Krzysztof Urbański für Thomas Hengelbrock / Hélène Grimaud

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»Der einzige brauchbare Flügel
wird mir verweigert ...
So froh ich nun einesteils bin,
mein Konzert nicht spielen
zu brauchen, so ärgert mich doch
der Grund, weil – er so echt
Hamburgisch ist.«
Johannes Brahms anlässlich der gescheiterten Hamburger Uraufführung
seines 1. Klavierkonzertes (1858)
B1: Do, 12.09.2013, 20 Uhr | A1: So, 15.09.2013, 11 Uhr | Hamburg, Laeiszhalle
Thomas Hengelbrock Dirigent
Hélène Grimaud Klavier
Johannes Brahms Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15
Béla Bartók Konzert für Orchester
DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE
NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Das Konzert am 15.09.2013 wird live
auf NDR Kultur gesendet.
Donnerstag, 12. September 2013, 20 Uhr
Sonntag, 15. September 2013, 11 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle, Großer Saal
Dirigent:
Solistin:
Thomas Hengelbrock
Hélène Grimaud Klavier
Johannes Brahms
(1833 – 1897)
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 d-Moll op. 15
(1854, 1856/57)
I. Maestoso
II. Adagio
III. Rondo. Allegro non troppo
Pause
Béla Bartók
(1881 – 1945)
Konzert für Orchester
(1943)
I.
II.
III.
IV.
V.
Introduzione (Andante non troppo – Allegro vivace)
Giuoco delle coppie (Allegretto scherzando)
Elegia (Andante non troppo)
Intermezzo interrotto (Allegretto)
Finale (Pesante – Presto)
Einführungsveranstaltungen mit Thomas Hengelbrock und Friederike Westerhaus
am 12.09.2013 um 19 Uhr und am 15.09.2013 um 10 Uhr im Großen Saal
der Laeiszhalle.
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NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Thomas Hengelbrock
Hélène Grimaud
Dirigent
Klavier
Thomas Hengelbrock ist seit 2011 Chefdirigent
des NDR Sinfonieorchesters. Spannende Werkkombinationen und besondere Dramaturgiekonzepte prägen seine Konzertprogramme.
Glänzende Tourneen durch Deutschland, Europa
und Japan sowie die Eröffnungskonzerte des
Schleswig-Holstein Musik Festivals 2012 und
2013 haben bundesweit und international ein
großes Echo gefunden. Ende September 2013
steht nun eine Gastspielreise nach Südamerika
mit Stationen u. a. in São Paulo und Buenos
Aires an. Drei viel gelobte CD-Einspielungen
(zuletzt Schuberts Große C-Dur-Sinfonie) dokumentieren die Zusammenarbeit Hengelbrocks
mit dem NDR Sinfonieorchester.
Hélène Grimaud ist nicht nur eine leidenschaftliche Musikerin, die mit ihrem gleichermaßen
poetisch-ausdrucksvollen wie technisch kontrollierten Klavierspiel auf den großen Konzertpodien der Welt begeistert, sondern sie engagiert sich auch für Umwelt- und Artenschutz
sowie Menschenrechte und tritt als Schriftstellerin hervor. Grimaud wurde 1969 in Aix-enProvence geboren und begann ihre Klavierstudien bei Jacqueline Courtin und Pierre Barbizet.
Mit 13 Jahren wurde sie am Conservatoire de
Paris aufgenommen, wo sie drei Jahre später
den 1. Preis im Fach Klavier gewann. Sie setzte
ihre Studien bei György Sándor und Leon
Fleisher fort, bevor sie 1987 ihr viel beachtetes
Debüt-Recital in Tokio gab. Im selben Jahr wurde
sie von Daniel Barenboim zu einem Gastspiel
beim Orchestre de Paris eingeladen. Dies markierte den Beginn einer atemberaubenden
Karriere, die die Pianistin zu den bedeutendsten Orchestern der Welt führte. Grimauds zahlreiche Aufnahmen wurden mit renommierten
Preisen wie dem „Diapason d’or“ oder dem
ECHO ausgezeichnet. Zu ihren Kammermusikpartnern zählen Sol Gabetta, Thomas Quasthoff
oder die Capuçon-Brüder.
In Wilhelmshaven geboren, begann Hengelbrock
seine Karriere als Violinist in Würzburg und
Freiburg. Grundlegende Impulse erhielt er
durch seine Assistenztätigkeiten bei Witold
Lutosławski, Mauricio Kagel und Antal Doráti,
ebenso durch seine Mitwirkung in Nikolaus
Harnoncourts Concentus musicus. Neben frühen Begegnungen mit zeitgenössischer Musik
war Hengelbrock maßgeblich daran beteiligt,
das Musizieren mit Originalinstrumenten in
Deutschland dauerhaft zu etablieren. In den
1990er Jahren gründete er mit dem BalthasarNeumann-Chor und -Ensemble Klangkörper,
die zu den international erfolgreichsten ihrer
Art zählen. Führende Positionen hatte Hengelbrock daneben bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, dem Feldkirch Festival
und an der Wiener Volksoper inne. 2012 wurde
ihm der Praetorius Musikpreis Niedersachsen
verliehen.
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Thomas Hengelbrock ist heute gleichermaßen
als Opern- wie auch als Konzertdirigent international gefragt. Er dirigiert an Opernhäusern
wie der Opéra de Paris, dem Royal Opera House
in London und dem Teatro Real in Madrid. Mit
herausragenden Produktionen ist er im Festspielhaus Baden-Baden zu einem der wichtigsten Protagonisten geworden. Gastdirigate führen
Hengelbrock wiederholt zum Symphonieorchester des BR, zu den Münchner Philharmonikern,
zum Chamber Orchestra of Europe sowie
zum Orchestre de Paris. Mit seinen BalthasarNeumann-Ensembles sorgte er im Januar 2013
mit konzertanten Aufführungen von Wagners
„Parsifal“ auf authentischen Instrumenten für
Aufsehen. Bei den diesjährigen Salzburger Festspielen begeisterte Hengelbrock Publikum und
Presse mit seiner Interpretation von Mozarts
Requiem sowie dem musikalisch-literarischen
A-Capella-Programm „Nachtwache“.
Zwischen ihrem Debüt bei den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado (1995) und
dem New York Philharmonic Orchestra unter
Kurt Masur (1999) konnte Grimaud noch eine
ganz andere Premiere feiern: In New York State
richtete sie ein Zentrum zum Schutz der Wölfe
ein. Darüber hinaus ist sie Mitglied der Organisation „Musicians for Human Rights“ und findet
trotz der zahlreichen Verpflichtungen noch
Zeit zum Schreiben. Ihr erstes Buch „Variations
Sauvages“ wurde 2003 veröffentlicht und in
mehrere Sprachen übersetzt; ihr zweites,
halb-autobiographisches Buch „Leçons particulières“ folgte 2005.
Grimauds jüngste Engagements als Pianistin
führten sie nach Großbritannien, Frankreich,
Italien, Luxemburg, Russland, Brasilien, China,
Japan, in die Schweiz und in die USA. Sie gastierte u. a. bei der Tschechischen Philharmonie,
beim Philharmonia Orchestra, Los Angeles
Philharmonic, Philadelphia und Cleveland
Orchestra oder bei den St. Petersburger Philharmonikern. Die Musik von Johannes Brahms
bildet dabei 2013 einen Schwerpunkt. Ende
September wird Grimauds CD-Einspielung von
dessen Klavierkonzerten mit dem Symphonieorchester des BR und den Wiener Philharmonikern unter Andris Nelsons erscheinen.
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NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Würgen und Wühlen?
Das Klavierkonzert d-Moll von Johannes Brahms
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Johannes Brahms war zeitlebens ein außerordentlich selbstkritischer Meister. Erst im Alter
von 43 Jahren hielt er sich beispielsweise für
reif genug, mit einer Sinfonie an die Öffentlichkeit zu treten. Dabei reichten Entwürfe für ein
solches Orchesterwerk mehr als 20 Jahre zurück.
Und eng mit dieser komplizierten Entstehungsgeschichte seiner Ersten Sinfonie ist auch diejenige seines Ersten Klavierkonzerts verknüpft.
Hamburg kommen – doch auch hier gab es
Probleme: „Der einzige brauchbare Flügel wird
mir verweigert … So froh ich nun einesteils bin,
mein Konzert nicht spielen zu brauchen, absonderlich vor unserm teilnahmslosesten Publikum, so ärgert mich doch der Grund, weil – er
so echt Hamburgisch ist“. Man wich also nach
Hannover aus, wo das Konzert am 22. Januar
1859 mit Brahms am Klavier erstmals erklang.
Alles begann mit einer (heute verschollenen)
d-Moll-Sonate für zwei Klaviere im Jahr 1854.
Nachdem Brahms sie mit Clara Schumann
durchgespielt hatte, befand er: „Eigentlich genügen mir nicht einmal zwei Klaviere.“ Das Werk
verlangte also nach einer orchestralen Ausarbeitung. Brahms versuchte sich nun zunächst
an einer Sinfonie, indem er den 1. Satz der
Sonate instrumentierte. Doch stellte ihn auch
dieses Ergebnis nicht zufrieden: „Von der Instrumentation verstehe ich nicht viel“, schrieb
er seinem Freund Joseph Joachim. Was lag da
näher, in der Besetzung eine Mischform aus
Klaviersonate und Sinfonie zu wählen? „Denken
Sie, was ich die Nacht träumte. Ich hätte meine
verunglückte Symphonie zu meinem Klavierkonzert benutzt und spielte dieses“, teilte
Brahms 1855 der verehrten Clara Schumann
mit. Geträumt, getan! – allerdings mit Verspätung: 1856 entstand der 1. Satz, bis 1857
dann die beiden übrigen Sätze des Konzerts.
Der Kompositionsprozess war dabei von ständigen Zweifeln begleitet. Die fertig gestellten
Teile schickte Brahms jeweils zur kritischen
Durchsicht an Joachim. Schließlich sollte das
Werk am 25. März 1858 zur Aufführung in
Hatte sich das fünfjährige Ringen um die Komposition gelohnt? Erkannte auch das Publikum
den Wert des Konzerts? In Hannover sah es noch
gut aus („Es wurde das Concert sogar durch
Hervorruf des Spielers und Componisten geehrt“), nicht so aber bei der Leipziger Auf führung am 27. Januar: In seiner typisch bitteren
Ironie berichtete Brahms der Freundin Clara
Schumann: „Mein Concert ging sehr gut. Du
weißt wohl schon, dass es vollständig durchgefallen ist. In den Proben durch tiefstes
Schweigen, in der Aufführung (wo sich nicht
3 Leute zum Klatschen bemühten) durch ordentliches Zischen. Mir hat das keinen Eindruck
gemacht.“ Was sich hier so harmlos ausnimmt,
war in Wirklichkeit einer der größten Misserfolge in Brahms’ kompositorischer Laufbahn.
Die Kritik des Leipziger Konzerts liest sich wie
ein einziger hemmungsloser Verriss: „Es ist
dieses Stück gar nicht danach angethan, dass
es irgend eine Befriedigung und einen Genuss
gewähren könnte… Und dieses Würgen und
Wühlen muss man über Dreiviertelstunde lang
ertragen!“, lauten noch die glimpflichen
Passagen. Zum Glück bezog die „Neue Berliner
Musikzeitung“ anlässlich der Hamburger Erst-
Johannes Brahms (Foto von 1854)
aufführung des Konzerts am 24. März Stellung
zu jener Rezension, wodurch die Geburtsstadt
des Komponisten doch noch eine erfreuliche
Rolle in dieser Geschichte gespielt hat: Der
Leipziger Kritiker habe „seine Beschränktheit
mit der des Werkes oder des Componisten
verwechselt“, hieß es dort zu Recht …
Um die ablehnenden Reaktionen in Leipzig zu
verstehen, muss man sich freilich bewusst
machen, dass sich Brahms – in Weiterführung
des Beethovenschen Konzerttyps – mit diesem
gewaltig sinfonisch daherkommenden Koloss
deutlich von den damals beliebten brillanten
Virtuosenkonzerten distanzierte. Und auch
der Beginn des 1. Satzes muss verstörend auf
die Zeitgenossen gewirkt haben: Da dringen
dröhnende Paukenwirbel und lang gehaltene
Akkorde gepaart mit ungestümen Motiven in
unregelmäßigen Phrasen auf den Hörer ein.
Der chromatisch absteigende Bassgang verschleiert zudem die Grundtonart d-Moll, die
völlig unüblich erst nach 25 Takten anklingt.
Ein solch improvisatorischer, stürmischer,
gigantischer Beginn (nicht unähnlich der Neunten von Beethoven) musste zu allerlei Spekulationen führen: Verarbeitet Brahms hier den
Tod seines Freundes Robert Schumann?
Das bald in den Streichern ertönende traurige
2. Hauptthema könnte jedenfalls auch derartig
ausgelegt werden. Mit einem Signalthema
endet die vielgestaltige Orchesterexposition,
worauf das Klavier zunächst mit einem daraus
hervorgehenden Motiv einsetzt. Später übernimmt es auch die beiden zuvor vorgestellten
Themen und führt das eigentliche Seitenthema
ein, eine würdevoll gemessene Choralmelodie.
Die Durchführung verarbeitet die ersten beiden
Themen (u. a. mit gefürchteten Oktavtrillern
im Klavier) und steuert mächtig auf die Reprise
hin, in der das paukengesättigte Anfangsthema
nun im Klavier erklingt.
Der 2. Satz ist nach Brahms’ eigener Aussage
ein Porträt Clara Schumanns. Über die ursprüngliche, aus dem lateinischen Messtext
entnommene Überschrift „Benedictus qui venit
in nomine domine“ ist viel gerätselt worden.
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NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Vom Todesgesang zur Lebensbejahung
Béla Bartóks „Konzert für Orchester“
Ein weiterer Nachklang des Todes Robert
Schumanns oder einfach Zeichen religiöser
Andacht? – In jedem Fall ist dieses Adagio ein
frühes Beispiel jener intim-gefühlvollen langsamen Brahms-Sätze, wobei das ruhig strömende Thema verblüffend einfach aus einer
harmonisierten Tonleiter gebildet ist, die bei
der Wiederholung im Klavier freilich deutliche
Züge der Resignation annimmt. Im Mittelteil
werden die Klarinetten, dann auch das markante Tutti gleichsam zu Dialogpartnern im
sonst melancholischen Monolog des Solisten.
Das Jahr 1943 sah für den aus seiner ungarischen Heimat emigrierten Béla Bartók alles
andere als rosig aus: Seine Hoffnungen, in den
USA eine neue, von allen Zwängen befreite
Existenz aufbauen zu können, hatten sich in
den gut zwei Jahren, die er dort nun lebte,
kaum erfüllt. Weder um die Finanzen noch die
Gesundheit war es gut bestellt, ja, nach einer
neuerlichen Verschlechterung seines Zustands
konnten ihm die ratlosen Ärzte sogar schon
nichts Besseres mehr versprechen, als dass
er vielleicht nur noch wenige Wochen zu
leben habe.
In dieser aussichtslosen Situation aber kam
auf einmal überraschende Hilfe: Nicht nur
übernahm der amerikanische Komponistenverband die durch die Krankenhausaufenthalte
anfallenden Kosten, man versuchte vielmehr
auch, den schon das Ende seiner kompositorischen Tätigkeit ankündigenden Bartók für
ein neues Werk zu motivieren. Es war Serge
Koussevitzky, der berühmte Dirigent des
Boston Symphony Orchestra und Auftraggeber
so einiger Klassiker des 20. Jahrhunderts, der
bei ihm ein Werk für Orchester bestellte –
auch wenn er damit rechnen musste, dass es
Für den 3. Satz diente vermutlich das Rondo
aus Beethovens Drittem Klavierkonzert als Vorbild. Zu dem kernig zupackenden Refrainthema
gesellen sich ein aufschwingendes, geradezu
Mendelssohnsches erstes und ein expressives
zweites Zwischenspiel. Letzteres wird im Fugato
mit Motiven aus dem Refrain-Thema kombiniert. Nach einer kadenzartigen Solopassage
folgt eine Hornvariante des Zwischenspielthemas in typisch Brahmsschem Melos. Eine
fesselnde Schlusssteigerung in Dur beendet
den Satz.
Julius Heile
Béla Bartók während der Überfahrt in die USA (1940)
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NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Serge Koussevitzky und das Boston Symphony Orchestra,
die Interpreten der Uraufführung von Bartóks „Konzert
für Orchester“
niemals vollendet werden würde. Der Gedanke
an jenen Mythos um Mozart, dessen Requiem
im Zuge eines solchen Auftrags kurz vorm Tod
unvollendet geblieben war, lag schon nahe,
als Bartók plötzlich vom kreativen Eifer gepackt
wurde: In nur 54 Tagen komponierte er sein
„Konzert für Orchester“ und im Dezember 1944
konnte Koussevitzky die Uraufführung dieses
Werks bestreiten, das dieser ausgesprochene
Schostakowitsch-Verehrer sogleich für das beste
Orchesterwerk seit 25 Jahren hielt. Tatsächlich
war Bartók trotz (oder gerade wegen?) seiner
erschütternden Lebenssituation noch einmal
ein wahres Meisterwerk gelungen, „eine Zusammenfassung all dessen, was es vorher gab“
(so ein Rezensent der Uraufführung). Ein Stück
aber vor allem, dem man in seiner lebensbejahenden, optimistischen Haltung zum Schluss
wenig vom Leid seines Komponisten anmerkt.
Ja, ein Stück sogar, in dem Bartók scheinbar
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Abstand nahm von den intellektuellen, sich
unzugänglich gebenden Hauptwerken früherer
Jahre, die bei der europäischen Avantgarde
zwar stets Hochachtung genossen hatten, beim
Publikum (und zumal in Amerika) jedoch auf
wenig Zuneigung gestoßen waren. Überraschen
muss es daher umso mehr, dass auch dem
„Konzert für Orchester“ nicht jener spontane
Erfolg beim Publikum beschieden war, den die
positiven Urteile vieler Kritiker vermuten lassen,
und dass es einige Jahre brauchte, bis es zu
einem echten „Klassiker“ wurde. Andererseits
regte sich im Lager der von Schönbergs Wiener
Schule überzeugten Fortschrittler, namentlich
in einem seitdem viel beachteten Aufsatz von
René Leibowitz, umgehend Argwohn, Bartók
gehe neuerdings einen „Kompromiss“ mit dem
Publikum ein. Wie aber passte dies zusammen?
Diese Frage wurzelt in der wohl größten Stärke
des Werks: Als perfekte Synthese verschmilzt
es Popularität mit einer Kompositionstechnik,
die allen Ansprüchen moderner Kunstmusik
gerecht wird. Weder gab Bartók seine durch
Dissonanzen geschärfte, zeitgemäße Tonsprache
auf, noch ließ er sein originellstes Markenzeichen, die Transformierung osteuropäischer
Folklore in die westliche Kunstmusik, hinter sich.
(Gerade noch hatte er an einer wissenschaftlichen Studie über Volkslieder Jugoslawiens und
Rumäniens gearbeitet, die auf das „Konzert für
Orchester“ nicht ohne Einfluss blieben). Und
auch für ihn typische konstruktive Verfahren
wie etwa die Konzentration auf bestimmte
Intervalle und Tonreihen oder bogenförmige
Strukturen (mit der als Zentrum von zwei
heiteren Intermezzi und zwei Sonatensätzen
eingerahmten „Elegia“) finden sich hier wieder.
Doch das Konzept des Werkes, laut Bartók ein
„Symphonie-ähnliches Orchesterwerk“ mit der
„Tendenz zur ‚konzertanten’ oder solistischen
Behandlung der einzelnen Instrumente oder
Instrumentengruppen“, knüpft wie nie zuvor bei
Bartók an traditionelle Formen wie Sinfonie
und Concerto grosso an und erweist damit nicht
zuletzt der „Neoklassik“, jener maßgeblichen
an der Tradition orientierten Bewegung der
1920er Jahre, eine späte Reverenz.
Der 1. Satz beginnt mit einer leisen Introduktion,
die in den tiefen Streichern das aus der ungarischen Volksmusik abgelauschte Tonmaterial
des Werks vorstellt. In einer großen Beschleunigung ist bereits das Kopfmotiv des daraufhin
einsetzenden Hauptthemas enthalten. Bezeichnend hinsichtlich des Werktitels ist die Durchführung, in der das Blech als quasi konzertante
Gruppe auftritt. Die Reprise ist – um die erwähnte Bogenform zu wahren – in umgekehrter
Reihenfolge angeordnet, d. h. wir hören zunächst
den „ländlichen“ Seitensatzgedanken und dann
eine kurze Wiederkehr des Hauptthemas.
Von dalmatinischem Paargesang beeinflusst
zeigt sich der 2. Satz, der – seinem Titel „Spiel
der Paare“ und der konzertanten Idee entsprechend – fünf Instrumentenduette (Fagotte,
Oboen, Klarinetten, Flöten und gedämpfte
Trompeten) aufeinander folgen lässt. Den Mittelteil bildet ein von Trommelrhythmen begleiteter Blechbläserchoral – als ob die Paare sich
auf einmal in der Kirche eingefunden hätten.
Béla Bartók (Foto um 1940)
Der im Kompositionsprozess zuerst in Angriff
genommene 3. Satz fungiert gewissermaßen
als Zentrum und Keimzelle des Werkes. Dies
lässt sich schon daran erkennen, dass hier das
Material der Introduktion zum 1. Satz „vorweggenommen“ wird. Auch scheint die „Elegia“
am ehesten auf die tragischen Entstehungsumstände des „Konzerts für Orchester“ hinzuweisen. Die geheimnisvollen Bläsereinwürfe
(Spuk oder Naturlaute?) erzeugen zusätzlich
den Charakter eines Nachtstücks. Pathetischschmerzvoll, von erschütternden Paukenschlä11
gen begleitet, erklingt plötzlich ein Zitat des
2. Themas der „Introduzione“. Wie eine Auflehnung gegen das Schicksal wirkt auch die anschließende Passage, deren fast „sprechende“
Gesten der Streicher und Holzbläser an rumänische Trauergesänge erinnern.
Gänzlich heiter gibt sich dagegen der 4. Satz:
Einem merkwürdig phrasierten Oboenthema
folgt hier zunächst eine elegische, überraschend
konventionelle Bratschen-Melodie, die wie ein
Fremdkörper von alten Zeiten zu singen scheint.
Tatsächlich knüpft Bartók hier wohl an einen
Operetten-Hit an, der einer ungarischen Bewegung einst als musikalischer Slogan diente.
Noch so einen Operetten-Hit, nun jedoch in
zweifelhaftem Gewand, gibt es hierauf zu hören:
Die im Titel angekündigte „Unterbrechung“
nähert sich als eine Art beschleunigter Jahrmarkts-Walzer und steigert sich zur OrchesterFarce. Unter den Klängen kichernder Trompeten
und ordinärer Posaunen-Glissandi wird Franz
Léhars „Da geh’ ich zu Maxim“ verunstaltet –
für Bartók allerdings wohl mit ganz anderer
Bedeutung: Im Juli 1942 hatte er im Radio
Schostakowitschs 7. Sinfonie („Leningrader“)
hören können und sich über die nahezu endlosen Wiederholungen genau dieser Melodie in
deren 1. Satz irritiert gezeigt. Der respektlose
Umgang mit jenem Zitat in seinem „Konzert
für Orchester“ kann also durchaus als originelle
Form der Kollegen-Kritik verstanden werden.
Bogenförmig kehren daraufhin das Bratschenund Oboenthema wieder, als ob nichts gewesen wäre.
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Eine Eingangsfanfare der Hörner leitet den
5. Satz ein, der sich zunächst als ein einziges
rhythmisch pulsierendes „Perpetuum mobile“
aus chaotischen Tanzmotiven präsentiert.
Dass Bartók von seiner neuen amerikanischen
Heimat nicht unbeeinflusst blieb, zeigt die
Schlussgruppe der Exposition: Über einem
anfangs noch aus osteuropäischer Folklore
erklärbarem Ostinato sticht bald die Trompete
glänzend mit einem neuen Thema heraus,
während sich der synkopische Rhythmus immer
fester eingräbt – wer dächte hier nicht an Jazz,
zumindest an die amerikanische Musik eines
Aaron Copland? Ein Paukenglissando leitet in
die Durchführung, die mit einer Fuge aus dem
Trompeten-Thema ansetzt, das hier mit Schleifern der Streicher zusätzlich „verjazzt“ wird.
Schließlich ist in der Coda, wenn das Fugenthema nun im kräftigen Blechbläsersatz aufgegriffen wird, George Gershwins Orchesterklang
nicht fern. Mit einem raffinierten Schlusseffekt
lässt das Werk seine Hörer in positiver Anspannung zurück. Wie es Bartók einmal selbst
sagte, hat das Publikum nun eine Reise von der
„Strenge“ des 1. Satzes, über den „düsteren
Todesgesang“ des 3. Satzes bis zur „Lebensbejahung“ des Finales hinter sich.
Julius Heile
NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Konzertvorschau
NDR Sinfonieorchester
B2 | Do, 17.10.2013 | 20 Uhr
A2 | So, 20.10.2013 | 11 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Yutaka Sado Dirigent
Roland Greutter Violine
Leonard Bernstein
Sinfonische Tänze aus
„West Side Story“
Igor Strawinsky
Violinkonzert in D
Sergej Prokofjew
Romeo und Julia –
Auszüge aus den Ballettsuiten
Einführungsveranstaltung:
17.10.2013 | 19 Uhr
C1 | Do, 24.10.2013 | 20 Uhr
D1 | Fr, 25.10.2013 | 20 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Thomas Hengelbrock Dirigent
Miah Persson Sopran
Detlef Roth Bariton
NDR Chor
RIAS Kammerchor
Dmitrij Schostakowitsch
Kammersinfonie c-Moll op. 110a
Johannes Brahms
Ein deutsches Requiem op. 45
B3 | Do, 07.11.2013 | 20 Uhr
A3 | So, 10.11.2013 | 11 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Alan Gilbert Dirigent
Frank Peter Zimmermann Violine
Antonín Dvořák
Violinkonzert a-Moll op. 53
Richard Wagner
Auszüge aus
„Der Ring des Nibelungen“
für Orchester
arrangiert von Alan Gilbert
Einführungsveranstaltungen:
24.10.2013 | 19 Uhr
25.10.2013 | 19 Uhr
Einführungsveranstaltung:
07.11.2013 | 19 Uhr
Miah Persson
Alan Gilbert
Familienmusik: „Lausbubenmusik“
parallel zum Konzert (für Kinder ab 3 bzw. 5 Jahre):
20.10.2013 | 11 Uhr
KAMMERKONZERT
Di, 29.10.2013 | 20 Uhr
Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio
QUINTETT À LA CARTE
Daniel Tomann Flöte
Beate Aanderud Oboe
Gaspare Buonomano Klarinette
Sonja Bieselt Fagott
Dave Claessen Horn
Nobue Ito Klavier
Werke von
Ferenc Farkas
Paul Hindemith
Luciano Berio
Joseph Haydn
Jacques Ibert
Francis Poulenc
Yutaka Sado
14
15
Double Bass & Trio
25.04.2014 | 20 UHR | ROLF-LIEBERMANN-STUDIO
TRIO GASPARD | EDICSON RUIZ KONTRABASS
WERKE VON RAVEL, HOLLIGER, MOSER, SPERGER, HENZE
Stars der Zukunft
20.05.2014 | 20 UHR | LAEISZHALLE
NDR SINFONIEORCHESTER | GABRIEL FELTZ LEITUNG
HARRIET KRIJGH CELLO | ALEXANDER KUTUZOV KLAVIER
WERKE VON BEETHOVEN, ELGAR, GRIEG
ndr.de/podiumderjungen
NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Konzertvorschau
Weitere NDR Konzerte
NDR CHOR
NDR DAS ALTE WERK
So, 15.09.2013 | 18 Uhr
Hamburg, St. Nikolai am Klosterstern
MASS
Philipp Ahmann Dirigent
Mitglieder des NDR Sinfonieorchesters
Giovanni Pierluigi Da Palestrina
Ausgewählte Motetten
Carl Friedrich Christian Fasch
Missa a 16 voci
Igor Strawinsky
Mass
Abo-Konzert 1
Mi, 25.09.2013 | 20 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
„L’AMORE INNAMORATO“ –
ARIE, LAMENTI E SINFONIE
L’Arpeggiata
Christina Pluhar Theorbe und Leitung
Nuria Rial Sopran
Werke von
Francesco Cavalli
Nuria Rial
Philipp Ahmann
Foto: Ojo Images | F1online
08.02.2014 | 20 UHR | ROLF-LIEBERMANN-STUDIO
NDR RADIOPHILHARMONIE
VASSILIS CHRISTOPOULOS LEITUNG
OLENA TOKAR SOPRAN | PETTER MOEN TENOR
JAN STAVA BASS
ARIEN UND AUSSCHNITTE AUS WERKEN VON
MOZART, ROSSINI, VERDI, TSCHAIKOWSKY
SINFONISCHES | OPER | KAMMERMUSIK | CHORMUSIK | MUSICAL | JAZZ
Belcanto
MIT DEM NDR SINFONIEORCHESTER | DER NDR BIGBAND
DER NDR RADIOPHILHARMONIE | DEM NDR CHOR
22.11.2013 | 20 UHR | ROLF-LIEBERMANN-STUDIO
NDR BIGBAND | JÖRG ACHIM KELLER LEITUNG
CHRISTIAN ELSÄSSER PIANO
ALEXANDER HRUSTEVICH BAJAN
WERKE VON VIVALDI, PROKOFJEW, CHERNIKOV U. A.
Junge Stars von morgen
Buttons & Keys
Saison 2013/2014
La voix du basson
20.10.2013 | 18 UHR | ROLF-LIEBERMANN-STUDIO
NDR CHOR | PHILIPP AHMANN LEITUNG
PAULO FERREIRA FAGOTT
WERKE VON SAINT-SAENS, HERSANT U.A.
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Impressum
Saison 2013 / 2014
NDR DAS NEUE WERK
Sa, 12.10.2013 | 20 Uhr
Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio
THOMAS ADÈS AND THE BAROQUE
Keller Quartett
Louis Lortie Klavier und Cembalo
Thomas Adès
· „Arcadiana“
· „Sonata da caccia“
· „Darknesse visible“
· „Traced overhead“
· Klavierquintett
Henry Purcell
aus den „Fantasias“ für Streicher
François Couperin
aus den „Pièces de Clavecin“
Thomas Adès
Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus,
Tel. (040) 44 192 192, online unter ndrticketshop.de
18
Herausgegeben vom
NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK
PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK
BEREICH ORCHESTER UND CHOR
Leitung: Rolf Beck
Redaktion Sinfonieorchester:
Achim Dobschall
Redaktion des Programmheftes:
Julius Heile
Die Einführungstexte von Julius Heile
sind Originalbeiträge für den NDR.
Fotos:
Gunter Gluecklich (S. 4)
Mat Hennek (S. 5)
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Yuji Hori (S. 14 links)
Monika Rittershaus (S. 14 rechts)
Mats Lundquist (S. 15 links)
Michael Müller | NDR (S. 17 links)
Merce Rial (S. 17 rechts)
Maurice Foxall (S. 18)
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