332 FORSCHUNG 333 FORSCHUNG Der Forschungseisbrecher ­„Polarstern“ an der Eiskante bei 76° S in der Weddellsee. Es war der s­ üdlichste Punkt, der während der Expedition von Kapstadt nach P ­ unta Arenas erreicht wurde. K omposthaufen der Ozeane – so könnte man den Meeresboden bezeichnen. Abgestorbene Mikroalgen, tote Tiere sowie Kot sinken in die Tiefe und landen auf dem Grund. Die hier lebenden Organismen verwerten diesen „Abfall“ und wandeln ihn in anorganische Nährstoffe für die Primärproduktion um. Diese Prozesse werden als Remineralisierung bezeichnet. Wir wollten wissen, wie „aktiv“ der Meeresboden in der Antarktis ist, wie gut also die Organismen im südlichsten Komposthaufen der Meere recyceln können – und was die Meeresoberfläche damit zu tun hat. In der Antarktis geht es dabei vor allem um das Eis. RECYCLING UNTERM EIS Wie Tiere im antarktischen Meeresboden die Remineralisierung beeinflussen von Yasemin Bodur, Gritta Veit-Köhler, Derya Seifert & Heike Link Noch während die Wellen um den 50. Breitengrad herum am Forschungseisbrecher „Polarstern“ zerren, machen sich die ersten Vorboten der Antarktis bemerkbar. Unförmige Eisklumpen schaukeln im dunklen Wasser auf und ab. Seitdem das Schiff mit seiner Besatzung und den rund fünfzig Wissenschaftlern von Kapstadt, Südafrika, in See stach, wurde es eine ganze Woche lang nur von unruhiger See und tiefem, wolkenverhangenem Himmel begleitet. Die „Polarstern“ begab sich Anfang Dezember 2015 auf eine Reise in die südlichsten und menschenleersten Gebiete der Erde. Fast drei Monate lang wohnten Wissenschaftler und Crew auf dem Forschungsschiff, um Proben im Weddellmeer zu sammeln und Experimente durchzuführen (Schröder 2016). Zwei Wissenschaftlerinnen von der Universität Kiel und von Senckenberg am Meer waren zusammen mit ihren Studentinnen mit an Bord. muss. Das Weddellmeer ist das größte von 14 Randmeeren, die den antarktischen Kontinent umschließen. Nachdem wir den „roaring fourties“ und „furious fifties“ des Südlichen Ozeans entkommen sind, umgibt uns eisige Stille, denn die starre Eisdecke dämpft die Wellen ab. Der Meeresboden, das Ziel unserer Forschung, liegt unterhalb des Eises in den Tiefen der dunklen Wassermasse versteckt. Schließlich ragt das antarktische Ekström-Schelf­eis wie eine gigantische Wand in strahlenden Weiß- und Blautönen vor uns am Horizont auf, als ob die Natur uns sagen wollte: Bis hierhin und nicht weiter. Der Multicorer im Einsatz An der Schelfeiskante angelegt, beliefert die „Polarstern“ zuerst die deutsche Antarktis-Forschungsstation „Neumeyer III“. Die schweren Container werden per Kran auf das Schelfeis gehievt, wo die Pistenraupen schon darauf warten, die Lieferungen zur Forschungsstation zu karren. Jetzt erst ist der Weg zu den Containern mit unserer Ausrüstung frei. An Weihnachten ist es Der Multicorer wird zu Wasser gelassen … Fahrt ins ewige Weiß Zwei Wochen dauert es, bis wir im Weddellmeer ankommen. Nach den immer größer werdenden weißen Brocken, die an uns vorbeitreiben, fahren wir an massiven Eisbergen vorbei, bis sich das Schiff mühselig durch eine weiße Wüste pflügen SENCKENBERG | NATUR • FORSCHUNG • MUSEUM 146 | 11/12 2016 SENCKENBERG | NATUR • FORSCHUNG • MUSEUM 146 | 11/12 2016 334 FORSCHUNG … und bis kurz über den Grund gefiert. Dann wird das Gerät langsam abgesetzt. Die Plexiglasröhren dringen ins Sediment ein. Beim Hieven löst ein Verschlussmechanismus aus, die Röhren werden verschlossen und die Proben an Deck geholt. 335 FORSCHUNG Die Kamera am Multicorer bewahrt uns vor manchem Schaden: Weil wir den ­großen Stein rechtzeitig sehen, kann der Windenfahrer die Winde noch rechtzeitig stoppen und die wertvollen Plexiglasröhren sind gerettet. Einige der Fragen, die wir uns über die ­Remineralisierung stellen, wollen wir mit diesen Sedimentkernen schon an Bord ­beantworten, und zwar im 2-Grad-Labor. Was wir genau wissen wollen – dazu später mehr. In diesen dunklen, engen „Kühlraum“ schleppen wir unsere kiloschweren Proben und verschließen die Röhren mit luftdichten Deckeln. An diesen Sedimentkernen messen wir alle vier Stunden – egal ob Weihnachten, Silvester oder um 3 Uhr nachts – die Sauerstoffkonzentration, um später den Verbrauch zu berechnen. Außerdem nehmen wir Nährstoffproben und bestimmen die Menge entstandenen Ammoniums, das ein Abbauprodukt des Proteinstoffwechsels und ein wichtiger Stickstofflieferant ist (s. Infokasten). Aber wer produziert das Ammonium und verbraucht den Sauerstoff in diesen Röhren? Yasemin Bodur und Derya Seifert freuen sich: Der Multicorer hat ausgelöst und die Röhren sind gefüllt. dann endlich soweit, wir können mit unserer Arbeit loslegen. Messgeräte und Pumpen werden ausgepackt, Gläschen, Tütchen, Spritzen und Plastikbehälter beschriftet, dicke Arbeitsklamotten, Helme und Schwimmwesten bereitgelegt und die großen Geräte, die ins Wasser gehen sollen, an Deck entpackt und einsatzbereit gesichert. Kaum haben wir die Labore einigermaßen für unsere Experimente eingerichtet, wird die erste Station angekündigt. Unsere Arbeitsgruppe bedient vor allem ein Gerät, den Multicorer – kurz: MUC. Das sechsbeinige Gestell wird an einem Drahtseil bis auf den Meeresboden abgelassen und presst lange Plexiglasröhren ins Sediment. Sind diese mit Schlick gefüllt, wird das Gerät mit der Winde wieder an Deck gehievt. SENCKENBERG | NATUR • FORSCHUNG • MUSEUM 146 | 11/12 2016 Der Meeresboden lebt Auch bei den eisigen Temperaturen im antarktischen Weddellmeer lebt der Meeresboden, aus dem wir mit dem MUC an verschiedenen Stationen kleine Proben ausgestanzt haben. Tiere und Mikroorganismen im Sediment leben von dem, was von oben „herunterregnet“, also die Tiere in der Wassersäule wie Fische und Zooplankton übriglassen. Auch abgestorbene Mikroalgen, tote Tiere und Kot werden verwertet. Damit decken die Sedimentbewohner ihren Energiebedarf, verbrauchen Sauerstoff und setzen als Nebenprodukte anorganische Mineralstoffe frei, die im Prinzip nichts anderes als der Dünger sind, den wir in unser Gemüsebeet streuen. Diese Remineralisierung ist ein wesentlicher Teil des Nährstoffkreislaufs. Je mehr Organismen im Meeresboden leben, desto mehr organisches Material kann zersetzt und am Ende remineralisiert werden – und dementsprechend wird auch mehr Sauerstoff verbraucht (Link et al. 2013). Das ist Teil eines Kreislaufs, der von einer Reihe von Faktoren abhängt: Erstens wäre da die sogenannte Primärproduktion, die von den Algen in den lichtdurchfluteten Wasserschichten betrieben wird. Sie bildet die Nahrungsgrundlage für alles Leben im Ozean (s. Infokasten) und hängt wiederum vom Sonnenlicht ab, das die Algen zur Fotosynthese und damit Mit Nährstoffanalysen der ­­ Re­mineralisierung auf der Spur rasche Kontamination beeinflusst werden können. Proben für die anderen Nährstoffe können bei – 80 °C eingefroren und später In der Natur wird so gut wie alles recycelt: im Labor gemessen werden. Tiere und Mikroorganismen, die im Sediment leben, verwerten abgesunkenes Die Messungen der in den Sedimentker- ­o rganisches Material weiter. Bei dieser nen freigesetzten Nährstoffe helfen uns Remineralisierung entstehen Stoffwech- ebenso wie der Sauerstoffverbrauch, Aus- selprodukte, die wiederum wichtige Mine- sagen über die Effektivität von Benthos- ralstoffe für Primärproduzenten wie die gemeinschaften bei der Remineralisie- Mikroalgen sind. Zu den freigesetzten rung zu treffen. Damit können wir die Nährstoffen gehören Ammonium (NH 4), verschiedenen Standorte, an denen wir Nitrat (HNO3), Phosphat (H3PO 4) und Kiesel- das Sediment entnommen haben, nicht säure (Si(OH) 4). Ammonium muss direkt nur anhand der sie bewohnenden Orga- nach der Probennahme an Bord gemessen nismen vergleichen, sondern auch deren werden, da die Messungen oft durch eine Funktion im Ökosystem besser verstehen. PRIMÄRPRODUKTION UND ORGANISCHER „ABFALL“ ANORGANISCHE NÄHRSTOFFE Sauerstof f verbrauch Makrofauna NAHRUNGSAUFNAHME UND REMINERALISIERUNG Meiofauna Mikroorganismen 1 Eisalgen und Planktonalgen sind Primärproduzenten im Südozean. Zusammen mit weiterem organischen Material wie toten Tieren und Kotballen sinken sie zum ­Meeresboden. dort lebenden Mikroorganismen und die Tiere der Meio- (z. B. Fadenwurm und 2 Die Ruderfußkrebs) und Makrofauna (z. B. Borsten- und Röhrenwürmer, Schlangenstern, Seestern) zersetzen die Nahrung und verbrauchen dabei den Sauerstoff im Wasser. 3 Als Nebenprodukte werden bei dieser Remineralisation anorganische Nährstoffe (Mineralstoffe) wie Ammonium, Nitrat, Phosphat und Kieselsäure freigesetzt. Diese dienen wiederum als Dünger für die Primärproduktion an der Meeresoberfläche. SENCKENBERG | NATUR • FORSCHUNG • MUSEUM 146 | 11/12 2016 336 FORSCHUNG 337 FORSCHUNG Werden Eiskristalle, die durch ­Gefrieren aufgestiegen sind, durch Wellenbewegungen an der Wasser­ oberfläche gleichmäßig vermischt, entsteht „grease ice“, eine Art Eisbrei. Herrschen dazu unruhige ­Wetterverhältnisse, entstehen wie auf diesem Foto pfannkuchenartige Gebilde: „pancake ice“. Der leicht ­erhöhte Rand wie beim Pfann­ kuchen in der Pfanne ensteht durch das ­Aufschwappen des Eisbreis. SENCKENBERG | NATUR • FORSCHUNG • MUSEUM 146 | 11/12 2016 SENCKENBERG | NATUR • FORSCHUNG • MUSEUM 146 | 11/12 2016