer neuen Umwertung fähig sein. Wie kein Volk sonst hatten sie in ihrem Leben unter andern Völkern lernen müssen, Macht, soweit sie sie errangen, so besonnen zu gebrauchen, daß, bei Strafe der Vernichtung, gütliche Verständigung immer noch möglich blieb. Was sie nach Nietzsche auszeichnete, war nicht nur ein anderer Umgang mit Moral, sondern auch und tiefer noch mit der Zeit: Geduld, Ausharren auch unter ungünstigsten Umständen, Kraft, sich und anderen Zeit zu lassen, Leiden lange hinzunehmen. Im 251. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse schrieb Nietzsche: Die Juden "verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist –: nämlich nach dem Grundsatze ‚so langsam als möglich!’“ Das griechisch-christliche Denken hatte dagegen versucht, die Zeit zu transzendieren, hatte sich jenseits des Zeitlichen auf ein Zeitloses verpflichtet und sah in ihm das absolute Gültige. Dem folgten alle Unterscheidungen, die es leiteten: Gott und Mensch, Sein und Werden, Vernunft und Sinnlichkeit, Form und Inhalt, Moral und Glück, Fortschritt und Gegenwart, Bedeutung und Zeichen, Text und Auslegung. Das Zeitlose war darin stets der Wert, das Zeitliche der Unwert. Daß das griechisch-christliche Europa so dachte, daß es sich gegen die Zeit in einem Jenseits der Zeit versichern zu müssen glaubte und seine Moral darauf gründete, hielt Nietzsche für den Ausdruck einer tiefen Lebensangst, des Nihilismus. Er hat sich über das andere "jüdische" Denken als solches nicht näher geäußert, vielleicht aus Unkenntnis, vielleicht aber auch aus Respekt, einem Respekt, der ihn zurückhielt, es seinerseits zu "objektivieren". Erst hundert Jahre später und nach der Shoa hat der Jude Emmanuel Lévinas, der aus Litauen stammte und Franzose wurde, von der griechisch-christlichen oder, wie er sie auch nennt, "westlichen" Tradition aus versucht zu zeigen, wie Europa von den Juden lernen, wie es sein Denken vom "jüdischen" her in Umfrage Frage stellen kann. Viele gingen ihm voraus, vor allem Hermann Cohen und Franz Rosenzweig. Aber erst nach der Shoa war das Lebensentscheidende dieses Lernens deutlich. Lévinas sprach ungeschützt vom "jüdischen Denken" (pensée juive) und legte es nicht darauf an, Entsprechungen und Dialoge zwischen ihm und dem griechisch-christlichen Denken zu suchen. Er dachte von ihrer "Trennung" (séparation) her. Mit einer Radikalität, die er bei Platon, Descartes, Kant, Nietzsche und neu bei Husserl und Heidegger erfahren hatte, führte er auf der einen Seite die kritische Tradition der europäischen Philosophie bis dorthin fort, wo sie die jüdische berührte, und trug, auch in seinen Schriften deutlich getrennt, dieses kritische Denken auf der andern Seite in die jüdische Tradition der Talmud-Auslegung ein. Das "westliche" Denken blieb so das westliche und das "jüdische" das jüdische, aber beide konnten sich selbst in der Berührung mit dem andern vom andern her neu denken. Dies war und ist für beide Seiten schwierig, und Lévinas ging seinen Grenzgang bewußt im Zeichen einer "schwierigen Freiheit". Er zeigte auf der einen Seite, wie Heidegger, der in der Kritik des Objektivismus in der europäischen Philosophie zuletzt am weitesten gegangen war, mit seinem Seinsdenken noch immer einer "Neutralität" anhing, die zwar nicht mehr objektivierbar sein, aber dennoch das Denken aller in Einem "versammeln" sollte, der "Lichtung des Seins". Heidegger habe damit am Denken eines Dritten jenseits der Einzelnen festgehalten, das für alle gleich gültig sein sollte, für das aber eben darum die Einzelnen gleichgültig waren. Es ist die "Nicht-Gleichgleichgültigkeit" (non-indifférence) der Einzelnen, die Levinas gegen die "Gleichgültigkeit" des Objektiven, Allgemeinen, Neutralen (indifférence) der europäischen Philosophie geltend macht. In der jüdisch-talmudischen Tradition waren die Einzelnen niemals gleichgültig. In der Auslegung der Tora, der unübersehbar vielfältigen und unerschöpflich bedeutungsvollen Schrift eines Gottes, der auf seiner Unbegreiflichkeit bestand, waren abschließende Begriffe ausgeschlossen, hatte ein an und für sich gültiges Allgemeines kein Recht, war Objektivierung Anmaßung. Jedes Allgemeine war ein Allgemeines, das ein Einzelner auf seine eigene Verantwortung in die Tora hineintrug, um sie zu erschließen, und dem ein anderes Allgemeines gegenüberstand, das ein anderer auf seine Verantwortung in sie hineintrug. So ist das Allgemeine niemals an und für sich gültig und der Einzelne niemals gleichgültig für die Auslegung der Tora, die als Schrift Gottes Orientierung im ganzen, Orientierung für das Leben im ganzen, die Umfrage zen, die für Juden, die auf sie achten, das ganze Leben ist. Um ihre Vielfalt und Fülle zu erschließen, ist jede einzelne Auslegung von Bedeutung, gerade wenn sie anders ist als die anderen, jede kann die Orientierung erweitern und erneuern, auch und gerade dann, wenn sie scheinbar ohne Methode Entlegenes aufeinander bezieht. Im Talmud sind Auslegungen Einzelner, die die Anerkennung anderer Einzelner und damit Autorität gewonnen haben, in der Regel Auslegungen anderer Einzelner mit Namen gegenübergestellt, und in beider Namen können sich wieder andere Auslegungen anschließen. So wächst ein vielfach verknüpftes Netz von namentlichen Deutungen, das verdichtet werden kann, wo neue Frage entstehen, und wieder gelöst werden kann, wo Antworten sich überholt haben. Es bleibt in der Zeit, geht ohne Angst mit der Zeit, ohne sie zu transzendieren. Wenn die Auslegungen, die immer die Auslegungen Einzelner waren, auch wenn sie von vielen oder allen angenommen, plausibel werden, dann hat jeder die Auslegung, die er ins Spiel bringt, andern gegenüber zu verantworten. So wird denkbar und plausibel, daß die Einzelnen nicht durch ein Drittes, scheinbar Objektives, sondern allein durch ihre Verantwortung füreinander verbunden sind. Ihre Beziehung ist dann nicht zuerst eine "theoretische", ein gemeinsamer Blick auf Objektives, sondern eine "ethische", der Blick aufeinander, ins Gesicht des Anderen, das, so Levinas, den theoretischen Zugriff irritiert und als Anmaßung zurückweist. Das Von-Angesichtzu-Angesicht unter Menschen und, in herausragenden Beispielen, unter Gott und Menschen, beherrscht die Tora, während die "westliche" Philosophie es im wesentlichen übergangen hat. Es ist nach Levinas der Anfang des Ethischen, das seinerseits allem Theoretischen vorausgeht, des Ethischen als einer Beziehung unter immer anderen, immer anders begegnenden und immer anders zu verstehenden Einzelnen. Die jüdische Tradition hat nach Levinas diese Gestalt des Ethischen im Denken wach gehalten, eine Gestalt des Ethischen, die alles Allgemeine an die Verantwortung des Einzelnen bindet und es nicht als Objektives aus ihr entläßt. Sie war so besser gegen Totalitarismus gefeit. Sie könnte, und das macht sie über die Antwort auf die Shoa hinaus philosophisch aktuell, der alltäglichen Orientierung näher sein als das aus der "westlichen" philosophischen Tradition Vertraute. In der alltäglichen Orientierung, in der man sich immer neu auf immer neue Situationen einzustellen hat, geht man ohne Angst mit der Zeit um, und man rechnet damit, daß Umfrage man es in allen Bereichen, auch in den auf Objektivität drängenden Wissenschaften, mit immer anderen Einzelnen zu tun hat, die zustimmen oder widersprechen können. Die alltägliche Orientierung könnte auch nach wie vor offener für Religion sein, wenn darunter das Verhältnis zu einem Unbegreiflichen verstanden wird, in dem das Denken immer auch steht, offener, als es die europäische Philosophie und Wissenschaft wahrhaben will, seit sie sich im Namen der Aufklärung resolut gegen alle Religion abgegrenzt hat. Was das für alle gleich gültige Allgemeine unter Menschen dennoch notwendig macht, ist das Recht und mit ihm der Staat, der es durchzusetzen hat. Levinas und mit ihm Jacques Derrida haben beide konsequent von der inter-individuellen Beziehung her gedacht als das, was diese Beziehung wohl überschreitet, sich aber eben darum nicht von ihr lösen darf. Mit dem Recht im Staat wird Verantwortung über den einen Anderen hinaus für weitere Andere möglich. Es verlangt darum Gleichheit und Allgemeinheit, jedoch nicht Gleichgültigkeit. In jeder richterlichen und jeder politischen und jeder bürokratischen Entscheidung haben wieder Einzelne für Einzelne Verantwortung. Wird von dieser Verantwortung abgesehen, werden Menschen als Objekte behandelt, und dies kann ein Anfang von Totalitarismus sein. Die Juden in Europa und der ganzen Welt hatten über Jahrtausende ohne eigenen Staat zu leben. Ihr Denken konnte sich in dieser Zeit in kritischer Distanz nicht nur zum theoretischen Anspruch auf Objektivität, sondern auch zur staatlichen Organisation eines Gemeinwillens halten, der, wenn er entsprechend begabte Führer findet, immer auch entgleisen kann. Die Geschichte hat nach der Shoa zu einem Staat Israel geführt. Er ist sowohl aus der jüdisch-talmudischen Tradition als auch aus der europäisch-philosophischen Tradition heraus auf weitestgehende Liberalität eingestellt. Unter den Zwängen der politisch-militärischen Auseinandersetzungen in Palästina ist er aber auch immer wieder zu harten Machtdemonstrationen übergegangen. Sie drohen nun das andere Denken der jüdischen Tradition erneut zu diskreditieren. Einschlägige Veröffentlichungen des Autors: Nietzsches ‚Genealogie der Moral’. Werkinterpretation, Darmstadt 1994. – mit D. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin/New York 1997 (darin: Levinas' Humanismus des anderen Menschen – ein Anti-Nietz- Umfrage scheanismus oder Nietzscheanismus?). – Das Gute inmitten des Bösen. Ethische Orientierung aus Zeichen in der jüdischen Tradition. In: J. Simon (Hg.), Orientierung aus Zeichen. Zeichen und Interpretation III, Frankfurt am Main 1997. – (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt am Main 2000 (darin: Philosophie und Judentum nach Emmanuel Levinas). – (Hg.), Europa-Philosophie, Berlin/New York 2000 (darin: Nietzsche, die Juden und Europa). – Emmanuel Levinas. Reihe Meisterdenker, Freiburg (erscheint 2002). Giuseppe Veltri Fragen zur jüdischen Philosophie heute Ad I. Die Frage nach Chancen für ein jüdisches Geistesleben heute ist sehr heikel, denn sie ist historisch wohl falsch gestellt. Ein jüdisches Geistesleben ist in Deutschland immer vorhanden gewesen – auch nach der Shoa. Jüdische Intellektuelle haben sich ihre Spuren in der deutschen Geschichte nicht tilgen lassen und auf einer deutsch-jüdischen Identität beharrt, auch wenn diese Identität zwiespältig war, und sie in Deutschland nicht (mehr) gelebt haben. Das Merkwürdige dabei ist, daß dieser Aspekt im deutschen und europäischen Raum nicht wahrgenommen wurde, auch nach dem Holocaust nicht. Daß der „Widerspruch“ heute – und nicht vor 20 Jahren – diese Frage stellt, bezeugt, daß die jüdische intellektuelle Präsenz wieder wahrgenommen wird, auch wenn dies vor allem (daher auf eingeschränkte Weise) aus der Perspektive der Shoa geschieht. – Leben wir vielleicht in einer Zeit der Antiquaren, die sich bemühen, das Gedächtnis als Ritual einer klassifizierten Vergangenheit zu betrachten? So jedenfalls deute ich die sich in letzter Zeit häufenden Bemühungen, jüdische Museen zu eröffnen und jüdische Denkmäler zu errichten. Das aber ist ein historisch fragwürdiger Ansatz, der die Stellung des Judentums in der europäischen Gesellschaft als (abgeschlossenes?) Kapitel der allgemeinen Geschichte betrachtet. Die Frage bleibt heute wie damals: Ist dies als ein – schon immer christlicher – Umfrage Versuch zu deuten, das Judentum per naturam als Vorstadium des heutigen Denkens zu betrachten, das man, mit Hegel’scher Kategorie, ‚aufhebt’? Auch die gestellt Frage nach dem „Gewinn“ ist äußerst problematisch. So redeten einige jüdische Intellektuelle im 17. und 18. Jahrhundert, um die Stellung des Judentums innerhalb der christlichen Gesellschaft zu verbessern. Heute ist die Frage anders zu stellen: Brauchen wir eine Allgemeinheit, die uns als Identität dient, oder nur einen gemeinsamen Nenner, damit wir überhaupt kommunizieren können? Die Wahrnehmung des Einzelnen ist das Einzige, was uns beschäftigen soll und muß in einer Zeit, in der man von globalem Denken spricht und das Einzelne in das unbestimmte und unbestimmbare Magma zu versinken droht. Ad II. Das Kompositum „jüdische Philosophie“ verweist historisch gesehen auf eine kulturelle Auseinandersetzung. Gleichzeitig wird damit die seit der Antike diskutierte Frage nach der Genealogie des Wissens berührt. Der Terminus „Philosophie“ ist ja weder hinsichtlich seines Inhalts noch nach Objekt und Ziel eindeutig zu definieren, da diese je nach Epoche, geographischem Raum sowie soziologischer Gruppe variiert haben. Er läßt jedoch immer eine Verbindung zu jener griechischen Weltanschauung erkennen, aus der die „Philosophie“ entstand, und die – der noch heute herrschenden communis opinio gemäß – der jüdischen Geisteswelt so völlig inkompatibel ist: „Athen“ und „Jerusalem“ gelten als ein unvereinbares Gegensatzpaar. Derjenige, der sich auf eine Debatte über jüdische Philosophie einläßt, ähnelt somit dem Seefahrer, der versucht, sein Schiff zwiscken Skylla und Charybdis hindurchzumanövrieren, in der Hoffnung, hier doch noch heil davonzukommen. Der Begriff „jüdische Philosophie“ spiegelt auch die große Unbefangenheit des Historikers wider, der die jüdische Literar- und Kulturgeschichte auch nach philosophisch-historischen Kriterien zu klassifizieren versucht, obwohl doch eine jüdische Philosophie einer contradictio in adiecto gleichkommt. Verbietet nicht der Universalanspruch des philosophischen Denkens und damit des menschlichen Wissens eine Segmentierung gemäß einem Teil der menschlichen Gesellschaft und ihrer jeweiligen Kulturgeschichte? Die Frage nach der Existenz und dem Wesen der „jüdischen“ Philosophie, die zum erstenmal von Vertretern der deutschen Wissenschaft des Judentums aufgeworfen wurde, verweist unmißverständlich auf einen anderen, damit jedoch unmittelbar verbundenen Aspekt: den des jüdischen Selbst- Umfrage verständnisses. Man kann dies noch schärfer formulieren: Je mehr der jüdische Zugang zur Philosophie hervorgehoben bzw. verneint wird und die Thematisierung des Objektes in den Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion tritt, desto radikaler stellt sich die Frage nach Bestand, Wesen und Identität der jüdischen im Verhältnis zur allgemeinen Kultur. So verwundert es nicht, daß diese Frage vor allem in der Diaspora gestellt wird, wo die Gefahr der Assimilation zumindest seit der Wissenschaft des Judentums beständig lauert und sich die eigene Identität in das undifferenzierte Allgemeine aufzulösen („aufzuheben“, würde Eduard Gans in Hegel’scher Terminologie sagen) droht. Die Frage nach der Existenz der jüdischen Philosophie stellt im Grunde eine falsche und unlogische, jedoch paradoxe Denkweise dar, weil der Fachhistoriker und der Philosoph ihr Selbstbewußtsein bei der Bildung des Objektes über- bzw. unterschätzen. Eine jüdische Philosophie existiert nicht als metaphysische Realität an und für sich, als Monade der Leibniz’schen Ontologie, sondern entsteht in dem Moment, in dem ein Philosoph dies als philosophisch möglich und existentiell angebracht erachtet. Eine Idee braucht keine Materialisierung der Erkenntnis; sie verankert sich im Bewußtsein der Formen, die sich historisch herauskristallisiert haben. Ein Adjektiv vor „Philosophie“ deutet immer auf eine Einschränkung des Objektes und kennzeichnet damit eine Konkretisierung, die philosophischhistorisch begründet und soziologisch-kulturgeschichtlich analysiert werden muß. Wenn die Philosophie, zumindest seit der Renaissance, um ihre Existenz und Rechtfertigung gegen die Errungenschaften und die Erfolge der „Wissenschaften“ ankämpft, dann gilt dies vor allem für die jüdische Philosophie. Die Geistesgeschichte des Judentums wird apologetisch mit seiner Philosophie identifiziert. Die jüdische Philosophie kann trotzdem nicht in den sogenannten „klassischen Kanon“ tel quel einbezogen werden, weil sie primär als jüdisch verstanden wird. Man darf also annehmen, daß sich die jüdischen Gelehrten in dem Augenblick, da sie die Beschäftigung mit dem Judentum als wesentlichen Teil der Philosophie betrachten, von deren universellen Anspruch entfernen und vice versa, daß eine jüdische Philosophie nicht existieren darf oder kann, wenn sie von dem universellen Anspruch absieht. Der universelle Anspruch, basierend auf der Prämisse des homo rationalis, ist das Wesen des philosophischen Diskurses, ohne den eine Philosophie im klassischen Umfrage Sinne nicht möglich ist. Wer diesem Ansatz nicht zustimmt, geht von der Definition der „Philosophie“ als Geistesprodukt aus, die jegliche Erscheinung des Denkens überhaupt mit berücksichtigt. Somit verliert der philosophische Diskurs an Konsistenz und Relevanz. Die Debatte um die Definition der „jüdischen Philosophie“ verweist in ihrem historischen Verlauf auf eine grundlegendere Frage, nämlich die nach der eigenen Identität, mithin auf die Definition des Judentums selbst, die auf der philosophischen Ebene aus den Teilaspekten von Existenz und Berechtigung besteht. Die Suche nach der eigenen philosophischen Identität erscheint in diesem Lichte besehen als bewußtseinsbildender Faktor im Rahmen der internen kulturgeschichtlichen Standortbestimmung. Die jüdische Philosophie wendet sich dabei konfliktbewußt gegen den universellen Wahrheitsanspruch der – vor allem griechischen, dann europäischchristlichen – Philosophie. In dieser Hinsicht fungiert sie sowohl als Apologie ad extra bzw. ad intra als auch als Widerstand gegen die Verallgemeinerung des Einzelnen. Ad III. Auch hier – wie immer im philosophischen Denken – gilt die scholastische Maxime „distingue frequenter“: was wird philosophisch unter der sogenannten „rabbinischen Tradition“ verstanden? Die klassische Zeit der Dispute zwischen den Schulen oder die klassische Zeit des Schul- und Dogmenverständnis, die man in der christlichen Zeitrechnung „Mittelalter“ und „Frühneuzeit“ nennt? Nur der Bezug auf die zweite Periode kann zu Konflikten führen; der auf die erste jedoch nicht. Die antike rabbinische Schule ist durch eine Dialektik gekennzeichnet, die – stoisch und epikureisch in ihrem Ursprung – die Macht und/oder Un- und Ohnmacht des Wortes und des Diskurses betont hat. Von Theorie war keine Rede, und daher konnte dies keine Konflikte hervorrufen. Oder schärfer formuliert: der Konflikt war die Quintessenz ihres Diskurses und wurde daher als solcher nicht (immer) wahrgenommen. Es ist wahr, daß jüdische Scholastik, und vor allem Maimonides, heute das jüdisch-philosophische Denken dominiert. Aber nur augenscheinlich und philosophischhistorisch. In der Tat gibt es keinen Denker – und auch Leibowitz ist keiner –, der als jüdischer Philosoph gelten kann. Fackenheim und Lévinas sind deutlich als Denker nach dem Holocaust zu qualifizieren und daher nicht als Philosophen des Judentums zu definieren. Sie betreiben Erfahrungsphilosophie, die in den Kategorien der allgemeinen Philosophie Umfrage als kontingent gelten muß. Oder ist Philosophie doch nur Philosophie des Erfahrenen? Michael Zank Antworten Ich bedanke mich zunächst dafür, daß mich der “Widerspruch” dazu eingeladen hat, seine “Fragen zur jüdischen Philosophie heute” zu beantworten, die ich schon deshalb gut gestellt finde, weil sie mich doch auch teilweise zum Widerspruch reizen. Ad I. Zunächst zur Voraussetzung, daß “jüdische Denker in der deutschen Philosophie bis 1933 eine große Rolle” spielten. Stimmt denn das eigentlich? Hier sind einige Beobachtungen, die mich gegenüber dieser Meinung bedenklich stimmen. Obwohl es natürlich stimmt, daß 1933 ff. der sogenannte “jüdische“ Einfluß aus allen gesellschaftlichen Bereichen verbannt werden sollte, was sich auch auf die akademische Philosophie und die philosophische Literatur bezog, so wollte man damit aber doch vor allem den Liberalismus treffen. Judentum und Liberalismus sind aber sicher nicht dasselbe. Dementsprechend wurde es den Juden unter den Nazis zunächst ja auch weiterhin erlaubt, sich mit jüdischen Themen zu beschäftigen, sich dem Zionismus (und somit dem Gedanken der ethnischen Trennung und Auswanderung) zu widmen und – jüdische Philosophie zu betreiben. Wie stand es nun mit der Rolle jüdischer Denker vor 1933? Dem politischen Programm einer Vertreibung der Juden aus dem deutschen Kulturleben entspricht die Meinung, daß Juden in den vorausliegenden Jahrzehnten einen bedeutenden Anteil am allgemeinen Kulturleben besaßen. Womöglich handelt es sich hierbei aber um einen Trugschluß, ein Konstrukt, oder doch zumindest um ein schiefes Bild. Man muß nicht gleich Goldhagenianer sein um zu bemerken, daß die Juden innerhalb Deutschlands und anderswo trotz aller rechtlichen Emanzipation in gewisser Hinsicht ein Sonderdasein führten. Dieser Sachverhalt verschleiert sich nur dann, wenn man den Grad Umfrage der Eingliederung nach soziologischen Kategorien wie Wirtschaftsverhältnisse oder Bildungsleistungen beurteilt. Schaut man sich dagegen an, wer sich auf den Korridoren der Universitäten informell unterhielt, ohne eine Maske äußerlicher Jovialität aufzusetzen, so ändert sich das Bild. Dann erscheint etwa Hermann Cohen (1842-1918) nicht mehr wie im Lehrbuch als das Haupt der Marburger Schule des Neukantianismus sondern als “unser jüdischer Spezialkollege“ (Julius Bergmann). Eine letzte, vielleicht triviale, aber deshalb nicht weniger grundlegende Bemerkung. Der größte Anteil an Philosophen jüdischer Herkunft am Leben der deutschen Wissenschaft vor 1933 betrifft die Naturwissenschaften und erst danach die Geisteswissenschaften und am wenigsten die akademische Philosophie. Man bedenke hierzu, daß der soeben erwähnte Hermann Cohen zu Lebzeiten der einzige (!) Ordinarius für Philosophie (nicht für Geschichte, Mathematik oder Chemie) an einer preussischen Universität war. Andere erreichten diese Anstellung nur dann, wenn sie ihr Judentum an der Garderobe abgaben, d.h. konvertierten. Genug der Bedenken. Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, daß die Vorstellung eines bedeutenden Anteils jüdischer Persönlichkeiten an der deutschen Philosophie einer genaueren Überprüfung bedarf. Im Unterschied zur gesamten Periode vom Humanitätszeitalter bis hin zur unseligen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es heute völlig andere Möglichkeiten einer Teilnahme jüdischer Philosophie am deutschen bzw. europäischen Geistesleben, und zwar genau im Sinne der vom „Widerspruch“ gestellten Frage einer neuen Beziehung zwischen jüdischer und europäischer Philosophie. Hier geht es nicht mehr nur etwa um den von Jürgen Habermas rückblickend konstatierten “deutschen Idealismus der jüdischen Philosophen”, sondern um gegenseitige, wahlverwandtschaftliche Familienähnlichkeiten zwischen jüdischen, christlichen, und anderen Ansätzen zu einem postmodernen Denken. Diese Ansätze kommen auch nicht einfach im Zeichen einer verspäteten Trauerbefähigung daher, obwohl uns sicher die Irrwege der Vergangenheit insgesamt aus einem gewissen dogmatischen Schlaf gerissen haben dürften. Es ist jedenfalls erst heute wirklich völlig plausibel, sich auch akademisch und systematisch mit Denk-, Sprechund Zugangsweisen zur Philosophie zu befassen, die nicht im neugriechisch-idealistischen Bereich der Nachaufklärungszeit sondern eben auch vielleicht im Judentum wurzeln. Daß dabei auch die oft übersehenen und Umfrage alternativen Denker der Vergangenheit, unter anderem auch solcher jüdische Provenienz, wieder mit Gewinn gelesen werden, sollte uns nicht verwundern. Mit dem Fall alter Paradigmen eröffnen sich Möglichkeiten neuer Kanonizität. Ad II. Als Philosophie ist das Philosophieren jüdischer Philosophen oder – wie ich es zu sagen für angemessener halten würde, da der Titel des Philosophen von Lebenden nur unter Gefahr der Lächerlichkeit in Anspruch genommen werden kann – das Lesen von und Arbeiten mit und an philosophischen Texten und Problemen seitens Menschen, deren primärer Symbol- und Bedeutungsbezug sich aus ihrem biographischen Zusammenhang mit jüdischem Leben und jüdischen Quellen ergibt, zunächst schlicht und einfach Philosophie. Das ist schließlich der Vorteil und das Kennzeichen dieses Kulturphänomens: auch Barbaren können sich seiner bemächtigen, weshalb also nicht auch die Juden, deren Religion schon dem anspruchsvollen Geschmack des griechischen Weltreisenden Hecataeus von Abdera als die einer “Nation von Philosophen” erschien. Ich glaube also in der Tat, daß es, trotz aller Offenheit der Postmoderne, “im Grunde nur eine Philosophie gibt”. Allerdings gibt es am Rande dieser einen Philosophie eine ganze Reihe von verschiedenen, anderen Philosophien, Diskurse und Symbolcluster, deren sich die eine Philosophie nur dann bemächtigen kann, wenn sie sich dazu bequemt, sich ihrer eigene Bedingt-, Begrenzt- und Bezogenheit zu erinnern. Philosophie ist ja immer nur ein nach Gründen fragendes Nachdenken, also auch nicht selbst wirklich produktiv und ursprünglich. Das gilt denn auch für den Anteil der Philosophie einerseits und den des Traditionsbezugs andererseits im Philosophen selbst. Der Philosoph, also der im obigen Sinne an philosophischen Problemen und Texten arbeitende Mensch, ist nichts ohne seine Erfahrungen und Bedingtheiten, und die sind immer auch ganz spezifisch, individual und historisch. Dem Hin und Her von Erfahrung und Reflexion aber muß alle Philosophie irgendwie gerecht werden. Gibt es denn dann aber soetwas wie jüdische Philosophie? Zwar leugnen dies viele, darunter auch der bedeutende Politikwissenschaftler und Hermeneut Leo Strauss, dem es um eine Wiedergewinnung der eigentlichen, d.h. der politischen, Frage der sokratisch philosophischen Tradition ging, die er durch den sintflutlichen Einbruch durch die Tradition der Offenbarung für verschüttet hielt. Aber die bibliographische Tatsache schriftlich vorliegen- Umfrage der Werke zur jüdischen Philosophie vom Altertum über das Mittelalter bis in Moderne und Gegenwart kann doch nicht einfach außer Acht gelassen werden. Beim Studium dieser Quellen kann man sich von der Frage leiten lassen, ob es sich dabei jeweils um den Fall einer philosophischen Theologie (d.h. um Rationalismus und Kritik an der Offenbarung) oder um theologische Philosophie handelt (d.h. um scholastische Metaphysik). Fruchtbarer wäre es allerdings zu fragen, wie sich jeweils Philosophie und Offenbarung gegenseitig einschränken, befruchten und korrigieren. Nicht um Überwältigung oder Synthese handelt es sich, sondern um den Versuch einer ernsthaften Bestimmung des Verhältnisses zwischen zwar widerspenstigen aber deshalb nicht unbedingt einander heterogenen Quellen menschlichen Weltund Selbstverhaltens. Ad III. Das bedeutet, daß, wenn jüdisches Denken für die europäische Geisteswelt noch einmal von Interesse und Bedeutung werden soll, dies nur in dem Maße und dann möglich ist, wenn es sich um ein Denken aus jüdischen Quellen handelt, d.h. um ein Denken, das die Widerständigkeit zwischen, sagen wir einmal, griechischem und rabbinischem Denken nicht von vorneherein zugunsten der einen oder der anderen Seite entscheidet, noch sich auf historisch bereits gegebene Lösungen verläßt, sondern sich von neuem dem Durchbuchstabieren der Differenzen und Gemeinsamkeiten widmet. Ein Ansatz, der beide Quellen gleich ernst nimmt, kann uns womöglich einen philosophischen Zugang zu der Logik und Symbolik einer völlig anderen Texttradition verschaffen und so zur Bereicherung nicht nur für Juden sondern für alle philosophisch Interessierten werden. Der wohl entscheidende Unterschied zwischen diesem Entwurf und dem unter jüdischen Philosophen vor 1933 üblichen Redeweise ist der, daß wir uns heute nicht mehr in einer apologetischen Situation befinden. Vor hundert Jahren schien es noch nötig, die nicht-jüdischen Zeitgenossen immer wieder auf Ähnlichkeiten zwischen Kantianismus und Judentum oder auf die weltgeschichtliche Bedeutung der jüdischen Religionsquellen aufmerksam zu machen. Solche Anpreisung haben wir heute, G=tt sei Dank, nicht mehr nötig. Allerdings hat der gelassenere Ausgangspunkt auch den Nachteil, daß eine Auseinandersetzung mit den freiheitlich europäischen Quellen für das jüdische Denken nicht mehr selbstverständlich ist. Früher war es dem Judentum unmöglich, sich nicht mit Philosophie ins Verhältnis zu setzen, während sich die Philosophie (also sagen wir einmal das christliche und Umfrage christlich geprägte Denken) nur insofern mit Judentum beschäftigte, als dies in die christliche Schablone passte. Gerade weil das heute christlicherseits nicht mehr geht, ist ja auch die Entdeckung des Judentums, wie es sich selbst versteht, heute erst möglich und sogar philosophisch spannend. Denn mit der Aufmerksamkeit auf jüdische Quellen und Symbole wird sich die europäische Philosophie verspätet auch einiger ihrer anhaltenden Verzerrungen bewußt, wodurch eben die Beschäftigung mit dem Judentum auch erst europäisch-philosophisch-kritische Relevanz erhält, die mehr ist als Ausdruck multikultureller Neugierde. Dem enspricht aber, und das erregt bei mir als an der jüdischen Philosophie Interessiertem eine gewisse Besorgnis, auf jüdischer Seite kein ebenso starker Imperativ, die europäische Philosophietradition als eine Herausforderung von innen wahrzunehmen. Die Frage, die daher ebenso gestellt werden müßte, die ich aber nun hier nicht beantworten kann, ist die, ob es auf Seiten der jüdischen Philosophie noch weiterhin eine innere Notwendigkeit und einen Ort für die Auseinandersetzung mit der europäischen Philosophietradition gibt, der über die bloße Apologetik hinaus den Kern des jüdischen Denkens selbst betrifft. Diese Aufgabe aber wäre die eigentliche Aufgabe der jüdischen Philosophie heute. In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 85-99 Bücher zum Thema Besprechungen Bücher zum Thema Hannah Arendt Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt/Main 2000 (Jüdischer Verlag im SuhrkampVerlag), 184 S., 36.- DM. Der Band enthält sieben in den dreißiger und vierziger Jahren geschriebene Essays und geht zum größten Teil zurück auf Hannah Arendts erste Buchveröffentlichung im Nachkriegsdeutschland (Sechs Essays, Heidelberg 1948). Später wurde die Sammlung von der Autorin neu konzipiert und erschien 1976 bereits unter dem Titel „Die verborgene Tradition. Essays“ bei Suhrkamp. Ein Text wurde aus der ersten Zusammenstellung herausgenommen (Was ist ExistenzPhilosophie?), zwei andere Texte wurden hinzugefügt: „Aufklärung und Judenfrage“ sowie „Der Zionismus aus heutiger Sicht“. Die weiteren fünf Essays sowie die „Zueignung an Karl Jaspers“ wurden in die Ausgabe von 1976 übernommen: Über den Imperialismus; Organisierte Schuld; Die verborgene Tradition; Juden in der Welt von gestern; Franz Kafka; Aufklärung und Judenfrage. Bei dem 2000 erschienenen Band handelt es sich um eine Neuausgabe des bereits 1976 Erschienenen; bis auf eine knappe editorische Notiz und einen Klappentext unkommentiert, unkommentiert auch die publizistischen Erwägungen der Textzusammenstellung von 1976 gegenüber der von 1948. Dahinter mag eine verlegerische Entscheidung stehen, Zeitgenossenschaft möglichst ungebrochen und unangetastet (wieder-)einzurichten. Die Essays zeigten, so eine Äußerung aus dem Text des Umschlages, in welchem Maße Hannah Arendts „historisch-politisches Denken insgesamt bestimmt wurde von ihrem Nachdenken über Positionen jüdischen Selbstverständnisses in der Moderne“. Für eine Leserschaft, die mit dem Gesamtwerk der Autorin vertrauter ist, dürfte eine solche Deutungslinie gut nachvollziehbar sein; für eine andere, weniger vor allem mit den späteren Schriften vertrauten, hätte es eine Hilfestellung bedeutet, kommentierend einen umgekehrten Lektüreweg zu mar- Bücher zum Thema kieren oder zu empfehlen. Den nämlich, vor allem von „The Human Condition“ (Chicago 1958; dt. Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960) ausgehend und von „On Violence“ (New York 1970; dt. Macht und Gewalt, München 1975) zu versuchen, die Entwicklungen von Hannah Arendts keineswegs einsinnig-klarem Begriff eines Politischen respektive eines Un- oder Apolitischen nachzuvollziehen. Gerade dieses Begriffsfeld ist in den frühen Essays zu Themen der Emanzipation, der Assimilation, des Pariatums und der Entwicklungen eines Zionismus bestimmend, gleichwohl aber auch noch wenig profiliert. In dem zentralen Text „Die verborgene Tradition“ geht es um ein gesellschaftliches Außenseitertum von Schriftstellern und Künstlern jüdischer Herkunft, um „die Figur des Paria“, mit der sich zeige, „daß das Schicksal des jüdischen Volkes in Europa nicht nur das eines unterdrückten, sondern das eines Pariavolkes (Max Weber) war“. Als jüdische Parias gelten diejenigen, „die in den Ländern der Emanzipation weder der Versuchung einer törichten Mimikry noch der einer Parvenukarriere nachzugeben, sondern statt dessen versucht hatten, die frohe Botschaft der Emanzipation so ernst zu nehmen, wie sie nie gemeint gewesen war, und als Juden Menschen zu sein.“ Die Geschichte der Parias beginne mit Salomon Maimon und ende mit Franz Kafka. Und es zeige sich ein „grotesker Widerspruch“ zwischen dem „Einfluß auf die nichtjüdische Welt“ und der „geistigen und politischen Wirkungslosigkeit ... in ihrem eige- eigenen Volke“. Im Rückblick auf „die verborgene Tradition“ der Parias unterscheidet Hannah Arendt „vier wesentliche Konzeptionen“: Die des „Schlemihl oder Traumweltdeuters“, des unschuldig Verurteilten und spöttischen Schöngeistes (Heinrich Heine), die des „bewußten Paria“ (Bernard Lazare), die des „Suspekten“ (Charlie Chaplin) und die des „dichterischen Visionärs“ und „Menschen mit dem guten Willen“ (Franz Kafka). Die Betrachtungen changieren zwischen einer Hervorhebung von gesellschaftlich politischen Zwängen, einem Bedauern und latenten Vorwürfen. So zeige, „gemessen an den politischen Realitäten, Heines unbekümmerte Spottlust etwas Traumhaftes, Irreales“. Nun hafte aber Heines „Schlemihl“ der „Hebräischen Melodien“ Lazares Engagement in der Dreyfusaffaire und Chaplins subversiv angelegten Figuren noch die jüdische Herkunft deutlichst an.“ Kafkas K. (Beschreibung eines Kampfes; Das Schloß) hingegen kommt „von nirgendwo her, und von einem früheren Leben ist nie die Rede“. Allein aufgrund der „Abstraktheit der Kafkaschen Romanfiguren“ sei etwas Jüdisches nicht mehr vorfindbar. Die Autorin schreibt von einer neuen aggressiven Art des Nachdenkens, dem „Himmel und Erde“ nicht mehr genügten. Kafkas Sprache sei, so heißt es in dem Essay „Franz Kafka“, klar und einfach wie die Sprache des Alltags, nur gereinigt von Nachlässigkeit und Jargon“, ohne Manieriertheit und aus „Mangel an Verliebtheit in Worte als solche fast bis an die Grenzen der Kälte getrieben“. So wie Kafkas K. schließlich an Bücher zum Thema Entkräftung sterbe, drohe dies jedem, der nicht „innerhalb eines Volkes“ „als Mensch unter Menschen“ lebe. In der Schlußbemerkung zu „Die verborgene Tradition“ ist von sinnloser Freiheit und vermessener Unverletzlichkeit der einzelnen die Rede und von einem Auftakt „zu den sinnlosen Leiden des ganzen Volkes“. Hätte Kafka etwas anderes schreiben sollen als er geschrieben hat? Welchen Sinn ergäbe ein derartiges Anraten? Ließe sich nicht einiges, was Hannah Arendt über Kafkas Stil schrieb, auch über den Stil Becketts äußern? Der Lektüre bleibt das Problem, daß die ästhetischen, politischen und biographischen Maßstäbe sowie deren Gewichtung kaum reflektiert und ausgewiesen sind. Im Blick auf die späteren Werke ist besonders hervorzuheben, daß Hannah Arendt eine Weltentfremdung der Moderne mit dem Politikverständnis der Antike konfrontiert. Leitend ist dabei ein aristotelisches Menschenbild, das ein Politisches vornehmlich im Handeln (praxis) und in der austauschenden Rede (lexis) sieht, als vita activa nie konfliktlos mit einer isolierten „vita contemplativa“ zu verbinden. Richtschnur ist dabei ein universalistisch gedachtes moralisches Weltgebäude (Jaspers),von dem aus die tätigen Eingriffe auszugehen hätten. Die Beachtung eines solchen Prinzipiendenkens macht vielleicht verständlicher, daß die Autorin der frühen Essays an Kafkas Werk eine Verbindung von visionärer „Genialität“, Modernität und untätiger Schuld sah. Walter Benjamin, dessen Manuskript der Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ sie aus der Pariser Nationalbibliothek vor einer Beschlagnahmung durch die Nazis rettete, erschien ihr als einer der unglücklichsten Parias: „...verstand er sich auf nichts weniger als darauf, ‚Lebensbedingungen, die für ihn vernichtend geworden waren’, zu ändern“ (Benjamin, Brecht. Zwei Essays, München 1971) Das Zitat in dem Satz entstammt allerdings Benjamins „Zum Bilde Prousts“. Der Text „Aufklärung und Judenfrage“, bereits 1932 erstveröffentlicht, bietet eine akribische Recherche, inwieweit „die moderne Judenfrage“ und ein Selbstverständnis des europäischen Judentums aus der Aufklärung datierten. Lessings Geschichtsauffassung und deren Rezeption durch Moses Mendelssohn setzten zufälligen Geschichtswahrheiten eine notwendige Vernunftwahrheit der Mündigkeit und der Toleranz entgegen und eröffneten einem emanzipierten Judentum „undenkliche Horizonte“ von Neuanfängen einer aufgeklärten „Bildung“. Für Mendelssohn gestaltete sich dies noch innerhalb einer „absoluten Gebundenheit an die jüdische Religion“ und kontrovers zu Lessings „Eliminierung der Religion als Dogma“. Nach Hannah Arendts Darstellung vollzog sich dann mit Herders „Auch eine Philosophie der Geschichte der Bildung der Menschheit“ (1794) eine deutliche Veränderung im Geschichtsbewußtsein, weniger im Feld der Aufklärung als in dem der aufkommenden Romantik. Nach Herders Auffassung ist die Vernunft der Geschichte unterworfen, und den „entscheidenden Begriffen Bildung und Toleranz“ wird eine neue Bedeutung Bücher zum Thema gegeben. Lessings Primat einer einheitlichen Vernunft vor der Geschichte, einem Kontingenten, wird ein Primat der jeweiligen Tradition entgegengesetzt, wenn auch aus der Idee einer ursprünglichen Gleichheit heraus: „Herder versteht die Geschichte der Juden so, wie sie selbst diese Geschichte deuteten, als Geschichte des auserwählten Volkes Gottes. Ihre Zerstreuung ist ihnen Beginn und Vorbedingung ihrer Wirkung auf das menschliche Geschlecht.“ So zeichneten sich schwerwiegende Folgen für ein Selbstverständnis des europäischen Judentums ab. Aus der „völligen Gleichheit Lessings“ wurde ein Konflikt im Verständnis der eigenen Geschichte, zwischen singulärer Tradition und Vernunftweltbürgertum, zwischen Theologie und Philosophie und zwischen Ausnahmestellung und Normalität. „Der Zionismus aus heutiger Sicht“ wurde in der englischen Fassung (Zionism Reconsidered) erstmals 1945 veröffentlicht. Hannah Arendt, von 1933 bis 1943 Mitglied der „World Zionist Organization“, schrieb den Text im Blick auf ein „Endergebnis von 50 Jahren zionistischer Politik“. Sie beklagte, daß sowohl nationalistische als auch sozialistische Strömungen sich darin einig gewesen seien, ein „freies und demokratisches jüdisches Gemeinwesen“ zu fordern, das „ganz Palästina ungeteilt und uneingeschränkt umfassen“ sollte. Das Credo der Autorin war, daß es ohne Austausch und Verträge unter Gleichen keine humane Machtausübung gebe. Über ihr Politikverständnis schreibt Jürgen Habermas in „Philosophischpolitische Profile“ (Frankfurt/Main 1981), daß sie letztlich „der ehrwürdigen Figur des Vertrages“ mehr vertraut habe „als ihrem eigenen Begriff einer kommunikativen Praxis“. Ignaz Knips Micha Brumlik Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München 2000 (Luchterhand Literaturverlag) 351 S., 48.- DM (€ 24.54) Die Studie umfaßt den Zeitraum zwischen dem Ausbruch der Französischen Revolution und der Revolution von 1848 und untersucht die Beziehungen von Kant, Fichte, Schleiermacher, Hegel, Schelling und Marx zum Judentum. Gegenüber anderen Untersuchungen z. B. von Liebeschütz, Silberner oder Goldhagen geht es dem Autor nicht darum, den Nachweis zu führen, daß sich in den Werken der genannten Philosophen judenfeindliche Äußerungen finden. Diese sind in der Regel bekannt. Es geht ihm darum, „welche Funktion, welches Gewicht und welche Bedeutung diese Äußerungen im Kontext des Gesamtwerks der Philosophen und damit in der gesamten ‚Deutscher Idealismus’ genannten Denkbewegung“ habe. (15) Brumlik bemüht sich sehr, das Verhältnis unserer philosophischen Vorfahren zum Judentum aus der Retrospektiven der Verbrechen des 20. Jhs. herauszuhalten. Dies gelingt ihm teilweise. Bei Kant finden sich Formulierungen, die solche Verknüpfungen fast Bücher zum Thema unmöglich machen. Wenn auch der von den Nazis mißbrauchte Titel „Euthanasie“ nicht unmittelbar mit der Ermordung der Juden in Verbindung steht, so werden beim Leser doch eindeutige Assoziationen hervorgerufen, wenn er mehrfach den Ausdruck „Euthanasie des Judentums“ benutzt. Auch wenn Kant die Quellen des Judentums zu sehr auf die Thora einschränkt, so läßt sich daraus gewiß nicht sein „Antijudaismus“ erklären, zumal auch jüdische Zeitgenossen (Bendavid, Ascher) sich von der talmudischen und rabbinischen Tradition lösen wollten. Kants „Antijudaismus“ ist viel eher aus seinem sehr reduzierten Religionsbegriff zu erklären, wenn er als einzigen Maßstab jeder Religion nur das Sittengesetz gelten läßt. Denn den (christlichen) Kirchenglauben oder den Glauben an Wunder verwirft Kant ebenso als unsittlich, wie den Gesetzesglauben der Juden. Kants Stellung zu allen Religionen ist so sehr von der Aufklärung bestimmt, daß er dem Judentum wie allen Religionen, soweit sie sich auf Autoritäten jenseits der menschlichen Vernunft berufen, sehr distanziert gegenübersteht. Nicht wie Kant und Schleiermacher, deren Verhältnis zum Judentum auch durch einen persönlichen und bei Schleiermacher sogar durch einen sehr innigen Kontakt mit Juden geprägt war, konnte Hegel auf solche Erfahrungen nicht zurückgreifen, und das Judentum schien ihm in seiner frühen, vorjenensischen Zeit nicht mehr als die Vorläuferreligion des Christentums zu sein. In mehreren Phasen präzisierte und veränderte sich sein Begriff des Judentums, bis er schließlich in der Reli- gionsphilosophie als Religion der Erhabenheit einen Begriff ausformulierte, der völlig frei von jenem Antisemitismus gewesen sei, ganz im Gegensatz zu manchen romantisch gesinnten Zeitgenossen wie Friedrich Christian Rühs oder Jakob Friedrich Fries, denen Brumlik einen völkisch geprägten Antisemitismus vorhält. Dabei wartet Brumlik mit einer „kaum je eingenommenen Perspektive“ (220) der Interpretation des Hegelschen HerrKnecht-Verhältnisses auf. Herr und Knecht seien nicht Kapitalist und Arbeiter (Lukács) auch sei das HerrKnecht-Kapitel keine allgemeine Anerkennungstheorie (Kojève), sondern es stelle den „Angelpunkt von Hegels Theorie des Judentums“ (240) dar. Er setzt an die Stelle der Knechte die Juden und an die des Herrn (den jüdischen) Gott. Später allerdings, im Kapitel zu Marx muß Brumlik einräumen, daß eine ähnliche Interpretation bereits Bruno Bauer im Jahre 1841 vorgelegt hatte. Je mehr sich Brumlik der Jahrhundertmitte nähert, desto unsicherer wird er. Auch Schelling behandelt die jüdische Religion als eine Vorläuferreligion. „Auferat Deus omnipotens velamen ab oculis vestris“ ist, den (älteren) Papst Johannes XXIII. zitierend, Schellings Hoffnung; in dieser religionsgeschichtlichen Bestimmung des Judentums sieht Brumlik einen „theologisch hochspekulativen Antijudaismus“ (268). Brumlik sieht nicht, daß es Schelling durch seine Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie möglich war, die heilsgeschichtliche Dimension und die bürgerlich/politische Wirklichkeit sauber voneinander zu trennen. Diese Un- Bücher zum Thema terscheidung und die daraus folgenden Konsequenzen scheint Brumlik in bezug auf das Judentum nicht nachvollziehen zu wollen. Für Schelling ist es unproblematisch, der jüdischen Religion nur eine (wenn auch unverzichtbare) Vermittlerfunktion zuzubilligen und zugleich für die Juden seiner Zeit die „notwendigen menschlichen Rechte“ einzufordern, und z. B. dem bayerischen König vorzuschlagen, den Juden ebenso wie den Protestanten ein Konsistorium und an der Universität eine jüdische Fakultät einzurichten. Solche Ansichten stehen bei Schelling scheinbar unvermittelt neben antijüdischen Ausfällen, die Brumlik ignoriert, daß etwa die Juden mit gerissener Bosheit und Gehässigkeit an der Unterwühlung der staatlichen Ordnung gearbeitet hätten und dergleichen mehr. Angesichts dieser Widersprüchlichkeit scheint Brumliks Urteil, daß Schelling das positivste Verhältnis zum Judentum im ganzen Deutschen Idealismus gehabt habe, nicht nachvollziehbar. Mit der Darstellung Schellings hätte Brumlik das Buch seinem Untertitel entsprechend abschließen können. Er wollte es aber noch um ein Kapitel über den Materialisten Marx erweitern. Hatte er sich bisher nicht ohne Erfolg bemüht, den deutschen Denkern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, scheint er diese intellektuelle Tugend im Umgang mit Marx vergessen oder verdrängt zu haben. Wenn Marx in seinem Artikel „Zur Judenfrage“ erklärt, daß die „gesellschaftliche Emanzipation des Juden ... die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“ sei, warum läßt Brumlik gegenüber dieser Äu- ßerung Marx’ nicht dieselbe Sorgfalt walten, wie gegenüber Kants „Euthanasie des Judentums“? Denn beide stehen in dieser Frage mutatis mutandis in derselben aufgeklärten Tradition. Bei Marx finden sich in seinen nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schriften und Briefen einige antijüdische und antisemitische Bemerkungen; er ist vom antijüdischen Zeitgeist nicht unberührt; aber ihn als einen vom „brennenden Selbsthaß“ getriebenen glühenden Antisemiten (285), als einen von einer „geradezu krankhaften antijüdischen Idiosynkrasie“ (286) Besessenen zu bezeichnen, geht fehl. Wenn Brumlik auch noch so nebenbei den nicht bloß beiläufigen, sondern prinzipiellen Antisemitismus Richard Wagners (Juden seien von Natur aus zur Musik unfähig) verharmlost, bei Marx aber private, in den Briefen an seinen engsten Freund Engels geäußerte antisemitische Ausfälle auf das Gesamtwerk und die ganze Person überträgt, dann vernachlässigt Brumlik jede intellektuelle Sorgfalt. Solche Entgleisungen müßten dem AntijudaismusKritiker Brumlik allzu bekannt sein. Trotz einiger Abstriche kann das Buch als eine gelungene Zusammenfassung und Aufarbeitung der Aufgabe bezeichnet werden. Sehr kenntnisreich bereitet Brumlik das Material in verständlicher Weise vor dem Leser aus, weshalb dieses Buch auch Nicht-Fachphilosophen empfohlen werden kann. Vielleicht aber ist es gerade diese Intention des Buches, weshalb es in philosophischer Hinsicht nicht ganz befriedigt. Martin Schraven Bücher zum Thema Amitai Etzioni Martin Buber und die kommunitarische Idee Wien 1999 (Picus-Verlag), 60 S., 15.80 DM. In „The New Golden Rule“ (1996; dt.: „Die Verantwortungsgesellschaft) stellt Etzioni sein neues responsiv kommunitaristisches Paradigma einer guten Gesellschaft als das Bestreben dar, „einen Weg zu finden, Elemente der Tradition (auf Tugenden basierende Ordnung) mit Elementen der Moderne (gut geschützte Autonomie)“ (19) zu verbinden. Im Rahmen der „Wiener Vorlesungen im Rathaus“ hielt er am 13. Juli 1999 einen Vortrag über kommunitarische Themen bei Martin Buber, insbesondere über dessen Werke „Ich und Du“ und „Between Man and Man“. Etzioni präzisiert darin seine Position als die einer Vermittlung „zwischen der Respektierung universeller individueller Rechte und der Anerkennung partikularer Verpflichtungen“ (12) einerseits und der Auffassung früherer Kommunitarier andererseits, die sich darauf konzentriert hatten, die soziale Macht der Person zu begründen und zu untersuchen, „welche Implikationen die partikularen Verpflichtungen der Person gegenüber ihren Gemeinschaften haben können“ (12). Bei Buber interessiert Etzioni nun, wie das richtige Gleichgewicht zwischen individuellen Rechten und sozialer Verantwortung aussähe, und spielt dabei die klassisch liberale Position gegen die eigene und die Bubers aus. Ging der klassische Liberalismus von freien autonomen Individuen aus, wel- welche „freiwillig zu ihrem Nutzen einen Staat bilden“ (13), so stehe für den Kommunitarier an Anfang die Gemeinschaft, welche die Individuen formt, – eine Position, die mit Bubers ‚Apriori der Beziehung’ als anthropologische und soziologische Prämisse konvergiere. Denn bei Buber entsteht Individuation aus und innerhalb der Beziehung; im Idealfall der echten Reziprozität des Ich-Du-Dialogs erfahren wir eine „Begegnung“. Für ihn sind Beziehungen, inklusive Gemeinschaften, je schon historisch und kulturell bestimmt. Und die Gefahr eines Identitäts- und Autonomieverlusts durch die Subsumierung des Ich unter die diadischen Ich-Du- oder die gemeinschaftliche Wir-Beziehung ist gebannt durch die Voraussetzung der Freiheit und das Postulat der Unaufgebbarkeit des Ich. Während der Liberalismus jedoch von der vernunftgeleiteten Interessenaggregation mittels Verhandlungen ausgeht, gründe der Kommunitarismus die Beziehungen auf die Idee eines Wertedialogs innerhalb der Gemeinschaft. Dies aber entspreche dem Buberschen Ideal eines authentischen und vorbehaltlosen Gesprächs, in dem reziprok die Perspektive der jeweils anderen Person wahrgenommen wird. Für Etzioni hat kommunitarisches Denken eine normative Basis, und seine Formulierungen des Guten sind soziologisch fundiert. Buber hingegen habe, wie Etzioni meint, eher anthropologisch und philosophisch als ethisch argumentiert, und auch die Beziehung zu Gott entbehre bei ihm einer normativen Dimension. Dem steht allerdings entgegen, daß sich Buber gerade mit dem Ar- Bücher zum Thema gument, er führe einen Dialog, dagegen verwahrte, eine Lehre zu verkünden. Das Ideal des Dialogs entbehrt jedoch ebensowenig der Normativität wie sein Begriff von Gemeinschaft und Bund, welche er gefährdet sieht durch die Lebensbedingungen der modernen Zivilisation. Das Instrumentelle der „Ich-EsWelt“, die Gesellschaft, drohe die Gemeinschaft zu überwuchern. Etzioni kategorisiert Buber schließlich als „alten Kommunitarier“. Er erwähne zwar in „Ich und Du“ die Verantwortung für den anderen; aber daraus erwachse wenig „normative Führung“ (49). Im Gegensatz zu den „responsive Communitarians“ kenne Buber keinen Begriff von individuellen Rechten als „Gegenstück zur Forderung nach gesellschaftlicher Verantwortung“ (49). Etzioni vergleicht die kommunitarische Betonung der Rolle gesellschaftlicher Normen als Quelle gesellschaftlicher Ordnung und Basis der Gesetze mit Bubers in „Pfade in Utopia“ entwickeltem Zusammenhang von vitalem Gemeinschaftsleben und schwachem Staat, bzw. absterbender Gemeinschaft und erstarkendem repressivem Staat. Etzioni hat in seinem Vortrag gezeigt, wie Elemente der Buberschen Sozialphilosophie, insbesondere sein Gemeinschaftsbegriff, dem Kommunitarismus einzuverleibt werden können. Ob man Martin Buber allerdings mit einer solchen Interpretation gerecht wird, wäre selbst ein interessantes Vortragsthema. Es hätte anzusetzen, wo Etzioni aufhört, nämlich bei „Pfade in Utopia“. Dort legt Buber seinen libertären Humanismus und Sozialismus – insbesondere in Anlehnung an und in Auseinandersetzung mit Gustav Landauer – dar und entwickelt das Ideal einer Lebens-, Geistes- und Arbeitsgemeinschaft, des die frühe Kibbuzimbewegung in Palästina prägen sollte. Marianne Rosenfelder Richard Faber, Eveline GoodmanThau, Thomas Macho (Hg) Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg 2001 (Königshausen & Neumann), kart., 570 S., 98.- DM. Der von Richard Faber, Eveline Goodman-Thau und Thomas Macho herausgegebene Band ist das Ergebnis einer Tagung 1997 anläßlich des 10. Todestags des jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes sowie des 50. Jahrestags des Erscheinens seines Hauptwerks, das dem Band den Titel gab: Abendländische Eschatologie. Diese ist denn auch zeitlebens Taubes’ Thema gewesen: die jüdisch-christliche Vorstellung „Dein Reich komme“, der er als der unterschwelligsubversiven, gegen alles Einverständnis mit ‚dieser Welt’ rebellierenden und revoltierenden Leitidee in der Geschichte des Abendlandes nachgegangen ist. Er hat diese Idee – ob als messianische Diesseitshoffnung, als apokalyptische Endzeitvision oder als gnostische Weltverachtung – der griechisch-römisch geprägten christlichen Macht- und Erfolgsgeschichte entgegengehalten. Der Band dokumentiert den weitverzweigten, oft unterschätzten Einfluß des Berliner Religionsphilosophen. Er versammelt insgesamt Bücher zum Thema 35 Beiträge, die eine zumeist kritische Auseinandersetzung mit Taubes’ Überzeugungen, Sichtweisen und Thesen führen, die das Beieindruckende seiner Persönlichkeit ahnen lassen. Der Leser wird so zu einem Parforceritt durch die Geistesgeschichte des Abendlandes veranlaßt, in der Augustin so präsent ist wie Max Weber, Paulus so gegenwärtig wie Hegel oder Marx, und die dem Leser manches abverlangt. Einiges sei genannt: der Beitrag von Christoph Schulte über Paulus, den Taubes als die maßgebliche Schlüsselfigur des Abendlandes ansah: „Paulus, nicht Jesus ist nach Taubes der Begründer einer universalen, christlichen Eschatologie und Geschichtsphilosophie“ (10). Der Bedeutung der „marcionitischen Häresie“ in Taubes’ Geschichtsverständnis geht Carsten Colpe nach. Hans-Jürgen Goertz untersucht seine Rezeption des Reformators und Revolutionärs Thomas Müntzer nach, dessen revolutionärer Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, prägend für die Herausbildung des modernen zukunftsorientierten Zeitbewußtseins und den Anfang der modernen Geschichte geworden sei. Natürlich darf in einer solchen Abendländischen Eschatologie nicht der ‚Heilsökonom’ Karl Marx fehlen, dessen Deutung und Einordnung Manfred Lauermann durchaus kritisch nachgeht. Warum in eine solche Reihe auch der ‚Apokalyptiker’ Kierkegaard und sein Begriff der Angst gehört, versucht David Fopp Band Der in seinem umkreist Beitrag vieles, zu klären. vielleicht zu vieles: die Voraussetzungen, die Taubes zu seinem Werk veranlaßt haben oder haben könnten; die Be- züge, die er selbst nicht hergestellt hat, aber hätte herstellen können, wie die zu Hobbes, Novalis oder Hölderlin. Man hätte, so scheint mir, gut und gern auf einige Bezüge verzichten können, um dafür deutlicher auf Taubes’ gegenwartsbezogenes Anliegen einzugehen, das nur in einigen Beiträgen deutlich wird, und das ihn in den 60er Jahren zum engagierten Befürworter der Studentenbewegung hatte werden lassen, der für ein „Bündnis der Philosophen mit den Partisanen“ (Dreßen, 303) eintrat. Den entscheidenden Gesichtspunkt Taubes’ in dieser Debatte scheint mir sein Verhältnis zu Max Weber zu markieren, dem A.U. Sommer nachgeht: Ihm ging es nicht, wie Weber, um die Genese der modernen Wissenschaft und Technik oder des Kapitalismus, sondern um das, was diesem okzidentalen Rationalitätstyp ins Gehege kommt, den Ablauf stört. „Taubes liegt an Revolution, an Um- und Ausbruch, Weber hingegen am Standhalten unter den Bedingungen der Moderne.“ (367) Das Buch ist eine Hommage an einen unbequemen und unorthodoxen, inspirierenden und wohl auch inspirierten, jüdischen und nichtjüdischen, vorwärts und rückwärts gewandten, revolutionären und reaktionären Denker, der es weder sich noch anderen leicht gemacht hat. „Oft die Koalitionen und die Waffen wechselnd“, schreibt seine Frau Margherita von Brentano, „nirgends ganz zugehörig, kannte er weder Berührungsängste noch Loyalitäten: in Gegensätzen denkend und lebend, mißachtete er im Leben, in der Wissenschaft und in der Politik die installierten Depar- Bücher zum Thema tements. So machte er sich ... immer wieder auch Freunde zu Gegnern und Gegner zu Freunden.“ (24) Alexander von Pechmann Leon Roth Is there a Jewish Philosophy? Rethinking Fundamentals, London/ Portland 1999 (The Littman Library of Jewish Civilization), 199 S., 15,95 £, 21,95 $. Leon Roth (1896-1963) war der erste Professor für Philosophie an der Hebrew University in Jerusalem. Zusammen mit J.C. Magnes, Martin Buber und Gershom Scholem stand er für eine arabisch-jüdische Partnerschaft. Als Ethiker war Roth überzeugter Vertreter einer auf absoluten Werten beruhenden Moral. Als Lehrer ging es Roth darum, seine Studenten zum Denken zu ermutigen, zum Denken über das Judentum, welches er als Ausdruck des Monotheismus, als Antithese zum Mythos und als das Wesen von Ethik und Moralität verstand. Roth lebte, was er „predigte“. Abgestoßen von den Massakern jüdischer paramilitärischer Organisationen, von den Exzessen des seinem Verständnis nach dem Jüdischen nicht gemäßen lex talionis und der daraus resultierenden politischen und moralischen Entwicklung im Nationalstaat Israel kehrte er 1951 in sein Geburtsland England zurück. Er wolle lieber Fremder in der Fremde, als Fremder im eigenen Land sein. Roths Vortrag vor der Hillel Foundation in London (1960) mit dem Titel „Is there a Jewish Philosophy?“ ist der Schlüssel zum Verständnis der in diesem Buch veröf- fentlichten Essays. Die Tatsache, daß ein Philosoph jüdisch ist oder auf Hebräisch schreibt, bedeutet nicht, daß seine Philosophie jüdisch sei. Genausowenig wie man von einem jüdischen Physiker auf die „jüdische Physik“ schließen könne. Mit Solo Barons „Social and Religious History of the Jews“ versteht Roth Philosophie als „rethinking of fundamentals“. Was sind die Grundlagen und Elemente jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte? Was bleibt an philosophischem Gehalt? Jüdische Philosophie ist nicht, was jüdische Philosophen von der jüdischen Kultur ihrer Zeit übernehmen. So war z.B Philo ein großer Jude und interessanter Denker, er dachte durch und mit Platon und der Stoa. Seine Interpretation des Judentums war geprägt von diesen nicht-jüdischen Denksystemen, welche seine Philosophie konstituierten. Seine Konklusionen waren nicht das Resultat eines Nachdenkens über die Natur der Dinge, sondern ein hellenisiertes Denken über die Natur des Judentums. Maimonides, Mendelssohn, Cohen und andere jüdische Philosophen können nach Roth analog interpretiert werden. Roth präzisiert nun das Unternehmen „jüdische Philosophie“ folgendermaßen: Philosophie ist das „thinking and rethinking of fundamentals“ (7). Wird dem Begriff der Philosophie ein Objekt zugefügt, ist ihre Anwendung begrenzt. So wie die Philosophie der Wissenschaft das Denken und Überdenken der Grundlagen der Wissenschaft ist, ist die Philosophie des Judentums die Reflexion der Grundlagen des Judentums. Roth kommt zu folgender Eingrenzung Bücher zum Thema seines Themas: „Jewish philosophy, or rather the philosophy of Judaism, is the thinking and rethinking of the fundamental ideas involved in Judaism and the attempt to see them fundamentally, that is, in coherent relation one with another so that they form one intelligible whole“ (8). Das jüdische Denken, so Roth, ist, auch wenn es sich mit der sog. abendländischen Philosophie amalgiert, jüdisch, soweit es die Grundlagen des Judentums reflektiert. Diese Reflexion hat zu beginnen bei Moses, den Propheten und den Psalmen. Hier wurden die genuin jüdischen Prinzipien gelegt, an ihnen hat sich das zu bewähren,was als jüdische Philosophie gelten kann. Jüdische Philosophie heute kann nur dann lebendige Philosophie sein, wenn sie sich auf die klassischen jüdischen Philosophen stützt, welche sich an Moses und die Propheten anlehnen und gegen das Mythische auflehnen. Für Roth ist das Judentum der klassische Ausdruck des Monotheismus und seiner Implikationen für die Wissenschaft, vor allem aber für die Moral. In den in diesem Band veröffentlichten Essays widmet sich Roth folgenden Themen: die Imitatio Dei und die Idee der Heiligkeit; jüdisches Denken als Beitrag zur Zivilisation; die Bedeutung der biblischen Prophetie in unserer Zeit; Reflexionen über die Interpretation der heiligen Schrift; Elemente des Judentums; Autorität, Religion und Gesetz im Judentum; Moral und Demoralisierung in der jüdischen Ethik sowie Mystik. Besondere Aufmerksamkeit widmet Roth der religiösen Relevanz Spinozas für das heutige Judentum und den jüdi- schen Denkern Maimonides und Ahad Ha’am, dem herausragenden Vertreter eines kulturellen Zionismus. Das Judentum hat der Welt die Bibel geschenkt. Wer sich auf die Lektüre Roths einläßt, sei auf eine akribische Exegese philosophischer Texte auf ihren biblischen hebräischen Ursprung hin gefaßt. Marianne Rosenfelder Werner Stegmaier (Hg.) Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition. Frankfurt/Main 2000 (Suhrkamp), kart., 516 S., 32,90 DM. Die Anregung zu dem von Werner Stegmaier (Philosophie, Greifswald) herausgegebenen Band gab der Vorstoß Emmanuel Levinas’ „die europäische Philosophie von der jüdischen Tradition her zu begrenzen und so neu zu begreifen“, wie der Herausgeber selbst in seinem Levinas gewidmeten Beitrag aufzeigt. Auf den Spuren von Levinas hat mit Jacques Derrida einer der meist diskutiertesten Theoretiker der Gegenwart die jüdische Tradition entdeckt und zu seinem Denken in Beziehung gesetzt – thematisiert im Beitrag von Elisabeth Weber (Philosophie, Santa Barbara, Cal.). Erkannte Derrida in der Orientierung an der Schrift „einen Ursprung des philosophischwissenschaftlichen Denkens, dem es sich maßgeblich verdankte und den es dennoch verkannte und herabwürdigte“, so begann doch die jüdische Tradition als Orientierung an der Schrift. Wie sich das Denken Bücher zum Thema Levinas’ und Derridas jedoch nicht darauf beschränkt, die jüdische Tradition freizulegen, so versucht umgekehrt der im vorliegenden Werk präsentierte Ansatz die Frage der philosophischen Aktualität jüdischer Tradition über die ermutigenden Anfänge der beiden französischen Philosophen hinausgehend im Ganzen neu zu stellen. Daß ein derartig weitreichendes Forschungsprojekt nur auf interdisziplinärem Wege angegangen werden kann, dokumentieren die hier versammelten Beiträge von Philosophen und Kulturwissenschaftlern verschiedener Provinienz, die im September 1998 an der internationalen Forschungskonferenz auf der Ostseeinsel Hiddensee teilgenommen hatten. Ziel dieses komplexen Forschungsansatzes ist es nicht, wie in gewohnter Sichtweise, die jüdische Tradition an den in der griechischen Antike wurzelnden Rationalitätskriterien philosophisch-wissenschaftlichen Denkens zu messen, unter denen sie willkürlich und irrational erscheint, sondern in umgekehrter Blickrichtung jene zum Horizont kritischer Reflexion dieser Kriterien zu machen. Diese gewissermaßen verfremdende Perspektive ermöglicht ebenso die feste Grenzziehung zwischen europäischen Rationalitätsstandards und der weit älteren jüdischen Tradition der Auslegung der Tora zu hinterfragen, wie Grundentscheidungen der europäischen Philosophiegeschichte im Licht ihrer Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition kritisch zu reflektieren. Diese Problemstellung umfaßt jedoch nicht nur den Blick griechisch-europäischen Denkens auf die jüdische Tradition, sondern umgekehrt auch die Auseinandersetzung herausragender Vertreter jüdischen Denkens mit den Standards europäischen Denkens. Diese vielschichtigen Fragestellungen geistesgeschichtlich unter aktualisierender Perspektive auszuloten, bestimmt die Themenkomplexe und Gliederung des Bandes, der so nicht als Textsammlung zu einem Thema, sondern als arbeitsteilig erstelltes kohärentes Werk gelesen werden sollte. Der zugrunde liegenden Ausrichtung entsprechend bilden den Anfang Beiträge, in denen den Ursprüngen der jüdischen Tradition der Auslegung der Tora nachgegangen wird – der zentralen Bestimmung der „Orientierung“ als dem praktisch-ethischen Handeln im Kontext unterschiedlicher und pluraler Auslegungen der Tora und ihrer Verschriftung, die sich einer für das griechisch-europäische Denken spezifischen Vereinheitlichung im reinen Denken entziehen. Diese Denkweise schlägt sich, so Johann Maier (Judaistik, Köln) auch in der Präferenz geteilter und konkurrierender politischer Autoritäten nieder – Alleinherrscher wie Moses und David bilden Ausnahmen. In einer anschließenden zweiten Abteilung werden „hermeneutische Standards der Auslegung der Tora in der jüdischen Tradition“ im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie ausgelotet, mit dem besonderen Interesse, welche Maßstäbe der Tora in der jüdischen Tradition für die Philosophie bedeutsam wurden und neu aktuell werden könnten. Die damit verbundene Intention, herkömmliche Grenzen zu überschreiten und die Horizonte jüdischer Bücher zum Thema Tradition und Philosophie füreinander zu öffnen, visieren diverse Beiträge über Philon von Alexandrien und vor allem den bedeutendsten jüdischen Philosophen, Maimonides, der im Mittelpunkt dieses Themenkomplexes steht, an. Von den Auseinandersetzungen um Maimonides ausgehend, werfen Beiträge einer dritten Abteilung die Frage „nach Bedingungen und Möglichkeiten jüdischen Philosophierens, nach Berührungen und Auseinandersetzung der jüdischen Tradition mit der griechischen und christlichen Philosophie“ auf. Der religionsvergleichende Diskurs des Mittelalters werde hierbei zu einer Wurzel dessen, was man in der Neuzeit dann „jüdische Philosophie“ nennen konnte. Die Wirkungen der jüdischen Tradition auf die europäische Philosophie aufzuspüren, erweist sich um so schwieriger, je vielfältiger jene sich selbst, nicht nur in Tora und Talmud, sondern auch als Kabbala, Mystik und Magie präsentiert. In einer vierten Abteilung verdeutlicht dies Manfred Walther (Rechtsphilosophie, Hannover), der das Problem erörtert, ob das Denken Spinozas, also des Juden, der am meisten die europäische Philosophie beeinflußte, als Jüdische Philosophie bezeichnet werden könnte. Im Mittelpunkt dieser vierten Abteilung steht Moses Mendelssohn und der aus der Spannung seines Denkens zwischen dem Bekenntnis zur jüdischen Tradition einerseits, zum Vernunftbegriff der Aufklärung andererseits resultierende Versuch der Begründung des Judentums als einer Religion der Vernunft. Dies kennzeichnet Daniel Krochmanik (Jü- dische Philosophie, Heidelberg) durch das Sokratische Motiv im Denken Mendelssohns. „Das Judentum Mendelssohns war eben dadurch philosophisch aktuell, daß es im Gegensatz zum Christentum sokratisch sein konnte, nicht nur nicht auf Dogmen festgelegt, sondern kritisch gegen alle Dogmen“. Konsequent unterscheidet Mendelssohn im Judentum zwischen dem jüdischem Gesetz, der Halacha, die er als Verhaltensregel ohne Zwang deutet und der Religion als Glaube. Eine kritische Würdigung erfährt Mendelssohn im Denken Kants. Zwar verwirft Kant implizit in seiner Widerlegung aller Gottesbeweise auch den Ansatz Mendelssohns, doch wie sich Kant andererseits der Mendelssohnschen Deutung des Glaubens als Handlungsglauben annähert, so findet dessen, aus seinem Verständnis der jüdischen Tradition gewonnener, Begriff der „Orientierung“ Eingang in die Kantische Konzeption der Vernunft. Josef Simon (Philosophie, Bonn) zeichnet das gedankliche Religionsgespräch nach, das Kant nach dem Tod Mendelssohns in seinen späten Schriften mit ihm führte. Die vom jungen Hegel behauptete im Denken Mendelssohns nicht aufgelöste Unterscheidung zwischen Autonomie des Denkens und Heteronomie (des Gesetzes) „sollte zum Leitmotiv der Frage nach der philosophischen Aktualität der jüdischen Tradition im 20. Jahrhundert werden“. Unter dem Eindruck eines wachsenden Antisemitismus entschied sich Hermann Cohen, renommierter Neukantianer und als erster Jude Professor der Philosophie in Deutschland, sich dem Ju- Bücher zum Thema dentum zuzuwenden. Diese späte Wendung Cohens fand ihren Niederschlag in dem richtungsweisenden Werk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“. Im Unterschied zu Philon, Maimonides oder Mendelssohn, die jüdische Religion und europäische Vernunft in Einklang bringen wollten, führt Cohens Weg über die europäische Philosophie hinaus zum Judentum zurück. In seinem, die fünfte und letzte Abteilung einleitenden Beitrag beschreibt Rainer Wiehl (Philosophie, Heidelberg) den Versuch Cohens, in seiner „Logik des Ursprungs“ und seiner „Methode der Reinheit“ die „reine“ Vernunft Kants und Platons mit dem jüdischen Monotheismus zu verbinden, den er als den eigentlichen philosophischen Ursprung bestimmt. Einen ganz anderen Weg beschreitet Cohens Schüler Franz Rosenzweig in dessen philosophisch-religiösem Entwurf der Existenz das Jüdische als eine Möglichkeit aufgehoben ist. Zurecht bezweifelt Micha Brumlik (Erziehungswissenschaft, Heidelberg), ob hier noch von jüdischer Tradition zu sprechen ist. Den Abschluß des Bandes, nach den eingangs erwähnten Beiträgen über Levinas und Derridas bildet schließlich die Stellungnahme des israelischen Philosophen Ze’ev Levi, die die aktuelle Philosophie zur Politik hin überschreitet, in der der Umgang mit der Tradition zur existentiellen, über Krieg und Frieden entscheidenden Frage werden kann. Für Levis Plädoyer, „die Auslegung der Tora als Lebensorientierung weiter offen zu halten“, kann die Philosophie mit der tradierten Frei- heit ihres Denkens Hilfestellung bieten. Georg Koch Joachim Valentin, Saskia Wendel (Hg) Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts Darmstadt 2000 (Wiss. Buchgesellschaft), geb., 298 S., 64.- DM. Die Herausgeber Saskia Wendel und Joachim Valentin haben unter dem Titel „Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts“ Beiträge verschiedener Autoren versammelt, die dem „Jüdischen“ jüdischer Denker nachgehen. Sie tragen damit, so will mir scheinen, dem Umstand Rechnung, daß die Philosophie nicht in oder aus Traditionen besteht, sondern daß sie von einzelnen Menschen betrieben wird. Chronologisch werden insgesamt sechszehn DenkerInnen bzw. PhilosophInnen von F. Rosenzweig über M. Horkheimer, Th.W. Adorno und H. Jonas bis zu Simone Weil, J.-F. Lyotard und J. Derrida vorgestellt. Ihnen geht eine einleitende Betrachtung des katholischen Sozialethikers W. Lesch über das Verhältnis von Religion und Philosophie, von „Jerusalem und Athen“, voraus. So sehr es die Autoren durch den biographischen Zugang vermeiden, von einer „Essenz“ des Jüdischen oder einer „jüdischen Identität“ auszugehen – was die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung auch ausdrücklich abweisen –, so sehr besteht nun aber umgekehrt die Gefahr, bei den verschiedensten Den- Bücher zum Thema kern ihrer jüdischen Geburt und Herkunft wegen irgend etwas „Typisch Jüdisches“ zu finden, wie das Bilderverbot oder die Heimatlosigkeit, und fein säuberlich herauszupräparieren. Sicherlich tut solches Vorgehen den explizit jüdischen Denkern wie F. Rosenzweig, G. Scholem, E.L. Fackenheim oder auch E. Lévinas keinen Zwang an; bei anderen aber, wie H. Arendt, V. Flusser oder J. Derrida kann dies dazu führen, auch noch das NichtJüdische im Denken dieser jüdischen Denker als besondere Weise des Jüdischen zu erklären. Die Autoren tragen diesem Bedenken insofern Rechnung, als sie selbst auf das Problematische hinweisen (siehe insb. C. und P. Althaus über H. Arendt (163), auch A. Hillach über V. Flusser (214-230)). Der Vorteil dieses bio- wie monographischen Verfahrens besteht zweifellos darin, gleichsam autobiographisch die Auseinandersetzung der DenkerInnen sowohl mit ihrer nichtjüdischen Umwelt als auch mit ihrer jüdischen Herkunft und Tradition nachvollziehen und dadurch die Problematik der „Judenfrage“ im 20. Jahrhundert auf ‚höchstem Niveau’ transparent machen zu können. Es erinnert und vergegenwärtigt den unverlierbaren Anteil des Jüdischen an der Philosophie und weit darüber hinaus am Geistesleben Europas in diesem Jahrhundert. Allerdings bleiben, weil in die monographische Darstellung einverwoben, die aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen nur implizit. So meine ich, in allen Darstellungen eine fundamentale Distanz dieser DenkerInnen zur Macht zu erkennen, die sich freilich ganz unter- schiedlich ausgeprägt und artikuliert hat, sowie ein tiefes Mißtrauen gegenüber den Ansprüchen einer europäischen „ordnungsgemäßen Vernunft“. Sie unterlaufen allesamt die gängige Vorstellung vom Bruch zwischen Religion und Aufklärung, zwischen Vor- und Moderne. Nicht zufällig steht geschichtlich am Beginn F. Rosenzweig, der dem Aufklärerprojekt H. Cohens und einer „Wissenschaft des Judentums“ angesichts der Exzesse des 1. Weltkrieges vorhält, den Aufklärern auf den Leim zu gehen und damit „ein, wenn auch, ehrenvolles ‚Begräbnis des Judentums’“ (89) zu inszenieren. Auch wenn diese Vorbehalte sich ganz unterschiedlich geäußert haben, so stellen doch alle die so ‚vernunftgemäße’ Unterscheidung, Ordnung und Gliederung in Religion und Theologie einerseits und Vernunft und Philosophie andererseits, in eine theoretische und eine praktische Philosophie, in die Grundlagen- und die Einzelwissenschaften in Frage. Allemal ist ihr Denken grenzenüberschreitend und –überwindend, oszilliert und changiert zwischen scheinbar disparaten Ebenen und Feldern; und allesamt sind sie dem Vorwurf des Irrationalismus ausgesetzt gewesen. Wer es sich leicht macht, mag darin das Erbe einer jüdischen Tradition erkennen, die, vormodern, den Prozeß der Ausdifferenzierung in wohlunterschiedene Subsysteme noch nicht internalisiert hat und noch in ‚Zusammengehörigkeitsträumen’ schwelgt. Alle Beiträge aber machen mehr oder weniger deutlich, daß diese Auseinandersetzung mit der Moderne, angefangen mit der Glaubensphilosophie F. Rosenzweigs, Bücher zum Thema über die bekannte „Dialektik der Aufklärung“ M. Horkheimers und Th.W. Adornos bis zu J.-F. Lyotards Kritik einer positiven und darstellenden Vernunft und Derridas Kritik des europäischen Logo- und Phonozentrismus, zwar in der jüdischen Tradition wurzelt oder zu- mindest durch sie angeregt ist, daß diese jüdischen DenkerInnen gleichwohl ein unentbehrlicher Stachel im Fleische einer allzu selbstgewissen europäischen Vernunft waren und sind. Alexander von Pechmann In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 100-106 Autor: Günter Zöller Artikel Günter Zöller Lehr- und Wanderjahre Gerne folge ich der Einladung von „Widerspruch“, mich, der ich erst seit relativ kurzer Zeit zu den Münchener Philosophen gehöre, den Leserinnen und Lesern dieser Zeitschrift vorzustellen. Anfang 1999 bin ich, einem Ruf an die Universität München folgend, nach fast zwanzig Jahren Studium, Lehre und Forschung im Ausland nach Deutschland zurückgekehrt. Die lange Zeit in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten hat meine philosophische Arbeit und meine Einstellung zum akademischen Lehren, Lernen und Forschen sicher ebenso nachhaltig geprägt wie mein vorheriges Studium der Philosophie in Deutschland. Seit meinem Studienbeginn Mitte der siebziger Jahre habe ich, oft aus größter Nähe, Erfahrungen gemacht mit einem ganzen Spektrum von philosophischen Positionen und Schulrichtungen. Die Orts- und Länderwechsel haben mir auch ein umfassendes Bild der vielfältigen universitären Landschaft in Westeuropa und den Vereinigten Staaten vermittelt. Beides, die philosophisch-inhaltliche wie die akademisch-strukturelle Perspektivenvielfalt, hat dazu beigetragen, daß ich einen gewissen Abstand zur Situation der Philosophie und der Universität in Deutschland gewonnen habe. Diese Distanz läßt mich das Gute schätzen und dem weniger Guten mit Geduld, aber auch mit Widerstand begegnen. Im folgenden will ich einige nähere Angaben zu meinem philosophischen Werdegang kurz und knapp in den Kontext der Gegenwartsphilosophie stellen. Günter Zöller Während meines Philosophiestudiums in Bonn in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre habe ich von Anfang an die Beschäftigung mit dem Werk Kants und mit den Bemühungen um dessen philosophische Aktualisierung gesucht. Über den einen meiner akademischen Lehrer, Hans Wagner, konnte ich noch die äußerste Spätphase des Neukantianismus aufnehmen, in der es - unter Berücksichtigung von Husserls Phänomenologie und Heideggers Fundamentalontologie - zur Wiederaufnahme und Fortführung der geltungstheoretischen Orientierung des klassischen, erkenntnistheoretischen Neukantianismus kam. Besonders nachhaltig hat mich dabei das systematische Vorhaben einer transzendentalen Subjektstheorie, einschließlich der Theorie der konkreten, leiblich-individuell verfaßten Subjektivität, beeinflußt. Wichtig war für mich dabei die Bekanntschaft mit den z.T. erst von Hans Wagner aus dem Nachlaß edierten Arbeiten von Richard Hönigswald, der von 1930 bis zu seiner Zwangsversetzung in den Ruhestand im Jahre 1933 in München gelehrt hatte. Nach der Pogromnacht des 9. November 1938 und nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im Konzentrationslager Dachau konnte Hönigswald Deutschland im darauffolgenden Jahr noch verlassen. Der andere große Einfluß aus meiner Studienzeit war die, auf stupender Textkenntnis beruhende, Kantdeutung meiner akademischen Lehrerin Ingeborg Heidemann, die über ihre akademischen Lehrer Nicolai Hartmann, Gottfried Martin und Heinz Heimsoeth und unter dem Einfluß Heideggers eine ontologisch-metaphysische Kantdeutung in Reaktion auf das Kant-Bild des Neukantianismus vertrat. Des weiteren hat mich die von der philosophischen Anthropologie und der Existenzphilosophie her entwickelte Fichte-Interpretation meines dritten akademischen Lehrers, Peter Baumanns, gründlich und umfassend in das Werk Fichtes eingeführt. Zu Fichte bin ich, nach Jahren der eigenen Arbeit zu Kant, seit Mitte der neunziger Jahre mehr und mehr zurückgekehrt, ohne allerdings den historischen und systematischen Rückbezug auf Kant je aufgegeben zu haben. Prägend war schließlich auch die problemorientierte Aktualisierung der Kantischen Transzendentalphilosophie durch Gerold Prauss, der Schüler von Martin und Wagner gewesen war und der zu Beginn meiner Studienzeit noch in Bonn lehrte. Lehr- und Wanderjahre Insgesamt haben mir meine Bonner Studienjahre nachhaltig eine normative Konzeption von Philosophie als systematischer Grundwissenschaft vermittelt, bei der der systematische Anschluß an transzendentalphilosophisches Denken mit der historischen Orientierung an Kant und Fichte zusammengeht. Ende der siebziger Jahre habe ich dann, nach dem Magisterabschluß mit einer systemvergleichenden Arbeit zu Kant und Heidegger, das Studium in Bonn unterbrochen, um an der Ecole normale supérieure in Paris bei Jacques Derrida und am Collège de France bei Jules Vuillemin zu studieren. Ich habe damals außerdem an Lehrveranstaltungen von Louis Althusser, Michel Foucault und Roland Barthes teilgenommen. In Derridas geschlossenen Seminaren für die Studierenden der Ecole und seinem Privatissimum hat mich besonders der exakte, ganz unmanipulative, dabei aber originelle Umgang mit klassischen philosophischen Texten beeindruckt. Jules Vuillemin gehörte damals zu den ersten, die sich in Frankreich mit amerikanischer analytischer Philosophie auseinandersetzten, und mein eigenes philosophisches Interesse ist dadurch dauerhaft in diese Richtung gelenkt worden. Schon während der Arbeit an meiner Bonner Dissertation zur theoretischen Gegenstandsbeziehung bei Kant bin ich dann zu weiteren Studien in die Vereinigten Staaten gegangen, und zwar an die Brown University, eine der Ivy League Schools im Nordosten der U.S.A., wo Roderick Chisholm lehrte, der zusammen mit Quine und Wilfrid Sellars zu den Großen der amerikanischen Nachkriegsphilosophie gehörte. Dabei war Chisholm mehr als die beiden anderen historisch interessiert, allerdings primär im Sinne der geschichtlichen Anregung und Verortung der eigenen Arbeiten auf den Gebieten von Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ethik in der europäischen philosophischen Tradition. Der Hauptbezugspunkt bei Chisholm war die österreichische philosophische Tradition, speziell Franz Brentano und seine Schüler, und hier insbesondere Meinong sowie Husserl. Nach Hans Wagner war Chisholm für mich der zweite akademische Lehrer, der es vorbildlich verstand, historische philosophische Autoren im Kontext der eigenen systematischen philosophischen Anstrengungen wiederaufzunehmen. Insbesondere seine Arbeiten zur Intentionalität und Subjektivität des Mentalen haben meine kantisch- Günter Zöller neukantianische Grundausrichtung in der Philosophie in methodischer wie sachlicher Hinsicht wesentlich erweitert. Nach anfänglicher Tätigkeit als Dozent für Deutsch an der Brown University habe ich dann Mitte der achtziger Jahre in die philosophische Lehre übergewechselt, war zunächst als Assistant Professor am Grinnell College, einem der zehn führenden privaten Liberal Arts Colleges des Landes, dann an der University of Iowa. Letztere ist eine der großen staatlichen Forschungsuniversitäten des Mittleren Westens, die in dieser Region die Funktion der Privatuniversitäten an der Ostküste als Stätten von spezialisierter, fortgeschrittener Forschung und Lehre ausüben. Ich habe dort die akademische Laufbahn vom Assistant Professor über die Gewährung von Tenure (Lebenszeitanstellung) als Associate Professor bis zum Full Professor durchlaufen und war auch Departmental Executive Officer oder Chair des Philosophie-Departments an der University of Iowa. Philosophisch bestand an der University of Iowa eine ungewöhnliche Situation, insofern die analytische Philosophie zwar dominierte, aber keiner der Kollegen ihrer damals noch vorherrschenden Variante als Sprachanalyse anhing. Eher wurde phänomenologisch unterfütterte Begriffsanalyse betrieben unter dem Einfluß von Roderick Chisholm und von Gustav Bergmann, einem Mitglied des Wiener Kreises, der seit den späten dreißiger Jahren im Philosophie-Department der University of Iowa mit beträchtlichem Einfluß auf die amerikanische Nachkriegsphilosophie gewirkt hatte („Iowa ontology“) und erst kurz nach meinem Eintritt ins Department verstarb. Auch die weit verbreitete materialistische Wende in der Philosophie des Geistes hat der Bergmann-Schülerkreis nicht vollzogen. Ich selber habe während meiner Zeit an der University of Iowa vor allem zu Problemen der theoretischen Philosophie Kants publiziert, mit Forschungen und Veröffentlichungen zu Fichte und Schopenhauer begonnen und über Philosophie der Neuzeit, Gegenwartsphilosophie, Ästhetik sowie Kunst- und Musikphilosophie Lehrveranstaltungen abgehalten. Meine sieben Doktoranden aus dieser Zeit sind inzwischen selber als Professorinnen und Professoren an amerikanischen Universitäten und Colleges tätig. Lehr- und Wanderjahre Neben den beinahe tagtäglichen Gedankenaustausch mit den eigenen Kollegen, wie er in den U.S.A. üblich ist, trat der enge, langjährige und in vielen Fällen bis heute anhaltende regelmäßige Kontakt mit „fellow Kantians“ an anderen Universitäten und Colleges, der hauptsächlich auf regionalen, nationalen und internationalen Tagungen und Kongressen gepflegt wurde. Ich habe im Laufe meiner Zeit in den U.S.A. aus nächster Nähe miterleben können, wie die Beschäftigung mit Kant sich aus recht bescheidenen Anfängen, die zumeist von englischer Seite angeregt waren, in eine förmliche akademische Industrie gewandelt hat. So war ich 1985 Gründungsmitglied der North American Kant Society, war auch über mehrere Jahre hinweg in Ämtern dieser Organisation tätig und gehöre weiterhin zu den Herausgebern ihres Publikationsorgans, den North American Kant Society Studies in Philosophy, sowie zum Stab der Editoren der auf insgesamt fünfzehn Bände angelegten Kant-Ausgabe bei Cambridge University Press. Während noch vor zwanzig Jahren das Studium Kants in Nordamerika im wesentlichen auf die Kritik der reinen Vernunft und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in englischen Übersetzungen beschränkt war, sind heute die meisten von Kants Druckschriften in modernen englischsprachigen Übersetzungen verfügbar, und viele amerikanische Kolleginnen und Kollegen konsultieren und zitieren ausgiebig den deutschen Originaltext. In der nordamerikanischen Fichte-Forschung habe ich ähnliche, wenn auch dem Ausmaß nach geringere Veränderungen miterleben können. Fichtes Schriften aus der Jenaer Zeit werden binnen kurzem komplett in neuen englischsprachigen Übersetzungen vorliegen. Seit 1992 veranstaltet die North American Fichte Society alle zwei Jahre in Nordamerika eine Tagung zu einem Thema oder Werk Fichtes, deren Beiträge dann in Auswahl in Sammelbänden publiziert werden. Zu den positiven Erfahrungen meiner langjährigen Lehr- und Forschungstätigkeit in den U.S.A. gehört auch die im Wettbewerb erfolgende Vergabe von Forschungsstipendien verschiedener Provenienz und Dauer, die unter teilweiser oder vollständiger Freistellung von Lehrverpflichtungen das eigene Forschen und Publizieren gezielt fördern. Ich selber habe mehrfach solche Förderung, die über die Gewährung regulärer Freisemester hinausgeht, genossen, teils von meiner eigenen Universi- Günter Zöller tät gewährt, teils von der nationalen Stiftung für Forschung in den Humanwissenschaften (National Endwoment for the Humanities, Washington, D.C.), bei der meine deutsche Staatsbürgerschaft kein Hinderungsgrund für die finanzielle und ideelle Unterstützung war. Im Rahmen dieser langen Reihe von Forschungsstipendien habe ich damals auch die geographische und kulturelle Isolation im Mittleren Westen immer wieder kompensieren können durch Forschungsaufenthalte an der Ostküste (Harvard University, Brown University), in England (Queen's College, Oxford), Paris (Ecole normale supérieure) und Deutschland (Universität Tübingen). Gegen Ende meiner Zeit in den U.S.A. kam dann noch eine Beurlaubung zur Wahrnehmung einer Gastprofessur an der Princeton University hinzu. Wenn ich nach all den positiven akademischen Erfahrungen im Ausland dennoch nach Deutschland zurückgekehrt bin, dann liegt das vor allem an den besonderen Arbeitsmöglichkeiten, die mir die Professur an der Universität München bietet. Kant und der deutsche Idealismus gehören zu den traditionellen Schwerpunkten der Münchener Philosophie. Aufgrund der besonders reichen personalen Ausstattung in diesem Bereich ergibt sich in München die Möglichkeit zu Forschungs- und Lehraktivitäten auf hohem Niveau. Hinzukommt, daß viele der jüngeren Kolleginnen und Kollegen selber in England oder in den U.S.A. studiert oder gelehrt haben. Damit ist durchweg eine Beachtung gewisser analytischer Standards im Umgang mit historischen philosophischen Texten und Problemstellungen gewährleistet. Schließlich habe ich aufgrund der seit langen Jahren bestehenden weltweiten Bedeutung Münchens als Forschungszentrum zur Philosophie Fichtes hier die Gelegenheit, mit Studierenden sowie Fachkolleginnen und Fachkollegen aus Europa und Übersee in der Avantgarde der Fichte-Forschung tätig zu sein. Auch nach meinem Weggang aus den U.S.A. unterhalte ich weiterhin enge Kontakte zu amerikanischen Kolleginnen und Kollegen, auch zu wissenschaftlichen Verlagen und Zeitschriften dort. Ich nehme auch noch regelmäßig an philosophischen Tagungen in den U.S.A. teil und bin bemüht, im Gegenzug amerikanische Kolleginnen und Kollegen für Vorträge und andere Beiträge zur philosophischen Forschung und Lehre in München zu gewinnen. Lehr- und Wanderjahre Gewiß ist an den deutschen Universitätsverhältnissen allgemein und speziell an der Lage der Philosophie in Deutschland manches auszusetzen, insbesondere die mannigfaltige Überlastung der Lehrenden, damit verbunden die fehlende Betreuung und Beratung der Studierenden, die oft einseitig betriebene und von einem oberflächlichen Informationsstand geprägte Fixierung auf die U.S.A. und der politische octroi von Universitätsreformen. Doch weiß ich aus eigener Anschauung, daß man anderswo nicht ohne universitäre Probleme lebt, sondern allenfalls mit anderen. Bei aller grundsätzlichen Zufriedenheit mit meinen Arbeitsmöglichkeiten in München möchte ich aber meine persönlichen und fachlichen Erfahrungen im Ausland nicht missen. Insbesondere bin ich davon überzeugt, daß die Zeit im Ausland und die Lehrtätigkeit in Deutschland bei mir in der richtigen Reihenfolge stattgefunden haben. Das hat es mir erspart, als akademischer Knecht beginnen zu müssen und hat mir von Anfang an die relativ freie Entfaltung meiner Interessen und Fähigkeiten ermöglicht. Im Rahmen meiner Münchener Professur will ich auch in Zukunft im systematischen Bereich der Transzendentalphilosophie, speziell der Subjektstheorie, und in philosophiegeschichtlicher Hinsicht über Kant und den deutschen Idealismus sowie die Philosophie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts lehren und forschen. Dazu kommt ein langjähriges Interesse an Ästhetik und Kunstphilosophie, das ich unter Einbezug der vielfältigen Möglichkeiten des Münchener Kultur- und Kunstlebens weiter pflegen will. Zu meinen konkreten Projekten gehört eine national und international besetzte Vortragsreihe an der Universität München zu Fichtes praktischer Philosophie im Wintersemester 2001-02 sowie die Ausrichtung des Kongresses der Internationalen JohannGottlieb-Fichte-Gesellschaft an der Universität München im Jahre 2003. Bis dahin hoffe ich auch die noch aus den U.S.A. mitgebrachten editorischen Projekte zu Kant und Fichte abgeschlossen zu haben. Meine Lehrund Wanderjahre werden hoffentlich nicht so schnell zum Abschluß kommen. In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 107-137 Neuerscheinungen Besprechungen Neuerscheinungen Theodor W. Adorno Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen Bd. 13, hg. vom Th.W. Adorno Archiv, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt/Main 2001 (Suhrkamp), Ln. geb., 491 S., 64.- DM. Die Vorlesung „Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit“, mit der Adorno im Wintersemester 1964 sein geschichtsphilosophisches Kolleg beschloss, behandeln „Komplexe aus einem philosophischen work in progress“; mithin geht es „um Proben dialektischer Philosophie, einmal das Verhältnis von Weltgeist und Naturgeschichte, zum anderen die Lehre von der Freiheit betreffend“ (10). Gemeint sind die beiden ersten Modelle aus der 1966 fertig gestellten „Negativen Dialektik“ – das dritte Modell, die „Meditationen zur Metaphysik“, spielt gleichsam in die Vorlesung, ist aber auch Thema einer bereits im Rahmen der Nachlassschriften veröffentlichten Vorlesung von 1965 (Metaphysik. Begriff und Probleme, 1998). Zudem weist das Vorlesungsthema – wie überhaupt das Projekt der „Negativen Dialektik“ – auf früheste philosophische Problemlagen Adornos hin, wie er sie schon in seinen beiden Vorträgen „Die Aktualität der Philosophie“ und „Die Idee der Naturgeschichte“ expliziert hatte. Geschichte und Freiheit sind dabei selbst als eine dialektisch vermittelte Begriffsfiguration zu denken. Es geht Adorno um „das Verhältnis von Individuum und Freiheit, das ja mit dem Verhältnis des Allgemeinen, der großen objektiven Tendenz, zum Besonderen weitgehend identisch ist“. Eingeschlossen sind somit auch philosophische Gesichtspunkte der Erfahrung, des Subjekts, des Sinns, des Fortschritts und des Bewusstseins, – eigentlich Grundprobleme dialektischen Philosophierens, die immer wieder die Auseinandersetzung mit Hegels „Logik“ berühren – Infragestellungen des Identitätspostulats. Insofern rekurriert Adorno auch auf seine „Drei Studien zu Hegel“ aus dem- Neuerscheinungen selben Arbeitszeitraum, die die Vorlesung gewissermaßen kommentierend begleiten. In der „Negativen Dialektik“ heißt es konzentriert: „Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. Sie endet in der totalen Drohung der organisierten Menschheit gegen die organisierten Menschen, im Inbegriff von Diskontinuität. Geschichte ist die Einheit von Kontinuität und Diskontinuität.“ (ND, 314) Dies berührt den Übergang von idealistischer Subjektphilosophie zur materialistischen Diagnose einer „Dialektik der Aufklärung“, wie Adorno und Horkheimer sie als kritische Theorie der Gesellschaft entworfen haben: „weil der Sinn, den die Geschichte qua Logik der Dinge hat, nicht der Sinn des individuellen Schicksals ist, sondern dem Individuum gegenüber immer als ein Blindes, Heteronomes und potentiell Zerstörendes überhaupt sich gibt. Und diese Einheit des zu Durchdringenden und des Undurchdringlichen, oder, wenn ich es so formulieren darf, diese Einheit von Einheit und Diskontinuität ist eigentlich das Problem der geschichtsphilosophischen Konstruktion.“ (43 f.) Der derart geschichtsphilosophisch fundierte Begriff der Freiheit ist als Dialektik von Identität, Bewusstsein und Unfreiheit darzustellen; angesichts der gegenwärtigen Weltkrisenlage, die ihre Kriegshandlungen als Verteidigung der persönlichen Freiheitsrechte und überhaupt der Freiheit der Person verteidigen vorgibt, eine hochaktuelle Kritik, wenn es in Adornos Vorlesung heißt: „Persönlichkeit ist die Karikatur von Freiheit.“ (370) Doch beweist sich in dieser Aktualität wieder die Kontinuität des fortlaufenden Unheils, die Geschichte „als permanente Katastrophe“. Im Spiegel dieser geschichtsphilosophischen Deutung ist für Adorno eben der Gedanke an ein negatives Moment, der auch schon die Geschichtstheorie seines Freundes Walter Benjamin bestimmte, „nicht von der Hand zu weisen, ob nicht schon im Ursprung, etwa gar in dem Menschwerden der Menschen selber irgend etwas Schreckliches geschehen ist, wie es in den Mythen von der Erbsünde und ähnlichen Vorstellungen überliefert ist“ (81). Wie die Nachlassschriften insgesamt, sind auch diese Vorlesungen sorgfältig editiert, wofür Rolf Tiedemann verantwortlich zeichnet. Schließlich sind die Vorlesungen als Einführung in Adornos Denken zu empfehlen, weil in der freien Rede viele Argumentationsfiguren zugänglicher sind als dann in den bisweilen sich sperrig gebenden Schriften wie etwa der „Negativen Dialektik“. Roger Behrens Gerd Becher, Elmar Treptow (Hg.) Die Gerechte Ordnung der Gesellschaft Texte vom Altertum bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 2000 (Campus), 48.- DM. Das Spannungsverhältnis zwischen den Globalisierungsprozessen, die bislang vor allem in Gestalt wirtschaftlicher Liberalisierung aufgetre- Neuerscheinungen ten sind, und den damit verbundenen Problemen sozialer Gerechtigkeit, die vor allem in der Gestalt von Massenarbeitslosigkeit und eines veränderten Verteilungsrahmen des Staates spürbar geworden sind, markiert eine in der sozialwissenschaftlichen wie in der öffentlichen Diskussion noch weitgehend unbegriffene und mit vielen Unsicherheiten und Ungewissheiten behaftete, zu allem Überfluß noch ideologisch aufgeladene Problemlage. In Hinblick auf anstehende Aufgaben theoretischer und praktischer Problembearbeitung stellen Gerechtigkeitsfragen – und das heißt vor allem auch: Ungleichheits- und Verteilungsfragen – eine der großen Herausforderungen moderner, globalisierter Gesellschaften dar. Daß aber die Frage nach Gerechtigkeit, die Frage, „ob und warum die gesellschaftlichen Individuen einen gleichen oder ungleichen Anteil an der politischen Herrschaft, dem ökonomischen Reichtum und den geistigen Gütern besitzen“ (2), schon seit dem Entstehen der ersten Hochkulturen ein zentrales Thema war, das bei allen geschichtlichen, sozialen und semantischen Veränderungen bis in die Gegenwart aktuell geblieben ist, dokumentiert die von Gerd Becher und Elmar Treptow sorgfältig ausgesuchte und klug editierte Textsammlung. Diese versammelt auf 364 Seiten 31 exemplarische Schriften von Denkern wie Mo Ti, Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Dante, Hobbes, Rousseau, Kant, Mill, Marx, MüllerArmack, Rawls, Walzer, Giddens und Habermas, die zu diesem Thema wesentliche Beiträge geleistet haben. Alle Texte, die aus Ägypten, Babylonien, Asien, Griechenland, Rom, Persien, Europa und den USA stammen und einen Zeitraum von über viertausend Jahren umfassen, sind kurz aber prägnant sowie neutral eingeleitet, ohne jedoch verschiedene Schwächen und weiße Flecke der Theoretiker zu verschweigen, und geben bei aller Gedrängtheit wesentliche politische, kulturelle und sozioökonomische Kontexte so wieder, daß ein elementares Verständnis der (mitunter sinnvoll gekürzten) Texte möglich wird. Zusätzlich sind die Schriften mit aufschlußreichen Anmerkungen versehen, die auch dem Laien ein kontextuelles und umfassendes Verstehen gestatten. Zu mäkeln gibt es allenfalls an der mit viereinhalb Seiten durchaus zu kurz gekommenen Einleitung. Denn wer auf so kurzem Raum die aktuelle Problemlage der Globalisierung, die Kohärenz von Wirtschaftswachstum und sozialen Diskrepanzen, die stillschweigend übernommenen Prämissen und damit blinden Flecke des sozialdemokratischen Konzepts der Chancengleichheit, die Unterscheidung des Aristoteles von verteilender Gerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit so prägnant vermittelt bekommt, der traut den Verfassern auch ähnlich Kluges auf breiterem Raum zu und hätte sich dementsprechend über Ausführlicheres gefreut. Eine der besonderen Leistungen der Herausgeber ist es unter anderem, die (bislang als aristokratisch und apolegetisch aufgefaßten) Ausführungen des Aristoteles (der schon für seine Zeit die Existenz von Klassenkämpfen klar erfaßt hat: „Ganz allgemein greifen die Men- Neuerscheinungen schen zum Aufstand auf der Suche nach Gleichheit.“) über die (Verteilungs-) Gerechtigkeit eine für die Gegenwart progressive Wendung zu geben, ohne diese Konzeption in ihrer Logik semantisch verbiegen zu müssen: „Die besondere Gerechtigkeit umfasst die ‚verteilende’ und ‚ausgleichende’ Gerechtigkeit ... Die gerechte Verteilung oder Zuteilung hat den Maßstab des Werts oder Würdigkeit, axia der Menschen; sie lässt ihnen proportional (geometrisch) zu ihren ungleichen Verdiensten ungleich viel Geld und Ehren bzw. öffentliche Anerkennung zukommen. Die ungleichen Menschen werden also in gleicher Weise ungleich behandelt. (In der heutigen Auseinandersetzung über die Verteilungsgerechtigkeit tritt an die Stelle des Maßstabs der Würdigkeit in der Regel die Bedürftigkeit des Menschen). Im Unterschied zur ‚verteilenden’ regelt die ‚ausgleichende’ oder ‚ordnende’ Gerechtigkeit die ökonomischen Verhältnisse – vor allem den Warentausch – sowie die rechtlichen Beziehungen. Ihr Maßstab ist nicht die geometrische, sondern die zahlenmäßige, arithmetische Gleichheit. Sie beruht auf den Grundsatz der Gleichheit von Leistung und Gegenleistung, von Ware und Preis, von Schaden und Schadenersatz und wird ... ohne Ansehung der Person unmittelbar zur Geltung gebracht.“ (73) Daß nun die aktuellen, sich mit der Globalisierung ergebenden sozialen Diskrepanzen auch aus der ausgleichenden Gerechtigkeit resultieren, die unabhängig von den Personen einzig die Arbeitsleistung ohne Berücksichtigung der technischen Hilfsmittel zum Maßstab nimmt und somit global das Produktivitätsgefälle zu einem Wohlstandsgefälle macht, ist nun eine jener Einsichten, die zwar in dieser Textsammmlung nicht explizit formuliert werden und dennoch mit der Kenntnis dieser Schriften überhaupt erst möglich werden und eine Erfassung dieses Problems erlauben. Kurzum: Wer sich einen Überblick über die relevanten und elementaren Gerechtigkeitstheorien verschaffen will, kommt nicht umhin, einen Blick in dieses Buch zu werfen, und wer Lesefreundlichkeit ohne die Höhe der Erkenntnis zu verlieren bewundert, wird an dieser Lektüre seine Freude haben. Reinhard Jellen Ernst Bloch/Wieland Herzfelde Wir haben das Leben wieder vor uns, Briefwechsel 1938–1949, hg. v. Jürgen Jahn, Frankfurt/Main 2001 (Suhrkamp), Ln. geb., 320 S., 78.DM. Ernst und Karola Bloch emigrierten 1933 zunächst in die Tschechoslowakei, 1938 dann in die Vereinigten Staaten; der Schriftsteller, Gründer und Leiter des MalikVerlags Wieland Herzfelde und seine Frau Trude Herzfelde flohen 1939 aus Europa vor den Nazis in die Vereinigten Staaten. Kennengelernt hatten sich der Philosoph Bloch und der Verleger Herzfelde im April 1936. Zeugnis der schnell sich ergebenden Freundschaft ist der Briefwechsel, der 1938 beginnt und sich bis 1949 fortsetzt, als beide Familien nach Deutschland zurückkehren – Bloch als Ordinarius für Neuerscheinungen Philosophie in Leipzig, Herzfelde als Professor für Literatur, ebenfalls an der Universität Leipzig. Im Aurora-Verlag publiziert Herzfelde 1946 Blochs einzige Buchveröffentlichung in den USA, „Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozialutopien“, ein eigenständiger Vorabdruck eines dann im „Prinzip Hoffnung“ zentralen Kapitels. Dieser, 1943 ins Leben gerufene Verlag, der zunächst „Tribüne“ heißen sollte, war als Forum für deutsche Exilliteratur gedacht. Herzfelde fungierte als Geschäftsführer, Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Ernst Bloch und andere zählten zu den Gründungsmitgliedern. Der Verlagsnamen ist ganz in Blochs Sinne gewählt – er verweist auf „die erste (und dunkelste) Schrift Jakob Böhmes: ‚Aurora oder Morgenröte im Aufgang’,“ wie Bloch am 10.12.1943 an Herzfelde schrieb (94). Der Briefwechsel, der, so Herausgeber Jürgen Jahn, „zu den umfangreichsten Korrespondenzen der amerikanischen Exiljahre Blochs“ gehört, dokumentiert mehr als eine berufliche Freundschaft zwischen Autor und Verleger. Es sind Dokumente gegenseitiger Hilfe und Unterstützung der Migranten; es geht um Unwegsamkeiten bei der Wohnungssuche, um private Dinge, auch um Blochs Unzulänglichkeiten das Englische betreffend, freilich auch um die Erörterung der politischen Situation, Nazideutschland und den Weltkrieg. Aber insgesamt ist es weniger ein theoretischer Briefwechsel, den die beiden Schriftsteller hier pflegen, sondern – wenn man so will – einer der gelebten Philosophie, der Praxis, und zwar durchaus in dem Sinne, in dem Bloch das Alltagsleben, das Existenzielle auch in seinen Schriften aufgenommen hat. Bloch scheint hier seine Philosophie der Hoffnung im eigenen Leben zu erproben. „The dreams of better life“, so Bloch über sein Manuskript, behandelt „einen sehr amerikanischen Stoff“ – aber: „In der Ausarbeitung ist es das deutscheste Buch geworden, voll von altem Deutschland; ohne dass ich das doch im geringsten wollte, im Gegenteil.“ (43) Und Bloch schreibt am 10.2.1945: „Ja, mein Wieland, die Zeit ist atemraubend. ‚Spuckst du deine rote Fahne aus, mein Lieber?’ sagt in einem Konzentrationslagerroman eine SABestie in der Folterkammer. Nun kehrt sich was um, wie im Märchen.“ (116) Der Briefwechsel ist mit Anmerkungen des Herausgebers versehen. In einem Anhang findet sich eine Skizze der „Enzyklopädie der Hoffnungen“, woraus dann das „Prinzip Hoffnung“ wurde. Ein kommentiertes Personenregister runden die Edition des Briefwechsels ab. Roger Behrens Stefan Bollinger 1989. Eine abgebrochene Revolution. Verbaute Wege nicht nur zu einer besseren DDR?, Berlin 1999 (trafo Verlag), 345 S., 44.80 DM. Fritz Vilmar (Hg.) Zehn Jahre Vereinigungspolitik. Kritische Bilanz und humane Alternativen, Berlin 2000 (trafo Verlag), 286 S., 34.80 DM. Neuerscheinungen Die staatliche Einheit Deutschlands wird nicht überall und von jedem, wie die offiziellen Jubelfeiern zum 10. Jahrestag im Oktober 2000 bei einigen vermuten lassen, kommentarlos gut geheißen. Kommt man in den Osten Deutschlands, ist zunehmend Unwillen über die Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik und über deren Folgen vor allem der ostwärts der Elbe lebenden Menschen des wiedervereinigten Landes zu hören und zu spüren. Fragt man nach, hört man oftmals: „Das wollten wir so nicht!“ In den offiziellen Verlautbarungen und Umfrageergebnissen hört es sich alles anders an. Da ist man zufrieden, klagt hin und wieder ein bißchen über die noch nicht vollendete „innere Einheit“. Die Schaffung von Industriewüsten mit den wenigen neu geschaffenen, publikumswirksam angepriesenen Oasen, sowie die Schaffung von Millionen Arbeitslosen, die Steigerung von Kriminalität, Drogenkonsum und Rechtsradikalismus werden als gegeben hingenommen. Es gab, so tröstete man sich, ja keine Alternative. Daß die deutsche Vereinigung, die in Wirklichkeit ein Anschluß der DDR an die Bundesrepublik war, auch anders hätte laufen können, machen zwei Bücher aus dem Ostberliner trafo Verlag deutlich. Welche Wege in eine selbstbestimmte, wenn auch ungewisse Zukunft von den Ostdeutschen selbst verbaut wurde oder ihnen durch den nach dem Mauerfall am 9.11.1989 ungehemmt in den Osten strömenden westdeutschen Parteien zu gehen unmöglich gemacht wurde, zeigt das Buch von Stefan Bollinger. Der Verlauf der Ereignisse zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 im Osten Deutschlands, der DDR, war, so weiß Bollinger überzeugend zu argumentieren, nur ein – wenn auch wichtiger – Teil eines weltweiten Umbruchs der ökonomischen, politischen und schließlich sozialen Verhältnisse. Der Wunsch, nur die Resultate eines der einschneidendsten Ereignisse in der deutschen Geschichte zu vermelden, ist stark und verständlich. Aber diese Resultate erklären nur wenig. Was in den vier oder acht Monaten zwischen Oktober 1989 und Januar 1990 bzw. September 1989 und April 1990 auf deutschem Boden entschieden wurde, das hat über 40 Jahre deutschdeutscher Geschichte, Aufstieg, Verbrechen und Untergang des Faschismus, den Triumph des Staatssozialismus zur Voraussetzung. Darüber berichtet dieses Buch. Die Ergebnisse der überzeugenden und fundierten Argumentationen basieren auf gründlicher Quellenrecherche. Sie zu widerlegen, dürfte denjenigen, die gern die von Bollinger zu Rate gezogenen Dokumente und Zeitzeugen ignorieren, äußerst schwer fallen. Was die Ostdeutschen in den zehn Jahren nach der Wiedervereinigung verloren haben, wird in dem von Fritz Vilmar herausgegebenen Sammelband deutlich. Der Herausgeber, der eine Anzahl der zum Abdruck gelangten Beiträge selbst verfaßt oder mit anderen Autoren gemeinsam geschrieben hat, vertritt auch in diesem Band seine immer stärker in der Praxis Bestätigung findende These von der „strukturellen Kolonalisierung“ Ost- durch West- Neuerscheinungen deutschland. Fallstudien, so über die Liquidation und Diskriminierung ostdeutscher Eliten, die „Abwicklung“ der „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“ oder die Beseitigung sozio-kultureller Einrichtungen der DDR, belegen ausdrucksstark diese These, die vor allem von denjenigen angezweifelt werden, die keine Kolonialherren sein wollen. Außerdem wird die Frage nach einer deutschen Verfassung, die auch vom deutschen Volk bestätigt werden sollte, gestellt. Denn so etwas gibt es nicht in Deutschland. Im Mittelpunkt der deutsch-deutschen Diskussion und Disharmonien stand und steht die Frage nach der Finanzierung der staatlichen Einheit Deutschlands. Auch sie wird in dem Sammelband ausführlich diskutiert. Das Ergebnis sieht anders aus als öffentlich behauptet. Die Gewinner der Einheit Deutschlands sind die westdeutschen Wirtschaftsunternehmen. So drängten Handelsketten aus der Bundesrepublik, die den Binnenmarkt der DDR unter sich aufgeteilt hatten, Produkte aus dem Osten Deutschlands aus den Regalen der Kaufhäuser und Geschäfte. Damit gingen unzählige Produzenten und Zulieferer bankrott. Die traditionellen Märkte der DDR in Osteuropa, so wird herausgearbeitet, „brachen nicht weg“, wie oftmals behauptet wird; sie wurden den ostdeutschen Produzenten schlicht „abgenommen“. Im Interesse des Machterhalts der Regierenden in der Bundesrepublik mußte Deutschland sich auf die kostenintensivste Weise vereinigen. Die übereilt vollzogene Währungsunion, so wird in einem Kapitel hingewiesen, zog den größ- ten volkswirtschaftlichen Rückschlag nach sich, der in der gesamten Geschichte des Kapitalismus bisher zu verzeichnen war. Es wäre wünschenswert, wenn beide Bücher übersetzt werden könnten, damit auch hierzulande die deutsche Vereinigung am 3. Oktober 1990 differenzierter beurteilt werden kann. Ulrich van der Heyden Reinhard Brandt, Karlfriedrich Herb (Hg.) Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (Reihe: Klassiker Auslegen), Berlin 2000 (Akademie Verlag), 308 S., 39,- DM. Nicht bloß klassische, sondern kanonische Texte sollen in der von Otfried Höffe herausgegebenen Reihe Klassiker Auslegen kommentiert werden. Die Neuerscheinung zu Rousseaus Du Contrat social ist bereits der 20. Band dieser Reihe, in der gemäß Höffes Arbeitsschwerpunkt vor allem Werke der praktischen Philosophie interpretiert werden. Die Aufsatzsammlung liefert einen von elf Autoren erstellten kooperativen Kommentar zu Rousseaus kurzer Schrift, der ihrem Aufbau und Themenverlauf weitgehend folgt. Dabei wird das erste Buch des Gesellschaftsvertrags deutlich ausführlicher besprochen als die anderen drei, was in Anbetracht seiner Bedeutung angemessen ist. Gemeinsam ist den Beiträgen, daß sie – zweifellos zurecht – Rousseaus Republikanismus betonen, der sich an antiken Vorbildern orientiert. Neuerscheinungen Knapp die Hälfte der Beiträge sind von französisch- und englischsprachigen Autoren verfaßt und von Michaela Rehm übersetzt, die in ihrem eigenen Aufsatz eine innovative Interpretation von Rousseaus Entwurf einer Zivilreligion leistet. Von Herausgeber Karlfriedrich Herb, der bereits Ende der 80er Jahre über Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft promoviert hat, sind neben seiner Mitarbeit am Einführungsartikel zwei Aufsätze enthalten. Im ersten Aufsatz wendet sich Herb – wie bereits in seiner Dissertation und einem Aufsatz von 1993 – gegen die häufig angenommene Fundierung des Gesellschaftsvertrags im Diskurs über die Ungleichheit und betont den „Funktionsverlust des Naturzustandsmodells in Rousseaus Prinzipientheorie des Rechts“ (39). Herbs zweiter Aufsatz stellt heraus, daß Rousseaus modernitätskritische Ablehnung von Repräsentation und Markt „seiner politischen Philosophie einen utopischen wie erinnernd resignativen Zug“ verleiht (181). Auch Reinhard Brandt, der zweite Herausgeber, hat bereits 1973 eine Monographie über Rousseaus Philosophie der Gesellschaft veröffentlicht. Neben seiner Mitarbeit am Einführungsartikel hat er zu diesem Band einen weiterführenden Aufsatz verfaßt, der die Transformation des Gesellschaftsvertrags in das Kantische Ideal des Bürgerbundes nachzeichnet. Lesenswert ist außer den angeführten Aufsätzen auch der Beitrag von Wolfgang Kersting. Kersting beschränkt sich nicht auf eine immanente Deutung des Gesellschaftsvertrags, sondern verortet Rousseaus Vertragsidee in der Tradition des neuzeitlichen Kontraktualismus. Durch den Vergleich insbesondere mit Hobbes’ Staatsvertrag verdeutlicht er die Eigentümlichkeit von Rousseaus Vertragstheorie. Dabei spart er keineswegs mit Kritik: „Der Vertrag ist jedoch ein völlig verfehltes Symbol für eine Republik“ (58). Patrick Riley bemüht sich in seinem Beitrag um eine Erklärung des Gemeinwillens. Als möglichen Ursprung dieser ungewöhnlichen Idee erachtet er „eine Verschmelzung der Allgemeinheit (Einheit, Gemeinschaftlichkeit) der Antike mit dem Willen (Zustimmung, Vertrag) der Moderne“ (117). Auch wenn Rileys These bedenkenswert ist, weist sein Aufsatz manche Schwächen auf. So heißt es über einen vollkommenen Staat in Rousseaus Sinne: „die Gesetze, besonders die allgemeinsten Gesetze, müssen von jedem gewollt werden, der ihnen unterworfen ist, um verpflichtend zu sein – und sie müssen verpflichtend gemacht werden, weil die Gesellschaft rein auf Übereinkunft beruht“ (127). Auch abgesehen von dem problematischen Komparativ der allgemeinsten Gesetze, womit Gesetze gemeint sind, „in denen es nur um Rousseaus Vision eines Gemeinwohls geht“, ist Rileys Aussage unzutreffend. Denn die Verpflichtung der Untertanen gegenüber den Staatsgesetzen, die sie sich als Mitglieder des Souveräns selbst gegeben haben, ist die Folge davon, daß alle Bürger beim ursprünglichen Gesellschaftsvertrag über das „Gesetz der Stimmenmehrheit“ einstimmig übereingekommen sind (Buch 1. 5). Nur deshalb kann eine Mehrheit verpflichtend für eine Minderheit entscheiden, ob ein Gesetzesvorschlag Neuerscheinungen dem Gemeinwillen entspricht oder nicht (Buch 4. 2). Abschließend muß noch eine Schwäche der gesamten Aufsatzsammlung angesprochen werden: Die Stellenangaben zu den Schriften Rousseaus beziehen sich ausnahmslos auf die französische PléiadeAusgabe von Rousseaus Werken. Damit wird es für den deutschen Leser im Regelfall schwierig, die Zitate, ihre Übersetzungen und den Kontext, aus dem sie entnommen wurden, zu überprüfen. Dabei hätte durchaus die Alternative bestanden, die wichtigsten Schriften Rousseaus nach den gängigen UTB Ausgaben zu zitieren oder zumindest Buch und Kapitel des Gesellschaftsvertrags mit anzugeben. Manuel Knoll Judith Butler Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Gender Studies. Frankfurt/Main 2001 (Suhrkamp), 198 S., 19.90 DM (€ 10). Der Titel der deutschen Übersetzung von „The Psychic Life of Power – Theories in Subjection“, das im Original 1997 bei Stanford University Press erschien, greift zu kurz und wirkt dadurch zumindest irreführend. Denn es geht Judith Butler in ihrem lesenswerten Buch weder darum, der Macht eine Psyche zuzuschreiben, noch das Subjekt als Unterworfenes neu zu erfinden. Ihr Gegenstand ist vielmehr die Psyche und ihre Konstitution als Effekt der schon von Foucault beschriebenen Machtdispositive. Dass sie – anders als Foucault, der in der Seele nichts anderes sehen wollte als ein „Gefängnis des Körpers“ (Überwachen und Strafen, 48) – den Fokus überhaupt wieder auf die Psyche legt, kann als Indiz dafür gelesen werden, dass, wie Hauke Brunkhorst jüngst feststellte, „sich die jüngste Postmoderne zum Subjekt zurück(dreht)“ (in: „die Zeit“, 4.10.01, 93). Dafür gäbe es einen guten Grund: die Aufhebung des Subjekt-Dualismus. Denn das Erbe Foucaults bestand aus zwei unvereinbaren Subjekten, dem von den je schon wirksamen MachtTechnologien unterworfenen und produzierten Subjekt und dem in den Nischen – also außerhalb der Macht – tätigen Subjekt ästhetischer Selbstgestaltung. Für Butler aber wirkt die Macht auf zweierlei Weise auf das Subjekt ein: zuerst als seine Möglichkeitsbedingung und formierende Kraft, und dann „als das, was vom Subjekt aufgenommen und wiederholt wird.“ (18) Soweit wiederholt Butler nur die klassische psychoanalytische Denkfigur, die die bisweilen leidenschaftliche Verhaftung in der Unterdrückung erklärt. Der ‚Clou’ der Butler’schen Argumentation besteht nun darin, dem unterworfenen Subjekt durch die affirmative Nutzung von Macht eine Handlungsfähigkeit erwachsen zu lassen, die die sie ermöglichende Macht übersteigt (20). Die Verinnerlichung der Macht geht einher mit der Bildung von Handlungsfähigkeit, die aufgrund ihrer Kontingenz der Autonomie immer einen Spalt offen hält. Aus dieser Verinnerlichung resultiert allerdings auch noch eine zweite Wende: der Um- Neuerscheinungen schlag von der Unterwerfung des Begehrens in das Begehren der Unterwerfung. Wie aber kommt es dazu? Butler Antwort klingt einleuchtend: Um das Begehren zu bändigen, macht das Subjekt dieses selbst zum Gegenstand der Reflexion; das Begehren wird so zum Begehren der Reflexion und schließlich zum Begehren nach „Subjektivation“ (subjection). Das Ergebnis ist eine aufhebungsresistente Ambivalenz, die im Original-Titel schon anklingt. Subjection meint in erster Linie einen Prozeß der Unterwerfung; aber eben immer auch den Prozeß, der das Subjekt handlungsfähig macht. Das Verhaftet-Bleiben in der Unterwerfung bricht die hochfliegende Selbstgestaltungsemphase. Trotzdem aber ermöglicht das „Paradox des Subjekts“ ein Werden als „ruhelose Praxis der Wiederholung“ (33). Wiederholt wird, was je schon verloren ist. Schon deshalb ist für Butler Freuds Aufsatz über Trauer und Melancholie eine ihrer wichtigsten Referenzen. Der Ambivalenzkonflikt ist allerdings schon bei Hegel angelegt, dessen unglückliches Bewußtsein zum Ausgangspunkt der Butler’schen Überlegungen wird. Entkommen sind wir ihm nicht. Die Lektüren führen von Hegel über Nietzsche zu Freud und Foucault und über Althusser zu Freud zurück in die psychischen Anfänge, wo die Melancholie zeigt, dass „man überhaupt nur etwas wird, wenn man den anderen als sich selbst in sich aufnimmt.“ (182) Olaf Sanders H. Drüe, A. Gethmann-Siefert, C. Hackenesch, W. Jaeschke, W. Neuser, H. Schnädelbach Hegels "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß Frankfurt/Main 2000 (Suhrkamp), 561 S„ 34.90 DM Der dritte und umfangreichste Band der von H. Schnädelbach herausgegebenen Kommentare zu den Hauptwerken Hegels ist ausschließlich der Enzyklopädie gewidmet und enthält Beiträge von sechs Autoren. Zu der Enzyklopädie existieren bisher - im Unterschied zur Phänomenologie des Geistes oder auch zur großen Logik — keine Gesamtkommentare, sondern nur Kommentare bestimmter Teile (Fetscher, Lakebrink) sowie Monographien, die sich auf Einzelaspekte beziehen oder auf das Hegeische Gesamtsystem abzielen. Hegels knappe, manchmal trockene Formulierung mancher Passagen der Enzyklopädie, deren Thematik er in anderen Werken ausführlicher behandelt, sowie das große Spektrum der philosophischen Wissenschaften, die in ihr ihren Platz finden, erhöhen die Anforderungen an die Kommentierungsarbeit, auch oder gerade wenn diese bloßen Einführungszwecken dienen soll. Diesen Anforderungen werden die meisten Autoren des vorliegenden kooperativen Kommentars gerecht. Vorzüglich ist etwa die Behandlung des Teils zur Philosophie des subjektiven Geistes und zur Phänome- Neuerscheinungen nologie des Geistes durch Hermann Drüe (206-289): Nach ausführlichen Einleitungen zu jedem der Kapitel dieses Teils folgen Anmerkungen mittextnahen Erläuterungen. Das Verhältnis zur großen Phänomenologie kommt allerdings etwas zu kurz (259). Vor allem wird die Stellung der Phänomenologie des Geistes im System der Wissenschaften aus der Sicht der Enzyklopädie nicht hinreichend thematisiert. Auch Christa Hackenesch gelingt es in ihrem Beitrag (87-138) über den Teil zur Wissenschaft der Logik (§19-§244) - in lockerer Anlehnung an den Textaufbau — eine kontinuierliche Erläuterung dieses Textabschnittes und zugleich eine Einführung in Hegels Begriff der Logik zu geben. Allerdings thematisiert auch sie die Unterschiede zur großen Logik nicht (betreffend die Unendlichkeit §93-94, das Maß §107, den Aufbau der Lehre vom Wesen und — an einem Punkt - die Quantität). Das liegt wahrscheinlich daran, daß sie sich nicht auf die Inhalte, sondern auf die Darstellung und auf bestimmte Argumente beziehen. Die Beiträge über die Teile zur Naturphilosophie (Neuser), zur Philosophie des absoluten Geistes, also zur Philosophie der Kunst {Gethmann-Siefert), zur Religionsphilosophie und zur Philosophie schlechthin (beides Jaeschke) entfernen sich eher vom Ziel eines einführenden Kommentars: Gethmann-Sieferts Ausführungen sind weniger ein Kommentar zu den Stellen über die Kunst als eine Einführung in Hegels Philosophie der Kunst, die die Vorksungen über Äs- thetik, stark berücksichtigen. Neuser berichtet über die naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Theorien, auf die sich Hegel bezieht oder die er voraussetzt, und kommentiert den Text kaum. Für das Verständnis der Hegeischen Naturphilosophie im Allgemeinen sind aber Neusers Erklärungen durchaus angebracht. Und Jaeschke verwikkelt sich schnell in viele entwicklungsgeschichtliche und historische Ausführungen, die zwar hilfreich sind, aber nur den Anschein eines Kommentars vermitteln. Die Lehre vom objektiven Geist und die Einleitung der Enzyklopädie werden von H. Schnädelbach behandelt - die drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität zwar kürzer, aber ausführlich genug. Schnädelbachs Kommentierungen zur Einleitung beschränken sich ansonsten auf die Erläuterung einiger Grundbegriffe, dürften aber - für diesen Textabschnitt — den Bedürfnissen des Einsteigers am nächsten kommen. Der Band, der ausführlich Literatur und einen Anhang mit besonderen Sacherklärungen enthält, ist für den Einstieg in das System der Enzyklopädie besonders zu empfehlen. Georgios Karageorgoudis Wolfgang Fritz Haug Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern. Berlin 2001 (Dietz Verlag), 175 S., 29.80 DM. Wir können nicht flüchten vor den Ereignissen dieser Welt. Und selbst Neuerscheinungen wenn wir im Geiste flüchteten, dauerte „die Gefahr in der Regel länger als die Flucht“ (Brecht) und beim Ankommen in der Realität sind wir wieder und wieder damit konfrontiert, das Ungedachte denken, das Schwierige meistern und die Verhältnisse verändern zu müssen. Ansonsten werden wir von diesen verändert, ohne es zu merken. In Zeiten, in denen im Zeichen von Menschenrechten Kriege geführt, im Namen von Demokratie totalitäre Politikformen durchgesetzt werden und die Welt ideologisch zerpalten wird in gute, zivilisierte, gerechte Nationen und terroristische Schurkenstaaten, benötigen wir ein Denken, das sowohl die Entstehung dieser neuartigen hegemonialen Strukturen als auch ein widerständiges Handeln in ihnen und gegen sie möglich Wolfgang Fritz Haug bezieht sich in macht. seinen dreizehn Versuchen, diese aktuellen Entwicklungen zu denken, auf Marx, Gramsci, Brecht, Luxemburg und andere DenkerInnen menschlicher Emanzipation. Doch tut er dies nicht, um deren Analysen ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Zeitausschnitte auf heute zu übertragen. Vielmehr geht es ihm darum zu prüfen, ob und wie das begriffliche Handwerkszeug dieser VorDenkerInnen auf den neuesten Stand gebracht werden kann, um die Widersprüche neoliberaler Produktionsweise dergestalt zu erfassen, dass Herrschaftsprozesse und Befreiung daraus gedacht werden können. Die Aktualisierung Marx’ ist Haugs zentrales Anliegen und dazu werden dessen theoretische Überlegungen mit der Realität konfrontiert: „Eine Weltauffassung lebt nur, solange sie auch der werdenden Geschichte – nicht nur der vergangenen – angehört, und das heißt, solange sie auf von der Wirklichkeit gestellte Probleme antwortet, durch deren Aktualität sie, die Theorie, selbst aktualisiert wird“ (34). Um dies leisten zu können, arbeitet Haug in seinem achten Versuch den „utopischen Überschuss in der marxschen Theorie“ (89) heraus, den er in drei zentralen Feldern gesellschaftskritischer Anliegen Marx’ sieht: „Es sind drei Kritiken, in Reihenfolge ihres Auftauchens bei Marx: die Kritik der Objektform der Wirklichkeit, die Ideologie-Theorie, die Wertformanalyse“ (92). Diese drei „Basisoperationen der marxschen Theorie“ seien in der Lage, auch auf die aktuellen Entwicklungen kapitalistischer Gesellschaftsformationen bezogen zu werden. So kann eine ideologietheoretische Analyse die Frage denken, wie in der neuen Produktionsweise des HighTech-Kapitalismus auch die Zustimmung der Subjekte zu ihr reguliert wird, ohne die die Formen neuer Herrschaftsverhältnisse nicht erklärt werden können; so ist die Wertformanalyse Voraussetzung für die Beantwortung der Frage, welche Strukturen mit welchen Inhalten die kapitalistischen Verhältnisse am Leben erhalten können; so ist für befreiungstheoretisches Denken zentral, wie „die Wirklichkeit statt in der Gestalt des Wirkenden unter Einschluss der menschlichen Tätigkeit begriffen zu werden in die Form des Objekts kommt“ (93/94) und damit die Praxis der Subjekte (sowohl im Offizialmarxismus des Stalinismus als auch in strukturalistischen Theorien) hinter den materiellen Bedin- Neuerscheinungen gungen und ihren Strukturen verschwindet. In Haugs Versuchen ist neben der Klärung aktueller Problematiken für eine gesellschaftskritische und emanzipatorische Politik und damit einer Rückschau auf die historischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eingreifenden Denkens und Handelns die durch Brecht und Gramsci inspirierte Theoretisierung der Rolle von kritischen Intellektuellen in sozialen Bewegungen bedeutsam. Gramsci versah sie mit dem Etikett „organische Intellektuelle“, darauf anspielend, dass sie sich so wie Fische im Wasser in den sozialen Bewegungen zu bewegen hätten: avantgardistisch und popular denkend, und gleichzeitig sich als handelnde Subjekte in diesen Bewegungen verstehend. Kritische Analyse bedeutet für Intellektuelle demnach, sich selbst als Akteure in den Verhältnissen zu denken und nicht als Außenstehende. In den Worten Brechts, die Haugs elftem Versuch entnommen sind, klingt dies so: „Er (der Aussagende) muss treten als einer, der für das Zustandekommen des Vorausgesagten nötig ist“. Auf dieser Linie versteht Haug sich selbst als organischer marxistischer Intellektueller, der die Verhältnisse denkend und in diese eingreifend mit anderen gemeinsam neue, kooperative Formen als Vorschein einer Gesellschaft praktiziert, in der der Mensch kein „erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes und geächtetes Wesen“ (Marx) mehr sein wird. In seinen Versuchen, ein solches Denken zu erneuern, bemüht sich Haug, die Konstellationen neuer Befreiungsbündnisse zu skizzieren, weil das Band zwischen Marxismus und Arbeiterbewegung nicht mehr besteht bzw. diese selbst als handlungsfähige Einheiten nicht mehr existieren. Antirassistische Initiativen, feministische Bewegungen, die Bewegung der mexikanischen Indígenas werden dabei ebenso in den Blick genommen wie kirchenkritische christliche Basisgemeinden oder Globalisierungskritiker. Und Haug macht es sich nicht leicht, eigene Positionen der Vergangenheit in der Auseinandersetzung mit der „brave new world des High-TechKapitalismus“ (20) und ihren Gegenbewegungen als veraltet und verfehlt zu demaskieren. Denn für ihn ist „nichts kostbarer als begriffene Irrtümer, nichts tödlicher als blinder Wiederholungszwang“ (21). Klaus Weber Christoph Hubig, Alois Huning, Günter Ropohl (Hg.) Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie, Berlin 2000 (edition sigma), kart., 415 S., 39.- DM. Wer eine Einführung oder ein Nachschlagewerk zu den Klassikern der Technikphilosophie benötigt, der wird um „Nachdenken über Technik“ nicht herumkommen. In knappen Artikeln stellen namhafte Technikphilosophen die einschlägigen Denker mit entsprechender Sachkenntnis dar. Die Arbeit, die dem Leser in ihrer Übersichtlichkeit einen raschen Zugriff garantiert, füllt damit eine Lücke in der technikphilosophischen Literatur aus. Die Breite der Darstellung bietet bei Neuerscheinungen minimalem Zeitaufwand für den Rezipienten maximale Information. Als Disziplin und eigenständiges Fach hat sich die Technikphilosophie erst im 19. Jahrhundert etabliert. Natürlich besitzt die Technik, und hier vor allem die Mechanik, eine sehr viel weiter zurückreichende Geschichte. Christoph Hubig führt deshalb zu Beginn in die historischen Wurzeln der Technikphilosophie ein, wobei sich der Bogen von Platon bis zu Hegel und Marx spannt. Friedrich Rapp und Günter Ropohl ergänzen dies um eine systematische Übersicht. Die entsprechende Kategorisierung nennt einen ökonomischen, kulturphilosophischen, metaphysischen, technokratischen, neomarxistischen, ökologischen, ontologischen, handlungstheoretischen und soziologischen Zugang. Der Einleitung folgen Rezensionen der Klassiker. In circa 88 Einzelbeiträgen auf 407 Seiten eröffnet sich ein repräsentativer Überblick. Das Spektrum der behandelten Autoren mag folgende willkürliche Auswahl verdeutlichen. Nachdenken über Technik berücksichtigt nicht nur bekannte Arbeiten, wie etwa Ulrich Becks Risikogesellschaft. Auch Stanislav Lem mit Summa technologiae oder Serge Moscovicis Versuch einer menschlichen Geschichte der Natur kommen zur Besprechung. Gerade die Darstellung der weniger geläufigen Arbeiten zur Technikphilosophie macht das Nachschlagewerk zu einer wertvollen Sammlung, die dem Einsteiger in diese philosophische Spezialdisziplin zwar sicher nicht die detaillierte Auseinandersetzung ersparen kann, aber ohne Zweifel einen überaus wertvollen Zugang bietet. Das schließt auch populäre Vertreter des angelsächsischen Sprachraumes ein. Thorstein Veblen, Frederick Taylor, Lewis Mumford und Carl Mitchum werden präzise und knapp abgehandelt. In dieser Reihe könnte man John Dewey vermissen, dessen instrumentalistische philosophische Phase mit der entwickelten technischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten in engstem Zusammenhang steht. Umso überzeugender sind dagegen beispielsweise die Einblicke, die ein profunder Kenner der Materie, wie Hans Heinz Holz für die Technikphilosophie Ernst Blochs zu eröffnen vermag. Insgesamt liegt damit ein solides Nachschlagewerk vor. Michael Ruoff Harald Lemke Freundschaft. Ein philosophischer Essay, Darmstadt 2000 (wiss. Buchgesellschaft), 220 S., 39.90 DM. Alexander García Düttmann Freunde und Feinde. Das Absolute, Wien 1999 (Turia & Kant), br., 80 S., 20.- DM. Nicht nur durch die Übersetzung von Jacques Derridas ‚Politiques de l’amitié’ ist Freundschaft zum Mode- und Lieblingsthema der Feuilletons geworden; es spiegelt sich hierbei auch der Zeitgeist, die Zerrissenheit der modernen Gesellschaft, das Misslingen bürgerlicher Individualität, die – wenn sie beim Selbst keinen Halt mehr findet – im und am Anderen versucht sich zu identifizieren. Freundschaft ist, nachdem die tradierten Struktur- Neuerscheinungen modelle von Familie und Gemeinschaft in der Krise sind, ein Rettungsbegriff sozialen Miteinanders. Vom Begriff der Freundschaft hat wohl jeder genügend Vorverständnis, um zu wissen, dass hier etwas Gutes verhandelt wird, was sich auch leben lässt – zumal ja ein Diskursfeld an Begriffen betreten wird, das ganz ohne den mittlerweile verachteten Ballast sozialistisch gefärbter Worte auszukommen scheint: keine Rede von Solidarität, vom Genossen ist fällig; über Freundschaft lässt sich auch als soziales Problem streiten, ohne wirklich von sozialen Problemen zu sprechen. Dem versucht der Hamburger Philosoph Harald Lemke mit seiner Promotionsschrift eine andere Wendung zu geben. Ihm geht es um „eine Philosophie der Freundschaft«, die »die konkrete Möglichkeit gelingender Subjektivität aus[weist].“ (2) Es geht um Glück und Lebenslust, schließlich darum, mit einer „Praxis der Freundschaft“ ein „gutes Sozialleben“ zu verwirklichen (3) – als mögliche und notwendige Grundlage „demokratischer Sittlichkeit.“ (4) Fundiert sind Lemkes Überlegungen philosophiehistorisch in der Antike, bei Epikur und Aristoteles vor allem. Die Theoriereise führt weiter in die Spätantike, Renaissance und Aufklärungsphilosophie, mündet schließlich in der Neuzeit und Gegenwart. Hier findet Lemke den soziologischen Befund, der seine These stützt: nach dem Ende von Familien-, Ehe- und Liebesbeziehungen bleibt „die Praxis von Freundschaft“ als „eine Ästhetik der Existenz einer Ethik des Selbst.“ (3) Allerdings kündigt sich in solchen Formulierungen bereits an, dass seine „kritische Theorie der guten Freundschaft“ (50 ff., vor allem 57 ff.), die er zur „Praxologie des Freundens“ (111 ff.) ausbaut, eine politische, emanzipatorische Dimension reklamiert, die die kritische Theorie nur herbeizitiert, um in jener Gegenwartsdiagnose zu münden, die heute von der – mitunter rechten – Sozialdemokratie geprägt ist: soziologisch ist das etwa Giddens „Politik des Lebensstils“, die Gesellschaftsvorstellung von Beck und Beck-Gernsheim. Philosophisch führt Lemke eine Reihe von halb vitalistischen, halb fundamentalontologischen Begriffen ein, die auch ungefähr der ideologischen Rahmung entsprechen, die mit Namen wie Dilthey, Husserl oder Heidegger verbunden ist – dazu gehören „Vollleben“, „Wohlvermögen“ (gebunden an die „euzenologische Einsicht“), „Wohllust“; aus dem Griechischen: die „Sorge um sich selbst als Freund“, „Freunden“, „Widergefreundetwerden“ oder „der Gefreundete“. Durch solchen Jargon der Eigentlichkeit erfährt der Begriff der Freundschaft eine Überhöhung, die sich vom luziden Grund des begriffsreflexiven Aufrisses zunehmend löst und die „Praxis der Freundschaft“ in die gar nicht gemeinte Nähe eines Ratgebers rückt. Ähnlich wie einst Erich Fromm mit seiner ‚Kunst des Liebens’ empfiehlt auch Lemke mit der „Kunst des Freundens“ Selbstverständliches wie Verstiegenes. In seinen Worten: „Ausgangspunkt für die Kunst des guten Freundens ist die gewöhnliche Grundbewegung einer ausgeglichenen Wechselseitigkeit des Tuns und Lassens im Geben und Nehmens.“ (111) Neuerscheinungen So gerät die Freundschaft zur Idylle einer Lebenspraxis, zur Enklave des gelingenden Lebens, dem Gesellschaft äußerlich und schemenhaft bleibt. Mitunter wird Lemkes Entwurf an genau den Stellen redundant, an denen sich entschieden hätte, ob er es mit einer kritischen Theorie ernst meint, wenn etwa die „Befriedigung sozialer Bedürfnisse“ zum „inhärenten Zweck des persönlichen Soziallebens“ erklärt wird (46), was ja nicht mehr aussagt, als die Gesellschaftlichkeit des Menschen mit dem gesellschaftlichen Menschen zu erklären. Dass etwa Freundschaft im Sinne Adornos „Erziehung zur Mündigkeit“ gedacht wird, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass Adorno dabei die nachfaschistische Gesellschaft vor Augen hatte, offenbart an Lemkes Vorstellung von kritischer Theorie eine nicht unproblematische Realitätsferne. Exemplarisch macht die sich ebenso an seinem Umgang mit Marxens Praxisbegriff bemerkbar. Marx hätte, so Lemke – der damit Habermas, Honneth u.a. folgt –, den Praxisbegriff auf Arbeit eingeschränkt. Wenn nach Marx eine „Veränderung und Verbesserung der Lebensbedingungen … nur als Veränderung der Produktionsverhältnisse denkbar“ ist, schließt Lemke daraus eine „Reduktion der gesellschaftlichen Realität auf das Wirtschaftsleben“ (84), die Marx eben philosophisch vornehme. Doch von übergangenen Nuancierungen im Begriff Praxis und Arbeit bei Marx einmal abgesehen, besteht die Brisanz der Marxschen Überlegung ja nicht in ihrer theoretischen Spekulation, sondern in der radikalen Kritik einer Gesellschaft, die den Menschen real auf die Arbeit reduziert. Nur insofern bleibt „Marx’ Philosophie der Praxis den Denkkategorien der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft verhaftet“ (84), weil er seine Philosophie an den Realkategorien bemisst, die Lemke verborgen bleiben. Lemke glaubt offenbar an die Kraft der Begriffe, die nur geändert werden müssten, um auch Gesellschaft anders aussehen zu lassen. Das entspricht seinem Gesamtentwurf zur »Praxis der Freundschaft«, der die gelingende Freundschaft auch eher zur Frage der richtigen Wortwahl macht, denn zur Frage der dann tatsächlich statthabenden Freundschaft. Die Empfehlungen, die dieses Buch gibt, sind doch zu selbstverständlich, als dass sie eine Philosophie der Freundschaft benötigten, oder bleiben so abstrakt, dass sie es noch dem egozentrischsten Narzissten gestatten, sich als guter Freund zu brüsten. Allemal bleibt jedoch Lemkes theoriegeschichtliche Systematik hervorzuheben, die in Düttmanns „Freunde und Feinde“ schon aufgrund der Essayform fehlt. Während Lemke wenigstens für eine kritische Theorie der Freundschaft votiert, deren Kritikbegriff streitbar ist, übt Düttmann – der in anderen Schriften durchaus auch als kritischer Theoretiker operiert – sich in Entscheidungslosigkeit. Der Philosoph müsse „in der Vergangenheit und in der Gegenwart Verbündete suchen …, um begriffliche Klarheit zu gewinnen.“ (70) Das bleibt äußerst fragwürdig, wenn ein Verbündeter etwa Carl Schmitt ist und die begriffliche Klarheit sich in der dekonstruktiven Masche verstrickt. So heißt es zu Marcuse: „die ‚große Weigerung’ ist Neuerscheinungen umso mehr eine ‚große Weigerung’, je weniger sie eine ‚große Weigerung’ ist.“ (68) Wie dies jedoch Freundschaft als „Versuch über die Befreiung“ erklären soll – so Titel des zweiten Essays –, lässt Düttmann im Dunkeln, weshalb denn Lemkes ‚Freundschaft’, trotz neoliberal verkleideter Sozialpartnerschaft, zumindest in der Intention und Argumentation deutlicher ist. Roger Behrens Mike Sandbothe (Hg.) Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, Weilerwist 2000 (Velbrück Verlag), kart., 335 S., 39.DM. Chantal Mouffe (Hg.) Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien 1999 (Passagen), 200 S., brosch., 43.- DM. Es war doch zu erwarten, dass das Unbehagen, das unter anderem die Postmoderne am Ende des 20. Jahrhunderts erweckt hatte, einige Reaktionen hervorrufen würde, die auf der Suche nach Hoffnung mit oder ohne Erkenntnis sind. Die philosophische Postmoderne hatte ja zuletzt eine durchführbare Regulierung der Vielfalt von Einsichten und Lebensweisen fast für unmöglich erklärt, was außer einem pathetischen Gestus wenig Perspektiven eröffnete. Ob die so genannte Renaissance des Pragmatismus als Antwort auf diese Aussichtlosigkeit gelesen werden kann? Das Kokettieren mit der Rhetorik der Post- moderne zunächst und der später daraus entstandene Dialog zwischen Richard Rorty und Jean-François Lyotard sprechen dafür; denn es war hauptsächlich Rorty, der auf den amerikanischen Pragmatismus, vor allem in der Version von John Dewey und William James, aufmerksam machte. Es überrascht daher nicht, dass fast die Hälfte der Artikel in dem von Mike Sandbothe herausgegebenen Sammelband sich hauptsächlich mit dem Denken von Richard Rorty beschäftigt. Die Frage, warum ausgerechnet der Pragmatismus den Puls unserer Zeit angeblich besser treffen könnte als eine andere Theorie, stellt sich zunächst in dieser direkten Form nicht. Vielmehr wird die Renaissance des Pragmatismus „aus der Perspektive unterschiedlicher Diskursstrategien“ dargestellt, was allerdings dieses Comeback leider nicht erklärt. Dies mag ja daran liegen, dass die meisten der beteiligten Autoren (von „Autorinnen“, wie Sandbothe schreibt, kann ja wirklich nicht die Rede sein: Von den zwölf Artikel, die im Band gesammelt wurde, ist nur einer von einer Frau verfasst!) bereits seit langem im Dialog miteinander stehen, was angeblich die These des Herausgebers belegt, nach der die Annahme einer starken Separation zwischen „den philosophischen Traditionen des analytischen und des kontinentalen Denkens zu einem Anachronismus geworden ist“ (28). Ob diese Trennung bereits für überwunden erklärt werden kann, ist fraglich. Eine Intensivierung des Dialogs ist allerdings deutlich spürbar. Der Band hat von daher keinen einführenden Charakter. Die Lektüre Neuerscheinungen der Texte verlangt Vorkenntnisse über den früheren Pragmatismus. Er erfüllt vielmehr die Aussichten, die der Untertitel weckt, so dass der Band für diejenigen, die am Pragmatismus interessiert sind, eine Bereicherung ist. Gesammelt hat Mike Sandbothe Texte von so renommierten Autoren wie Robert B. Brandom, Rorty selbst, Arthur Fine, und Hilary Putnam auf amerikanischer Seite und Ludwig Nagl, Wolfgang Welsch und Albrecht Wellmer auf der deutschen. Während Brandom, Fine, Rorty und Wellmer sich mit einzelnen Definitions- und Beschreibungsproblemen des Pragmatismus beschäftigen, diskutieren Welsch, Sandbothe, Barry Allen, und Bjør Ramberg in ihren Beiträgen unterschiedliche Aspekte von Rortys Pragmatismus. Nagl und Putnam wenden ihre Aufmerksamkeit William James zu, einem der Väter des Pragmatismus. Antje Gimmler, als einzige Autorin, und Joseph Margolis untersuchen, wie und inwiefern das kontinentale Erbe wichtiger Denker wie Hegel oder Descartes auch in den Neopragmatismus einfließt. Während aber Hegels Legat nicht nur von J. Dewey, sondern auch von Autoren wie Brandom oder Rorty gewürdigt wird, stellt der Cartesianismus jenen Teil des kontinentalen Denkens dar, den die angelsächsische Tradition am heftigsten abgelehnt hat. Trotzdem zeigt Margolis, dass der „cartesianische Realismus“ als Referenzpunkt auch in dem Neopragmatismus einen wichtigen Wert hat. Wer der brillanten und beredten Darstellungsweise eines James’ oder eines Rortys verfallen ist, findet hier in dem üblichen, wohl nötigen aka- demischen Stil einen sehr hilfreichen Überblick nicht nur über wichtige Fragen des klassischen und neuen Pragmatismus, sondern auch über einige Alternativen, die der gegenwärtige Pragmatismus für den Umgang mit den aktuellen Aufgaben anbietet, die sich der Philosophie und der Wissenschaft stellen. Dieser Überblick konzentriert sich hauptsächlich auf Fragen der Erkenntnis und der theoretischen Philosophie. Leider fehlen wichtige Aspekte des Pragmatismus selbst, die aber eher an ein Verständnis von Philosophie anknüpfen, das wenig Beachtung in der Akademie findet, wonach das Denken auch und vor allem eine Orientierung im Leben darstellt und demzufolge eine erzieherische und soziale Rolle zu verantworten hat. Nicht nur Dewey hat einen großen Teil seiner Arbeit der Pädagogik gewidmet. Ebenso war James der Überzeugung, dass der Pragmatismus, auch als Methode verstanden, eine große Hilfe bei der Gestaltung der Vielfalt sowie der Akzeptanz der Begrenzungen unseres menschlichen Lebens sei. Hier kommt auch der sophistische Charakter des Pragmatismus durch – nicht nur wegen der bereits angesprochenen Beredsamkeit einiger seiner bekanntesten Vertreter, sondern auch wegen der Sorge um die Sache der polis, verstanden als Raum der menschlichen Angelegenheiten. Es ist gerade dieses Gesicht des Neopragmatismus, das in dem von der politischen Philosophin und Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe herausgegebenen Buch Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft im Vordergrund steht. Ebenso wie bei Neuerscheinungen dem von Sandbothe herausgegebenen Band handelt es sich hier um eine Sammlung von Texten, die jedoch als Diskussionsbeiträge eines Symposiums entstanden sind. Neben Richard Rorty und Jacques Derrida diskutierten auch Simon Critchley und Ernesto Laclau. Zwei Fragen scheinen den Tenor dieses Symposiums gebildet zu haben. Die eine betrifft Rortys utopischen Liberalismus; die andere untersucht Derridas Dekonstruktion hinsichtlich ihres politischen Wert. Beide Fragen stehen in einem engen Zusammenhang, dessen letzter Referenzpunkt Rortys Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität ist. Bekanntlich unternimmt Rorty dort eine Unterscheidung zwischen der „privaten Ironikerin“ und dem „öffentlichen Liberalen“, nach der Derrida, Heidegger, Nietzsche etc. zum Typ der „privater Ironikerin“ gehören, die aus der Sicht der Politik „im besten Fall unnütz und im schlimmsten Fall gefährlich“ sind (KI 142). Im Zentrum der Debatte steht nun eine kritische Auseinandersetzung mit Rortys Verständnis von Politik sowie die Überprüfung der politischen Tauglichkeit des Denkens Derridas. Anders formuliert: Es handelt sich um eine Diskussion über die politischen Möglichkeiten, die im Pragmatismus und in der Dekonstruktion stecken könnten. Über die Realität dieser Möglichkeiten scheinen Mouffe, Laclau und Critcheley einer Meinung zu sein. Mehr noch – während der Lektüre wird man das Gefühl schwer los, als ob Dekonstruktion ein Mittel sei, eine gewisse Naivität zu korrigieren, die Rortys Auffassung von liberaler Demokratie unterstellt wird. Ge- genüber Rortys Beschreibung der Politik als einer Angelegenheit „von pragmatischen, kurzfristigen Reformen und Kompromissen – Kompromissen, die in einer demokratischen Gesellschaft in Worten ausgedrückt und verteidigt werden müssen“ (46), wird der Verdacht aufgestellt, ein solcher Konsens würde sich, so Mouffe, als „ziemliches Missverständnis des Wesens der Demokratie“ darstellen (29); denn das Feld, in dem ebenso Konflikte und Meinungsunterschiede stattfinden sollen, wird durch die Idee eines Konsenses neutralisiert. Derridas Überlegungen aus der Sicht derjenigen, denen im Laufe eines konsensuellen Verfahrens Unrecht geschieht, könnten als eine sehr abgeschwächte Form von Lyotards Darstellung eines Widerstreits verstanden werden. Auch die Sprache von Derrida ist etwas besonnener. In seinem Beitrag erinnert er immer wieder daran, dass jede persönliche Entscheidung, die man trifft, ebenso eine Verantwortung gegenüber einem Anderen bedeutet (187-193). Diese Idee, die sich eher als eine Variante von Kants kategorischem Imperativ anhört, enthält meiner Meinung nach auch eine utopische Komponente. Denn wie kann ich annehmen, dass jeder oder jede, der/die handeln, diese Verantwortung wahrnimmt? Hannah Arendt erinnert uns in ihrem Buch Vita Activa immer wieder daran, dass die Unvorhersehbarkeit unseres Handelns zu den Bedingungen (oder Miseren, je nachdem) menschlicher Existenz gehört. Ist dann auch unsere Verantwortung begrenzt? Diese Frage lässt die politischen Konsequenzen der De- Neuerscheinungen konstruktion, so wie sie in diesem Band zu lesen sind, auch als eine Utopie erscheinen. Die letzte Frage, mit der wir es hier schließlich zu tun haben, ist fast so alt wie der Mensch selbst; denn sie betrifft dessen Stellung als Individuum und als soziales Wesen. Eigentlich ist es die Spannung, die durch diese beiden Stellungen entsteht: während Rorty dafür plädiert, sie durch die radikale Trennung der beiden Bereiche zu neutralisieren, scheint Derrida eher für das Aushalten derselben zu stehen. Unabhängig davon, ob der Leser oder die Leserin sich als Ironikerin oder als Liberaler versteht, ist der von Mouffe herausgegebene Band eine Einladung, um über Politik nachzudenken, die man nicht verpassen sollte; denn: „Es kann keine demokratische Politik ohne philosophische Reflexion geben...“ (33). Bei Büchern dieser Art hat man darüber hinaus den Vorteil, dass man mit einer direkten Antwort von Seiten der Teilnehmer rechnen kann, so dass auch die Gedanken in die Dynamik des Dialogs fließen, und dieser Fluss macht sich auch bei der Lektüre positiv bemerkbar. María Isabell Peña Aguado F. W. J. Schelling Historisch-kritische Ausgabe im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayer. Akademie der Wissenschaften, Reihe I, Werke, Band 6: Von der Weltseele – Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798), hg. von J. Jantzen unter Mitwirkung von T. Kisser; Vorrede zur Übersetzung (1798), hg. von K.T. Kanz und W. Schieche, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 (Frommann-Holzboog), Leinen, 526 S., 528.- DM. Der im vergangenen Jahr erschienene, dem Gedenken an HansMichael Baumgartner gewidmete 6. Band in der Werke-Reihe der Historisch-Kritischen Schelling-Ausgabe präsentiert Schellings Schrift „Von der Weltseele“ (1798) sowie eine neuerlich entdeckte kurze Vorrede Schellings zu einer deutschen Übersetzung der Abhandlung „Versuch über die Eigenschaften des Sauerstoffs...“ (1798) aus der Feder des französischen Botanikers P.P. Alyon. Die Schrift „Von der Weltseele“ steht im Kontext des bei Schelling nach Mitte der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts einsetzenden Plans, Fichtes transzendentales System der Wissenschaftslehre durch ein System der Naturphilosophie zu komplettieren. Dabei zeichnet sie sich im Unterschied zu Schellings anderen naturphilosophischen Schriften zwischen 1797 und 1800 durch das Bemühen aus, ein materialreiches und in seinem Stufenbau weitgehend durchkomponiertes System der Naturphilosophie vorzulegen. Die in dieser Periode exponierte Idee einer produktiven Natur, einer Natur, die mittels ursprünglicher Tätigkeit und Hemmung sowie mittels polarer Kräftebeziehung zu stets neuen, höherorganisierten Gleichgewichtszuständen strebt, wird hier unter Beizug zahlreicher naturwissenschaftlicher Ergebnisse an Stufen der anorganischen und Neuerscheinungen organischen Natur festgemacht. Auf die Darstellung von Dualitäten des Lichtes, der Wärme und der Luft und von Polaritäten des Magnetismus und der Elektrizität folgen Ausführungen zu – den chemischen Prozess integrierenden – Stufen der Pflanzen- und Tierwelt. Der Vergleich mit Schellings anderen frühen naturphilosophischen Schriften offenbart überdies, dass in der Schrift „Von der Weltseele“ ein besonderes Augenmerk auf die, unverkennbar an Kants Reflexionen zur Auflösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft anschließende, Beziehung von mechanischer und organischer Natur gerichtet wird. Schelling sucht nach dem ursprünglichen Prinzip beider Naturbereiche. Dabei erweist sich seiner Ansicht nach nicht nur jeder Versuch, dieses Prinzip im Chemismus aufzuspüren, als vergeblich, zumal sich daraus der für das Verständnis der organischen Natur maßgebliche zufällige, freie Natureffekt gerade nicht plausibel machen lässt. Auch die Bestrebungen, dieses Prinzip als eine ursprüngliche Lebenskraft oder, mit Blumenbach, als Bildungstrieb zu begreifen, sind seines Erachtens zum Scheitern verurteilt, wird doch bei vitalistischen Vermögen dieser Art das Verständnis von organischer Natur immer schon vorausgesetzt. Schelling stellt von daher die These auf, das erste Prinzip könne nur in einem Dritten bestehen, einem Dritten, das zwischen Mechanischem und Organischem oszilliere. Dieses nennt er „Organisation“. Und diese ihrerseits charakterisiert er bald, in sichtlicher Anlehnung an Schillers ästhetischen Trieb, als „freyes Spiel von Kräften“, bald, unter ausdrücklicher Berufung auf Goethes Idee der Naturmetamorphose, als „Individualisierung“ der Materie. Schließlich wird die besagte Organisation auch als „gemeinschaftliche Seele der Natur“ oder kurz „Weltseele“ bezeichnet. Schelling will damit einen Gedanken, den die älteste Philosophie ausgesprochen hatte, erneut zur Geltung bringen. Wie die Herausgeber im „Editorischen Bericht“ des Bandes konstatieren, gibt es zahlreiche ältere und neuere Quellen, welche Schelling bei seiner Wiederaufnahme des Gedankens der Weltseele – welcher in der älteren Philosophie spätestens dort greifbar wird, wo das Eine in der Auffassung der Ein-Allesheit nicht mehr als emanierendes, sondern als formendes, bildendes Prinzip angenommen wird – beeinflusst haben dürften. Im Blick auf die ältere Philosophie werden Anaxagoras, Straton, die Stoiker einerseits, der Platon des „Timaios“ und die Neuplatoniker, besonders Cusanus andererseits genannt. (Man hätte auch auf Heraklit hinweisen können). Unter den neueren Anregern finden Bruno, Spinoza und einige Autoren, die sich nach den Attacken Wolffs und Jacobis auf Spinoza dem Lager des Pantheismus zurechnen lassen, unter Schellings Zeitgenossen besonders Maimon, Reinhold, Franz von Baader und Novalis Erwähnung. Durch Maimons und Reinholds Beiträge zu Fragen der rationalen und empirischen Psychologie kommt seit Anfang der 90er Jahre gerade auch der Terminus „Weltseele“ („anima mundi“) stark in Umlauf. Wie die Recherchen der Herausgeber erbracht haben, ist auch Neuerscheinungen Ploucquets Dissertation „De hylozoismo“ aus dem Jahre 1764 als wichtiger Hintergrund für Schellings Zuwendung zur Weltseele-Thematik in Betracht zu ziehen. In diesem Zusammenhang wären vielleicht auch einige Überlegungen zur Frage angebracht gewesen, wo Schellings Verständnis von Weltseele vor dem Hintergrund des genannten Geflechtes möglicher Quellen zu verorten ist. Aufgrund seiner später in aller Deutlichkeit geäußerten Ansicht, die Einheit von Einheit und Allesheit schließe die qualitative Differenz beider nicht aus, sowie aufgrund seines Diktums, die Weltseele manifestiere sich überall und nirgendwo und könne deshalb letztlich nicht mehr als räumliche Bestimmung verstanden werden, liegt es nahe, dass Schelling hinsichtlich des Verhältnisses von Seele und Materie an einen durch die neuplatonische Auffassung des Einen geprägten Weltseelebegriff anknüpft. Die Weltseele ist aus der Sicht Schellings offenkundig das Eine, das die Vielheit der Materie enthält, sie durchdringt, aber nicht die Vielheit der Materie selbst ist. Eine Weltseele, die nach stoizistischer Auffassung als eine Form von feiner Materie (Licht, Luft, Feuer usw.) aufgefasst wird, bleibt hinter dieser Vorstellung zurück. In bezug auf das Verhältnis von Gott und Natur ergibt sich dagegen für Schelling durchaus ein direkter Bezug zum stoizistischen Begriff der Weltseele. Wie die Stoiker eliminiert gleichfalls Schelling die aristotelische Trennung von Substanz bzw. Gott und Weltseele. Die Weltseele wird nicht nur als das der Natur immanente, sondern auch eigens als das höchste, göttliche Prinzip aufgefasst. Schelling vertritt damit nichts anderes als einen entschiedenen WeltseelePantheismus, und dies zu einer Zeit, in welcher der alles andere als harmlose Vorwurf des Pantheismus=Atheismus einen neuen Höhepunkt erreicht. In bezug auf die neueren Einlassungen zum Thema der Weltseele ist ersichtlich, dass Schelling weder den moralischpraktischen Weltseele-Begriff, der nach Kants kritizistischem Bruch übrig bleibt, noch Reinholds Wiederentdeckung der Weltseele im Begriff des Vorstellungsvermögens gutheißen kann. Schelling sieht sich vielmehr als Erneuerer des traditionellen metaphysischen WeltseeleBegriffs Brunos und Spinozas. Dabei hindert die Tatsache, dass Kant die Einheit von mechanischer und organischer Natur zwar nicht als Ungedanke, aber doch als eine wenig sinnvolle Idee bzw. Hypothese der Naturphilosophie betrachtet, Schelling nicht daran, seinem Weltseele-Begriff am Ende auch einen Kantischen Geist einzuhauchen. Mit der Konstruktion der Natur aus einem über Mechanismus und Organismus stehenden Prinzip sieht sich Schelling offenbar auch als Realisator eines Vorhabens, das sich aus Kants dritter Kritik herauslesen lässt. Dass Schellings Weltseele-Schrift nun endlich in einer soliden, die Fassung von 1798 mit den Varianten der Ausgaben von 1806 und 1809 ergänzenden und mit den nötigen textkritischen Anmerkungen versehenen Form vorliegt, ist erfreulich. Die sorgfältige und aufwendige Arbeit der Herausgeber verdient großes Lob. Lediglich zwei Neuerscheinungen kritische Bemerkungen zur Editionspraxis drängen sich auf. Der Band enthält einen mehr als 150 Seiten langen Teil mit „Erklärenden Anmerkungen“. Dabei werden auch zu vielen Stellen, die einer Sachanmerkung nicht zwingend bedürfen, vergleichende Zitate bestimmter Autoren angeführt. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Teil eine wichtige Hilfe ist für alle, die sich künftig mit Schellings früher Naturphilosophie auseinandersetzen wollen. Dennoch muss man sich fragen, ob mit diesem Vorgehen die Aufgabe, die eine Edition generell zu erfüllen hat, nicht überschritten wird. Als Leser eines Bandes der SchellingWerke fragt man sich zudem, weshalb die nur drei Zeilen lange und inhaltlich unergiebige „Vorrede zur Übersetzung“ aufgenommen wurde. Wäre dafür nicht ein Band mit Schelling-Dokumenten der geeignetere Ort gewesen? Martin Bondeli Bettina Schmitz Die Unterwelt bewegen. Politik, Psychoanalyse und Kunst in der Philosophie Julia Kristevas, Aachen 2000 (ein-FACH-vlg), brosch., 240 S., 34.80 DM. Der Name Julia Kristeva ist auch im Bereich der Philosophie geläufig, ihre Bücher jedoch scheinen die wenigsten gelesen zu haben. So könnte man etwas plakativ die Erfahrung beschreiben, die man immer wieder bei der Erwähnung des Namens der Wissenschaftlerin, Psychoanalytikerin, Schriftstellerin und Philosophin Julia Kristeva macht. Dabei ist die in Bulgarien geborene und in Frankreich lebende Kristeva eine der wichtigsten und produktivsten Vertreterinnen des französischen Strukturalismus. Es mag an der Vielseitigkeit ihres Werkes oder an der Komplexität ihrer Texte liegen, Tatsache ist, dass sie innerhalb der deutschen Akademie außer von einigen gewagten Germanisten viel zu wenig rezipiert wird. Desto erfreulicher ist, dass die in Würzburg lehrende Philosophin Bettina Schmitz ihre zweite Studie zu Kristeva veröffentlicht hat. Während Schmitz in ihrer ersten Veröffentlichung unter dem Titel: Arbeit an den Grenzen der Sprache. Julia Kristeva (Königstein/Ts. 1998) das Werk von Julia Kristeva und dessen Entstehung sehr akribisch im Rahmen seiner intellektuellen Umgebung untersucht und kontextualisiert, geht sie in diesem Buch Die Unterwelt bewegen. Politik, Psychoanalyse und Kunst in der Philosophie Julia Kristevas dem politischen Verständnis von Kristeva nach. Ein Verständnis, das, so Schmitz, „sich über das Erleben des Einzelnen, über ihre Gefühle und Phantasien definiert“ (7). Gar kein leichtes Unterfangen, wenn man bedenkt, wie eine „Politik des Individuellen“ – so die Definition Schmitz’ in Anlehnung an Kelly Olivers Beschreibung – unserer geläufigen Auffassung von Politik widerstrebt. Wohl gemerkt, dass diese geläufige Auffassung gerade in ihrer Unmittelbarkeit immer wieder eine Erklärung schuldig bleibt. Denn gerade im Zeitalter der Globalisierung scheint es schwieriger denn je, einem Bereich des Politischen, in den nicht sogleich das Marktwirtschaftliche und das Soziale hineinfließen, Neuerscheinungen Konturen zu verleihen. Und doch verspricht die Lektüre Schmitz’ in ihrem Vorgehen einige produktive Ergebnisse. Zwei Begriffe dienen als Säulen, die ihr Unternehmen stützen: Der Begriff der Revolution und der Begriff der Revolte. Diese beide Begriffe markieren auch Kristevas eigene Entwicklung in Annäherung an das Phänomen des Politischen, das nach wie vor an den eigenen Prozeß des Subjektwerdens gefesselt zu sein scheint. So führt uns Schmitz souverän durch das komplexe Denken und die nicht minder komplexe Begrifflichkeit Kristevas und zeigt uns, wo die Meilensteine ihrer Auffassung von Politik liegen. Diese Führung findet in Kristevas Hauptwerk Die Revolution der poetischen Sprache ihren ständigen Referenzpunkt, den Schmitz in ihrer Lektüre zerlegt und in verschiedenen Schritten, immer um die Frage nach dem Politischen kreisend, präsentiert. Dabei verzichtet sie auf den inzwischen üblich akademischen Ton sowie auf ausführliche Anmerkungen, die die Lektüre eines Buches öfters unnötigerweise verlangsamen. So lesen wir das Buch von Schmitz, als ob sie uns Leser als Gesprächpartner in ihren Reflexionen über die Möglichkeiten sowie über die Mängel in Kristevas Konzeption von Politik ausgewählt hätte. Die ersten vier Kapitel des Buches stellen so keine systematische Darstellung von Kristevas Theorie in engeren Sinne dar; sie sind eher der Versuch, die Logik ihrer Theorie aus der Sicht verschiedener Perspektiven auszulegen. Diese Perspektiven werden mit Hilfe von Begriffe gewonnen, die für Kriste- vas Denken zentral sind. Aber auch frühere Texte werden von Schmitz beachtet, so dass schließlich aus den Spuren des Politischen bei Kristeva dessen gesamten Entwicklung zum Vorschein kommt. Die Frage, die sich im Laufe der Lektüre immer wieder herauskristallisiert, ist die nach den realen Möglichkeiten einer „Politik des Individuellen“. Ist es überhaupt möglich, dass mein eigener Prozess des Subjektwerdens – Voraussetzung für meine Teilnahme an dem Bereich des Symbolischen – sowie meine eigene Ausarbeitung von Gefühlen und Trieben so in Einklang mit den verschiedenen Momenten des Prozessen und der Ausarbeitung eines Anderen kommt, dass wir von einer gemeinsamen politischen Handlung ausgehen können? Eine spontane Skepsis scheint hier angebracht, und Schmitz Position schöpft aus ihr auch Nutzen, auch wenn man ab und zu das Gefühl hat, dass sie Kristeva auch dort ein wenig in Schutz nimmt, wo sie ihr Denken etwas mehr hätte strapazieren können. Gerade im letzten Kapitel, in dem sie Kristevas Wendung vom Begriff der Revolution zum Begriff der Revolte herausarbeitet, verdeutlicht Schmitz, wie wenig Kristeva trotz der Akzentverschiebung – sie würde bei dem Begriff der Revolte nicht mehr so sehr die sprachliche Problematik, sondern eher eine psychische bearbeiten – an den entscheidenden Punkten ihre ursprünglichen Überlegungen verändern möchte. So zeigt Schmitz, wie die Theorie der Transpositionalität, die Kristeva in Die Revolution der poetischen Sprache entfaltet hat – eine komplexe Theorie, die in Anleh- Neuerscheinungen nung an linguistische, poetische und psychoanalytische Überlegungen herausarbeitet, wie der Mensch zu einem Sprachwesen wird, und wie dabei „Körperliches und bereits vorhandene gesellschaftliche sowie sich bildende psychische Strukturen aufeinandertreffen“ (181) durch eine intensivere Ausarbeitung psychischer Aspekte, die wiederum mit denjenigen Grenzen zu tun haben, die wir als sprechende und soziale Wesen, die aber auch Triebe und Gefühle haben, erleben –, zum Begriff der Subversion und dem der Revolte kommt. Diese Entwicklung spricht eher für ein Insistieren auf dem individuellen Charakter der Veränderungen, die, so Kristeva, absolute Voraussetzung sind, um auch gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Wie und warum die Revolte, im Prinzip als subjektiver Vorgang verstanden, sich so besonders produktiv gerade bei der Ausarbeitung gesellschaftlichen Verhältnisse erweist, wird schwer verständlich. Schmitz ist sich dieser Problematik bewusst und bemerkt immer wieder, dass Intersubjektivität in Kristevas Modell kaum Platz findet. Sie erklärt zwar, wie bei Kristevas Auffassung politischer Praxis ein Moment der „Mikrosubjektivität“ zu finden ist, das eher aus der „Zweiersituation von Analytikerin und Analysand oder Analysandin“ entnommen ist (186187); aber das Problem der Verbindung zwischen den individuellen und den gesellschaftlichen Veränderungen bleibt weiterhin offen. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man Kristeva als eine Denkerin betrachtet, die, wie die Autorin betont, immer wieder Möglichkeiten der Vermittlung sucht (35). Schmitz deutet an, wie die Intersubjektivität einer solchen politischen Praxis konkret aussehen könnte. Ein Beispiel dafür sei die Praxis des Affidamento, die von den Feministinnen der Diotima-Gruppe vorgeschlagen wurde; aber auch bei dieser Praxis haben wir es nur mit einem Modell der Zweierbeziehung zu tun, wie die Autorin selber bemerkt. Es wiederholt sich daher die Frage, ob man nicht mit einem anderen Begriff von Politik operieren sollte, um überhaupt Kristevas Theorie als solche zu verstehen. So scheint auch Arendts Auffassung vom politischen Handeln, die Schmitz in Hintergrund immer wieder betrachtet, eher hinderlich als hilfreich zu sein, um Kristeva hinsichtlich einer politischen Theorie zu lesen, wenngleich die Sprache und der Vorgang des Erzählens eine zentrale Rolle bei den theoretischen Arbeiten beider Autorinnen spielen. Die Untersuchung über Kristevas Politik des Individuellen vervollständig Schmitz mit einem Kapitel, in dem sie auf ihre Auseinandersetzung mit dem Feminismus eingeht. Kristevas Äußerungen über das Weibliche, ihre Arbeiten über den Begriff der Mutter sowie ihre grundsätzliche Ablehnung des Feminismus haben aus ihr eine sehr häufig kritisierte Autorin im Bereich der Feministischen Theorie gemacht. Schmitz fasst Kristevas Position sowie die Kontroverse, die sie hervorgerufen hat, zusammen. Hier finden wir die Schmitz, die wir aus anderen Texten kennen: klar, sachlich und nüchtern in der Darstellung und immer die verschiedensten Positionen und Einwände beachtend. Neuerscheinungen Sehr hilfreich für die Lektüre ist das Glossar, das viele von den im Text immer wiederkehrenden Begriffen einzeln erklärt. Der Band wird schließlich ergänzt durch einen Briefwechsel der Autorin mit der Malerin und Psychoanalytikerin Ingrid Buchfeld, die übrigens auch das schöne Umschlagbild entworfen hat. In diesem Briefwechsel, der den Titel Sehnsucht nach einem anderen Ort oder Der unmögliche Wunsch, trägt, finden wir auch Kristevas Denken mit einer sehr poetischen Ader ausgesprochen. Ein rundum schönes Buch und eine gute Art, mit Kristevas Denken in Berührung zu kommen. María Isabell Peña Aguado Hans-Martin Schönherr-Mann Das Mosaik des Verstehens. Skizzen zu einer negativen Hermeneutik, München 2000 (edition fatal), book on demand, 17.60 DM. „Ein Buch für viele nicht“ – schlägt man das jüngste Produkt aus der Werkstatt des am GeschwisterScholl-Institut lehrenden Münchner Philosophen Hans-Martin Schönherr-Mann auf, springt einem gleich auf der ersten Seite diese Warnung entgegen. Nicht von ungefähr erinnert sie an Nietzsche, einen der großen Zertrümmerer der Metaphysik, dessen Zarathustra ausdrücklich „ein Buch für alle und keinen“ sein wollte. Vorsicht ist also geboten, die in Aussicht gestellte Exklusivität der Lektüre zugleich ein Quell der Verunsicherung: Ist man selbst der Lektüre gewachsen; gehört man zu den wenigen, für die dieses Büchlein ge- schrieben ist, zu den wenigen, die ... verstehen? Um das „Verstehen“ bzw. um das „Verstehen des Verstehens“ – die traditionelle Aufgabe der philosophischen Hermeneutik – geht es in dieser knapp 100 Seiten umfassenden Textsammlung, die 66 einschlägige philosophische Fragmente zu einem bunten „Mosaik des Verstehens“ bündelt und auch darin, im fragmentarisch-aphoristischen Duktus des Philosophierens, dem Vorbild Nietzsches folgt. Der Untertitel klärt auf und verdunkelt zugleich, wohin die intellektuelle Reise geht: Vorgelegt werden „Skizzen zu einer negativen Hermeneutik“. Skizzen sind Zeichnungen eher denn Analysen, im besten Falle aufmerksame Beobachtungen, feinfühlig beschreibende Erkundungen mit Einsichtscharakter, der Kunst verwandt, wo sie als Vorstudien Verwendung finden, auf die in der Regel der große Wurf – das Bild, die Skulptur, die Inszenierung – folgt. Den großen Wurf, sprich eine zum System verdichtete Theorie der negativen Hermeneutik wird es – aller Voraussicht nach – nicht geben. Weil es sie nicht geben kann, weil Philosophieren nach und in der Tradition Nietzsches für den Verfasser bedeutet, jeden universalistischen Wahrheitsanspruch fahren zu lassen und auf den großen Wurf zugunsten der kleinen Form, des Essays, des Aphorismus zu verzichten. Dies gilt ganz besonders für eine „negative Hermeneutik“, die gegen den philosophischen Mainstream Differenz und Nichtverstehen als Fundamente und Horizont jeglichen Verstehens behauptet und nicht in der gelingenden Verständigung, im Neuerscheinungen Konsens, sondern im (gemeinsamen) Erleben der Differenz(-en) das Ethos des Verstehens verankert. Schon aus ‚ästhetischen’ Gründen ist sie gehalten, den mannigfachen Erfahrungen und Erfahrungsweisen der Differenz auch durch die Art der Darstellung Rechnung zu tragen. Differenzen lassen sich eben nur um den Preis ihrer Aufhebung ins System – der Philosophie, der Familie, der Liebe, des Sexes – integrieren. Will man sie respektieren, darf man sie nicht zwanghaft in die Einheit eines Prinzips versammeln, nur um sie anschließend aus dieser Einheit heraus erklären zu können. Differenzen – so das methodische wie ethische Credo des Verfassers – sind anzuerkennen, zu beschreiben und auszuhalten, nicht aber (systemisch oder dialektisch) aufzuheben. Darin unterscheidet sich die negative Hermeneutik Schönherr-Manns von der negativen Dialektik Adornos, der gegen alle Erfahrung an der (theoretischen) Möglichkeit und (praktischen) Wünschbarkeit der Versöhnung, an der prinzipiellen Identität von Identität und Differenz festhält. In kurzen, oftmals nur eine halbe Seite langen und durchweg sehr persönlich gefärbten Texten nähert sich Schönherr-Mann seinem Thema. Eine Ordnung ist nicht erkennbar und aus den oben genannten Gründen wohl auch nicht beabsichtigt. Gemäß der Überzeugung, daß das Nichtverstehen in den Falten des Verstehens siedelt, wendet sich der Verfasser insbesondere solchen Phänomen zu, die nach herkömmlichem „Verständnis“ Verstehen intendieren, voraussetzen, implizieren, ermöglichen, die aber, recht eigent- lich besehen, doch nur die Kraft und Gewalt des Nichtverstehens bezeugen: der Begegnung, dem Gespräch und der Sprache, der Freundschaft, der Liebe, der Zärtlichkeit und dem Sex, der Anderen, der Familie, Gott und der Religion. So wenig es eine „wirkliche“ Begegnung zwischen zwei Menschen gibt ohne die Anerkennung der gegenseitigen Differenz, so wenig gibt es Liebe, Sex, Zärtlichkeit, Freundschaft, mit anderen Worten: ein Verstehen „der Anderen“, das nicht zugleich ein Nichtverstehen wäre. Weil verstehen immer bedeutet, „etwas Anderes verstehen“ (16), ist „die Bedingung jeglichen Verstehens das Nichtverstehen“ (17). Das Nichtverstehen wurzelt „am Grunde des Verstehens“, und es stellt zugleich dessen unverrückbaren Horizont dar: Erst wenn wir nichtverstanden haben, wenn wir uns der unüberbrückbaren Differenzen bewußt geworden sind, die uns von uns selbst, unseren Repräsentationen und von den anderen trennen, haben wir verstanden, sind wir uns begegnet, vermögen wir – trotz allem – zu lieben und zu genießen, zu hassen und zu verwünschen. Der Wunsch nach Übereinstimmung, nach grenzenloser Hin- und (Selbst)Aufgabe, Erfüllung, Verschmelzung, das Sehnen nach Identität, markiert demgegenüber nicht Anfang und Ziel, sondern das Ende jeglichen Verstehens. Wo das Gesetz der Einheit waltet, wo Konsens und Universalität regieren, haben die Differenzen ausgespielt, kann es weder Begegnung noch Verstehen geben, jedenfalls nicht im Sinne der negativen Hermeneutik. Im Spiel der Liebenden – so Schönherr- Neuerscheinungen Mann – entfalte sich diese antihegelianische Dialektik des Verstehens in ihrer größten Komplexität, zugleich aber auch in ihrer größten Schwierigkeit: So wenig zur Liebe die Erfüllung gehört, „die ihr Tod ist“ (23), so sehr bedarf sie „ihre(r) Verhinderung und Beeinträchtigung, ihre(r) Gefährdung und ihre(r) Störung“ (ebd.), um jene Spannung zu erzeugen, der sie ihre Lebens- und Liebeskraft verdankt. „Liebe realisiert sich ob ihrer Beschränkung“ und nicht trotz! „Lieben heißt verstehen in seiner vollen Komplexität und Differentialität, heißt somit primär Nichtverstehen.“ (25) Gleiches gilt selbstverständlich auch für das Gespräch unter Freunden, den Sex und den Glauben an Gott. Weil wir uns – auch als Liebende, Freunde oder Sexualpartner, als Betende und Bittende, verzweifelt Hassende und sehnsuchtsvoll Hoffende – verfehlen, permanent miß- und nichtverstehen, weil wir nicht zueinander finden, weder im Guten noch im Bösen, bleiben wir einander zugeordnet, können wir miteinander auf nicht-banale Art und Weise kommunizieren. Die ethischen Konsequenzen einer solchen Argumentation liegen auf der Hand: Will man Menschen begegnen, „wahrhaft“ begegnen, will man „der Anderen in ihrer absoluten Andersheit“ (11) gewahr und gerecht werden – und um nichts anderes geht es letztlich in diesem Buch: um Kunst und Geheimnis der ‚wahren’ Begegnung –, muß man das Trennende suchen, fördern, unterstützen, verbreiten, es stark machen gegen die ‚Gemeinde’; von ihr zuallerst gelte es sich – so der keineswegs allgemeingültige Rat des Verfassers – fernzuhalten, und sei es um den Preis, von eben dieser Gemeinde als Egoist (oder Schlimmeres) beschimpft (und ausgegrenzt) zu werden. Gemeinschaft vermag keine wirkliche Begegnung mit anderen Menschen zu stiften, in der Menge ist jeder einsam – und bleibt es. Wahre Begegnung setzt die Kraft zur selbstgewählten Isolation voraus – und zwei, die sich in diese Begegnung teilen, ohne die Andere überwältigen oder beherrschen zu wollen: „Möchte man jemandem begegnen, dann will man nicht dessen, deren Leben ändern, nicht bereiten, nicht vorprägen, nicht missionieren. Man will davon hören, es sehen, es spüren, es sein lassen, wie es ist.“ (12) Dieses Credo könnte einen wunderbaren kategorischen Imperativ abgeben, wäre nicht die Zeit für kategorische Imperative endgültig vorbei. So stellt es nicht mehr als eine unverbindliche Empfehlung dar: für alle, die sich davon angesprochen fühlen. „Das Mosaik des Verstehens“ ist in der Tat „(ein) Buch für viele nicht“; dieses aber auf eine so charmante und gesprächige Weise, die es dem Rezensenten zur lieben Pflicht werden läßt, es den wenigen wärmstens ebenso zu empfehlen wie jenen ambitionierten Münchner Verlag, der es herausgebracht hat. Die „edition fatal“ ist – dieser Hinweis sei mir an dieser Stelle erlaubt – nach eigenem Bekunden ein nicht kommerziell orientiertes Unternehmen, das originellen und kritischen Arbeiten aus dem Bereich der Gesellschaft-, Geistes- und Kulturwissenschaften ein Forum bieten will und zu diesem Zweck nicht nur auf die Veröffentlichung Neuerscheinungen lichung ihres Programms im Internet sowie auf CD-Edition setzt, sondern vor allem auf eine Technologie („Books on Demand“), die es erlaubt, auch kleinste Auflagen in hoher Qualität kostengünstig zu realisieren. Angesichts der vorliegenden Publikationen darf man auf Zukünftiges gespannt sein! Bernd Mayerhofer Joachim Schulte, Uwe Justus Wenzel (Hg.) Was ist ein philosophisches Problem? Frankfurt/Main 2001 (Fischer), 216 S, 29,14 DM. Mit dieser Frage setzen sich in dem Sammelband 15 AutorInnen auseinander, fast alle (emeritierte) ProfessorInnen für Philosophie. Ihre Antworten sind keine Versuche, philosophische Probleme zu definieren, sondern Versuche einzukreisen, was unter philosophieren verstanden werden kann. Dabei befassen sich die AutorInnen mit dem „Handwerk“ Philosophie und stellen Verfahrensweisen der Disziplin (etwa Begriffsanalyse) sowie Philosophiekonzeptionen vor. Auch die Unterschiede zwischen einer philosophischen und einer (fach)wissenschaftlichen Behandlung eines Gegenstands werden erörtert. Neben dieser Abgrenzung der Philosophie als akademischer Profession sind einige der Beiträge dem Thema gewidmet, wie sich philosophische Fragestellungen zur Lebenspraxis, zu Mythen oder Gewissheiten des Alltags verhalten. Anhand des Verhältnisses zwischen Literatur und Philosophie betrachtet beispielsweise Christoph Menke den Vorwurf, „die Philosophie betreibe eine in ihren Konsequenzen gefährliche Infragestellung sozialer Praktiken“ (124). Er argumentiert, Philosophie sei keine „gewaltsame Infragestellung und Unterbrechung einer funktionierenden Praxis von außen“, sondern setze dort an, wo die Praktiken tragenden Überzeugungen „selbst schon in Probleme, in irritierende Unbestimmtheiten oder Gegensätzlichkeiten geraten sind“ (125). Die Beschäftigung mit Grundlagen von Wissen und Verstehen, das Wissen um die Grenzen philosophischer Verfahren kann philosophische Problemlösungen davor bewahren, „in Positionen zu enden, denen eine umfassende Wahrheitsfähigkeit durchaus nicht wird zugeschrieben werden können“ , formuliert Dieter Henrich in seinem Beitrag „Das eine Problem, sich Problem zu sein“ das Streben um die Klärung der Grundlagen menschlichen Lebens (99). Die Darstellung, in wie weit philosophische Probleme Fragestellungen aus der Lebenspraxis aufgreifen, dürfte den Sammelband für philosophisch interessierte Laien interessant machen. Die Mehrzahl der Beiträge, die einem philosophischen Schnelldurchlauf gleichkommen (Dieter Henrich), bringt in dieser Hinsicht auch erhellende Klarstellungen. Daher lassen sich die drei sehr schnell hingeschrieben wirkenden Kurztexte von Richard Rorty (Im Dienst der Welterschließung), Georg Meggle (Meine philosophischen Probleme und ich) sowie Martha Nußbaum (Arbeit an der Kultur der Vernunft) durchaus verdrängen. Jadwiga Adamiak Neuerscheinungen Clemens K. Stepina Handlung als Prinzip der Moderne, Studien zu Aristoteles, Hegel und Marx, Wien 2000 (Passagen), br., 135 S., 39.10 DM. Das Buch enthält vier bereits veröffentlichte Aufsätze; der Essay über die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ wurde in dieser Zeitschrift, der Nr. 32 des Widerspruch, erstmals abgedruckt. Der erste Aufsatz beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Praxis und Poiesis bei Artistoteles, bei dem sich Handeln unter den Bedingungen einer Sklavenhaltergesellschaft in selbstbestimmtes, „ethisches“ Verhalten (Praxis) und fremdbestimmte, „niedrige“ Arbeit (Poiesis) ausdifferenziert. Künstlerisches Schaffen, als hervorbringendes Handeln eigentlich der Poiesis zugeordnet, läßt sich in dieser Gesellschaft nur als Legitimation der Herrschaft zur Praxis „adeln“ und verliert so die Freiheit der Darstellung. Der zweite Teil legt dar, wie der frühe Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten Hegel „vom Kopf auf die Füße stellt“, dessen bürgrliche Deutung des Herr-KnechtVerhältnisses im folgenden Abschnitt ausgeleuchtet wird. Im letzten Teil über „zeitgenössische Handlungsphilosophie“ werden verschiedene (dogmatische) Richtungen marxistischer Philosophie und die kritische Theorie, speziell in ihrer „modernen“ Form der Theorie kommunikativen Handelns, vorgestellt und kritisiert. Im Ergebnis wird festgehalten, daß keine existie- rende Theorie das Gewaltverhältnis von Herrschaft und Knechtschaft theoretisch aufzulösen imstande ist. Percy Turtur Dieter Sturma (Hrsg.) Person. Philosophiegeschichte — Theoretische Philosophie Praktische Philosophie, Paderborn 2001 (mentis), br., 463 S., 98.- DM. Die umfangreiche, dreigeteilte Aufsatzsammlung beginnt mit Beiträgen zum Begriff "Person" im Wandel der Zeiten, z.B. dem von Annemarie Pieper zur Existenzphilosophie. Die folgenden Aufsätze behandeln Theorien zur Person und personalen Identität, z.B. der Beitrag von Martine Nida-Rümelin zur zeitlichen Kontinuität, der sich für eine "realistische" Betrachtung stark macht, und der Aufsatz von Dieter Bimbacher zum Problem der Grenzziehung des Begriffs "Person" zwischen Tier und Maschine. Im praktischen Teil geht es schließlich um ethische Implikationen des Begriffs "Person", etwa in dem Aufsatz von Dieter Sturma zu den Menschenrechten, die an den theoretischen Begriff des Subjekts gekoppelt sind, dem Beitrag von Barbara Merker, die eine "Ethik der Unvollkommenheit" entwirft, und dem Aufsatz von Ludwig Siep zur biomedizinischen Ethik. Der umfangreiche Band bildet ein ausführliches Kompendium aktueller Diskussionen zum Thema "Per- Neuerscheinungen son" mit Schwerpunkt auf analytischer Philosophie. Percy Turtur Rainer E. Zimmermann Die Rekonstruktion von Raum, Zeit und Materie Frankfurt/Main 1998 (Peter Lang), geb., 313 S., 89.- DM. Der Titel des teilweise recht anspruchsvollen Buches erinnert an das fundamentale Werk des Mathematikers Hermann Weyl (18851955) Raum, Zeit, Materie (1918), den Zimmermann auch erwähnt. In der Einleitung (‚Aspekte des Rekonstruktionsbegriffs’) werden die Grundbegriffe, Intentionen und der Aufbau der Studie erläutert. Im ersten Teil befaßt sich der Autor – im Anschluß an R. Penrose – mit der „physikalischen Binnenperspektive“, im zweiten mit dem „philosophischen Ansatz“ und im dritten mit „Wissenschaftstheoretischen Aspekten der Rekonstruktion“. Ein stattliches Literaturverzeichnis und ein Personenregister bilden den Abschluß. Der zweite, bei weitem umfangreichste Teil ist der Naturphilosophie Schellings gewidmet, die als Paradigma erscheint und in der „Freiheit als letztem Grund der Evolution“ wurzelt. Andere Kapitel befassen sich mit der Selbstorganisation der Natur, der „Tübinger Axiomatik“, dem Spätwerk Schellings, der Schelling-Rezeption bei E. Bloch sowie mit Zeit und Zeitlichkeit. Im dritten Teil erörtert Zimmermann unter anderem „Status und Horizont großer, vereinheitlichender Theorien von allem (TOEs).“ Damit schließt sich der weite thematische Kreis von einem oft vernachlässigten Zweig der idealistischen Naturphilosophie des Neunzehnten zu nicht weniger ambitiösen, wenn auch vielleicht realistischeren, naturwissenschaftlichen Vorhaben des Zwanzigsten Jahrhunderts. Die Probleme eines so umfassenden Vorhabens liegen auf der Hand: Zu den äußerst schwierigen, in der Sache begründeten physikalischen Problemen: Was ist Raum? Was ist Zeit? Was ist Materie? gesellen sich nicht geringere historische, philosophische und methodische Fragen wie der Vergleichbarkeit, Erkennbarkeit und terminologischen Faßbarkeit, ganz abgesehen von der brisanten RekonstruktionsProblematik. Zimmermann hat sich redlich bemüht, all diese Hürden zu nehmen und dabei offensichtlich ganz plausible Ergebnisse erzielt, so wenn er der mit Einsteins Relativitätstheorien verbundenen Geometrisierung der physikalischen Welt eine „Dynamisierung der Geometrie“ zur Seite stellt (49) und von einer „zweiten Geometrisierung“ der Welt durch R. Penrose spricht. Ob das von I. Kant erörterte Problem des Weltanfangs tatsächlich als „durch die Twistortheorie von Penrose bewältigt“ (59) angesehen werden kann, erscheint allerdings fraglich. Überzeugender ist der Hinweis auf die neue Aktualität von Schellings Freiheitsgedanken (65), allerdings unter Verzicht auf dessen idealistische Metaphysik, was sich besonders in Schellings Auffassung des Lichts zeigt (219 f.), die heute nicht mehr aus dem Reich des Idealen, sondern aus dem Bereich der Neuerscheinungen Materie abgeleitet wird. Man wird dem Autor wohl oder übel zustimmen müssen, wenn er konstatiert: „Natürlich ist das Unbefriedigende an all diesen gegenwärtig gängigen Ansätzen, die auf eine künftige ‚Theorie von allem’ abzielen, daß sie in Wahrheit keine sind. Sie zielen bestenfalls auf Theorien aller Physik, aber nicht auf wirkliche Theorien von allem.“ (284) Ob man Z.s terminologischen, ein wenig exotisch wirkenden Vorschlägen, wie: „Metapherisierung“ der Welt, „Denklinienkonsistenz“ beim Rückgriff auf historische Konzepte der Philosophie, die auf einer „Linie“ liegen, oder „Insichtnahme“ anstelle von Sichtung folgen wird, bleibt abzuwarten. Ernst Sandvoss In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 138-139 AutorenInnenverzeichnis AutorInnen JADWIGA ADAMIAK, Journalistin, München ROGER BEHRENS, M.A., Lehrbeauftragter am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg ASTRID DEUBER-MANKOWSKY, Wiss. Assistentin am Kulturwissenschaftlichen Seminar, HumboldtUniversität Berlin, Mitherausgeberin der Zeitschrift „die Philosophin“ RICHARD FABER, Dr. phil. habil., Privatdozent, Soziologe, Freie Universität, Berlin ULRICH VAN DER HEYDEN, Dr. phil., Dr. rer. pol., Kolonialhistoriker und Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie, FU Berlin REINHARD JELLEN, Student der Philosophie, München GEORGIOS KARAGEORGOUDIS, Jurist, wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Philosophie (Lehrstuhl I), München IGNAZ KNIPS, Lehrbeauftragter der Uni Köln, Abt. Internationale Beziehungen, Köln MANUEL KNOLL, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaften der LMU und der Hochschule für Politik, München GEORG KOCH, M.A., Antiquar und freier Autor, München DANIEL KROCHMALNIK, Dr. phil., Prof., Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg KONRAD LOTTER, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Institut für allg. und vergleichende Literaturwissenschaft der Uni München BERND MAYERHOFER, M.A., Lehrbeauftragter am GSI der Universität München, freier Autor THOMAS MEYER, FRIEDRICH NIEWÖHNER, Dr. phil., Prof., Leiter der Abt. Forschungsförderung der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel ALEXANDER VON PECHMANN, Dr. phil., Lehrbeauftragter der VHS München MARÍA ISABELL PEÑA AGUADO, Dr. phil., Lehrbeauftragte der TU Chemnitz, Gastprofessorin für Philosophie an der Hochschule für Graphik und Buchkunst Leipzig MARIANNE ROSENFELDER, M.A. der politischen Philosophie, freie Journalistin, München MICHAEL RUOFF, Dr. phil., Philosoph und freier Autor, München OLAF SANDERS, Dr. phil., wiss. Assistent am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg MARTIN SCHRAVEN, Dr. phil. habil., Privatdozent für Philosophie, Universität Bremen, Schelling-Forschungsstelle, Ebersberg WERNER STEGMAIER, Dr. phil., Prof., Institut für Philosophie, Universität Greifswald PERCY TURTUR, M.A., freier Autor, München GIUSEPPE VELTRI, Dr. phil., Prof., Direktor des Leopold-Zunz-Zentrums zur Erforschung des europäischen Judentums, Halle-Wittenberg KLAUS WEBER, Dr. phil., Prof. für Psychologie, FH Frankfurt, Gastprofessor für Psychologie, Universität Innsbruck MICHAEL ZANK, Prof., Dr. phil., Assistant Professor of Religion, Boston University, Massachusetts (USA) RAINER R. ZIMMERMANN, Prof., Dr. rer.nat., Dr. phil., Fachbereich Allgemeinwissenschaften, Fachhochschule München GÜNTER ZÖLLER, Prof., Dr. phil., Professor für Philosophie, Ge- schäftsführender Vorstand des Philosophie-Departments, LMU München In: Widerspruch Nr. 37 Jüdisches Denken – Jüdische Philosophie (2001), S. 139 Impressum Impressum Impressum Tel & Fax: (089) 2 72 04 37; e-mail: [email protected] Widerspruch Münchner Zeitschrift für Philosophie 21. Jahrgang (2001) Erscheinungsweise halbjährlich / ca. 1000 Exemplare Herausgeber Münchner Gesellschaft für dialektische Philosophie, Tengstr. 14, 80798 München Redaktion Jadwiga Adamiak, Reinhard Jellen, Manuel Knoll, Georg Koch, Wolfgang Melchior (Internet), Konrad Lotter (verantw.), Alexander v. Pechmann, Martin Schraven, Percy Turtur Verlag Widerspruch Verlag, Tengstr. 14, 80798 München. Gestaltung: Percy Turtur, München ISSN 0722-8104 Preis Einzelheft: 12.- DM Abonnement: 11.- DM ( zzgl. Versand) Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. - Für unaufgeforderte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. – Nachdruck von Beiträgen aus Widerspruch ist nur nach Rücksprache und mit Genehmigung der Redaktion möglich.