© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345 Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst Die Bedeutung von Erving Goffmans Ökologie der sozialen Situation für die Analyse der Moderne Michael Wehrspaun Sozialwissenschaftliche Fakultät, Fachgruppe Soziologie, Universität Konstanz, Postfach 55 60, D-7750 Konstanz Z u s a m m e n fa s s u n g : Für Goffman sind die Probleme des Eindrucksmanagements immer ein zentraler Analysege­ genstand geblieben. In dem Artikel wird die Frage aufgeworfen, welche theoretischen und metatheoretischen Implikationen mit einem solchen Erkenntnisinteresse verbunden sind. Dabei wird Goffmans Ansatz als eine semiotische Ökologie der sozialen Situation beschrieben, die einen speziellen Begriff des Subjekts - bzw. des „Ich“ oder „Selbst“ - voraussetzt. Als ein wichtiges Konzept wird die „Dialektik der Interaktion“ besprochen, welche eine große zeitdiagnostische Bedeutung beinhaltet im Hinblick auf den Subjektivitätscode, der die spezifisch modernen Rah­ mungsformen von Personalität anleitet. Mit einem kurzen Rückblick auf einige Elemente in der Anthropologie Kants wird das Argument entwickelt, daß es zu dem heute allgemein problematisch gewordenen Subjektivitätscode eine Alternative in Form einer evolutionär-konstruktiven Kommunikationstheorie gibt, die auch für die Interpretation von Goffmans Arbeiten wichtig ist. 1. Einleitung Erving Goffman ist ein innerhalb wie außerhalb der Sozialwissenschaften außergewöhnlich viel ge­ lesener Autor. Häufige Neuauflagen und zahlrei­ che Übersetzungen (u. a. ins Chinesische) des ei­ nen oder anderen seiner Bücher bezeugen es (Ditton 1980). Zu dieser offenkundigen Akzeptanz durch die Leser und Buchkäufer steht allerdings die Ambivalenz, mit der Goffman in der publizier­ ten Fachdiskussion begegnet wird, in einem deutli­ chen Kontrast. Es handelt sich, so der vorherr­ schende Eindruck, um „das geniale Werk des Ein­ zelgängers“ (Joas 1988: 438), das irgendwie quer liegt zu den etablierten Diskursformationen. Der öffentliche Erfolg - ein ohnehin höchst frag­ würdiges Qualitätskriterium - könnte so auf die generelle Popularität der Identitätsthematik zu­ rückgeführt werden, in deren Kontext Goffmans Werk meist lokalisiert wird. Und ein Blick in die Taschenbuchregale irgendeiner Buchhandlung be­ legt es reichlich: Identitätsfragen sind ein Mode­ thema, denn in den hochindustrialisierten spätbür­ gerlichen Gesellschaften hat sich die Problematisierung personaler Identität, somit die Thematisierung des Verhältnisses von Anpassung und Auto­ nomie, von Rollenverhalten und Rollendistanz, verallgemeinert, sie ist von der Spezialität religiö­ ser oder künstlerischer Virtuosen zum allgemein interessierenden Diskurs geworden (vgl. Luckmann 1979). Hat somit ein Modethema mit Goff­ man einen (weiteren) Modeautor gefunden? Ein nicht unbeträchtlicher Teil der fachlichen Re­ zeption folgt im Grunde einer solchen Argumen­ tationslinie. Als dafür repräsentativ (und dement­ sprechend oft zitiert) kann Gouldners Verdikt (1974: 453ff.) angesehen werden: Goffmans Sozio­ logie beschreibe die Mechanismen der subjektiven Anpassung an gesellschaftliche Strukturen, die als solche nicht mehr in Frage gestellt werden, sie beinhalte das Menschenbild eines desillusionierten (Klein-)Bürgertums, das, ohne Hoffnung auf und ohne Interesse an sozialen Veränderungen, sich selber und den Mitmenschen Theater Vorspiele, wenn es vorgebe, an der Konstitution eigener per­ sonaler Identität zu arbeiten. Kurz: Das Werk Goffmans sei sowohl Analyse wie vor allem auch Symptom einer kulturellen Situation, in der Ein­ drucksmanagement echte Subjekthaftigkeit und subjektive Heuchelei tatsächliche Individualität verdrängt habe. Der Vorwurf richtet sich folglich auf den systematischen Ort von Subjektivität in Goffmans Analysen, bzw. auf, wie nicht nur Gouldner meint, das Fehlen eines solchen. Mittlerweile hat nun freilich die „Frage nach dem Subjekt“ bzw. nach der Natur von „Individualität“ (vgl. z. B. Frank et al 1988; Frank/Haverkamp 1988) auch in der Philosophie eine neue Brisanz gewonnen, denn eine explizite Hauptintention der „postmodernen“ Infragestellung der Grundprä­ missen neuzeitlich-modernen Denkens ist die Ent­ thronung des Subjekts - bezeichnenderweise gilt das für den sich von Nietzsche und Heidegger herleitenden Neostrukturalismus ganz genauso wie für die an Wittgenstein geschulte analytische Phi­ losophie, und auch neue Naturalismen, wie etwa die Evolutionäre Unauthenticated Erkenntnistheorie, liegen ganz auf dieser Linie. Selbst dezidierte Download Date | 2/14/17 12:09 AM Verteidiger des 330 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345 „Projekts der Moderne“ wie Habermas (1985) ar­ beiten längst ausdrücklich an der Abschaffung des Subjektparadigmas mit, indem die entsprechenden normativen Prämissen in eine Theoriebildung, die auf kommunikationstheoretische Grundlagen um­ gestellt worden ist, eingebracht werden sollen. Aber wenn es nicht mehr die Subjekte sein sollen, die vernünftig bzw. unvernünftig sein können, wenn stattdessen Kommunikationsprozesse einer solchen Beurteilung durch eine entsprechende Theoriebildung zugänglich gemacht werden sollen - dann bedeutet das freilich eine recht grundlegen­ de „Transformation der Philosophie“ (Apel 1973). In diesem Aufsatz soll die These entwickelt wer­ den, daß erstens die Formel von der „Umstellung auf kommunikationstheoretische Grundlagen“ ei­ nen Schlüssel bietet für die Interpretation und Bewertung eines großen Teiles auch der Goffmanschen Soziologie, daß zweitens bei einer solchen Betrachtungsweise Giddens (1987) recht behält, wenn er Goffman als einen systematischen Theore­ tiker mit bester empirischer Fundierung aber irre­ führender Selbstthematisierung bezeichnet, und daß schließlich drittens Goffmans „System“ bzw. sein „Ansatz“ unausgesprochen1 aber unüberseh­ bar die Forderung nach einer - der philosophi­ schen sozusagen parallel laufenden - Transforma­ tion der Soziologie bzw. des soziologischen Selbst­ verständnisses impliziert. (bereits posthum veröffentlichten) Presidential Address („The Interaction Order“). Während letz­ tere im Grunde einen Gegenstandsbereich zu defi­ nieren unternimmt, geht es in der früheren Dar­ stellung um die Identifikation und Abgrenzung einer Perspektive, die Goffman ausdrücklich als die seine einführt und begründet: die dramaturgi­ sche Perspektive. „This would lead us to describe the techniques of impression management employ­ ed in a given establishment, the principal problems of impression management in the establishment, and the identity and inter-relationships of the several performance teams which operate in the establishment“ (Goffman 1969: 233). Die dramaturgische Perspektive soll neben die technische und politische Analyse treten, in denen es um die Wirksamkeit von Organisationsformen bzw. die Aspekte von Macht und Herrschaft geht, aber auch noch eine strukturelle Perspektive, die an Schichtungsphänomenen ansetzt, und eine kul­ turelle Perspektive - ihr Gegenstandsbereich: die moralischen Wertsetzungen - (aner)kennt Goff­ man. Jede dieser Perspektiven wird demgemäß durch eine spezifische Problemstellung konstitu­ iert. Da die Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen des Eindrucksmanagements die Problem­ stellung des dramaturgischen Ansatzes ausmachen sollen, und da Goffman ganz ausdrücklich die Gleichberechtigung eines solchen analytischen An­ satzes gegenüber technischen, politischen, struktu­ rellen und kulturellen Analyseformen reklamiert, muß er somit unterstellen, daß das Eindrucksman­ 2. Die dramaturgische Perspektive: agement auch einen Gegenstandsbereich eigenen Problemstellung und Realitätsbereich Rechts - sozusagen eine eigenständige und im Wenn Goffman in der Einleitung zu seiner „Rah­ Durkheimschen Sinne unreduzierbare Realitäts­ menanalyse“ feststellt: „There are lots of good ebene - darstelle. grounds for doubting the kind of analysis about to Aber hier muß sich natürlich die Frage geradezu be presented. I would do so myself if it weren’t my aufdrängen: Muß das Eindrucksmanagement denn own“ (Goffman 1974: 13), dann läßt sich verste­ überhaupt sein? Oder, anders ausgedrückt: Stellt hen, daß er seinen Rezipienten Probleme aufgibt. es nicht ein Symptom des Versagens von Politik Den Versuch, den eigenen Ansatz mit gebühren­ und Technik, von Sozialstruktur und herrschender der Ernsthaftigkeit als Ansatz darzustellen, hat er, Kultur dar, wenn Eindrücke als solche ein Man­ von den pragmatischen Einleitungskapiteln in sei­ agement erfordern? Wenn dem so ist, dann müßte nen Büchern einmal abgesehen, wohl nur zweimal die Dramaturgie des sozialen Lebens gerade in den unternommen: Zuerst im Schlußkapitel von „The anderen Perspektiven ihre eigentliche Erklärung Presentation of Self in Everyday Life“ und dann, finden. Insofern steht Goffmans Soziologie von fast ein Vierteljahrhundert später, in seiner 19831 allem Anfang an vor der Frage, ob sie überhaupt über einen (legitimen) Gegenstandsbereich verfü­ ge. Und bezeichnenderweise stellt auch noch die 1 Goffmans (vgl. z. B. 1971: 20f.) durchaus radikale Kri­ Presidential Address insgesamt ein - wie immer tik an der etablierten Sozialforschung blieb immer de­ bei Goffman inhalts- und beispielsreiches - Argu­ fensiv - er entschuldigte sich gelegentlich, nicht ohne ment dafür dar, daß die „interaction order“ als Ironie, für die Realitätsnähe seiner Analysen, bei­ Unauthenticated Realitätsbereich eigenen Rechts angesehen wer­ spielsweise im Hinblick auf das Argument, er würde Download Date | 2/14/17 12:09 AM den könne. damit die Verallgemeinerbarkeit schmälern. Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst Die Akzeptanz einer solchen Problemstellung fällt auch deswegen schwer, weil die explizite Selbstbe­ gründung im Rahmen des dramaturgischen Ansat­ zes (und mit ihr die theoriestrategische Verwen­ dung der Theatermetaphorik) nach der frühen Darstellung bei ihm überhaupt nicht mehr auf­ taucht.2* Stattdessen begründete er seine Arbeit zunehmend mit sehr divergenten theoretischen Elementen und Entwicklungen. Ein Beispiel für diese Strategie stellt die Einleitung zur „Rahmen­ analyse“ dar: Die Psychologie von William James und die Phänomenologie von Alfred Schütz wer­ den hier gewissermaßen auf Linie gebracht mit Elementen aus der Nach-Wittgensteinschen Sprachphilosophie und dem Absurden Theater, aus Batesons „Ökologie des Geistes“ und dem Symbolischen Interaktionismus, aus Linguistik und Analytischer Handlungstheorie (vgl. Goffman 1974: 6ff.). Und vielleicht ist es am bezeichnend­ sten, daß an dieser Stelle diejenige programmati­ sche Anlehnung gerade fehlt, welche in seinen anderen Werken zunehmend in den Vordergrund rückt: der Hinweis auf die Ethologie. Bereits in der Einleitung zur Aufsatzsammlung „Interaction Ritual“ nennt er als sein allgemeines theoretisches Ziel „to describe the natural units of interaction“ (Goffman 1967: 1) nach dem Muster von Untersu­ chungen u. a. über Tierverhalten, in „Relations in Public“ spricht er von der Notwendigkeit, endlich eine naturalistische Interaktionsethologie zu ent­ wickeln (Goffman 1971: 14), und in „Gender Ad­ vertisements“ (1979) wird die an Darwin anknüp­ fende Analyse des Kommunikationsverhaltens ausdrücklich als eigener theoretischer Hintergrund eingeführt. Dementsprechend stellt für Goffman die soziale Situation die grundlegende Analyseeinheit dar. Sie besteht in den kommunikativen Wechselwirkun­ gen zwischen den Individuen, die anwesend und mehr oder weniger involviert in das sind, was in der Situation gerade abläuft. Buchtitel wie „Rela­ tions in Public“ oder „Behavior in Public Places“ weisen deutlich genug auf dieses „mikroökologi­ 2 Ursprünglich dürfte es sich um eine (implizite) Anleh­ nung an den „Dramatism“ des Philosophen K. Burke gehandelt haben, eine Art szenischer Handlungstheo­ rie in vor allem philosophischer Absicht (vgl. Burke 1968), die soziologisch ohne weitere Wirkungen blieb, trotz der Versuche von H. D. Duncan (1962; 1968), den Dramatismus konsequent zu einer kommunika­ tionstheoretisch fundierten Gesellschaftstheorie auszu­ bauen. 331 sehe“ (vgl. Goffman 1979: 6) Erkenntnisinteresse hin. Allerdings: nur um die Beschreibung und Klassifizierung alltäglicher Begegnungen im Sinne einer harmlosen Alltagssoziologie ging es Goffman sicherlich nicht. Einen „rampant situationalism“ lehnte er ausdrücklich ab (Goffman 1983: 4). Die Bedeutung von Situation als Grundbegriff liegt für ihn auch gar nicht primär auf der empirischen Ebene: „I assume that the proper study of interac­ tion is not the individual and his psychology, but rather the syntactical relations among the acts of different persons mutually present to one another. None the less, since it is individual actors who contribute the ultimate materials, it will always be reasonable to ask what general properties they must have if this sort of contribution is to be expected of them“ (Goffman 1967: 2). Hier wird der mit der Perspektive verbundene theoretische Anspruch deutlich: Zur Analyse steht der eigentli­ che Gegenstand der Interaktion an, und: durch eine solche Analyse sollen sich allgemeine Merk­ male der Handlungssubjekte erweisen lassen. So­ mit gilt: „Social organization is the central theme“ (Goffman 1967: 2), auch wenn er sofort einschrän­ kend hinzufügt, daß es ihm nur um die flüchtige Realität realer Interaktionen zwischen tatsächlich Anwesenden gehe. Aber aus einer solchen mi­ kroökologischen Betrachtung folgt nun keineswegs rein logisch, daß die Makrodimensionen der gesell­ schaftlichen Organisation quasi-automatisch aus­ geblendet wären (vgl. Giddens 1987). Weniger irreführend scheint es, die ganze Mikro-MakroUnterscheidung vorerst als zu grob fallenzulassen, und Goffmans einst mit der Darstellung der dra­ maturgischen Perspektive aufgestellten Anspruch auf die Weise zu reformulieren, daß postuliert wird, es gäbe eine Ökologie der sozialen Situation als spezifische Problemstellung, die sich nicht auf sozialstrukturelle, normorientierte usw. Analysen reduzieren lasse, und zwar deswegen, da der ei­ gentliche Gegenstand der Interaktion mit dem Eindrucksmanagement zu tun habe und dabei et­ was Grundlegendes über den Menschen selbst aussage. 3. Goffmans semiotische Ökologie Der Begriff der Ökologie wäre hier, was einer neueren Bedeutung entspricht, als eine bestimmte analytische Vorgehensweise zu verstehen, nämlich als Ansatz an einer Individuum (Teilsystems-Um­ welt-Relation, nicht als ein in sich abgegrenzter Unauthenticated Analysebereich vordefiniertem Gegenstands­ Download Date |mit 2/14/17 12:09 AM 332 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345 bezug.3 Somit bleibt die Frage nach dem eigentlich analysierten Realitätsbereich - bzw., da diese Ant­ wort ja bekannt ist, genauer ausgedrückt: nach dessen legitimen oder illegitimen Realitätsstatus noch immer offen. Allerdings läßt sie sich jetzt neu stellen: Was ist in Goffmans Analysen das Indivi­ duum? Und was gilt als (dessen) Umwelt? Welcher Art sind die Relationen? Goffman hat auf diese Fragen nicht eine paradig­ matisch abgeleitete (z. B. funktionalistische, interaktionistische etc.), sondern sozusagen eine „abduktive“ Antwortstrategie eingeschlagen: Von der problemgeleiteten Tatsachenbeobachtung zur em­ pirischen Generalisierung, von dieser zur theorie­ geleiteten Neubeschreibung der Tatsachen, beides (formallogisch: Induktion und Deduktion) ver­ knüpft gemäß dem Gesichtspunkt der Verdichtung der Beschreibung (größere Genauigkeit) und der Ausweitung des theoretisch kontextualisierten Phänomenbereichs (größere Reichweite der Erklärung).4 Ein Beispiel: Goffmans Analyse derjenigen Re­ geln, die Menschen - ob bewußt oder unbewußt einhalten, wenn sie sich fortbewegen - z. B. auf der Straße. Die Einheiten, auf die sich diese Re­ geln beziehen, sind „vehicular units“: „A vehicular unit is a shell of some kind controlled (usually from within) by a human pilot or navigator“ (Goffman 1971: 26). Die sozusagen duale Gegebenheit als Gehäuse und als Steuerungssystem gilt natürlich auch für Fußgänger: „Viewed in this perspective, the individual himself, moving across roads and down streets - the individual as pedestrian - can be considered a pilot encased in a soft and exposing Schema 1 shell, namely his clothes and skin“ (Goffman 1971: 27). Nun besteht die besondere Verletztlichkeit, der Fußgänger ausgesetzt sind, nicht nur in der biologi­ schen Natur ihres Gehäuses. Eine weitere Quelle von Verletzlichkeit - und damit ein Komplex von „Verkehrsregeln“, der Goffman viel mehr interes­ siert als der für Fahrlehrer und Verkehrspolizisten relevante Aspekt - resultiert aus der besonderen qualitativen Beziehung zwischen ihrem Gehäuse und dessen Navigator, die bei Fußgängern (und jenseits der Rolle des Navigators bzw. Insassen eines künstlichen Gehäuses sind das alle Men­ schen) im allgemeinen unterstellt werden. Kurz: Fußgänger gelten als bewegte Objekte und beweg­ ende Subjekte gleichzeitig; und das bedeutet, daß ihr aktuelles Gehäuse als „vehicular unit“ auf eine andere Art von intersubjektiver Anerkennung und Rücksichtnahme Anspruch hat als es im Hinblick auf reine Objekte als angemessen gilt. Der An­ spruch auf Anerkennung als Subjekt hat einerseits praktische Implikationen: die Notwendigkeit, ein „rituelles“ Gleichgewicht von „deference and de­ meanor“ (Goffman 1967) im sozialen Verkehr durchzuhalten. Hier setzen Goffmans Analysen der alltäglich beobachtbaren dramaturgischen Ef­ fekte des normalen Lebens an. Andererseits läßt sich fragen, was es wissenschaftstheoretisch bedeu­ tet, das Individuum als einen in Gehäuse und Navigator differenzierten und trotzdem eine Ein­ heit bildenden Gegenstand aufzufassen. Da es Ge­ genstände nur für einen Beobachter gibt, kann folgendes Schema die raetatheoretische Problemla­ ge andeuten: i Beobachter Gegenstand (vehicular unit) Navigator 3 Als repräsentativ für ein solches Verständnis kann Batesons Ökologie des Geistes gelten - der Begriff der „Ökologie“ steht hier für das Programm, in einer kon­ sequent systemischen Sichtweise den Natur-Geist-Dualismus der modernen Subjektphilosophie zu überwin­ den. Die Implikationen eines solchen Programmes für die sozialwissenschaftliche Subjektivitäts-(Identitäts-, Rollen- etc.)theorie lassen sich z.T . aus Goffmans Analysen, wenn diese in einem entsprechenden Rah­ men interpretiert werden, herausfiltern (vgl. Wehrspaun/Wehrspaun 1989). Gehäuse 4 Ein solches Vorgehen, das den Forscher zum Detektiv macht, kann auf die Philosophie von Charles Peirce und das Vorbild des Sherlock Holmes gleichzeitig zu­ rückgreifen (vgl. Sebeok/Umiker-Sebeok 1982). Das Modell der „grounded theory“ von Glaser/Strauss (1967) dürfte ihm recht nahekommen. Unauthenticated Download Date | 2/14/17 12:09 AM 333 Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst Die senkrechte gestrichelte Linie soll an ein Hauptproblem der neuzeitlichen Metaphysik er­ innern: die Trennung von Subjekt(ivität) und Ob­ jektivität). Der Beobachter ist zweifelsohne Sub­ jekt, denn seine empirische Verfaßtheit spielt keine Rolle - nimmt er doch an der Situation ge­ wissermaßen nur in „transzendentaler Funktion“ teil. Das Problem liegt vielmehr darin, daß der Navigator die Subjektfunktion innerhalb des Ge­ genstandes erfüllt. Somit läßt sich argumentieren, und ist besonders von Philosophen immer wieder argumentiert worden, daß der Navigator theorie­ strategisch eigentlich über die gestrichelte Linie zum Beobachter hinüber versetzt werden müsse. Freilich löst sich dann der (sozialwissenschaftliche) Gegenstand als Einheit auf, das Gehäuse bleibt als reine Gegenständlichkeit übrig, die empirische Zu­ gänglichkeit bzw. gar Existenz des Navigators wird hochproblematisch. In den sozialwissenschaftli­ chen Diskursen steht daher eher die Frage im Vordergrund, ob der Navigator als fremdprogram­ miert oder als selbstprogrammiert aufzufassen sei: Die Annahme der Fremdprogrammierung führt zu einer Verhaltenstheorie, dem Navigator eine Selbstprogrammierung zuzugestehen, bedeutet die Entscheidung für eine Handlungstheorie. In letzte­ rer gilt der Navigator als zweckesetzende Instanz, die sozusagen das Gehäuse in Fahrt bringt, indem sie seiner Fortbewegung eine Richtung gibt. Derartige Überlegungen können m. E. freilich nur eines deutlich machen: Goffmans Analysen kommt man so in keiner Weise näher. Das gilt gerade auch für die Handlungstheorie, nach deren Prämissen Goffmans Werk so oft beurteilt wird. Aber es ist für die Wechselwirkungen zwischen den „vehicular units“ im Prinzip ganz unerheblich, welche Zwecke die Navigatoren letztendlich ver­ folgen. Die Vermeidung von Kollisionen, die in­ tersubjektive Abstimmung der Wechselwirkun­ gen, die Aufrechterhaltung der interaktiven Ord­ nung: sie geben praktische Probleme auf und füh­ ren dementsprechend zu beobachtbaren Phänome­ nen, die eben nicht aus Zwecksetzungen - genau­ sowenig aus Lerngeschichten, genetischen Disposi­ tionen und dergleichen - abgeleitet werden kön­ nen. Das legt die Vermutung nahe, daß Goffmans Analysen grundsätzlich nicht den mit dem obigen Schema angedeuteten Denkweisen folgen. Ungeeignet ist dieses Schema vermutlich deshalb, weil es von vornherein sowohl die Relation zwi­ schen Beobachter und Gegenstand wie auch die Relation zwischen Gehäuse und Navigator als Ver­ hältnis zwischen Entitäten auffaßt, während es in Goffmans Analysen tatsächlich um den Zusam­ menhang von Zeichen geht. Zeichen sind sozusa­ gen wesenshaft Kontextphänomene, d. h. sie exi­ stieren nur innerhalb von Strukturen, sie konstitu­ ieren Systeme von Unterschieden, bei denen es „auf die Anwesenheit bzw. Abwesenheit eines Elements und nicht auf dessen Art ankommt“ (Eco 1977: 84). Somit läßt sich ein „vehicular unit“ als ein Zeichenzusammenhang auffassen, der mindestens - folgendes Komplexitätsniveau bein­ haltet (Schema vereinfacht nach Eco 1977: 44): Schema 2 B eobachter--------------------------------- > Zeichenzusammenhang „vehicular unit“, konstituiert durch: Zeichen künstliche mit der Absicht zu designieren Absicht in Primär­ oder Sekundärfunk­ tion enthalten Die erste Unterscheidung - natürliche und künstli­ che Zeichen - markiert bereits die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Gehäuse und Navi­ gator. Aber dann wird die Sache recht komplex: natürliche Verweis auf natürliehe Dinge und Sachverhalte unwillkürlich von einem Menschen her­ vorgebracht Ein relativ harmlos dahinfahrender PKW ist in jeder gegebenen Situation ein Zeichenzusammen­ Unauthenticated hang, in dem Natürliches (seine Größe, Schwere, Download Date | 2/14/17 12:09 usw.), AM momentane Geschwindigkeit indirekt auf 334 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345 den Fahrer Hinweisendes (Fahrverhalten), direkt vom Fahrer um des Anzeigens willen Angezeigtes (z. B. Blinkzeichen) und als Primärfunktion (Fami­ lienkutsche oder Sportwagen) bzw. Sekundärfunk­ tion (Fortbewegungsmittel oder Statussymbol) Aufgedecktes abzulesen sind. Das bedeutet: Der Fahrer entwirft ein Bild von sich - aber (weitge­ hend) nicht als Zweck, sondern sozusagen als not­ wendige Folge der semiotischen Dimension im so­ zialen Leben. Einen Beobachter gibt es für dieses Bild immer: Den Fahrer selbst in seiner Eigen­ schaft als Navigator. Die semiotische Dimension in den menschlichen Um- bzw. Mitweltbeziehungen kann somit die Möglichkeit des Umschlagens von Fremdkontrolle in Selbstkontrolle im Sinne der Elias’schen Zivilisierungstheorie (1980) erklären. Daß ein Autofahrer permanent Zeichen deutet und sich damit selbst kontrolliert, davon sind die realen Folgen im alltäglichen Verhalten beobacht­ bar. „Verantwortungsbewußtes“ Fahren wäre oh­ ne diese Verallgemeinerung der Beobachtungssi­ tuation nicht vorstellbar. Diese semiotisch-kommunikationstheoretische In­ terpretation von Goffmans Ansatzpunkt erlaubt eine Antwort auf zwei der eingangs dieses Ab­ schnitts aufgeworfenen Fragen: Die für Goffmans Ökologie spezifische Umwelt besteht aus Zeichen­ zusammenhängen. Und die Individuum-UmweltRelation in seinen Analysen stellt sich dar als das Aussenden und Auffangen von Zeichen. Die Not­ wendigkeit des Eindrucksmanagements liegt dann auf der Hand: Einschlägige Mißverständnisse zwi­ schen „vehicular units“ können tödliche Folgen haben. Eine solche Begründung kann außerdem auf zwanglose Weise einen Nenner liefern, auf den seine diversen theoretischen Herleitungen zu brin­ gen sind (freilich selten ohne Rest): Wenn die neueren Entwicklungen in Linguistik und Etho­ logie, Sprachphilosophie und Theater des Absur­ den, Phänomenologie und Batesonscher Ökologie überhaupt etwas gemeinsam haben, dann eben die Entdeckung der pragmatischen Kommunikation(saspekte) als konstitutiv für eine spezielle Realitätsschicht - für die Dimension menschlicher Existenz, die N. Elias (1984: XXIIIff.) die „fünfte Dimension“ genannt hat. Aber Goffman hat sich einer konsequenten kom­ munikationstheoretischen Begründung seiner Analysen verweigert.5 Das dürfte mit den lange im sozialwissenschaftlichen Diskurs vorherrschenden Objektivitätsbegriffen zu tun haben: Während nämlich in den Naturwissenschaften spätestens seit N. Wiener (1948) der eigenständige Realitätsan­ spruch des Phänomenbereichs von Information und Kommunikation eine Selbstverständlichkeit geworden ist, ziehen bis heute in der Soziologie „kulturalistische“ Erklärungen oft den Verdacht der Unwissenschaftlichkeit auf sich. Die Sozial­ struktur als Primärgegebenheit darf gemäß ver­ breiteter Meinung bestenfalls mit dem Begriff des „Interesses“ - der dadurch freilich schnell zur metaphysischen Leerformel wird - mit der „fünf­ ten Dimension“ verknüpft werden - ansonsten gel­ ten Kommunikations- und Erfahrungsprozesse als abzuleitende Phänomene bzw., so der späte Goff­ man (1974: 13) ausdrücklich, als „matters that are second“. Aber es gibt keinen brauchbaren Grund, die An­ setzung der Interaktion als Realitätsbereich eige­ ner Art mit einer Abwendung von „objektivisti­ schen“ Analyseinteressen gleichzusetzen, denn die Interaktion zwischen den Vehikeln wird von den Regeln des Straßenverkehrs angeleitet, die als Teil der öffentlichen Ordnung durchaus „objektiv“ ge­ nannt werden können. Der Begriff der öffentli­ chen Ordnung (bei Goffman „public order“, manchmal auch „public life“ oder „social organiza­ tion“, am wenigsten geeignet scheint mir allerdings der Begriff der „interaction order“6*) bezieht sich natürlich nicht nur auf so anonyme Regeln wie die Straßenverkehrsregeln, denn je weiter das Indivi­ duum in nicht-anonyme, also „persönliche“ soziale Zusammenhänge verstrickt wird, desto relevanter und wirkungsvoller wird die Zeichendimension, und desto mehr wird das Individuum mitverant­ wortlich für die Schaffung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, d.h. des Komplexes interpretierbarer und nicht-gefährdender Zeichen­ normalität. 5 In einem Gespräch mit Y. Winkin gab er sich überra­ schenderweise als überzeugter - wenn auch unfreiwillig marginalisierter - Mainstream-Soziologe, der nicht, wie die „freaks“ und „cowboys“ in der Art von Bate­ son, gegen die herrschende Denkrichtung anschwim­ men wollte. Außerdem zog er einem umfassenden Kommunikationsbegriff den Terminus „display behav­ ior“ vor (Winkin 1988: 235ff.). 6 Denn Goffman geht es keineswegs um eine allgemeine Logik (oder auch Grammatik etc.) der Interaktion Garfinkeis Programm nennt er „the sociologist’s alche­ my“ (1974: 5) - , sondern um die konkreten gesell­ schaftlichen RegelnUnauthenticated für Zeichenproduktion und -deuDownload Date | 2/14/17 12:09 AM tung. Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst Damit erhebt sich aber die erste der eingangs dieses Abschnitts gestellten Fragen mit verstärkter Dringlichkeit: Was ist in Goffmans Ökologie der sozialen Situation eigentlich „das Individuum“? Im Kontext der Analyse der „vehicular units“ schreibt er, daß man zwar das Individuum in verschiedene Rollenbegriffe zu zerlegen gelernt habe, daß letzt­ endlich aber eine genaue Analyse auf die grund­ sätzliche Ungenauigkeit des Individuumsbegriffs als solchem stoßen müsse ... Und wenn das auch für den Interaktionsanalytiker so sein mag, die Frage bleibt: Was wird aus dem Individuum als moralische Einheit, d. h. als Person? Und was aus dem Ich dieser Person, ihrer Identität? Kurz: Wo bleibt das Subjekt?7 335 ist eine „Enttranszendentalisierung“ bzw. - wie man in einer heute aktuellen philosophischen Ter­ minologie sagen könnte - „Dezentrierung“ des Subjektbegriffs eine bereits im Ansatz angelegte theoriestrategische Grundentscheidung. Sehr deutlich wird das in der „Rahmenanalyse“. Die Rahmen sind gesellschaftliche Regeln der Identifikation von Ereignissen, sie liefern alltags­ praktische Antworten auf die Frage „Was ist hier los?“, und insofern sind sie Elemente sozialer (Kommunikations-)Systeme. Sie sind das, was die jeweils geltende öffentliche Ordnung den Individu­ en als Interpretationsschemata für deren Zeichen­ umwelt zur Verfügung hält. Damit sind die Rah­ men in Goffmans Konzeption sowohl die Mecha­ nismen, die intersubjektives (darunter auch: sym­ bolvermitteltes) Verstehen ermöglichen als auch die Organisationsprinzipien individueller bzw. sub­ 4. Die Dialektik der Interaktion jektiver Erfahrung. Mit dieser Prämisse stellt sich Häufig wird gegenüber Verallgemeinerungen Goffman sozusagen von vornherein quer zur philo­ kommunikationstheoretischer Annahmen das Ar­ sophischen Tradition der Bewußtseinsphilosophie gument vorgebracht, bereits der Begriff der Kom­ - was er selber durchaus so gesehen hat, wenn er munikation setze die Existenz von mit Bewußtsein von einem „subversive phenomenological twist“ ausgestatteten Subjekten voraus. Als Prämisse läßt im Hinblick auf seine Gewährsleute James und sich das natürlich (wie jede Prämisse) nicht wider­ Schütz spricht (Goffman 1974: 2). legen - allerdings reproduziert diese Konzeption Rahmen gliedern sich gemäß ihrem Komplexitäts­ bestenfalls unseren alltagssprachlichen Informa­ tionsbegriff (und schlimmstenfalls die Habitualisie- grad: Primäre Rahmen sind elementare Interpre­ rung der neuzeitlichen Abbildepistemologie in un­ tationsschemata, die den Erfahrungsbereich in serer Alltagssprache). Nun ist in der (Evolutions-)- „soziale“ und „natürliche“ Ereignisse aufgliedern. Biologie die konstitutionstheoretische Rangfolge Über derartige Distinktionsmöglichkeiten verfü­ gen zweifellos auch schon höhere Tiere, für die es zwischen kommunikativer Kompetenz und Sub­ lebensentscheidend sein kann, ihre einschlägige jektivität bzw. Subjektstatus längst umgekehrt Zeichenumwelt adäquat zu deuten. Für den mo­ worden8 - wie auch in manchen Teilen der Entdernen Menschen konstituieren die natürlichen wicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, nicht Rahmen die letztendlich physikalische, d. h. ge­ zuletzt unter dem Einfluß des gelernten Biologen setzmäßig determinierte Welt, die sozialen Rah­ Piaget (vgl. Kegan 1986; Gergen/Davis 1985). In men verweisen auf zumindest potentiell intelligen­ Goffmans Ökologie der sozialen Zeichenumwelt tes Handeln, also auf einen „Täter hinter dem Tun“ (Dux 1988), der jedenfalls prinzipiell für das Geschehen verantwortlich gemacht werden kann (Goffman 1974: 22ff.). Die Konsequenzen dieser kognitiven Ordnung des Zuschreibungs- und Er­ 7 Frank (1986) entwickelt und begründet ein philosophi­ fahrungsdualismus sind bekannt: der Verlust eines sches Argument für die Notwendigkeit der Differenzie­ umfassenden Naturbegriffs und die Notwendigkeit rung zwischen Subjekt (als ein spezifisches Allgemei­ der teilweisen oder völligen Ausgrenzung von nes), Person (dessen Besonderung) und Individuum Menschen, die gegen die vorherrschenden Bestim­ (als ein spezielles Einzelnes). Das bedeutet u. a., daß wichtig für sozialwissenschaftliche Theorien selbstre­ mungen von normaler Verantwortlichkeit irgend­ ferentieller Systeme - nicht der biologische Organismus (und seine Kognitionen) als (ganzheitliches) Element (eben als „Individuum“) von sozialen Systemen angese­ hen werden sollte, sondern die Person als moralische (Zuschreibungs-)Einheit. Kurz: nicht „die Gesell­ schaft“ ist ein „autopoietisches“ System, sondern deren moralischer Zustand, d. h. ihre öffentliche Ordnung. 8 Mit philosophischem Anspruch vor allem in der sog. Unauthenticated vgl. zur neueren Evolutionären Erkenntnistheorie, Download Riedl/Wuketits Date | 2/14/17 12:09 Diskussion (1987).AM 336 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345 wie - absichtlich oder unabsichtlich - verstoßen (ein Hauptthema in Goffmans eher anwendungs­ orientierten Analysen). Im Zentrum der Rahmenanalyse stehen aber nicht die Implikationen der herrschenden primären Rahmen, sondern deren Transformationsmöglich­ keiten. Rahmen können durch „keyings“ (Modula­ tionen bzw. Verschlüsselungen wie z. B. sportliche Wettkämpfe, Zeremonien und dergleichen) oder „fabrications“ (absichtliche und einseitige Täu­ schungskonstruktionen) transformiert werden, wo­ bei multiple Aufschichtungen möglich sind. Es ent­ stehen mehrdeutige, komplexe Situationen. Die beiden Transformationsmöglichkeiten unterschei­ den sich im Hinblick auf die mit ihnen verbundene Diskreditierbarkeit: Das Mißlingen einer Modula­ tion, z. B. wenn Spiel in Ernst umschlägt, diskredi­ tiert Situationen, eine auffliegende Täuschung da­ gegen die Situationen und diejenigen Menschen, die verantwortlich in die Täuschung verstrickt wa­ ren. Aber auch Modulationen und Täuschungen sind als Teile des jeweiligen Systems gesellschafts­ relativer Regeln der Erfahrungsorganisation zu se­ hen: Das Mißlingen einer experimentellen De­ monstration kann in einer verwissenschaftlichten Kultur diskreditierende Wirkungen zeitigen, be­ sonders wenn Unregelmäßigkeiten in der Experi­ mentalanordnung deutlich werden sollten, in einer magischen Kultur dagegen können spezielle Mo­ dulationsweisen für offenkundig unzutreffende Prognosen oder sichtbare Manipulationen zur Ver­ fügung stehen. Tatsächliche Rahmungen werden also durch die geltende öffentliche Ordnung im Hinblick auf Zuschreibungen codiert, daher sind sie relativ zu deren „Kosmologie“, wie Goffman (1974: 27) das System der Rahmungen nennt. Insoweit hat Goffman das Erfahrungssubjekt sozu­ sagen von außen dezentriert, nämlich durch die Verlegung der Erfahrungsorganisation in den ge­ sellschaftlichen Kommunikationsprozeß, den die Individuen dann nur noch adäquat aktualisieren oder auch nicht. Aber dabei blieb er nicht stehen. Bei der Aufzählung der für unsere Gesellschaft grundlegenden Arten der Erfahrungsorganisation zählt er die Phantasie bzw. das Tagträumen aus­ drücklich mit zu den Modulationen: „The individu­ al imagines some strip of activity, all the while knowingly managing the development and out­ come to his own liking or disliking“ (Goffman 1974: 52). Wesentlich ist hier: das Individuum weiß, daß es nicht auf primärer Rahmenebene handelt, sondern daß es moduliert: sein Handeln, seine Erfahrung und - in der (insofern diskreditier­ baren) Situation - auch sich selber. Weniger harm­ los bezüglich der persönlichen Diskreditierbarkeit sind die Selbsttäuschungen. Unter diese Rahmen­ transformationen subsumiert Goffman (1974: 114ff.) vor allem die psychotischen und hysteri­ schen Symptome, aber auch Somnambulismus, Wahnideen und die ganz „normalen“ Träume - die wohl eben wegen des Täuschungscharakters als so „entlarvend“ im Hinblick auf ihr Subjekt gelten können. Allgemein gilt also: Für Goffman stellt auch das „Innenleben“ des Individuums keine Pri­ märgegebenheit dar, keine „primordiale Sphäre“, in „universaler“ und „apodiktischer“ Evidenz (Husserl 1977), keine Urgegebenheit der reinen Selbstbeziehung, sondern die Anwendung „objek­ tiver“ gesellschaftlicher (Kommunikations-)Regeln bei der Interpretation eines bestimmten Seg­ mentes der menschlichen Zeichenumwelt. Frei­ lich: der verwendete Objektivitätsbegriff steht nicht in einem Verhältnis der Entgegensetzung zum Subjektivitätsbegriff, es handelt sich bei der Rah­ menanalyse (und der ganzen Goffmanschen Sozio­ logie) daher kaum um eine (z. B. strukturalistische oder neo-strukturalistische) „Philosophie ohne Subjekt“ (Bourdieu/Passeron 1981), sondern um den Versuch der theoretischen Konzeptualisierung derjenigen Objektivitäten, die eine Erklärung von Subjektivität(en) möglich machen sollen. Bereits Mead versuchte bekanntlich Subjektivität zu erklären, indem er hervorhob, daß das mensch­ liche Individuum seine Existenz als biologischer Organismus durch eine Transformation der Zeichen(um)welt als solcher transzendiere. Zeichen ihrer Natur nach physikalische Ereignisse mit Wir­ kungen auf einen Beobachter - werden universalisiert (Mead nannte sie dann Symbole), wenn sie für jeden Beobachter, den Zeichensender einge­ schlossen, potentiell gleiche Bedeutung haben. Im Gegensatz zu bloßen Anzeichen - z. B. unwillkür­ lichen Gebärden - konstituieren allgemein bedeut­ same und situationsübergreifende Symbole, da ih­ rerseits eingebunden in ein „logisches Universum“ (Mead 1975: 129f., 198ff.), eine emergente und eigenständige Realitätsschicht, die aber gleichwohl von ihrer Aktualisierung im menschlichen Han­ deln abhängig bleibt. Diese Transformation der Zeichenwelt transformiert aber gewissermaßen die Individuen auch mit: aus biologischen Organismen werden personale Subjekte, die an der Aktualisie­ rung von (ihrer) Subjektivität arbeiten. Meads In­ teresse galt den allgemeinen Implikationen dieses Unauthenticated Transformationsprozesses, vorrangig der Frage, Date Identität | 2/14/17 12:09 AM wieDownload (personale) auf dieser neuen Reali­ Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst tätsebene möglich ist,9 Goffman setzt als Rahmen­ analytiker empirisch an, denn auch bei der symbo­ lischen Interaktion zwischen Subjekten folgen die Individuen den Regeln ihrer jeweiligen öffentli­ chen Ordnung, die ihnen Rahmungscodes für die Evaluation erreichter bzw. verfehlter Personalität liefert. Aber eben nur die Codes: deren Aktuali­ sierung bleibt für Goffman immer „subjektive“ Leistung.10 Daraus ergeben sich zwei theoretische Folgen: - Das substantivische „Selbst“ oder „Ich“, mit dem eine Person sich auf sich selber bezieht, be­ steht aus der Aktualisierung gesellschaftlicher Re­ geln der Selbst-Beobachtung. Als subjektive Lei­ stung setzt diese Aktualisierung eine Projektion voraus: den Bezug eben dieser Regeln auf das Selbsterlebte, bzw. anders gewendet, die imagina­ tive Konstruktion eines personalen Selbstbildes (bei Goffman: „face“ oder „front“), auf das eigene (d. h. selbst-beobachtete) Erfahrungs- und Verhal­ tensweisen projiziert werden können. Diese Pro­ jektion - in „Stigma“ (1964) differenziert Goffman den das Selbstbild konstituierenden Erfahrungs­ raum in soziale Identität (Stellung im Hinblick auf soziale Klassifizierungen), persönliche Identität (das Subjekt eines Lebenslaufs) und Ego-Identität (Identifikation des Individuums mit seinen eigenen 9 Allerdings gilt Mead in der Soziologie - vor allem durch den Einfluß Blumers (1969) - fast nur als Theo­ retiker der symbolischen Interaktion, kaum gewürdigt wurde der zeichentheoretische Darwinismus bei Mead, nämlich eben die Analyse der Herausbildung von Sub­ jektivität (onto- wie phylogenetisch) durch die Zei­ chentransformation. So konnte seine Theorie doch im­ mer wieder mit traditionellen Subjektivitätsvorstellun­ gen vermengt werden - entweder durch die simplifizie­ rende Gleichsetzung des Bewußtseins der Spontaneität seiner selbst (Meads „I“) mit dem „eigentlichen Ich“ (dem der neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie), oder, theoretisch komplexer, freilich mit den gleichen Fol­ gen, durch den zusätzlichen Einbau der klassischen Argumentationsfigur einer „originären Selbstbezie­ hung“ in die Konstitutionstheorie (vgl. z. B. Habermas 1988: 217ff.). Goffman dürfte, bei aller Abhängigkeit seiner Arbeiten von Mead’schen Vorgaben, durch die­ se verbreiteten Rezeptionsformen davon abgehalten worden sein, sich noch stärker auf Mead zu stützen. 10 Psychische Systeme - die für Goffman wie für Luhmann (1984: 346ff.) etwas ganz anderes sind als die aus Kommunikationen bestehenden sozialen Systeme können daher in seinem Ansatz trotzdem nicht als bloße Umwelt des Interaktionsprozesses verstanden werden. 337 Merkmalen) - ist nun ebenfalls nicht primär psy­ chologisch zu verstehen: es geht um die Regeln der gegenseitigen Anerkennung als Subjekte. Insofern ist die Projektion ein grundlegender Funktionsme­ chanismus der öffentlichen Ordnung, denn nur ein substantivisches Selbst erlaubt die Zurechnung von Verantwortungsfähigkeit, und nur die Internalisie­ rung der entsprechenden Zuschreibungsregeln in die Selbstbeobachtung kann so viel Selbstkontrolle im (sozialen) Handeln auslösen, daß komplexe Formen der öffentlichen Ordnung, wie sie in mo­ dernen und demokratisierten Industriegesellschaf­ ten vorherrschen, möglich werden. - Da Selbstbilder expressiver Natur sind, ist nicht nur ihre Konstitutionsbasis sozialer Art, sondern auch ihre Aktualisierungen sind soziale Darstel­ lungen („performances“). Es genügt nicht, nur das eigene Gesicht (d. h. Selbstbild) wahren zu wollen, wirkliche inter subjektive Anerkennung ist nur dann zu haben, wenn auch der bzw. die Interak­ tionspartner, also alle die, auf welche mit dem Ausdruck des Selbst Eindruck gemacht werden soll, ihrerseits als Subjekte mit einem Selbstbild konstituiert werden. „One’s own face and the face of others are constructs of the same order; it is the rules of the group and the definition of the situa­ tion which determine how much feeling one is to have for face and how this feeling is to be distribut­ ed among the faces involved“ (Goffman 1967: 6). Allerdings handelt es sich bei dieser wechselseiti­ gen Darstellungsstabilisierung keineswegs um eine Reziprozitätsnorm im Hinblick auf die Anerken­ nung normativer Subjektivitätsansprüche: Selbst­ bilder werden nicht notwendigerweise ratifiziert, aber immer inszeniert, die Wechselseitigkeit liegt in der intersubjektiven Bezogenheit der Inszenie­ rungen. Die elementare Sanktion für mißglückte Zeichen­ setzung, noch auf der aktuellen Interaktionsebene selbst angesiedelt, ist Verlegenheit - wobei auch hier kulturrelative Formen unterschieden werden können (vgl. Kuzmics 1986). Allgemeinere und schwerere Verstöße gegen die öffentliche Ordnung der Interaktion können bis zur Absprechung des Subjektstatus des „Schuldigen“ führen. Hier lauert freilich ein Paradox, das schnell praktisch wirksam werden kann, wenn nämlich eine als solche gut gemeinte soziale Hilfeleistung in eine Form der sozialen Kontrolle umschlägt, in der - explizit oder implizit - der Vorwurf der mangelhaften Subjekti­ vitätsleistung mit der Verhinderung einschlägiger Unauthenticated Darstellungsmöglichkeiten verknüpft wird - eine Download Date | 2/14/17 12:09 AM Situation, die vor allem für die Insassen der von 338 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345 Goffman (1962) analysierten „Asyle“ gilt, die aber generell Hilfeleistung zu einer interaktionistisch prekären Sache macht. Allerdings bringen nicht nur „schlechte“ Darstel­ lungen die Gefahr hervor, in eine Paradoxie zu führen, auch für „gute“ gilt Ähnliches. Das hängt mit dem Umstand zusammen, daß die Expressivi­ tät des Menschen aus (mindestens) zwei verschie­ denen Zeichenarten zusammengesetzt ist: „the ex­ pression that he gives, and the expression that he gives off“ (Goffman 1969: 14, Hervorh. i. O.). Diese Unterscheidung ist einfach eine Folge des Umstandes, daß jeder (kommunikationstheore­ tisch „normal“ kompetente) Beobachter zwischen mehreren Zeichenarten differenzieren kann, und daß sein Realitätsbegriff Rahmungen, Modulatio­ nen und Täuschungen voneinander abzugrenzen gestattet. Eben das ermöglicht es dem Beobachter (inklusive dem Selbst-Beobachter), echte Intentio­ nalitäten zu erschließen sowie zufällige Koinziden­ zen zu neutralisieren, aber gleichzeitig bedeutet diese notorische Mehrdeutigkeit der Zeichenwelt, daß sich der Beobachter nie sicher sein kann, was „eigentlich gemeint“ ist mit irgendeiner Verhal­ tensweise - und wäre es seine eigene. Das wieder­ um zwingt den Handelnden, den Eindruck, der ihm durch unbewußtes Anzeigen gewissermaßen unterlaufen könnte, nach Möglichkeit ebenfalls zu kontrollieren, und durch Informationskontrolle seine Selbst-Expressivität zu steuern. Das weiß aber der (Selbst-) Beobachter, und er macht die Unterscheidung zwischen bewußter Zeichenaussendung und unbewußt Angezeigtem aufs neue, worauf der Handelnde mit erneuter Kontrolle auf höherer (Modulations-)Ebene reagiert usw. Das Resultat nennt Goffman die „fundamentale Dia­ lektik der Interaktion“: „In their capacity as per­ formers, individuals will be concerned with main­ taining the impression that they are living up to the many standards by which they and their products are judged. Because these standards are so numer­ ous and so pervasive, the individuals who are performers dwell more than we might think in a moral world. But, qua performers, individuals are concerned not with the moral issue of realizing these standards, but with the amoral issue of engi­ neering a convincing impression that these stan­ dards are being realized“ (Goffman 1969: 243, Hervorh. i. O.). Handlungstheoretisch betrachtet scheint es nun ge­ radezu unvermeidlich, diese „Dialektik“ in einen moralischen Vorwurf gegenüber den Subjekten umzumünzen - wofür spätestens seit Rousseau (in Transformation älterer Formen allgemeiner Imma­ nenzkritik) die diskursive Gattung der Gesell­ schafts- und Kulturkritik zur Verfügung steht, die es erlaubt, Darstellungsweisen als solche zu verur­ teilen, und damit die Subjekte gemäß ihrer Potentialität zur Überwindung jeder Darstellung gleich­ zeitig normativ zu erhöhen.11 Kommunikations­ theoretisch betrachtet hat die Dialektik der Inter­ aktion freilich eine grundsätzlichere Bedeutung sie steht dann für „das Drama, das heraufbeschwo­ ren wird, wenn Organismen, die vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, entdecken, daß ihre Signale Signale sind. Dann kann nicht nur die typisch menschliche Erfindung der Sprache folgen, sondern es folgen auch all die Komplikationen des Einfühlungsvermögens, der Identifikation, Projek­ tion usw.“ (Bateson 1983: 243). Es handelt sich danach um ein echtes Paradoxon der Kommunika­ tion, das Bateson übrigens entdeckte, als er spie­ lende Tiere beobachtete: Im Spiel kommunizieren bereits Tiere, daß bestimmte Verhaltensweisen nicht die Bedeutung haben sollen, die sie sonst haben. Insofern sind Rahmen im Spiel, die Bate­ son ausdrücklich mit den bekannten logischen Pa­ radoxien der Selbstreferenz parallelisiert, denn die Rahmungen funktionieren als Negation des Ge­ rahmten. Goffman gewann daraus (in expliziter Anknüpfung) seinen Begriff des Moduls und der Modulation (key und keying) - und ließ in seiner Rahmenanalyse die logische Diskussion ebenso weg wie die evolutionstheoretische Generalisie­ rung. Aber damit koppelte er seine dramaturgischsemiotische Perspektive in der Soziologie des All­ tagsverhaltens nur vermeintlich von der allgemei­ nen anthropologischen Reflexion ab: diese holte in Form des handlungstheoretischen Mißverständnis­ ses, demzufolge das Eindrucksmanagement in der Selbstdarstellung grundsätzlich als ein Symptom der Selbstentfremdung aufzufassen ist, seine Ana-1 11 Dieser Diskurs hat ja schnell eine relativ stabile Insti­ tutionalisierungsform im (früh-)bürgerlichen Kultur­ betrieb gefunden - zur bürgerlichen Selbst-Erhöhung durch Kultur vgl. Nipperdey (1988) - , so daß der „literarische Prozeß des Modernismus von Rousseau bis Adorno“ (Jauß 1983) einer solchen Grundlinie folgen konnte. Bezeichnenderweise konfrontiert Gouldner (1974: 462f.) den Ansatz von Goffman aus­ drücklich mit der Philosophie Rousseaus, um aus die­ ser Gegenüberstellung die These abzuleiten, daß die Beschäftigung mit der (eigenen) Expressivität als Ver­ haltenssyndrom eines seine eigenen Werte verleug­ Unauthenticated nenden (Klein- bzw. Spät-)Bürgertums angesehen Download Date | 2/14/17 12:09 AM werden müsse. Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst lysen in der fachlichen Rezeption doch immer wie­ der ein. Das führte zu einer erheblichen Unter­ schätzung der Bedeutung seines Ansatzes sowohl im Hinblick auf den möglichen Beitrag zu einem evolutionstheoretisch naturalisierten Menschen­ bild12 als auch bezüglich der zeitdiagnostischen Implikationen seiner Arbeit. Beides läßt sich an­ deuten durch eine - an dieser Stelle notwendiger­ weise nur skizzenhafte - Erinnerung an den gei­ stesgeschichtlichen Zusammenhang von moderner Subjektphilosophie und entsprechender Subjekti­ vitätscodierung. 5« Moderne Subjektphilosophie und die Codierung von Subjektivität In der so ziemlich genau an der „Schwelle zwischen Klassik und Modernität“ (Foucault 1978: 368) ste­ henden Philosophie Kants läßt sich die konzeptuel­ le Zerreißung des Menschen („Bürger zweier Wel­ ten“) in eine sinnlich-empirische Existenz als na­ türliches Wesen in einer (u. a. kommunikativ-mitmenschlichen) Umwelt einerseits und in ein Sprachspieldasein als Träger bzw. Zuschreibungs­ pol einer abstrakten, lediglich als Voraussetzung von Wahrheits- und Geltungsansprüchen fungie­ renden reinen Subjektivität andererseits recht deutlich ausmachen. Von Rousseau hatte Kant gelernt: „Die Menschen sind insgesamt, je zivili­ sierter, desto mehr Schauspieler“ (Kant 1917: 151). Aber daraus folgerte er nicht durch simple Negation auf einen problemlosen Naturzustand, sondern nahm die Einsicht ernster: „Der Mensch ist ein Gaukler von Natur und spielt eine fremde Rolle“ (1923: 92). Daher kann das Problem nicht durch die simple Entlarvung der Rollenspieler ge­ löst werden, verweist doch selbst der Begriff der „Person“ gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung auf das Rollenspiel (Fuhrmann 1979). Somit gilt: „Moralität ist eine Sache der Kunst, nicht der 12 In einem neuen Sammelband klassischer Arbeiten der sog. „Psychobiologie“ (Scherer et al. 1987) wird Goffman als einer der Pioniere dieses Ansatzes genannt im Grunde handelt es sich um die Ausarbeitung der Implikationen von Darwins Arbeit über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Tier und Mensch (die übrigens nicht nur Goffman, wie oben erwähnt, als wichtig für seine Arbeit anführt, die auch, vermittelt von W. Wundt, sowohl erheblichen Einfluß auf Mead wie auch auf Dürkheim gehabt haben dürfte) - und in eine Reihe mit Darwin, Wundt, Piaget, Lorenz, Lewin u. a. gestellt. 339 Natur“ (Kant 1923: 636). Kunst meint hier den schönen Schein des zivilisierten und kultivierten Verhaltens, das nicht von sich aus Moralität be­ deutet (diese kann in der kantischen Ethik nur durch eine über den kategorischen Imperativ regu­ lierte Gesinnung hergestellt werden), das aber den Menschen durch sein Streben nach Ehre und inter­ subjektiver Anerkennung zwingt, seinen Status als bloßes Sinnenwesen zu transzendieren. Damit ist das Rollenspiel - die nur am kommunikativen Erfolg ausgerichtete Selbstdarstellung als morali­ sches Wesen - sowohl die Voraussetzung für echte Moralität (denn die Wahrung des Scheins erfordert immerhin die subjektive Leistung der Darstellung) wie auch eine Art Antriebskraft für die Ausbil­ dung echter moralischer Motive (vgl. Kant 1917: 151ff.). Kants Aufklärungsabsicht läuft also nicht auf das Herunterreißen der (Charakter-)Masken der Eindrucksmanipulateure hinaus - davor warnt er aus­ drücklich, übrigens einschließlich einer zu extensi­ ven Selbstthematisierung (vgl. Böhme 1986: 224) -, sondern im Gegenteil gründet er auf seine Ein­ sicht einen „doxischen Imperativ“ (Sommer 1988: 83ff.), der gerade die Wahrung des schönen Scheins verlangt, außerdem das ausdrückliche Be­ mühen um ihn, damit er seine sozusagen eingebau­ ten Besserungsmöglichkeiten entfalten könne. Das soll nun freilich nicht heißen, daß jeglicher Dar­ stellungsanspruch zu akzeptieren sei. So unter­ schied Kant (1923: 95) ausdrücklich die „natürliche Täuschung“ bzw. „Illusion“ vom „Blendwerk“ oder „Betrug“ und machte dabei (ganz ähnlich wie Goffman bei der Unterscheidung von Modulatio­ nen und Täuschungen) die Form der Diskreditierbarkeit zum Trennungskriterium: „Die Illusion kann mit der Wahrheit der Erkenntnis zusammen bestehen. Aber nicht der Betrug“ (1923: 686). Der systematische Ort dieser Unterscheidung findet sich in Kants Geschichtsphilosophie. Nach dieser hat der Mensch die Aufgabe, durch die Ausbil­ dung aller seiner Naturanlagen den Zweck der Natur selber hervorzubringen, nämlich die allge­ mein befriedete und auf die moralische Autonomie der Willensbildungen aufgebaute bürgerliche (Welt-) Gesellschaft zu realisieren. Insofern gilt dann: „Vollkommene Kunst wird wieder zur Na­ tur“ (1923: 887), denn der sozusagen über die Stufen von (selbstdarstellerischer) Kultivierung und (gesinnungsmäßiger) Moralisierung aufgestie­ gene Mensch findet sich im Zustand der vollkom­ menen Selbstverwirklichung wieder vereint mit der Unauthenticated nun ebenfalls bestimmungsgemäß realisierten Na­ Download Date | 2/14/17 12:09 AM tur. Allerdings bezieht Kant (1977: 35f.) die Auf­ 340 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345 gäbe der Selbstverwirklichung ausdrücklich auf die Gattung und nicht auf die einzelnen Individuen, denn deren „ungesellige Geselligkeit“ (1977: 37f.) wird gerade als derjenige Mechanismus benannt, dessen sich die Natur beim Weitertreiben der Men­ schen zur Erfüllung ihrer (Bestimmungs-)Interessen bedient. Sie macht sich dabei den Umstand zunutze, daß die Menschen gleichzeitig die Gesell­ schaft suchen und ihr doch widerstreben. Kommu­ nikationstheoretisch formuliert: Die miteinander konkurrierenden Darsteller durchschauen einan­ der, das forciert den Ehrgeiz und den Wettbewerb, gleichzeitig aber auch die Reflexionsmöglichkeiten und -fähigkeiten. Die Folgen diskutiert Goffman unter dem (freilich oft normativistisch mißverstan­ denen) Problemtitel der „Rollendistanz“. Diese meint die mehr oder weniger bewußte (und im kantischen Sinne durchaus „künstlerische“) Stili­ sierung des Verhaltens im Hinblick auf die Dar­ stellung je persönlicher Individualität im allgemei­ nen Darstellungsspiel - und damit die Schaffung einer recht instabilen und aktualisierungsrelativen Wirklichkeit, wie sie ein Stil eben konstituiert (Gumbrecht 1986). Der von Luhmann (1980) analysierte Transforma­ tionsprozeß in den die Interaktion thematisieren­ den Semantiken des 17. und 18. Jahrhunderts fin­ det sich in der Philosophie Kants somit deutlich ausgeprägt: Die Auffassung der Interaktion als Kommunikationsprozeß zwischen Individuen, die der Steigerung der Reflexion wie auch der persön­ lichen moralischen Ansprüche für fähig und wert gelten. Dazu kommt die Verzeitlichung des Be­ wußtseins, die es zu denken erlaubt, daß aus kon­ struktiven Illusionen evolutionär gesehen Realitä­ ten werden können. Der kommunikationstheoreti­ sche, evolutionär-konstruktive Denkweg wurde aber keineswegs wirklich beschritten. Schon bei Kant selber beschränkt er sich auf anthropologi­ sche und geschichtsphilosophische Reflexionen „in pragmatischer Hinsicht“. Die zentrale Begrün­ dungsfunktion übernimmt demgegenüber das Konzept der reinen, d. h. empiriefreien Subjektivi­ tät - der Selbstbezug des Reflexionssubjekts -, die nicht nur außerhalb der Natur steht (einschließlich der eigenen inneren, sinnlichen Natürlichkeit), sondern dieser gegenüber. Der Mensch wird so, und sollte es in den Hauptströmungen der Philoso­ phie wie auch in den Grundlagen der Humanwis­ senschaft lange bleiben, „eine seltsame, empirisch­ transzendentale Dublette, weil er ein solches We­ sen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht“ (Foucault 1978: 384). Im philosophischen Diskurs der Moderne - so wie ihn etwa Habermas (1985) rekonstruiert - gilt die sich selbst gewahr gewordene und immer weiter ausbildende reine Subjektivität dann schon selber als Erklärungsprinzip: nicht nur, daß sie sich von der (kantischen) Funktion, Vernunftgarantie und Aufklärungslegitimation zu sein, ablöst und als (angebliche) phänomenale Gegebenheit selbstver­ ständlich wird; als von der Einbettung in natürliche (u. a.: kommunikative) Kontexte befreites Prinzip der Selbsterfahrung bedarf sie neuer theoretischer „Vermittlungen“ mit eben diesen Kontexten. Wir­ kungsträchtige Stationen der deutschen Philoso­ phie des 19. Jahrhunderts lassen sich ebenso als Geschichte solcher Vermittlungsbemühungen le­ sen (vgl. Schnädelbach 1983; Hogrebe 1987) wie beispielsweise auch die Vorgeschichte des französi­ schen (philosophischen) Strukturalismus (Descombes 1981). Die Entwicklung der modernen Sub­ jektphilosophie repräsentiert somit nicht nur eine paradigmatische Weichenstellung in der modernen Anthropologie13, sie widerspiegelt auch die Eta­ blierung und soziale Verteilung bestimmter neuer Rationalitäts- und Legitimationsstrukturen in den sich modernisierenden Gesellschaften. So kann die Durchsetzung des idealistischen Sub­ jektbegriffes am Anfang des 19. Jahrhunderts in einen engen Zusammenhang mit der Verstaatli­ chung des höheren Schulwesens und damit mit der Etablierung eines Bildungsideals, das von philoso­ phisch geschulten Lehrerbeamten verfolgt werden muß, gerückt werden (Kittier 1988). Der Aufstieg vom „ich“ zum „Ich“ - um eine Formel Tugendhats (1979) zu variieren - also die ideologische Steigerung des empirischen Selbstbezugs (und der in diesem angelegten Möglichkeit zur subjektiven Stilisierung in der Rollendistanz) zu den Darstel­ lungsnormen des bürgerlichen Autonomen muß gelehrt und trainiert werden, dafür braucht es nicht nur die entsprechend geschulten Lehrer son­ dern auch die adäquaten Gegenstände, nämlich ein primär vom künstlerisch-literarischen Kultur­ betrieb definiertes Selbst-Verständnis. Da reine Subjektivität sich auf jeden Fall durch ihre Entge­ gensetzung zur (empirischen) Natur definiert (ob sie nun idealistisch diese miterklärt oder nicht), entsteht auch ein von vornherein problematischer Selbstbezug zu den Naturwissenschaften und deren Wissen, es entsteht die Spaltung in das literarisch definierte Selbstbewußtsein (paradigmatisch von 13 Dieser bleibt die Unauthenticated Einsicht in die „Futteralsituation“ Download Date 56) | 2/14/17 12:09 AM (Plessner 1972: der Selbsterfahrung. Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst den die eigene Innerlichkeit zum Sprechen brin­ genden Künstlern ausgedrückt) und die wissen­ schaftlich-technisch erklärte Welt, die sich ganz konkret als die Herausbildung zweier in der Mo­ derne nebeneinander existierender Kulturen nie­ derschlägt. 14* Eine solche normative Aufgabenverteilung trägt den Dualismus der Subjektbegriffe, Kulturen und Selbsterfahrungsweisen in die öffentliche Ordnung der Rahmungsmodalitäten selbst hinein. Daher ist die Verdrängung einer evolutionär-konstruktiven Möglichkeit menschlicher Selbstinterpretation zu­ gunsten eines Konzepts konstitutiver Subjektivität nicht nur metatheoretisch wirkungsvoll gewesen, insofern als sie Intersubjektivität zum Erklärungs­ problem und selbstbezügliche Subjektivität zum Erklärungsprinzip machte (das durch übliche For­ meln wie die, daß „echte“ Subjektivität sich nur in intersubjektiven Zusammenhängen „voll“ ausbil­ den könne, nicht widerlegt, sondern bestätigt wird), dabei wurde auch die Subjektivität zur Grundlage einer modernen „Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“ (Dürk­ heim 1986: 57). Bei Goffman findet sich diese religionssoziolo­ gisch-zeitdiagnostische Einschätzung in eine empi­ rische Problemstellung der Interaktionsanalyse verwandelt wieder. Für die Interpretation seiner Arbeit ist daher eine klare Trennung zwischen einem subjektivitätsfundierten Erklärungsansatz 14 „Die strikt erfahrungswissenschaftlichen Informatio­ nen können in die soziale Lebenswelt nur auf dem Wege ihrer technischen Verwertung, also als technolo­ gisches Wissen eingehen: hier dienen sie der Erweite­ rung unserer technischen Verfügungsgewalt. Sie liegen also nicht auf der gleichen Ebene wie das handlungs­ orientierende Selbstverständnis sozialer Gruppen. Für deren praktisches Wissen, das in der Literatur zum Ausdruck gelangt, kann deshalb der Informationsge­ halt der Wissenschaften nicht unvermittelt relevant sein, - er kann nur auf dem Umwege über die prakti­ schen Folgen des technischen Fortschritts Bedeutung erlangen. Die Erkenntnisse der Atomphysik bleiben, für sich genommen, ohne Folgen für die Interpretation unserer Lebenswelt - insofern ist die Kluft zwischen jenen beiden Kulturen unvermeidlich. Erst wenn wir mit Hilfe der physikalischen Theorien Kernspaltungen durchführen, erst wenn die Informationen für die Ent­ faltung produktiver oder destruktiver Kräfte verwertet werden, können ihre umwälzenden praktischen Fol­ gen in das literarische Bewußtsein der Lebenswelt eindringen - Gedichte entstehen im Anblick von Hi­ roshima und nicht durch die Verarbeitung von Hypo­ thesen“ (Habermas 1969: 239f.). 341 und einem naturalistischen Kommunikationspara­ digma von doppelter Bedeutung: in bezug auf die theoretischen Grundlagen, aber auch im Hinblick auf die spezifische Form des Analysegegenstandes. Goffman (1967: 47) beruft sich ausdrücklich auf Dürkheims Religionssoziologie, wenn er betont, daß „in our urban secular world“ die Person selber als Träger des Heiligen angesehen werde. Es gilt dann, wie er an anderer Stelle schreibt: „One’s face, then, is a sacred thing, and the expressive order required to sustain it is therefore a ritual one“ (Goffman 1967: 19). Allerdings muß das Selbstbild als Heiligtum die Interaktion, gemäß der speziellen Problematik, in die die „Dialektik der Interaktion“ unter dem normativen Bedingun­ gen der Moderne führt, zum hochprekären Ritual machen, da die „Dialektik der Interaktion“ ja gerade darin besteht, daß grundsätzlich die (je individuelle) Darstellung vom (allgemein gültigen) Dargestellten zu unterscheiden möglich ist. Das Selbst als Darsteller entwertet sich damit tenden­ ziell selbst: ein Gott, der explizit um Anerkennung bittet, ist nicht sonderlich anbetungswürdig. An­ ders herum betrachtet: Es ist in der Moderne ein „Typ sozialer Subjektivität“ (Popitz 1987) entstan­ den, der vor einem echten Dilemma steht: Er strebt nach der Anerkennung rein subjektiver In­ dividualität, kann diese aber nicht darstellen, da sie dann eben dadurch nicht mehr existiert. Aber offenkundig so zu sein wie alle anderen, stellt ebenfalls Subjektivität in Frage. Und da in kom­ munikationstheoretischer Betrachtung auch das „Innenleben“ der Subjekte als (internalisierter) Kommunikationsprozeß betrachtet wird, liegt es nahe anzunehmen, daß dieses Dilemma auch in der Selbsterfahrung der Subjekte weiterwirkt. In die durch das Subjektivitätsparadigma codierte öffentliche Ordnung der Erfahrungsorganisation ist dementsprechend tendenziell eine strukturelle Spontaneitätsparadoxie eingebaut. Eine solche kommunikative Paradoxie tritt dann auf (vgl. Watzlawick et al. 1969: 184), wenn eine Aufforde­ rung gemacht wird, deren Befolgung den Inhalt der Aufforderung negieren würde - so wie die Befolgung der Aufforderung „Sei spontan!“ sich selber widerlegt, insofern eine Aufforderung zu befolgen immer das Gegenteil von spontanem Ver­ halten ist. Strukturell wird eine Spontaneitätspara­ doxie dann, wenn (gemäß der herrschenden Co­ dierung der öffentlichen Ordnung) Darstellungen verlangt werden, zu deren Wesen es gehören soll, keine Darstellung zu sein. Impliziert ist darin ei­ Unauthenticated der Rollendi­ nerseits eine Funktionsverschiebung Download Date |Differenzierungsprinzip 2/14/17 12:09 AM stanz: von einem wird sie 342 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345 zu einem Identifikationsprinzip. In ihrer Moderni­ sierungstheorie beschreiben Berger et al. diesen Prozeß als einen Übergang von „Ehre“ zu „Wür­ de“ als dem zentralen Kriterium für erfolgreiche Personalitätsbildung und -behauptung: „Der Be­ griff der Ehre impliziert, daß die Identität intrin­ sisch oder zumindest in bedeutsamer Weise mit institutionellen Rollen verknüpft ist. Im Gegensatz dazu impliziert der moderne Begriff der Würde, daß die Identität intrinsisch von institutionellen Rollen unabhängig ist“ (Berger et al. 1987: 80). Aber eben diese Unabhängigkeit hebt die Funk­ tion der Distanzierungsmöglichkeit auf. Die Folge: „Aus einer gesellschaftlichen Gegebenheit hat sich persönliche Identität in ein kulturelles Oktroi ver­ wandelt“ (Luckmann 1979: 294). Aus einer Mög­ lichkeit, die Personalität (als moralische Selbstbe­ hauptung) anzeigte, wurde eine Norm, die potenti­ ell diese Personalität gefährdet. ber: „Recently this neglected field (nämlich: das Studium der öffentlichen Ordnung, M. W.) has begun to receive very active attention, this being an aspect no doubt of a complex unsettling ex­ pressed variously in the current unsafety and inci­ vility of our city streets, the new political device of intentionally breaking the ground rules for selfexpression during meetings and contacts, the change in rules of censorship, and the social moles­ tation encouraged in the various forms of encoun­ ter group’ and experimental theatre. Indeed, con­ cern about public life has heated up far beyond our capacity to throw light on it“ (Goffman 1971: 13f.). 6. Serielle Konstruktivität: die Entdeckung des Sozialen Goffmans späte Soziologie ist - das letzte Zitat zeigt das deutlich - von den sozialen Erfahrungen Andererseits ist ein Funktionswandel der Selbst- der 60er und 70er Jahre geprägt. Seinen Ansatz­ thematisierung impliziert. Deren klassische vor­ punkt der dramaturgischen Perspektive entwickel­ moderne Formen, wie die katholische Beichte te er, genausowenig zufällig, in der Nachkriegszeit (Hahn 1982), aber auch die lutheranische Innen­ und in den 50er Jahren. Mit einem gewissen Recht schau (Soeffner 1988), waren Reflexion im eigent­ läßt sich daher in der Tat sagen, daß Motive aus lichen Wortsinne: projektive Abbildung von Existentialismus und Phänomenologie, Struktura­ Selbsterfahrenem auf einen ideellen Hintergrund; lismus und Interaktionismus gleichermaßen in sein die Subjektivitätscodierung schließt auch hier ge­ Werk eingegangen sind - und allesamt semiotisch wissermaßen die konstitutive Differenz zwischen (und interaktionsökologisch) transformiert wurden Ideal und Realisierung kurz, und macht somit (MacCannell 1983). Vor allem aber kann seine nicht nur die Überbrückung dieser Differenz viel Soziologie als Analyse dessen gelesen werden, was komplizierter,15 sondern tendenziell die Reflexion der Modernisierungsprozeß aus unserem Alltagsle­ zur Rekursion (Anwendung der immer gleichen ben gemacht hat. Insofern verbindet sich in seinem Operation auf einen gegebenen Sachverhalt) - die Werk eine dezidiert soziologische Anthropologie, Problematik etwa der diversen Psychotherapien deren theoretischer Hintergrund, wie hier gezeigt hängt ja nicht zuletzt damit zusammen, daß sie werden sollte, in einem naturalistisch-evolutionä­ über keinen natürlichen Gesundheitsbegriff und ren Kommunikationsparadigma gesucht werden damit kein natürliches Ziel verfügen, und im Rah­ kann, mit einer zeitdiagnostischen Anwendung men des Subjektivitätsparadigmas so etwas auch und Ausarbeitung eines solchen Ansatzes - ein gar nicht haben können, denn eine anti-natürlich Ansatz, für den es Wurzeln bereits bei Kant gibt, verstandene Subjektivität kann keinen natürlichen der aber durch die moderne Subjektphilosophie Zustand annehmen. verdrängt wurde. Wie die deren Vorgaben ver­ Eine andere Art von Implikation der Spontanei­ pflichtete Codierung von Subjektivität den moder­ tätsparadoxie betrifft die öffentliche Ordnung sel- nen Menschen zu unehrlichen sozialen (Schau-)Spielen verführt, scheint mir Goffmans ganz per­ sönliche zentrale Botschaft. 15 Der Unterschied zwischen dem Ansatz von Goffman In der sich als Fachwissenschaft von den sozialen und einer konservativ-reaktionären Individualisie­ Strukturen etablierenden Soziologie16 wurde Goffrungskritik etwa in der Art von Gehlen (1957) liegt darin, daß für Gehlen die Institutionen entlastend wirken, weil die Menschen gern gehorchen, für Goff­ man dagegen besteht die Entlastungsfunktion darin, daß wenig flexible Institutionen von flexiblen Subjek­ ten relativ leicht unterlaufen und ausgebeutet werden können. 16 Dieser Prozeß läßt sich u. a. auch als eine sukzessive Übernahme evolutions- und emergenzfeindlicher wis­ Unauthenticated senschaftstheoretischer Vorgaben beschreiben (vgl. Download Date | 2/14/17 12:09 AM Wehrspaun 1985). Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst mans Arbeit mit einer gewissen inneren Folgerich­ tigkeit an den Rand der Disziplin gedrängt, nicht zuletzt, weil auch die meisten sozialwissenschaftlichen Subjektivitätstheorien auf die im Rahmen der modernen Subjektphilosophie vollzogene soziale Konstruktion einer selbstbezüglichen und gegen­ standskonstitutiven Subjektivität als primärer Er­ fahrungsgegebenheit aufbauen (vgl. Daniels 1981; Frey/Haußer 1987), und statt dieser die Dezentrie­ rungsbemühungen als gesellschaftliche Symptome hinterfragen - auch diejenigen Goffmans. So hält sich das moderne Subjekt beharrlich gerade aus den sozialen Objektivitäten heraus - vor allem natürlich deswegen, da es der Möglichkeit von Aufklärung über letztere vorausgesetzt zu sein scheint. Neuerdings ist dagegen von einer „Auflö­ sung des Sozialen“ (Bude 1988) die Rede, da die traditionellen, von der Subjekt-Struktur-Entgegensetzung geprägten Diskursformationen durch eine (postmoderne) Auffassung vom Sozialen als „serieller Struktur“ verdrängt werden könnten. Aber in diesem Sinne war Goffmans Soziologie von Anfang an „seriell“ - die zeitliche Aufeinan­ derfolge und das gegenseitige pragmatische InBeziehung-Setzen der (Selbst-)Darstellungen ist für ihn die Selbstorganisation des Sozialen: als des Sozialen. Daher könnte im Hinblick auf seine konstruktiv-semiotische Ökologie der sozialen Situa­ tion eher von einer (Wieder-)Entdeckung des So­ zialen gesprochen werden, nämlich in dessen Rea­ litätsstatus als eigenständiger, nicht-ableitbarer Realitätsschicht, eben als fünfte Dimension der objektiven Welt. Das alte und neue Problem einer sozialwissenschaftlichen Emergenzkonzeption ist es freilich, daß sie den Aufklärer zwingt, sich als Teil seines Gegenstandes, als Prozeß unter den zu beschreibenden Prozessen zu verstehen. Insofern: Wenn Goffman sich immer wieder von seinen eige­ nen Analysen zu distanzieren pflegte, dann kann auch das durchaus als konsequente Durchführung seiner Variante einer Rahmendekonstruktion ge­ sehen werden. Literatur Apel, K. O., 1973: Transformation der Philosophie. 2 Bände. Frankfurt: Suhrkamp. Bateson, G., 1983: Ökologie des Geistes. Frankfurt: Suhrkamp. Berger, P. L./Berger, B./Kellner, H., 1987: Das Unbeha­ gen in der Modernität. Frankfurt/New York: Campus (Neuausgabe). Blumer, H., 1969: Symbolic Interactionism. Perspective and Method. Englewood Cliffs: Prentice-Hall. 343 Böhme, G., 1986: Kants Vorlesung über Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. S. 214-228 in: ders., Philo­ sophieren mit Kant. Frankfurt: Suhrkamp. 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