Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive

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© F. Enke Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345
Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst
Die Bedeutung von Erving Goffmans Ökologie der sozialen Situation für
die Analyse der Moderne
Michael Wehrspaun
Sozialwissenschaftliche Fakultät, Fachgruppe Soziologie, Universität Konstanz, Postfach 55 60, D-7750 Konstanz
Z u s a m m e n fa s s u n g : Für Goffman sind die Probleme des Eindrucksmanagements immer ein zentraler Analysege­
genstand geblieben. In dem Artikel wird die Frage aufgeworfen, welche theoretischen und metatheoretischen
Implikationen mit einem solchen Erkenntnisinteresse verbunden sind. Dabei wird Goffmans Ansatz als eine semiotische Ökologie der sozialen Situation beschrieben, die einen speziellen Begriff des Subjekts - bzw. des „Ich“ oder
„Selbst“ - voraussetzt. Als ein wichtiges Konzept wird die „Dialektik der Interaktion“ besprochen, welche eine große
zeitdiagnostische Bedeutung beinhaltet im Hinblick auf den Subjektivitätscode, der die spezifisch modernen Rah­
mungsformen von Personalität anleitet. Mit einem kurzen Rückblick auf einige Elemente in der Anthropologie Kants
wird das Argument entwickelt, daß es zu dem heute allgemein problematisch gewordenen Subjektivitätscode eine
Alternative in Form einer evolutionär-konstruktiven Kommunikationstheorie gibt, die auch für die Interpretation von
Goffmans Arbeiten wichtig ist.
1. Einleitung
Erving Goffman ist ein innerhalb wie außerhalb
der Sozialwissenschaften außergewöhnlich viel ge­
lesener Autor. Häufige Neuauflagen und zahlrei­
che Übersetzungen (u. a. ins Chinesische) des ei­
nen oder anderen seiner Bücher bezeugen es (Ditton 1980). Zu dieser offenkundigen Akzeptanz
durch die Leser und Buchkäufer steht allerdings
die Ambivalenz, mit der Goffman in der publizier­
ten Fachdiskussion begegnet wird, in einem deutli­
chen Kontrast. Es handelt sich, so der vorherr­
schende Eindruck, um „das geniale Werk des Ein­
zelgängers“ (Joas 1988: 438), das irgendwie quer
liegt zu den etablierten Diskursformationen.
Der öffentliche Erfolg - ein ohnehin höchst frag­
würdiges Qualitätskriterium - könnte so auf die
generelle Popularität der Identitätsthematik zu­
rückgeführt werden, in deren Kontext Goffmans
Werk meist lokalisiert wird. Und ein Blick in die
Taschenbuchregale irgendeiner Buchhandlung be­
legt es reichlich: Identitätsfragen sind ein Mode­
thema, denn in den hochindustrialisierten spätbür­
gerlichen Gesellschaften hat sich die Problematisierung personaler Identität, somit die Thematisierung des Verhältnisses von Anpassung und Auto­
nomie, von Rollenverhalten und Rollendistanz,
verallgemeinert, sie ist von der Spezialität religiö­
ser oder künstlerischer Virtuosen zum allgemein
interessierenden Diskurs geworden (vgl. Luckmann 1979). Hat somit ein Modethema mit Goff­
man einen (weiteren) Modeautor gefunden?
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der fachlichen Re­
zeption folgt im Grunde einer solchen Argumen­
tationslinie. Als dafür repräsentativ (und dement­
sprechend oft zitiert) kann Gouldners Verdikt
(1974: 453ff.) angesehen werden: Goffmans Sozio­
logie beschreibe die Mechanismen der subjektiven
Anpassung an gesellschaftliche Strukturen, die als
solche nicht mehr in Frage gestellt werden, sie
beinhalte das Menschenbild eines desillusionierten
(Klein-)Bürgertums, das, ohne Hoffnung auf und
ohne Interesse an sozialen Veränderungen, sich
selber und den Mitmenschen Theater Vorspiele,
wenn es vorgebe, an der Konstitution eigener per­
sonaler Identität zu arbeiten. Kurz: Das Werk
Goffmans sei sowohl Analyse wie vor allem auch
Symptom einer kulturellen Situation, in der Ein­
drucksmanagement echte Subjekthaftigkeit und
subjektive Heuchelei tatsächliche Individualität
verdrängt habe. Der Vorwurf richtet sich folglich
auf den systematischen Ort von Subjektivität in
Goffmans Analysen, bzw. auf, wie nicht nur
Gouldner meint, das Fehlen eines solchen.
Mittlerweile hat nun freilich die „Frage nach dem
Subjekt“ bzw. nach der Natur von „Individualität“
(vgl. z. B. Frank et al 1988; Frank/Haverkamp
1988) auch in der Philosophie eine neue Brisanz
gewonnen, denn eine explizite Hauptintention der
„postmodernen“ Infragestellung der Grundprä­
missen neuzeitlich-modernen Denkens ist die Ent­
thronung des Subjekts - bezeichnenderweise gilt
das für den sich von Nietzsche und Heidegger
herleitenden Neostrukturalismus ganz genauso wie
für die an Wittgenstein geschulte analytische Phi­
losophie, und auch neue Naturalismen, wie etwa
die Evolutionäre Unauthenticated
Erkenntnistheorie, liegen ganz
auf
dieser Linie.
Selbst dezidierte
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Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345
„Projekts der Moderne“ wie Habermas (1985) ar­
beiten längst ausdrücklich an der Abschaffung des
Subjektparadigmas mit, indem die entsprechenden
normativen Prämissen in eine Theoriebildung, die
auf kommunikationstheoretische Grundlagen um­
gestellt worden ist, eingebracht werden sollen.
Aber wenn es nicht mehr die Subjekte sein sollen,
die vernünftig bzw. unvernünftig sein können,
wenn stattdessen Kommunikationsprozesse einer
solchen Beurteilung durch eine entsprechende
Theoriebildung zugänglich gemacht werden sollen
- dann bedeutet das freilich eine recht grundlegen­
de „Transformation der Philosophie“ (Apel 1973).
In diesem Aufsatz soll die These entwickelt wer­
den, daß erstens die Formel von der „Umstellung
auf kommunikationstheoretische Grundlagen“ ei­
nen Schlüssel bietet für die Interpretation und
Bewertung eines großen Teiles auch der Goffmanschen Soziologie, daß zweitens bei einer solchen
Betrachtungsweise Giddens (1987) recht behält,
wenn er Goffman als einen systematischen Theore­
tiker mit bester empirischer Fundierung aber irre­
führender Selbstthematisierung bezeichnet, und
daß schließlich drittens Goffmans „System“ bzw.
sein „Ansatz“ unausgesprochen1 aber unüberseh­
bar die Forderung nach einer - der philosophi­
schen sozusagen parallel laufenden - Transforma­
tion der Soziologie bzw. des soziologischen Selbst­
verständnisses impliziert.
(bereits posthum veröffentlichten) Presidential
Address („The Interaction Order“). Während letz­
tere im Grunde einen Gegenstandsbereich zu defi­
nieren unternimmt, geht es in der früheren Dar­
stellung um die Identifikation und Abgrenzung
einer Perspektive, die Goffman ausdrücklich als
die seine einführt und begründet: die dramaturgi­
sche Perspektive. „This would lead us to describe
the techniques of impression management employ­
ed in a given establishment, the principal problems
of impression management in the establishment,
and the identity and inter-relationships of the
several performance teams which operate in the
establishment“ (Goffman 1969: 233).
Die dramaturgische Perspektive soll neben die
technische und politische Analyse treten, in denen
es um die Wirksamkeit von Organisationsformen
bzw. die Aspekte von Macht und Herrschaft geht,
aber auch noch eine strukturelle Perspektive, die
an Schichtungsphänomenen ansetzt, und eine kul­
turelle Perspektive - ihr Gegenstandsbereich: die
moralischen Wertsetzungen - (aner)kennt Goff­
man. Jede dieser Perspektiven wird demgemäß
durch eine spezifische Problemstellung konstitu­
iert. Da die Voraussetzungen, Bedingungen und
Folgen des Eindrucksmanagements die Problem­
stellung des dramaturgischen Ansatzes ausmachen
sollen, und da Goffman ganz ausdrücklich die
Gleichberechtigung eines solchen analytischen An­
satzes gegenüber technischen, politischen, struktu­
rellen und kulturellen Analyseformen reklamiert,
muß er somit unterstellen, daß das Eindrucksman­
2. Die dramaturgische Perspektive:
agement auch einen Gegenstandsbereich eigenen
Problemstellung und Realitätsbereich
Rechts - sozusagen eine eigenständige und im
Wenn Goffman in der Einleitung zu seiner „Rah­ Durkheimschen Sinne unreduzierbare Realitäts­
menanalyse“ feststellt: „There are lots of good ebene - darstelle.
grounds for doubting the kind of analysis about to
Aber hier muß sich natürlich die Frage geradezu
be presented. I would do so myself if it weren’t my
aufdrängen: Muß das Eindrucksmanagement denn
own“ (Goffman 1974: 13), dann läßt sich verste­
überhaupt sein? Oder, anders ausgedrückt: Stellt
hen, daß er seinen Rezipienten Probleme aufgibt.
es nicht ein Symptom des Versagens von Politik
Den Versuch, den eigenen Ansatz mit gebühren­
und Technik, von Sozialstruktur und herrschender
der Ernsthaftigkeit als Ansatz darzustellen, hat er,
Kultur dar, wenn Eindrücke als solche ein Man­
von den pragmatischen Einleitungskapiteln in sei­
agement erfordern? Wenn dem so ist, dann müßte
nen Büchern einmal abgesehen, wohl nur zweimal
die Dramaturgie des sozialen Lebens gerade in den
unternommen: Zuerst im Schlußkapitel von „The
anderen Perspektiven ihre eigentliche Erklärung
Presentation of Self in Everyday Life“ und dann,
finden. Insofern steht Goffmans Soziologie von
fast ein Vierteljahrhundert später, in seiner 19831
allem Anfang an vor der Frage, ob sie überhaupt
über einen (legitimen) Gegenstandsbereich verfü­
ge. Und bezeichnenderweise stellt auch noch die
1 Goffmans (vgl. z. B. 1971: 20f.) durchaus radikale Kri­
Presidential Address insgesamt ein - wie immer
tik an der etablierten Sozialforschung blieb immer de­
bei Goffman inhalts- und beispielsreiches - Argu­
fensiv - er entschuldigte sich gelegentlich, nicht ohne
ment dafür dar, daß die „interaction order“ als
Ironie, für die Realitätsnähe seiner Analysen, bei­
Unauthenticated
Realitätsbereich eigenen
Rechts angesehen wer­
spielsweise im Hinblick auf das Argument, er würde
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den könne.
damit die Verallgemeinerbarkeit schmälern.
Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst
Die Akzeptanz einer solchen Problemstellung fällt
auch deswegen schwer, weil die explizite Selbstbe­
gründung im Rahmen des dramaturgischen Ansat­
zes (und mit ihr die theoriestrategische Verwen­
dung der Theatermetaphorik) nach der frühen
Darstellung bei ihm überhaupt nicht mehr auf­
taucht.2* Stattdessen begründete er seine Arbeit
zunehmend mit sehr divergenten theoretischen
Elementen und Entwicklungen. Ein Beispiel für
diese Strategie stellt die Einleitung zur „Rahmen­
analyse“ dar: Die Psychologie von William James
und die Phänomenologie von Alfred Schütz wer­
den hier gewissermaßen auf Linie gebracht mit
Elementen aus der Nach-Wittgensteinschen
Sprachphilosophie und dem Absurden Theater,
aus Batesons „Ökologie des Geistes“ und dem
Symbolischen Interaktionismus, aus Linguistik
und Analytischer Handlungstheorie (vgl. Goffman
1974: 6ff.). Und vielleicht ist es am bezeichnend­
sten, daß an dieser Stelle diejenige programmati­
sche Anlehnung gerade fehlt, welche in seinen
anderen Werken zunehmend in den Vordergrund
rückt: der Hinweis auf die Ethologie. Bereits in
der Einleitung zur Aufsatzsammlung „Interaction
Ritual“ nennt er als sein allgemeines theoretisches
Ziel „to describe the natural units of interaction“
(Goffman 1967: 1) nach dem Muster von Untersu­
chungen u. a. über Tierverhalten, in „Relations in
Public“ spricht er von der Notwendigkeit, endlich
eine naturalistische Interaktionsethologie zu ent­
wickeln (Goffman 1971: 14), und in „Gender Ad­
vertisements“ (1979) wird die an Darwin anknüp­
fende Analyse des Kommunikationsverhaltens
ausdrücklich als eigener theoretischer Hintergrund
eingeführt.
Dementsprechend stellt für Goffman die soziale
Situation die grundlegende Analyseeinheit dar. Sie
besteht in den kommunikativen Wechselwirkun­
gen zwischen den Individuen, die anwesend und
mehr oder weniger involviert in das sind, was in
der Situation gerade abläuft. Buchtitel wie „Rela­
tions in Public“ oder „Behavior in Public Places“
weisen deutlich genug auf dieses „mikroökologi­
2 Ursprünglich dürfte es sich um eine (implizite) Anleh­
nung an den „Dramatism“ des Philosophen K. Burke
gehandelt haben, eine Art szenischer Handlungstheo­
rie in vor allem philosophischer Absicht (vgl. Burke
1968), die soziologisch ohne weitere Wirkungen blieb,
trotz der Versuche von H. D. Duncan (1962; 1968),
den Dramatismus konsequent zu einer kommunika­
tionstheoretisch fundierten Gesellschaftstheorie auszu­
bauen.
331
sehe“ (vgl. Goffman 1979: 6) Erkenntnisinteresse
hin. Allerdings: nur um die Beschreibung und
Klassifizierung alltäglicher Begegnungen im Sinne
einer harmlosen Alltagssoziologie ging es Goffman
sicherlich nicht. Einen „rampant situationalism“
lehnte er ausdrücklich ab (Goffman 1983: 4). Die
Bedeutung von Situation als Grundbegriff liegt für
ihn auch gar nicht primär auf der empirischen
Ebene: „I assume that the proper study of interac­
tion is not the individual and his psychology, but
rather the syntactical relations among the acts of
different persons mutually present to one another.
None the less, since it is individual actors who
contribute the ultimate materials, it will always be
reasonable to ask what general properties they
must have if this sort of contribution is to be
expected of them“ (Goffman 1967: 2). Hier wird
der mit der Perspektive verbundene theoretische
Anspruch deutlich: Zur Analyse steht der eigentli­
che Gegenstand der Interaktion an, und: durch
eine solche Analyse sollen sich allgemeine Merk­
male der Handlungssubjekte erweisen lassen. So­
mit gilt: „Social organization is the central theme“
(Goffman 1967: 2), auch wenn er sofort einschrän­
kend hinzufügt, daß es ihm nur um die flüchtige
Realität realer Interaktionen zwischen tatsächlich
Anwesenden gehe. Aber aus einer solchen mi­
kroökologischen Betrachtung folgt nun keineswegs
rein logisch, daß die Makrodimensionen der gesell­
schaftlichen Organisation quasi-automatisch aus­
geblendet wären (vgl. Giddens 1987). Weniger
irreführend scheint es, die ganze Mikro-MakroUnterscheidung vorerst als zu grob fallenzulassen,
und Goffmans einst mit der Darstellung der dra­
maturgischen Perspektive aufgestellten Anspruch
auf die Weise zu reformulieren, daß postuliert
wird, es gäbe eine Ökologie der sozialen Situation
als spezifische Problemstellung, die sich nicht auf
sozialstrukturelle, normorientierte usw. Analysen
reduzieren lasse, und zwar deswegen, da der ei­
gentliche Gegenstand der Interaktion mit dem
Eindrucksmanagement zu tun habe und dabei et­
was Grundlegendes über den Menschen selbst aussage.
3. Goffmans semiotische Ökologie
Der Begriff der Ökologie wäre hier, was einer
neueren Bedeutung entspricht, als eine bestimmte
analytische Vorgehensweise zu verstehen, nämlich
als Ansatz an einer Individuum (Teilsystems-Um­
welt-Relation, nicht
als ein in sich abgegrenzter
Unauthenticated
Analysebereich
vordefiniertem
Gegenstands­
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Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345
bezug.3 Somit bleibt die Frage nach dem eigentlich
analysierten Realitätsbereich - bzw., da diese Ant­
wort ja bekannt ist, genauer ausgedrückt: nach
dessen legitimen oder illegitimen Realitätsstatus noch immer offen. Allerdings läßt sie sich jetzt neu
stellen: Was ist in Goffmans Analysen das Indivi­
duum? Und was gilt als (dessen) Umwelt? Welcher
Art sind die Relationen?
Goffman hat auf diese Fragen nicht eine paradig­
matisch abgeleitete (z. B. funktionalistische, interaktionistische etc.), sondern sozusagen eine „abduktive“ Antwortstrategie eingeschlagen: Von der
problemgeleiteten Tatsachenbeobachtung zur em­
pirischen Generalisierung, von dieser zur theorie­
geleiteten Neubeschreibung der Tatsachen, beides
(formallogisch: Induktion und Deduktion) ver­
knüpft gemäß dem Gesichtspunkt der Verdichtung
der Beschreibung (größere Genauigkeit) und der
Ausweitung des theoretisch kontextualisierten
Phänomenbereichs (größere Reichweite der Erklärung).4
Ein Beispiel: Goffmans Analyse derjenigen Re­
geln, die Menschen - ob bewußt oder unbewußt einhalten, wenn sie sich fortbewegen - z. B. auf
der Straße. Die Einheiten, auf die sich diese Re­
geln beziehen, sind „vehicular units“: „A vehicular
unit is a shell of some kind controlled (usually from
within) by a human pilot or navigator“ (Goffman
1971: 26). Die sozusagen duale Gegebenheit als
Gehäuse und als Steuerungssystem gilt natürlich
auch für Fußgänger: „Viewed in this perspective,
the individual himself, moving across roads and
down streets - the individual as pedestrian - can be
considered a pilot encased in a soft and exposing
Schema 1
shell, namely his clothes and skin“ (Goffman 1971:
27).
Nun besteht die besondere Verletztlichkeit, der
Fußgänger ausgesetzt sind, nicht nur in der biologi­
schen Natur ihres Gehäuses. Eine weitere Quelle
von Verletzlichkeit - und damit ein Komplex von
„Verkehrsregeln“, der Goffman viel mehr interes­
siert als der für Fahrlehrer und Verkehrspolizisten
relevante Aspekt - resultiert aus der besonderen
qualitativen Beziehung zwischen ihrem Gehäuse
und dessen Navigator, die bei Fußgängern (und
jenseits der Rolle des Navigators bzw. Insassen
eines künstlichen Gehäuses sind das alle Men­
schen) im allgemeinen unterstellt werden. Kurz:
Fußgänger gelten als bewegte Objekte und beweg­
ende Subjekte gleichzeitig; und das bedeutet, daß
ihr aktuelles Gehäuse als „vehicular unit“ auf eine
andere Art von intersubjektiver Anerkennung und
Rücksichtnahme Anspruch hat als es im Hinblick
auf reine Objekte als angemessen gilt. Der An­
spruch auf Anerkennung als Subjekt hat einerseits
praktische Implikationen: die Notwendigkeit, ein
„rituelles“ Gleichgewicht von „deference and de­
meanor“ (Goffman 1967) im sozialen Verkehr
durchzuhalten. Hier setzen Goffmans Analysen
der alltäglich beobachtbaren dramaturgischen Ef­
fekte des normalen Lebens an. Andererseits läßt
sich fragen, was es wissenschaftstheoretisch bedeu­
tet, das Individuum als einen in Gehäuse und
Navigator differenzierten und trotzdem eine Ein­
heit bildenden Gegenstand aufzufassen. Da es Ge­
genstände nur für einen Beobachter gibt, kann
folgendes Schema die raetatheoretische Problemla­
ge andeuten:
i
Beobachter
Gegenstand (vehicular unit)
Navigator
3 Als repräsentativ für ein solches Verständnis kann
Batesons Ökologie des Geistes gelten - der Begriff der
„Ökologie“ steht hier für das Programm, in einer kon­
sequent systemischen Sichtweise den Natur-Geist-Dualismus der modernen Subjektphilosophie zu überwin­
den. Die Implikationen eines solchen Programmes für
die sozialwissenschaftliche Subjektivitäts-(Identitäts-,
Rollen- etc.)theorie lassen sich z.T . aus Goffmans
Analysen, wenn diese in einem entsprechenden Rah­
men interpretiert werden, herausfiltern (vgl. Wehrspaun/Wehrspaun 1989).
Gehäuse
4 Ein solches Vorgehen, das den Forscher zum Detektiv
macht, kann auf die Philosophie von Charles Peirce
und das Vorbild des Sherlock Holmes gleichzeitig zu­
rückgreifen (vgl. Sebeok/Umiker-Sebeok 1982). Das
Modell der „grounded theory“ von Glaser/Strauss
(1967) dürfte ihm recht nahekommen.
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Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst
Die senkrechte gestrichelte Linie soll an ein
Hauptproblem der neuzeitlichen Metaphysik er­
innern: die Trennung von Subjekt(ivität) und Ob­
jektivität). Der Beobachter ist zweifelsohne Sub­
jekt, denn seine empirische Verfaßtheit spielt
keine Rolle - nimmt er doch an der Situation ge­
wissermaßen nur in „transzendentaler Funktion“
teil. Das Problem liegt vielmehr darin, daß der
Navigator die Subjektfunktion innerhalb des Ge­
genstandes erfüllt. Somit läßt sich argumentieren,
und ist besonders von Philosophen immer wieder
argumentiert worden, daß der Navigator theorie­
strategisch eigentlich über die gestrichelte Linie
zum Beobachter hinüber versetzt werden müsse.
Freilich löst sich dann der (sozialwissenschaftliche)
Gegenstand als Einheit auf, das Gehäuse bleibt als
reine Gegenständlichkeit übrig, die empirische Zu­
gänglichkeit bzw. gar Existenz des Navigators wird
hochproblematisch. In den sozialwissenschaftli­
chen Diskursen steht daher eher die Frage im
Vordergrund, ob der Navigator als fremdprogram­
miert oder als selbstprogrammiert aufzufassen sei:
Die Annahme der Fremdprogrammierung führt zu
einer Verhaltenstheorie, dem Navigator eine
Selbstprogrammierung zuzugestehen, bedeutet die
Entscheidung für eine Handlungstheorie. In letzte­
rer gilt der Navigator als zweckesetzende Instanz,
die sozusagen das Gehäuse in Fahrt bringt, indem
sie seiner Fortbewegung eine Richtung gibt.
Derartige Überlegungen können m. E. freilich nur
eines deutlich machen: Goffmans Analysen
kommt man so in keiner Weise näher. Das gilt
gerade auch für die Handlungstheorie, nach deren
Prämissen Goffmans Werk so oft beurteilt wird.
Aber es ist für die Wechselwirkungen zwischen
den „vehicular units“ im Prinzip ganz unerheblich,
welche Zwecke die Navigatoren letztendlich ver­
folgen. Die Vermeidung von Kollisionen, die in­
tersubjektive Abstimmung der Wechselwirkun­
gen, die Aufrechterhaltung der interaktiven Ord­
nung: sie geben praktische Probleme auf und füh­
ren dementsprechend zu beobachtbaren Phänome­
nen, die eben nicht aus Zwecksetzungen - genau­
sowenig aus Lerngeschichten, genetischen Disposi­
tionen und dergleichen - abgeleitet werden kön­
nen. Das legt die Vermutung nahe, daß Goffmans
Analysen grundsätzlich nicht den mit dem obigen
Schema angedeuteten Denkweisen folgen.
Ungeeignet ist dieses Schema vermutlich deshalb,
weil es von vornherein sowohl die Relation zwi­
schen Beobachter und Gegenstand wie auch die
Relation zwischen Gehäuse und Navigator als Ver­
hältnis zwischen Entitäten auffaßt, während es in
Goffmans Analysen tatsächlich um den Zusam­
menhang von Zeichen geht. Zeichen sind sozusa­
gen wesenshaft Kontextphänomene, d. h. sie exi­
stieren nur innerhalb von Strukturen, sie konstitu­
ieren Systeme von Unterschieden, bei denen es
„auf die Anwesenheit bzw. Abwesenheit eines
Elements und nicht auf dessen Art ankommt“
(Eco 1977: 84). Somit läßt sich ein „vehicular unit“
als ein Zeichenzusammenhang auffassen, der mindestens - folgendes Komplexitätsniveau bein­
haltet (Schema vereinfacht nach Eco 1977: 44):
Schema 2
B eobachter--------------------------------- >
Zeichenzusammenhang
„vehicular unit“,
konstituiert durch:
Zeichen
künstliche
mit der Absicht zu
designieren
Absicht in Primär­
oder Sekundärfunk­
tion enthalten
Die erste Unterscheidung - natürliche und künstli­
che Zeichen - markiert bereits die Notwendigkeit
der Differenzierung zwischen Gehäuse und Navi­
gator. Aber dann wird die Sache recht komplex:
natürliche
Verweis auf natürliehe Dinge und Sachverhalte
unwillkürlich von
einem Menschen her­
vorgebracht
Ein relativ harmlos dahinfahrender PKW ist in
jeder gegebenen Situation ein Zeichenzusammen­
Unauthenticated
hang, in dem Natürliches
(seine Größe, Schwere,
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AM
momentane
Geschwindigkeit
indirekt auf
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den Fahrer Hinweisendes (Fahrverhalten), direkt
vom Fahrer um des Anzeigens willen Angezeigtes
(z. B. Blinkzeichen) und als Primärfunktion (Fami­
lienkutsche oder Sportwagen) bzw. Sekundärfunk­
tion (Fortbewegungsmittel oder Statussymbol)
Aufgedecktes abzulesen sind. Das bedeutet: Der
Fahrer entwirft ein Bild von sich - aber (weitge­
hend) nicht als Zweck, sondern sozusagen als not­
wendige Folge der semiotischen Dimension im so­
zialen Leben. Einen Beobachter gibt es für dieses
Bild immer: Den Fahrer selbst in seiner Eigen­
schaft als Navigator. Die semiotische Dimension in
den menschlichen Um- bzw. Mitweltbeziehungen
kann somit die Möglichkeit des Umschlagens von
Fremdkontrolle in Selbstkontrolle im Sinne der
Elias’schen Zivilisierungstheorie (1980) erklären.
Daß ein Autofahrer permanent Zeichen deutet
und sich damit selbst kontrolliert, davon sind die
realen Folgen im alltäglichen Verhalten beobacht­
bar. „Verantwortungsbewußtes“ Fahren wäre oh­
ne diese Verallgemeinerung der Beobachtungssi­
tuation nicht vorstellbar.
Diese semiotisch-kommunikationstheoretische In­
terpretation von Goffmans Ansatzpunkt erlaubt
eine Antwort auf zwei der eingangs dieses Ab­
schnitts aufgeworfenen Fragen: Die für Goffmans
Ökologie spezifische Umwelt besteht aus Zeichen­
zusammenhängen. Und die Individuum-UmweltRelation in seinen Analysen stellt sich dar als das
Aussenden und Auffangen von Zeichen. Die Not­
wendigkeit des Eindrucksmanagements liegt dann
auf der Hand: Einschlägige Mißverständnisse zwi­
schen „vehicular units“ können tödliche Folgen
haben. Eine solche Begründung kann außerdem
auf zwanglose Weise einen Nenner liefern, auf den
seine diversen theoretischen Herleitungen zu brin­
gen sind (freilich selten ohne Rest): Wenn die
neueren Entwicklungen in Linguistik und Etho­
logie, Sprachphilosophie und Theater des Absur­
den, Phänomenologie und Batesonscher Ökologie
überhaupt etwas gemeinsam haben, dann eben
die Entdeckung der pragmatischen Kommunikation(saspekte) als konstitutiv für eine spezielle
Realitätsschicht - für die Dimension menschlicher
Existenz, die N. Elias (1984: XXIIIff.) die „fünfte
Dimension“ genannt hat.
Aber Goffman hat sich einer konsequenten kom­
munikationstheoretischen Begründung seiner
Analysen verweigert.5 Das dürfte mit den lange im
sozialwissenschaftlichen Diskurs vorherrschenden
Objektivitätsbegriffen zu tun haben: Während
nämlich in den Naturwissenschaften spätestens seit
N. Wiener (1948) der eigenständige Realitätsan­
spruch des Phänomenbereichs von Information
und Kommunikation eine Selbstverständlichkeit
geworden ist, ziehen bis heute in der Soziologie
„kulturalistische“ Erklärungen oft den Verdacht
der Unwissenschaftlichkeit auf sich. Die Sozial­
struktur als Primärgegebenheit darf gemäß ver­
breiteter Meinung bestenfalls mit dem Begriff des
„Interesses“ - der dadurch freilich schnell zur
metaphysischen Leerformel wird - mit der „fünf­
ten Dimension“ verknüpft werden - ansonsten gel­
ten Kommunikations- und Erfahrungsprozesse als
abzuleitende Phänomene bzw., so der späte Goff­
man (1974: 13) ausdrücklich, als „matters that are
second“.
Aber es gibt keinen brauchbaren Grund, die An­
setzung der Interaktion als Realitätsbereich eige­
ner Art mit einer Abwendung von „objektivisti­
schen“ Analyseinteressen gleichzusetzen, denn die
Interaktion zwischen den Vehikeln wird von den
Regeln des Straßenverkehrs angeleitet, die als Teil
der öffentlichen Ordnung durchaus „objektiv“ ge­
nannt werden können. Der Begriff der öffentli­
chen Ordnung (bei Goffman „public order“,
manchmal auch „public life“ oder „social organiza­
tion“, am wenigsten geeignet scheint mir allerdings
der Begriff der „interaction order“6*) bezieht sich
natürlich nicht nur auf so anonyme Regeln wie die
Straßenverkehrsregeln, denn je weiter das Indivi­
duum in nicht-anonyme, also „persönliche“ soziale
Zusammenhänge verstrickt wird, desto relevanter
und wirkungsvoller wird die Zeichendimension,
und desto mehr wird das Individuum mitverant­
wortlich für die Schaffung und Aufrechterhaltung
der öffentlichen Ordnung, d.h. des Komplexes
interpretierbarer und nicht-gefährdender Zeichen­
normalität.
5 In einem Gespräch mit Y. Winkin gab er sich überra­
schenderweise als überzeugter - wenn auch unfreiwillig
marginalisierter - Mainstream-Soziologe, der nicht,
wie die „freaks“ und „cowboys“ in der Art von Bate­
son, gegen die herrschende Denkrichtung anschwim­
men wollte. Außerdem zog er einem umfassenden
Kommunikationsbegriff den Terminus „display behav­
ior“ vor (Winkin 1988: 235ff.).
6 Denn Goffman geht es keineswegs um eine allgemeine
Logik (oder auch Grammatik etc.) der Interaktion Garfinkeis Programm nennt er „the sociologist’s alche­
my“ (1974: 5) - , sondern um die konkreten gesell­
schaftlichen RegelnUnauthenticated
für Zeichenproduktion und -deuDownload Date | 2/14/17 12:09 AM
tung.
Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst
Damit erhebt sich aber die erste der eingangs
dieses Abschnitts gestellten Fragen mit verstärkter
Dringlichkeit: Was ist in Goffmans Ökologie der
sozialen Situation eigentlich „das Individuum“? Im
Kontext der Analyse der „vehicular units“ schreibt
er, daß man zwar das Individuum in verschiedene
Rollenbegriffe zu zerlegen gelernt habe, daß letzt­
endlich aber eine genaue Analyse auf die grund­
sätzliche Ungenauigkeit des Individuumsbegriffs
als solchem stoßen müsse ... Und wenn das auch
für den Interaktionsanalytiker so sein mag, die
Frage bleibt: Was wird aus dem Individuum als
moralische Einheit, d. h. als Person? Und was aus
dem Ich dieser Person, ihrer Identität? Kurz: Wo
bleibt das Subjekt?7
335
ist eine „Enttranszendentalisierung“ bzw. - wie
man in einer heute aktuellen philosophischen Ter­
minologie sagen könnte - „Dezentrierung“ des
Subjektbegriffs eine bereits im Ansatz angelegte
theoriestrategische Grundentscheidung.
Sehr deutlich wird das in der „Rahmenanalyse“.
Die Rahmen sind gesellschaftliche Regeln der
Identifikation von Ereignissen, sie liefern alltags­
praktische Antworten auf die Frage „Was ist hier
los?“, und insofern sind sie Elemente sozialer
(Kommunikations-)Systeme. Sie sind das, was die
jeweils geltende öffentliche Ordnung den Individu­
en als Interpretationsschemata für deren Zeichen­
umwelt zur Verfügung hält. Damit sind die Rah­
men in Goffmans Konzeption sowohl die Mecha­
nismen, die intersubjektives (darunter auch: sym­
bolvermitteltes) Verstehen ermöglichen als auch
die Organisationsprinzipien individueller bzw. sub­
4. Die Dialektik der Interaktion
jektiver Erfahrung. Mit dieser Prämisse stellt sich
Häufig wird gegenüber Verallgemeinerungen Goffman sozusagen von vornherein quer zur philo­
kommunikationstheoretischer Annahmen das Ar­ sophischen Tradition der Bewußtseinsphilosophie
gument vorgebracht, bereits der Begriff der Kom­ - was er selber durchaus so gesehen hat, wenn er
munikation setze die Existenz von mit Bewußtsein von einem „subversive phenomenological twist“
ausgestatteten Subjekten voraus. Als Prämisse läßt im Hinblick auf seine Gewährsleute James und
sich das natürlich (wie jede Prämisse) nicht wider­ Schütz spricht (Goffman 1974: 2).
legen - allerdings reproduziert diese Konzeption
Rahmen gliedern sich gemäß ihrem Komplexitäts­
bestenfalls unseren alltagssprachlichen Informa­
tionsbegriff (und schlimmstenfalls die Habitualisie- grad: Primäre Rahmen sind elementare Interpre­
rung der neuzeitlichen Abbildepistemologie in un­ tationsschemata, die den Erfahrungsbereich in
serer Alltagssprache). Nun ist in der (Evolutions-)- „soziale“ und „natürliche“ Ereignisse aufgliedern.
Biologie die konstitutionstheoretische Rangfolge Über derartige Distinktionsmöglichkeiten verfü­
gen zweifellos auch schon höhere Tiere, für die es
zwischen kommunikativer Kompetenz und Sub­
lebensentscheidend sein kann, ihre einschlägige
jektivität bzw. Subjektstatus längst umgekehrt
Zeichenumwelt adäquat zu deuten. Für den mo­
worden8 - wie auch in manchen Teilen der Entdernen Menschen konstituieren die natürlichen
wicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, nicht
Rahmen die letztendlich physikalische, d. h. ge­
zuletzt unter dem Einfluß des gelernten Biologen
setzmäßig determinierte Welt, die sozialen Rah­
Piaget (vgl. Kegan 1986; Gergen/Davis 1985). In
men verweisen auf zumindest potentiell intelligen­
Goffmans Ökologie der sozialen Zeichenumwelt
tes Handeln, also auf einen „Täter hinter dem
Tun“ (Dux 1988), der jedenfalls prinzipiell für das
Geschehen verantwortlich gemacht werden kann
(Goffman 1974: 22ff.). Die Konsequenzen dieser
kognitiven Ordnung des Zuschreibungs- und Er­
7 Frank (1986) entwickelt und begründet ein philosophi­
fahrungsdualismus sind bekannt: der Verlust eines
sches Argument für die Notwendigkeit der Differenzie­
umfassenden Naturbegriffs und die Notwendigkeit
rung zwischen Subjekt (als ein spezifisches Allgemei­
der teilweisen oder völligen Ausgrenzung von
nes), Person (dessen Besonderung) und Individuum
Menschen, die gegen die vorherrschenden Bestim­
(als ein spezielles Einzelnes). Das bedeutet u. a., daß wichtig für sozialwissenschaftliche Theorien selbstre­ mungen von normaler Verantwortlichkeit irgend­
ferentieller Systeme - nicht der biologische Organismus
(und seine Kognitionen) als (ganzheitliches) Element
(eben als „Individuum“) von sozialen Systemen angese­
hen werden sollte, sondern die Person als moralische
(Zuschreibungs-)Einheit. Kurz: nicht „die Gesell­
schaft“ ist ein „autopoietisches“ System, sondern deren
moralischer Zustand, d. h. ihre öffentliche Ordnung.
8 Mit philosophischem Anspruch vor allem in der sog.
Unauthenticated vgl. zur neueren
Evolutionären Erkenntnistheorie,
Download Riedl/Wuketits
Date | 2/14/17 12:09
Diskussion
(1987).AM
336
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345
wie - absichtlich oder unabsichtlich - verstoßen
(ein Hauptthema in Goffmans eher anwendungs­
orientierten Analysen).
Im Zentrum der Rahmenanalyse stehen aber nicht
die Implikationen der herrschenden primären
Rahmen, sondern deren Transformationsmöglich­
keiten. Rahmen können durch „keyings“ (Modula­
tionen bzw. Verschlüsselungen wie z. B. sportliche
Wettkämpfe, Zeremonien und dergleichen) oder
„fabrications“ (absichtliche und einseitige Täu­
schungskonstruktionen) transformiert werden, wo­
bei multiple Aufschichtungen möglich sind. Es ent­
stehen mehrdeutige, komplexe Situationen. Die
beiden Transformationsmöglichkeiten unterschei­
den sich im Hinblick auf die mit ihnen verbundene
Diskreditierbarkeit: Das Mißlingen einer Modula­
tion, z. B. wenn Spiel in Ernst umschlägt, diskredi­
tiert Situationen, eine auffliegende Täuschung da­
gegen die Situationen und diejenigen Menschen,
die verantwortlich in die Täuschung verstrickt wa­
ren. Aber auch Modulationen und Täuschungen
sind als Teile des jeweiligen Systems gesellschafts­
relativer Regeln der Erfahrungsorganisation zu se­
hen: Das Mißlingen einer experimentellen De­
monstration kann in einer verwissenschaftlichten
Kultur diskreditierende Wirkungen zeitigen, be­
sonders wenn Unregelmäßigkeiten in der Experi­
mentalanordnung deutlich werden sollten, in einer
magischen Kultur dagegen können spezielle Mo­
dulationsweisen für offenkundig unzutreffende
Prognosen oder sichtbare Manipulationen zur Ver­
fügung stehen. Tatsächliche Rahmungen werden
also durch die geltende öffentliche Ordnung im
Hinblick auf Zuschreibungen codiert, daher sind
sie relativ zu deren „Kosmologie“, wie Goffman
(1974: 27) das System der Rahmungen nennt.
Insoweit hat Goffman das Erfahrungssubjekt sozu­
sagen von außen dezentriert, nämlich durch die
Verlegung der Erfahrungsorganisation in den ge­
sellschaftlichen Kommunikationsprozeß, den die
Individuen dann nur noch adäquat aktualisieren oder auch nicht. Aber dabei blieb er nicht stehen.
Bei der Aufzählung der für unsere Gesellschaft
grundlegenden Arten der Erfahrungsorganisation
zählt er die Phantasie bzw. das Tagträumen aus­
drücklich mit zu den Modulationen: „The individu­
al imagines some strip of activity, all the while
knowingly managing the development and out­
come to his own liking or disliking“ (Goffman
1974: 52). Wesentlich ist hier: das Individuum
weiß, daß es nicht auf primärer Rahmenebene
handelt, sondern daß es moduliert: sein Handeln,
seine Erfahrung und - in der (insofern diskreditier­
baren) Situation - auch sich selber. Weniger harm­
los bezüglich der persönlichen Diskreditierbarkeit
sind die Selbsttäuschungen. Unter diese Rahmen­
transformationen subsumiert Goffman (1974:
114ff.) vor allem die psychotischen und hysteri­
schen Symptome, aber auch Somnambulismus,
Wahnideen und die ganz „normalen“ Träume - die
wohl eben wegen des Täuschungscharakters als so
„entlarvend“ im Hinblick auf ihr Subjekt gelten
können. Allgemein gilt also: Für Goffman stellt
auch das „Innenleben“ des Individuums keine Pri­
märgegebenheit dar, keine „primordiale Sphäre“,
in „universaler“ und „apodiktischer“ Evidenz
(Husserl 1977), keine Urgegebenheit der reinen
Selbstbeziehung, sondern die Anwendung „objek­
tiver“ gesellschaftlicher (Kommunikations-)Regeln bei der Interpretation eines bestimmten Seg­
mentes der menschlichen Zeichenumwelt. Frei­
lich: der verwendete Objektivitätsbegriff steht
nicht in einem Verhältnis der Entgegensetzung zum
Subjektivitätsbegriff, es handelt sich bei der Rah­
menanalyse (und der ganzen Goffmanschen Sozio­
logie) daher kaum um eine (z. B. strukturalistische
oder neo-strukturalistische) „Philosophie ohne
Subjekt“ (Bourdieu/Passeron 1981), sondern um
den Versuch der theoretischen Konzeptualisierung
derjenigen Objektivitäten, die eine Erklärung von
Subjektivität(en) möglich machen sollen.
Bereits Mead versuchte bekanntlich Subjektivität
zu erklären, indem er hervorhob, daß das mensch­
liche Individuum seine Existenz als biologischer
Organismus durch eine Transformation der Zeichen(um)welt als solcher transzendiere. Zeichen ihrer Natur nach physikalische Ereignisse mit Wir­
kungen auf einen Beobachter - werden universalisiert (Mead nannte sie dann Symbole), wenn sie
für jeden Beobachter, den Zeichensender einge­
schlossen, potentiell gleiche Bedeutung haben. Im
Gegensatz zu bloßen Anzeichen - z. B. unwillkür­
lichen Gebärden - konstituieren allgemein bedeut­
same und situationsübergreifende Symbole, da ih­
rerseits eingebunden in ein „logisches Universum“
(Mead 1975: 129f., 198ff.), eine emergente und
eigenständige Realitätsschicht, die aber gleichwohl
von ihrer Aktualisierung im menschlichen Han­
deln abhängig bleibt. Diese Transformation der
Zeichenwelt transformiert aber gewissermaßen die
Individuen auch mit: aus biologischen Organismen
werden personale Subjekte, die an der Aktualisie­
rung von (ihrer) Subjektivität arbeiten. Meads In­
teresse galt den allgemeinen Implikationen dieses
Unauthenticated
Transformationsprozesses,
vorrangig der Frage,
Date Identität
| 2/14/17 12:09
AM
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(personale)
auf dieser
neuen Reali­
Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst
tätsebene möglich ist,9 Goffman setzt als Rahmen­
analytiker empirisch an, denn auch bei der symbo­
lischen Interaktion zwischen Subjekten folgen die
Individuen den Regeln ihrer jeweiligen öffentli­
chen Ordnung, die ihnen Rahmungscodes für die
Evaluation erreichter bzw. verfehlter Personalität
liefert. Aber eben nur die Codes: deren Aktuali­
sierung bleibt für Goffman immer „subjektive“
Leistung.10
Daraus ergeben sich zwei theoretische Folgen:
- Das substantivische „Selbst“ oder „Ich“, mit
dem eine Person sich auf sich selber bezieht, be­
steht aus der Aktualisierung gesellschaftlicher Re­
geln der Selbst-Beobachtung. Als subjektive Lei­
stung setzt diese Aktualisierung eine Projektion
voraus: den Bezug eben dieser Regeln auf das
Selbsterlebte, bzw. anders gewendet, die imagina­
tive Konstruktion eines personalen Selbstbildes
(bei Goffman: „face“ oder „front“), auf das eigene
(d. h. selbst-beobachtete) Erfahrungs- und Verhal­
tensweisen projiziert werden können. Diese Pro­
jektion - in „Stigma“ (1964) differenziert Goffman
den das Selbstbild konstituierenden Erfahrungs­
raum in soziale Identität (Stellung im Hinblick auf
soziale Klassifizierungen), persönliche Identität
(das Subjekt eines Lebenslaufs) und Ego-Identität
(Identifikation des Individuums mit seinen eigenen
9 Allerdings gilt Mead in der Soziologie - vor allem
durch den Einfluß Blumers (1969) - fast nur als Theo­
retiker der symbolischen Interaktion, kaum gewürdigt
wurde der zeichentheoretische Darwinismus bei Mead,
nämlich eben die Analyse der Herausbildung von Sub­
jektivität (onto- wie phylogenetisch) durch die Zei­
chentransformation. So konnte seine Theorie doch im­
mer wieder mit traditionellen Subjektivitätsvorstellun­
gen vermengt werden - entweder durch die simplifizie­
rende Gleichsetzung des Bewußtseins der Spontaneität
seiner selbst (Meads „I“) mit dem „eigentlichen Ich“
(dem der neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie), oder,
theoretisch komplexer, freilich mit den gleichen Fol­
gen, durch den zusätzlichen Einbau der klassischen
Argumentationsfigur einer „originären Selbstbezie­
hung“ in die Konstitutionstheorie (vgl. z. B. Habermas
1988: 217ff.). Goffman dürfte, bei aller Abhängigkeit
seiner Arbeiten von Mead’schen Vorgaben, durch die­
se verbreiteten Rezeptionsformen davon abgehalten
worden sein, sich noch stärker auf Mead zu stützen.
10 Psychische Systeme - die für Goffman wie für Luhmann (1984: 346ff.) etwas ganz anderes sind als die aus
Kommunikationen bestehenden sozialen Systeme können daher in seinem Ansatz trotzdem nicht als
bloße Umwelt des Interaktionsprozesses verstanden
werden.
337
Merkmalen) - ist nun ebenfalls nicht primär psy­
chologisch zu verstehen: es geht um die Regeln der
gegenseitigen Anerkennung als Subjekte. Insofern
ist die Projektion ein grundlegender Funktionsme­
chanismus der öffentlichen Ordnung, denn nur ein
substantivisches Selbst erlaubt die Zurechnung von
Verantwortungsfähigkeit, und nur die Internalisie­
rung der entsprechenden Zuschreibungsregeln in
die Selbstbeobachtung kann so viel Selbstkontrolle
im (sozialen) Handeln auslösen, daß komplexe
Formen der öffentlichen Ordnung, wie sie in mo­
dernen und demokratisierten Industriegesellschaf­
ten vorherrschen, möglich werden.
- Da Selbstbilder expressiver Natur sind, ist nicht
nur ihre Konstitutionsbasis sozialer Art, sondern
auch ihre Aktualisierungen sind soziale Darstel­
lungen („performances“). Es genügt nicht, nur das
eigene Gesicht (d. h. Selbstbild) wahren zu wollen,
wirkliche inter subjektive Anerkennung ist nur
dann zu haben, wenn auch der bzw. die Interak­
tionspartner, also alle die, auf welche mit dem
Ausdruck des Selbst Eindruck gemacht werden
soll, ihrerseits als Subjekte mit einem Selbstbild
konstituiert werden. „One’s own face and the face
of others are constructs of the same order; it is the
rules of the group and the definition of the situa­
tion which determine how much feeling one is to
have for face and how this feeling is to be distribut­
ed among the faces involved“ (Goffman 1967: 6).
Allerdings handelt es sich bei dieser wechselseiti­
gen Darstellungsstabilisierung keineswegs um eine
Reziprozitätsnorm im Hinblick auf die Anerken­
nung normativer Subjektivitätsansprüche: Selbst­
bilder werden nicht notwendigerweise ratifiziert,
aber immer inszeniert, die Wechselseitigkeit liegt
in der intersubjektiven Bezogenheit der Inszenie­
rungen.
Die elementare Sanktion für mißglückte Zeichen­
setzung, noch auf der aktuellen Interaktionsebene
selbst angesiedelt, ist Verlegenheit - wobei auch
hier kulturrelative Formen unterschieden werden
können (vgl. Kuzmics 1986). Allgemeinere und
schwerere Verstöße gegen die öffentliche Ordnung
der Interaktion können bis zur Absprechung des
Subjektstatus des „Schuldigen“ führen. Hier lauert
freilich ein Paradox, das schnell praktisch wirksam
werden kann, wenn nämlich eine als solche gut
gemeinte soziale Hilfeleistung in eine Form der
sozialen Kontrolle umschlägt, in der - explizit oder
implizit - der Vorwurf der mangelhaften Subjekti­
vitätsleistung mit der Verhinderung einschlägiger
Unauthenticated
Darstellungsmöglichkeiten
verknüpft wird - eine
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Situation, die vor allem für die Insassen der von
338
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345
Goffman (1962) analysierten „Asyle“ gilt, die aber
generell Hilfeleistung zu einer interaktionistisch
prekären Sache macht.
Allerdings bringen nicht nur „schlechte“ Darstel­
lungen die Gefahr hervor, in eine Paradoxie zu
führen, auch für „gute“ gilt Ähnliches. Das hängt
mit dem Umstand zusammen, daß die Expressivi­
tät des Menschen aus (mindestens) zwei verschie­
denen Zeichenarten zusammengesetzt ist: „the ex­
pression that he gives, and the expression that he
gives off“ (Goffman 1969: 14, Hervorh. i. O.).
Diese Unterscheidung ist einfach eine Folge des
Umstandes, daß jeder (kommunikationstheore­
tisch „normal“ kompetente) Beobachter zwischen
mehreren Zeichenarten differenzieren kann, und
daß sein Realitätsbegriff Rahmungen, Modulatio­
nen und Täuschungen voneinander abzugrenzen
gestattet. Eben das ermöglicht es dem Beobachter
(inklusive dem Selbst-Beobachter), echte Intentio­
nalitäten zu erschließen sowie zufällige Koinziden­
zen zu neutralisieren, aber gleichzeitig bedeutet
diese notorische Mehrdeutigkeit der Zeichenwelt,
daß sich der Beobachter nie sicher sein kann, was
„eigentlich gemeint“ ist mit irgendeiner Verhal­
tensweise - und wäre es seine eigene. Das wieder­
um zwingt den Handelnden, den Eindruck, der
ihm durch unbewußtes Anzeigen gewissermaßen
unterlaufen könnte, nach Möglichkeit ebenfalls zu
kontrollieren, und durch Informationskontrolle
seine Selbst-Expressivität zu steuern. Das weiß
aber der (Selbst-) Beobachter, und er macht die
Unterscheidung zwischen bewußter Zeichenaussendung und unbewußt Angezeigtem aufs neue,
worauf der Handelnde mit erneuter Kontrolle auf
höherer (Modulations-)Ebene reagiert usw. Das
Resultat nennt Goffman die „fundamentale Dia­
lektik der Interaktion“: „In their capacity as per­
formers, individuals will be concerned with main­
taining the impression that they are living up to the
many standards by which they and their products
are judged. Because these standards are so numer­
ous and so pervasive, the individuals who are
performers dwell more than we might think in a
moral world. But, qua performers, individuals are
concerned not with the moral issue of realizing
these standards, but with the amoral issue of engi­
neering a convincing impression that these stan­
dards are being realized“ (Goffman 1969: 243,
Hervorh. i. O.).
Handlungstheoretisch betrachtet scheint es nun ge­
radezu unvermeidlich, diese „Dialektik“ in einen
moralischen Vorwurf gegenüber den Subjekten
umzumünzen - wofür spätestens seit Rousseau (in
Transformation älterer Formen allgemeiner Imma­
nenzkritik) die diskursive Gattung der Gesell­
schafts- und Kulturkritik zur Verfügung steht, die
es erlaubt, Darstellungsweisen als solche zu verur­
teilen, und damit die Subjekte gemäß ihrer Potentialität zur Überwindung jeder Darstellung gleich­
zeitig normativ zu erhöhen.11 Kommunikations­
theoretisch betrachtet hat die Dialektik der Inter­
aktion freilich eine grundsätzlichere Bedeutung sie steht dann für „das Drama, das heraufbeschwo­
ren wird, wenn Organismen, die vom Baum der
Erkenntnis gegessen haben, entdecken, daß ihre
Signale Signale sind. Dann kann nicht nur die
typisch menschliche Erfindung der Sprache folgen,
sondern es folgen auch all die Komplikationen des
Einfühlungsvermögens, der Identifikation, Projek­
tion usw.“ (Bateson 1983: 243). Es handelt sich
danach um ein echtes Paradoxon der Kommunika­
tion, das Bateson übrigens entdeckte, als er spie­
lende Tiere beobachtete: Im Spiel kommunizieren
bereits Tiere, daß bestimmte Verhaltensweisen
nicht die Bedeutung haben sollen, die sie sonst
haben. Insofern sind Rahmen im Spiel, die Bate­
son ausdrücklich mit den bekannten logischen Pa­
radoxien der Selbstreferenz parallelisiert, denn die
Rahmungen funktionieren als Negation des Ge­
rahmten. Goffman gewann daraus (in expliziter
Anknüpfung) seinen Begriff des Moduls und der
Modulation (key und keying) - und ließ in seiner
Rahmenanalyse die logische Diskussion ebenso
weg wie die evolutionstheoretische Generalisie­
rung. Aber damit koppelte er seine dramaturgischsemiotische Perspektive in der Soziologie des All­
tagsverhaltens nur vermeintlich von der allgemei­
nen anthropologischen Reflexion ab: diese holte in
Form des handlungstheoretischen Mißverständnis­
ses, demzufolge das Eindrucksmanagement in der
Selbstdarstellung grundsätzlich als ein Symptom
der Selbstentfremdung aufzufassen ist, seine Ana-1
11 Dieser Diskurs hat ja schnell eine relativ stabile Insti­
tutionalisierungsform im (früh-)bürgerlichen Kultur­
betrieb gefunden - zur bürgerlichen Selbst-Erhöhung
durch Kultur vgl. Nipperdey (1988) - , so daß der
„literarische Prozeß des Modernismus von Rousseau
bis Adorno“ (Jauß 1983) einer solchen Grundlinie
folgen konnte. Bezeichnenderweise konfrontiert
Gouldner (1974: 462f.) den Ansatz von Goffman aus­
drücklich mit der Philosophie Rousseaus, um aus die­
ser Gegenüberstellung die These abzuleiten, daß die
Beschäftigung mit der (eigenen) Expressivität als Ver­
haltenssyndrom eines seine eigenen Werte verleug­
Unauthenticated
nenden (Klein- bzw.
Spät-)Bürgertums angesehen
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Date
|
2/14/17
12:09 AM
werden müsse.
Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst
lysen in der fachlichen Rezeption doch immer wie­
der ein. Das führte zu einer erheblichen Unter­
schätzung der Bedeutung seines Ansatzes sowohl
im Hinblick auf den möglichen Beitrag zu einem
evolutionstheoretisch naturalisierten Menschen­
bild12 als auch bezüglich der zeitdiagnostischen
Implikationen seiner Arbeit. Beides läßt sich an­
deuten durch eine - an dieser Stelle notwendiger­
weise nur skizzenhafte - Erinnerung an den gei­
stesgeschichtlichen Zusammenhang von moderner
Subjektphilosophie und entsprechender Subjekti­
vitätscodierung.
5« Moderne Subjektphilosophie und
die Codierung von Subjektivität
In der so ziemlich genau an der „Schwelle zwischen
Klassik und Modernität“ (Foucault 1978: 368) ste­
henden Philosophie Kants läßt sich die konzeptuel­
le Zerreißung des Menschen („Bürger zweier Wel­
ten“) in eine sinnlich-empirische Existenz als na­
türliches Wesen in einer (u. a. kommunikativ-mitmenschlichen) Umwelt einerseits und in ein
Sprachspieldasein als Träger bzw. Zuschreibungs­
pol einer abstrakten, lediglich als Voraussetzung
von Wahrheits- und Geltungsansprüchen fungie­
renden reinen Subjektivität andererseits recht
deutlich ausmachen. Von Rousseau hatte Kant
gelernt: „Die Menschen sind insgesamt, je zivili­
sierter, desto mehr Schauspieler“ (Kant 1917:
151). Aber daraus folgerte er nicht durch simple
Negation auf einen problemlosen Naturzustand,
sondern nahm die Einsicht ernster: „Der Mensch
ist ein Gaukler von Natur und spielt eine fremde
Rolle“ (1923: 92). Daher kann das Problem nicht
durch die simple Entlarvung der Rollenspieler ge­
löst werden, verweist doch selbst der Begriff der
„Person“ gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung
auf das Rollenspiel (Fuhrmann 1979). Somit gilt:
„Moralität ist eine Sache der Kunst, nicht der
12 In einem neuen Sammelband klassischer Arbeiten der
sog. „Psychobiologie“ (Scherer et al. 1987) wird Goffman als einer der Pioniere dieses Ansatzes genannt im Grunde handelt es sich um die Ausarbeitung der
Implikationen von Darwins Arbeit über den Ausdruck
der Gemütsbewegungen bei Tier und Mensch (die
übrigens nicht nur Goffman, wie oben erwähnt, als
wichtig für seine Arbeit anführt, die auch, vermittelt
von W. Wundt, sowohl erheblichen Einfluß auf Mead
wie auch auf Dürkheim gehabt haben dürfte) - und in
eine Reihe mit Darwin, Wundt, Piaget, Lorenz, Lewin
u. a. gestellt.
339
Natur“ (Kant 1923: 636). Kunst meint hier den
schönen Schein des zivilisierten und kultivierten
Verhaltens, das nicht von sich aus Moralität be­
deutet (diese kann in der kantischen Ethik nur
durch eine über den kategorischen Imperativ regu­
lierte Gesinnung hergestellt werden), das aber den
Menschen durch sein Streben nach Ehre und inter­
subjektiver Anerkennung zwingt, seinen Status als
bloßes Sinnenwesen zu transzendieren. Damit ist
das Rollenspiel - die nur am kommunikativen
Erfolg ausgerichtete Selbstdarstellung als morali­
sches Wesen - sowohl die Voraussetzung für echte
Moralität (denn die Wahrung des Scheins erfordert
immerhin die subjektive Leistung der Darstellung)
wie auch eine Art Antriebskraft für die Ausbil­
dung echter moralischer Motive (vgl. Kant 1917:
151ff.).
Kants Aufklärungsabsicht läuft also nicht auf das
Herunterreißen der (Charakter-)Masken der Eindrucksmanipulateure hinaus - davor warnt er aus­
drücklich, übrigens einschließlich einer zu extensi­
ven Selbstthematisierung (vgl. Böhme 1986: 224)
-, sondern im Gegenteil gründet er auf seine Ein­
sicht einen „doxischen Imperativ“ (Sommer 1988:
83ff.), der gerade die Wahrung des schönen
Scheins verlangt, außerdem das ausdrückliche Be­
mühen um ihn, damit er seine sozusagen eingebau­
ten Besserungsmöglichkeiten entfalten könne. Das
soll nun freilich nicht heißen, daß jeglicher Dar­
stellungsanspruch zu akzeptieren sei. So unter­
schied Kant (1923: 95) ausdrücklich die „natürliche
Täuschung“ bzw. „Illusion“ vom „Blendwerk“
oder „Betrug“ und machte dabei (ganz ähnlich wie
Goffman bei der Unterscheidung von Modulatio­
nen und Täuschungen) die Form der Diskreditierbarkeit zum Trennungskriterium: „Die Illusion
kann mit der Wahrheit der Erkenntnis zusammen
bestehen. Aber nicht der Betrug“ (1923: 686). Der
systematische Ort dieser Unterscheidung findet
sich in Kants Geschichtsphilosophie. Nach dieser
hat der Mensch die Aufgabe, durch die Ausbil­
dung aller seiner Naturanlagen den Zweck der
Natur selber hervorzubringen, nämlich die allge­
mein befriedete und auf die moralische Autonomie
der Willensbildungen aufgebaute bürgerliche
(Welt-) Gesellschaft zu realisieren. Insofern gilt
dann: „Vollkommene Kunst wird wieder zur Na­
tur“ (1923: 887), denn der sozusagen über die
Stufen von (selbstdarstellerischer) Kultivierung
und (gesinnungsmäßiger) Moralisierung aufgestie­
gene Mensch findet sich im Zustand der vollkom­
menen Selbstverwirklichung wieder vereint mit der
Unauthenticated
nun ebenfalls bestimmungsgemäß realisierten Na­
Download Date | 2/14/17 12:09 AM
tur. Allerdings bezieht Kant (1977: 35f.) die Auf­
340
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345
gäbe der Selbstverwirklichung ausdrücklich auf die
Gattung und nicht auf die einzelnen Individuen,
denn deren „ungesellige Geselligkeit“ (1977: 37f.)
wird gerade als derjenige Mechanismus benannt,
dessen sich die Natur beim Weitertreiben der Men­
schen zur Erfüllung ihrer (Bestimmungs-)Interessen bedient. Sie macht sich dabei den Umstand
zunutze, daß die Menschen gleichzeitig die Gesell­
schaft suchen und ihr doch widerstreben. Kommu­
nikationstheoretisch formuliert: Die miteinander
konkurrierenden Darsteller durchschauen einan­
der, das forciert den Ehrgeiz und den Wettbewerb,
gleichzeitig aber auch die Reflexionsmöglichkeiten
und -fähigkeiten. Die Folgen diskutiert Goffman
unter dem (freilich oft normativistisch mißverstan­
denen) Problemtitel der „Rollendistanz“. Diese
meint die mehr oder weniger bewußte (und im
kantischen Sinne durchaus „künstlerische“) Stili­
sierung des Verhaltens im Hinblick auf die Dar­
stellung je persönlicher Individualität im allgemei­
nen Darstellungsspiel - und damit die Schaffung
einer recht instabilen und aktualisierungsrelativen
Wirklichkeit, wie sie ein Stil eben konstituiert
(Gumbrecht 1986).
Der von Luhmann (1980) analysierte Transforma­
tionsprozeß in den die Interaktion thematisieren­
den Semantiken des 17. und 18. Jahrhunderts fin­
det sich in der Philosophie Kants somit deutlich
ausgeprägt: Die Auffassung der Interaktion als
Kommunikationsprozeß zwischen Individuen, die
der Steigerung der Reflexion wie auch der persön­
lichen moralischen Ansprüche für fähig und wert
gelten. Dazu kommt die Verzeitlichung des Be­
wußtseins, die es zu denken erlaubt, daß aus kon­
struktiven Illusionen evolutionär gesehen Realitä­
ten werden können. Der kommunikationstheoreti­
sche, evolutionär-konstruktive Denkweg wurde
aber keineswegs wirklich beschritten. Schon bei
Kant selber beschränkt er sich auf anthropologi­
sche und geschichtsphilosophische Reflexionen „in
pragmatischer Hinsicht“. Die zentrale Begrün­
dungsfunktion übernimmt demgegenüber das
Konzept der reinen, d. h. empiriefreien Subjektivi­
tät - der Selbstbezug des Reflexionssubjekts -, die
nicht nur außerhalb der Natur steht (einschließlich
der eigenen inneren, sinnlichen Natürlichkeit),
sondern dieser gegenüber. Der Mensch wird so,
und sollte es in den Hauptströmungen der Philoso­
phie wie auch in den Grundlagen der Humanwis­
senschaft lange bleiben, „eine seltsame, empirisch­
transzendentale Dublette, weil er ein solches We­
sen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was
jede Erkenntnis möglich macht“ (Foucault 1978:
384).
Im philosophischen Diskurs der Moderne - so wie
ihn etwa Habermas (1985) rekonstruiert - gilt die
sich selbst gewahr gewordene und immer weiter
ausbildende reine Subjektivität dann schon selber
als Erklärungsprinzip: nicht nur, daß sie sich von
der (kantischen) Funktion, Vernunftgarantie und
Aufklärungslegitimation zu sein, ablöst und als
(angebliche) phänomenale Gegebenheit selbstver­
ständlich wird; als von der Einbettung in natürliche
(u. a.: kommunikative) Kontexte befreites Prinzip
der Selbsterfahrung bedarf sie neuer theoretischer
„Vermittlungen“ mit eben diesen Kontexten. Wir­
kungsträchtige Stationen der deutschen Philoso­
phie des 19. Jahrhunderts lassen sich ebenso als
Geschichte solcher Vermittlungsbemühungen le­
sen (vgl. Schnädelbach 1983; Hogrebe 1987) wie
beispielsweise auch die Vorgeschichte des französi­
schen (philosophischen) Strukturalismus (Descombes 1981). Die Entwicklung der modernen Sub­
jektphilosophie repräsentiert somit nicht nur eine
paradigmatische Weichenstellung in der modernen
Anthropologie13, sie widerspiegelt auch die Eta­
blierung und soziale Verteilung bestimmter neuer
Rationalitäts- und Legitimationsstrukturen in den
sich modernisierenden Gesellschaften.
So kann die Durchsetzung des idealistischen Sub­
jektbegriffes am Anfang des 19. Jahrhunderts in
einen engen Zusammenhang mit der Verstaatli­
chung des höheren Schulwesens und damit mit der
Etablierung eines Bildungsideals, das von philoso­
phisch geschulten Lehrerbeamten verfolgt werden
muß, gerückt werden (Kittier 1988). Der Aufstieg
vom „ich“ zum „Ich“ - um eine Formel Tugendhats (1979) zu variieren - also die ideologische
Steigerung des empirischen Selbstbezugs (und der
in diesem angelegten Möglichkeit zur subjektiven
Stilisierung in der Rollendistanz) zu den Darstel­
lungsnormen des bürgerlichen Autonomen muß
gelehrt und trainiert werden, dafür braucht es
nicht nur die entsprechend geschulten Lehrer son­
dern auch die adäquaten Gegenstände, nämlich
ein primär vom künstlerisch-literarischen Kultur­
betrieb definiertes Selbst-Verständnis. Da reine
Subjektivität sich auf jeden Fall durch ihre Entge­
gensetzung zur (empirischen) Natur definiert (ob
sie nun idealistisch diese miterklärt oder nicht),
entsteht auch ein von vornherein problematischer
Selbstbezug zu den Naturwissenschaften und deren
Wissen, es entsteht die Spaltung in das literarisch
definierte Selbstbewußtsein (paradigmatisch von
13 Dieser bleibt die Unauthenticated
Einsicht in die „Futteralsituation“
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Date 56)
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(Plessner 1972:
der Selbsterfahrung.
Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst
den die eigene Innerlichkeit zum Sprechen brin­
genden Künstlern ausgedrückt) und die wissen­
schaftlich-technisch erklärte Welt, die sich ganz
konkret als die Herausbildung zweier in der Mo­
derne nebeneinander existierender Kulturen nie­
derschlägt. 14*
Eine solche normative Aufgabenverteilung trägt
den Dualismus der Subjektbegriffe, Kulturen und
Selbsterfahrungsweisen in die öffentliche Ordnung
der Rahmungsmodalitäten selbst hinein. Daher ist
die Verdrängung einer evolutionär-konstruktiven
Möglichkeit menschlicher Selbstinterpretation zu­
gunsten eines Konzepts konstitutiver Subjektivität
nicht nur metatheoretisch wirkungsvoll gewesen,
insofern als sie Intersubjektivität zum Erklärungs­
problem und selbstbezügliche Subjektivität zum
Erklärungsprinzip machte (das durch übliche For­
meln wie die, daß „echte“ Subjektivität sich nur in
intersubjektiven Zusammenhängen „voll“ ausbil­
den könne, nicht widerlegt, sondern bestätigt
wird), dabei wurde auch die Subjektivität zur
Grundlage einer modernen „Religion, in der der
Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“ (Dürk­
heim 1986: 57).
Bei Goffman findet sich diese religionssoziolo­
gisch-zeitdiagnostische Einschätzung in eine empi­
rische Problemstellung der Interaktionsanalyse
verwandelt wieder. Für die Interpretation seiner
Arbeit ist daher eine klare Trennung zwischen
einem subjektivitätsfundierten Erklärungsansatz
14 „Die strikt erfahrungswissenschaftlichen Informatio­
nen können in die soziale Lebenswelt nur auf dem
Wege ihrer technischen Verwertung, also als technolo­
gisches Wissen eingehen: hier dienen sie der Erweite­
rung unserer technischen Verfügungsgewalt. Sie liegen
also nicht auf der gleichen Ebene wie das handlungs­
orientierende Selbstverständnis sozialer Gruppen. Für
deren praktisches Wissen, das in der Literatur zum
Ausdruck gelangt, kann deshalb der Informationsge­
halt der Wissenschaften nicht unvermittelt relevant
sein, - er kann nur auf dem Umwege über die prakti­
schen Folgen des technischen Fortschritts Bedeutung
erlangen. Die Erkenntnisse der Atomphysik bleiben,
für sich genommen, ohne Folgen für die Interpretation
unserer Lebenswelt - insofern ist die Kluft zwischen
jenen beiden Kulturen unvermeidlich. Erst wenn wir
mit Hilfe der physikalischen Theorien Kernspaltungen
durchführen, erst wenn die Informationen für die Ent­
faltung produktiver oder destruktiver Kräfte verwertet
werden, können ihre umwälzenden praktischen Fol­
gen in das literarische Bewußtsein der Lebenswelt
eindringen - Gedichte entstehen im Anblick von Hi­
roshima und nicht durch die Verarbeitung von Hypo­
thesen“ (Habermas 1969: 239f.).
341
und einem naturalistischen Kommunikationspara­
digma von doppelter Bedeutung: in bezug auf die
theoretischen Grundlagen, aber auch im Hinblick
auf die spezifische Form des Analysegegenstandes.
Goffman (1967: 47) beruft sich ausdrücklich auf
Dürkheims Religionssoziologie, wenn er betont,
daß „in our urban secular world“ die Person selber
als Träger des Heiligen angesehen werde. Es gilt
dann, wie er an anderer Stelle schreibt: „One’s
face, then, is a sacred thing, and the expressive
order required to sustain it is therefore a ritual
one“ (Goffman 1967: 19). Allerdings muß das
Selbstbild als Heiligtum die Interaktion, gemäß
der speziellen Problematik, in die die „Dialektik
der Interaktion“ unter dem normativen Bedingun­
gen der Moderne führt, zum hochprekären Ritual
machen, da die „Dialektik der Interaktion“ ja
gerade darin besteht, daß grundsätzlich die (je
individuelle) Darstellung vom (allgemein gültigen)
Dargestellten zu unterscheiden möglich ist. Das
Selbst als Darsteller entwertet sich damit tenden­
ziell selbst: ein Gott, der explizit um Anerkennung
bittet, ist nicht sonderlich anbetungswürdig. An­
ders herum betrachtet: Es ist in der Moderne ein
„Typ sozialer Subjektivität“ (Popitz 1987) entstan­
den, der vor einem echten Dilemma steht: Er
strebt nach der Anerkennung rein subjektiver In­
dividualität, kann diese aber nicht darstellen, da
sie dann eben dadurch nicht mehr existiert. Aber
offenkundig so zu sein wie alle anderen, stellt
ebenfalls Subjektivität in Frage. Und da in kom­
munikationstheoretischer Betrachtung auch das
„Innenleben“ der Subjekte als (internalisierter)
Kommunikationsprozeß betrachtet wird, liegt es
nahe anzunehmen, daß dieses Dilemma auch in
der Selbsterfahrung der Subjekte weiterwirkt.
In die durch das Subjektivitätsparadigma codierte
öffentliche Ordnung der Erfahrungsorganisation
ist dementsprechend tendenziell eine strukturelle
Spontaneitätsparadoxie eingebaut. Eine solche
kommunikative Paradoxie tritt dann auf (vgl.
Watzlawick et al. 1969: 184), wenn eine Aufforde­
rung gemacht wird, deren Befolgung den Inhalt
der Aufforderung negieren würde - so wie die
Befolgung der Aufforderung „Sei spontan!“ sich
selber widerlegt, insofern eine Aufforderung zu
befolgen immer das Gegenteil von spontanem Ver­
halten ist. Strukturell wird eine Spontaneitätspara­
doxie dann, wenn (gemäß der herrschenden Co­
dierung der öffentlichen Ordnung) Darstellungen
verlangt werden, zu deren Wesen es gehören soll,
keine Darstellung zu sein. Impliziert ist darin ei­
Unauthenticated der Rollendi­
nerseits eine Funktionsverschiebung
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Date |Differenzierungsprinzip
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stanz:
von einem
wird sie
342
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 18, Heft 5, Oktober 1989, S. 329-345
zu einem Identifikationsprinzip. In ihrer Moderni­
sierungstheorie beschreiben Berger et al. diesen
Prozeß als einen Übergang von „Ehre“ zu „Wür­
de“ als dem zentralen Kriterium für erfolgreiche
Personalitätsbildung und -behauptung: „Der Be­
griff der Ehre impliziert, daß die Identität intrin­
sisch oder zumindest in bedeutsamer Weise mit
institutionellen Rollen verknüpft ist. Im Gegensatz
dazu impliziert der moderne Begriff der Würde,
daß die Identität intrinsisch von institutionellen
Rollen unabhängig ist“ (Berger et al. 1987: 80).
Aber eben diese Unabhängigkeit hebt die Funk­
tion der Distanzierungsmöglichkeit auf. Die Folge:
„Aus einer gesellschaftlichen Gegebenheit hat sich
persönliche Identität in ein kulturelles Oktroi ver­
wandelt“ (Luckmann 1979: 294). Aus einer Mög­
lichkeit, die Personalität (als moralische Selbstbe­
hauptung) anzeigte, wurde eine Norm, die potenti­
ell diese Personalität gefährdet.
ber: „Recently this neglected field (nämlich: das
Studium der öffentlichen Ordnung, M. W.) has
begun to receive very active attention, this being
an aspect no doubt of a complex unsettling ex­
pressed variously in the current unsafety and inci­
vility of our city streets, the new political device of
intentionally breaking the ground rules for selfexpression during meetings and contacts, the
change in rules of censorship, and the social moles­
tation encouraged in the various forms of encoun­
ter group’ and experimental theatre. Indeed, con­
cern about public life has heated up far beyond our
capacity to throw light on it“ (Goffman 1971: 13f.).
6. Serielle Konstruktivität: die Entdeckung
des Sozialen
Goffmans späte Soziologie ist - das letzte Zitat
zeigt das deutlich - von den sozialen Erfahrungen
Andererseits ist ein Funktionswandel der Selbst- der 60er und 70er Jahre geprägt. Seinen Ansatz­
thematisierung impliziert. Deren klassische vor­ punkt der dramaturgischen Perspektive entwickel­
moderne Formen, wie die katholische Beichte te er, genausowenig zufällig, in der Nachkriegszeit
(Hahn 1982), aber auch die lutheranische Innen­ und in den 50er Jahren. Mit einem gewissen Recht
schau (Soeffner 1988), waren Reflexion im eigent­ läßt sich daher in der Tat sagen, daß Motive aus
lichen Wortsinne: projektive Abbildung von Existentialismus und Phänomenologie, Struktura­
Selbsterfahrenem auf einen ideellen Hintergrund; lismus und Interaktionismus gleichermaßen in sein
die Subjektivitätscodierung schließt auch hier ge­ Werk eingegangen sind - und allesamt semiotisch
wissermaßen die konstitutive Differenz zwischen (und interaktionsökologisch) transformiert wurden
Ideal und Realisierung kurz, und macht somit (MacCannell 1983). Vor allem aber kann seine
nicht nur die Überbrückung dieser Differenz viel Soziologie als Analyse dessen gelesen werden, was
komplizierter,15 sondern tendenziell die Reflexion der Modernisierungsprozeß aus unserem Alltagsle­
zur Rekursion (Anwendung der immer gleichen ben gemacht hat. Insofern verbindet sich in seinem
Operation auf einen gegebenen Sachverhalt) - die Werk eine dezidiert soziologische Anthropologie,
Problematik etwa der diversen Psychotherapien deren theoretischer Hintergrund, wie hier gezeigt
hängt ja nicht zuletzt damit zusammen, daß sie werden sollte, in einem naturalistisch-evolutionä­
über keinen natürlichen Gesundheitsbegriff und ren Kommunikationsparadigma gesucht werden
damit kein natürliches Ziel verfügen, und im Rah­ kann, mit einer zeitdiagnostischen Anwendung
men des Subjektivitätsparadigmas so etwas auch und Ausarbeitung eines solchen Ansatzes - ein
gar nicht haben können, denn eine anti-natürlich Ansatz, für den es Wurzeln bereits bei Kant gibt,
verstandene Subjektivität kann keinen natürlichen der aber durch die moderne Subjektphilosophie
Zustand annehmen.
verdrängt wurde. Wie die deren Vorgaben ver­
Eine andere Art von Implikation der Spontanei­ pflichtete Codierung von Subjektivität den moder­
tätsparadoxie betrifft die öffentliche Ordnung sel- nen Menschen zu unehrlichen sozialen (Schau-)Spielen verführt, scheint mir Goffmans ganz per­
sönliche zentrale Botschaft.
15 Der Unterschied zwischen dem Ansatz von Goffman In der sich als Fachwissenschaft von den sozialen
und einer konservativ-reaktionären Individualisie­ Strukturen etablierenden Soziologie16 wurde Goffrungskritik etwa in der Art von Gehlen (1957) liegt
darin, daß für Gehlen die Institutionen entlastend
wirken, weil die Menschen gern gehorchen, für Goff­
man dagegen besteht die Entlastungsfunktion darin,
daß wenig flexible Institutionen von flexiblen Subjek­
ten relativ leicht unterlaufen und ausgebeutet werden
können.
16 Dieser Prozeß läßt sich u. a. auch als eine sukzessive
Übernahme evolutions- und emergenzfeindlicher wis­
Unauthenticated
senschaftstheoretischer
Vorgaben beschreiben (vgl.
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Wehrspaun
1985).
Michael Wehrspaun: Kommunikation, öffentliche Ordnung und das projektive Selbst
mans Arbeit mit einer gewissen inneren Folgerich­
tigkeit an den Rand der Disziplin gedrängt, nicht
zuletzt, weil auch die meisten sozialwissenschaftlichen Subjektivitätstheorien auf die im Rahmen der
modernen Subjektphilosophie vollzogene soziale
Konstruktion einer selbstbezüglichen und gegen­
standskonstitutiven Subjektivität als primärer Er­
fahrungsgegebenheit aufbauen (vgl. Daniels 1981;
Frey/Haußer 1987), und statt dieser die Dezentrie­
rungsbemühungen als gesellschaftliche Symptome
hinterfragen - auch diejenigen Goffmans. So hält
sich das moderne Subjekt beharrlich gerade aus
den sozialen Objektivitäten heraus - vor allem
natürlich deswegen, da es der Möglichkeit von
Aufklärung über letztere vorausgesetzt zu sein
scheint. Neuerdings ist dagegen von einer „Auflö­
sung des Sozialen“ (Bude 1988) die Rede, da die
traditionellen, von der Subjekt-Struktur-Entgegensetzung geprägten Diskursformationen durch
eine (postmoderne) Auffassung vom Sozialen als
„serieller Struktur“ verdrängt werden könnten.
Aber in diesem Sinne war Goffmans Soziologie
von Anfang an „seriell“ - die zeitliche Aufeinan­
derfolge und das gegenseitige pragmatische InBeziehung-Setzen der (Selbst-)Darstellungen ist
für ihn die Selbstorganisation des Sozialen: als des
Sozialen. Daher könnte im Hinblick auf seine konstruktiv-semiotische Ökologie der sozialen Situa­
tion eher von einer (Wieder-)Entdeckung des So­
zialen gesprochen werden, nämlich in dessen Rea­
litätsstatus als eigenständiger, nicht-ableitbarer
Realitätsschicht, eben als fünfte Dimension der
objektiven Welt. Das alte und neue Problem einer
sozialwissenschaftlichen Emergenzkonzeption ist
es freilich, daß sie den Aufklärer zwingt, sich als
Teil seines Gegenstandes, als Prozeß unter den zu
beschreibenden Prozessen zu verstehen. Insofern:
Wenn Goffman sich immer wieder von seinen eige­
nen Analysen zu distanzieren pflegte, dann kann
auch das durchaus als konsequente Durchführung
seiner Variante einer Rahmendekonstruktion ge­
sehen werden.
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