Boris Groys Die Erfindung Rußlands Carl Hanser Verlag Inhalt Einführung Rußland auf der Suche nach seiner Identität Weisheit als weibliches Weltprinzip: die Sophiologie von Wladimir Solowjow Nietzsche in der sowjetischen Kultur der dreißiger Jahre Die sowjetische ideologische Praxis Die Ethik der Avantgarde Pawel Filonows Lebensmaschinen Das Kunstwerk als nichtfunktionelle Maschine: Wladimir Tatlin Der Kampf gegen das Museum oder die Präsentation der Kunst im totalitären Raum . . Gebaute Ideologie U-Bahn als U-Topie St. Petersburg — Petrograd — Leningrad Lenin und Lincoln: Zwei Gestalten des modernen Todes Die postsowjetische Postmoderne Der russische Künstler als Figur eines humoristischen Romans Der Text als Monster Medhermeneutik: Heilung von der Gesundheit . . . . 7 19 205 213 229 Anmerkungen Nachweise 239 251 37 50 75 93 105 112 120 143 156 167 180 187 Rußland auf der Suche nach seiner Identität »Rußland und der Westen« — das ist seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit das zentrale Problem für die russische philosophische Tradition, die russische Literatur und die russische Kultur insgesamt. Spricht man von der »russischen Philosophie« — im Unterschied zur Philosophie in Rußland —, dann meint man vor allem die Diskussionen, die sich um dieses Problem gruppieren, in der richtigen Annahme, daß das russische Denken in diesen Diskussionen am interessantesten und originellsten zum Ausdruck kommt. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als habe das Thema »Rußland und der Westen« nur regionale Bedeutung und könne deshalb für die Philosophie und Kulturtheorie außerhalb Rußlands nicht interessant sein, da die Philosophie auf der Suche nach allgemeinen Wahrheiten und universalen Gesetzen des Denkens sei. Indessen basiert der Anspruch auf Allgemeingültigkeit eines bestimmten rationalen, logischen und wissenschaftlichen Denktypus auf dem Glauben, daß das Subjekt dieses Denkens das cartesianische rationale Ich sei oder die Kantsche transzendentale Subjektivität oder eine andere Form der »reinen Vernunft«. Eben dieser Glaube wird jedoch in der russischen Philosophie als spezifisch westlich beschrieben, während die russische Philosophie die Frage nach dem realen Subjekt des Denkens und der Kultur stellt. Für sie ist das philosophisch verstandene universale Subjekt des Denkens und des kulturellen Schaffens nur die Maske eines konkreten Menschen der westlichen Kultur, der danach trachtet, diese seine spezifische Kultur als allgemeine hinzustellen. Rußland ist aus der Sicht der russischen Philosophie kein Teil des Westens und schränkt deshalb allein durch seine Existenz den westlichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit des Denkens ein. Darin besteht für sie ihr spezifischer philosophischer Auftrag. In gewissem Sinn ist die russische Philosophie die philosophisch formulierte Antiphilosophie. 19 Die Begriffe »Rußland« und »Westen« haben deshalb im Kontext der russischen intellektuellen Tradition keine ausschließlich geographische, politische oder soziologische Bedeutung. Sie sind eher Chiffren für die Bezeichnung der fundamentalen philosophischen Frage nach der Universalität des Denkens und der Kultur. Der Terminus »Westen« bezeichnet hier die Ausrichtung auf eine universale, allgemeinverbindliche, rationale Wahrheit jenseits aller Unterschiede in der Lebens- und Kulturpraxis. Der Terminus »Rußland« verweist auf die Unmöglichkeit einer solchen Wahrheit und die Notwendigkeit, Lösungen nicht auf der Ebene des Denkens zu suchen, sondern auf der des Lebens selbst. Die russische Philosophie bemühte sich also, in ihrer spezifischen Sprache die Problematik zu beschreiben, die unter dem Namen »Logozentrismus« noch in unserer Zeit aktuell bleibt. Ich werde im weiteren zu beschreiben versuchen, wie sich in d e r langjährigen Erörterung des Problems »Rußland und der Westen« die Grundfiguren und Denkmethoden herausgebildet haben, welche die russische Philosophie insgesamt charakterisieren und sich im gesamten Verlauf der russischen kulturellen Tradition mit ungewöhnlicher Beständigkeit erhalten haben. Die Frage nach dem besonderen Charakter der russischen Nationalkultur stellte sich in Rußland so zugespitzt zum erstenmal nach dem Sieg Rußlands über Napoleon im J a h r 1814. Russische Truppen waren zwar in Paris einmarschiert, doch die russische Kultur war offensichtlich wie zuvor nicht in d e r Lage, mit der europäischen zu konkurrieren. Für die Mehrheit der damaligen russischen gebildeten Klasse, die ihre Erziehung vor allem unter dem Einfluß der französischen Aufklärung erhalten hatte, wurde dieser Umstand anfangs von der Zuversicht gemildert, daß Rußland allmählich auf dem einen, universalen Weg des Fortschritts vorankommen und aus bekannten geschichtlichen Gründen im Vergleich zu den anderen Völkern Europas n u r ein wenig nachhinken werde. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war jedoch die Ideologie der Aufklärung in Europa selbst infolge des Terrors der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege hinreichend in Verruf gekommen. Der 20 Glaube an den Universalismus der Vernunft wurde, hauptsächlich unter dem Einfluß von Schellings und Hegels philosophischem Historismus, abgelöst von der Orientierung an den geschichtlich unikalen Nationalkulturen, deren jede als origineller und auf keine abstrakte Wahrheit reduzierbarer Beitrag zur allgemein menschlichen Kultur beschrieben wurde. Dadurch verlor die allgemein menschliche Kultur ihre vorher postulierte logische Einheit, an der sich ein Entwicklungsland wie Rußland orientieren konnte. Im selben Augenblick, wo Rußland immer noch annahm, zuversichtlich auf dem einen Weg der Weltaufklärung voranzuschreiten, hatte sich herausgestellt, daß die Einheit der Aufklärung selbst nicht mehr existierte. Die relativ leichte Aufgabe, ein aufgeklärtes Land zu werden, wurde nun von der weit schwierigeren Aufgabe abgelöst, originell zu werden. Schellings und Hegels Einfluß verbreitete sich ebenfalls ziemlich rasch in der russischen gebildeten Gesellschaft. Schon Ende der zehner und in den zwanziger Jahren des 19.Jahrhunderts konzentrierte sich deren Interesse auf die Frage, was die russische Kultur bis dahin schon alles an Originellem geschaffen habe. Die Antwort war niederschmetternd: praktisch nichts. Wie viele Autoren feststellten — meist in Briefen oder im damaligen »Samisdat« 1 —, war die russische Kultur eine ausschließlich nachahmende und enthielt keinerlei originelle Elemente, die man für ihren einzigartigen Beitrag zur Weltkultur hätte halten können. Die Religion in Rußland war voll und ganz byzantinisch und ihre weltliche Kultur voll und ganz westeuropäisch. Die Lage wurde zudem erheblich dadurch kompliziert, daß Rußland auch dann, wenn es der Philosophie des deutschen Idealismus folgen würde, nicht damit rechnen könnte, in Zukunft irgend etwas Originelles hervorzubringen. Der Historismus in der Philosophie betrachtet sich nämlich als der Abschluß der originellen historischen Entwicklung. Diese Entwicklung ist nur unter der Bedingung möglich, daß die einzelne Nationalkultur kein historisches Bewußtsein besitzt und deshalb unreflektiert, in gewissem Sinne naiv und teilweise unbewußt eine bestimmte Idee zu verwirklichen vermag, in der Annahme, diese sei wahr und universal. Von dem Augenblick 21 an, da die historische Reflexion im deutschen Idealismus auftaucht, offenbaren alle Wahrheiten und kulturellen Formen ihre Relativität, so daß naives historisches Schaffen nicht mehr möglich ist. Der Historismus in der Philosophie bedeutet das Ende der Geschichte. Rußland fand sich angesichts der Philosophie des deutschen Idealismus, die es sich angeeignet hatte, in einer ausweglosen Situation. Es sah sich vor die Forderung gestellt, kulturell originell in der Posthistorie zu sein, wo Originalität für Rußland unerreichbar wurde. Dieses kulturelle und psychische Trauma erhielt seinen deutlichsten Ausdruck in Peter Tschaadajews berühmtem »Philosophischen Brief«, geschrieben 1829, sehr begrenzt im Freundeskreis verbreitet und 1836 gedruckt. 2 Auf diesen Brief von Tschaadajew kann man den Beginn des originellen russischen philosophischen Diskurses datieren, weil Tschaadajew darin explizit die Frage nach der prinzipiellen NichtOriginalität der russischen Kultur gestellt hat. Tschaadajews »Philosophischer Brief« wird gemeinhin als rein politisches Dokument gelesen, das polemisch und in düsteren Farben die damalige russische Wirklichkeit zeichnet. Selbstverständlich hat der Brief eine bestimmte politische Funktion. Aber zugleich reicht er auch in eine tiefere, rein philosophische Dimension. Vor allem fixiert Tschaadajew die Lage Rußlands außerhalb der Weltgeschichte, verstanden als Entwicklung des Weltgeistes. Tschaadajew schreibt: »Wir sind niemals mit den anderen Völkern zusammengegangen, wir gehören keiner der großen Familien des Menschengeschlechts an, wir gehöten weder zum Osten noch zum Westen, haben weder die Traditionen des einen noch des anderen. Wir stehen gewissermaßen außerhalb der Zeit, die allgemeine Erziehung des Menschengeschlechts hat uns nicht einbegriffen.« In Rußland »verschwindet alles, fließt alles, ohne Spuren außerhalb von uns oder in uns zu hinterlassen. In unseren Häusern leben wir wie im Lager, in der Familie haben wir die Gestalt von Fremdlingen, in den Städten die von Nomaden — schlimmer als Nomaden ..., denn die sind mehr mit ihren Wüsten verbunden als wir mit unseren Städten.« Rußland habe keine Geschichte, »keine schönen Erinnerungen« wie andere Völ22 ker, es lebe nur in der Gegenwart, seine Kultur sei voll und ganz entlehnt und nachahmend und besitze deshalb im Land selbst keinerlei inneren Halt. Die Russen hätten keine Ideen von Pflicht, Gerechtigkeit, Recht und Ordnung. In Rußland herrsche nur »die Sinnlosigkeit eines Lebens ohne Erfahrung und Weitsicht«. Tschaadajew schreibt weiter, daß »wir selbst in unserem Blick etwas absonderlich Unbestimmtes, Kaltes, Unsicheres haben«, was seinen Ausdruck »stumm« mache. Derlei Zitate könnte man fortsetzen. Rußland erweist sich bei Tschaadajew also als etwas radikal anderes in bezug auf die Geschichte des Denkens, der Kultur, des Geistes oder sogar der Seele in allen ihren Ausdrucksformen — als etwas, das vollständig aus dem Weltlogos ausgeschlossen ist. Rußlands Existenz ist rein materiell, ein vollständig auf fast animalische Prozesse reduzierter Alltagsbetrieb. Rußlands historische Bedeutung sieht Tschaadajew ausschließlich darin, daß es der ganzen übrigen Welt abschreckend demonstriert, was es heißt, in solch vollständiger Ausgeschlossenheit aus der geistigen Einheit der Welt zu leben. Aber diese negative Bewertung der russischen Wirklichkeit betont nur den Umstand, daß Tschaadajew in Rußland zugleich das Andere in bezug auf die ganze Weltgeschichte entdeckt, was es ihm auch erlaubt, Rußland außerhalb des Göttlichen und des philosophischen Logos zu plazieren. Damit erweist sich natürlich die Weltgeschichte selbst als unvollständig, und Hegels absolutem Geist erwächst damit die Opposition im rein materiellen Prinzip, das nicht als äußeres Objekt der wissenschaftlichen Erforschung verstanden wird, sondern als eine rein unbewußte, ausdruckslose Existenzweise, die zu jeder Geschichtlichkeit eine Alternative bildet. Diese Existenzweise entgleitet eben deshalb jeder philosophischen Reflexion, weil sie nicht ausgedrückt, nicht artikuliert, nicht originell und nicht in der Weltgeschichte objektiviert ist. Daher ist es natürlich, daß im weiteren die Wechselbeziehung zwischen dem »Westen«, der jetzt für das russische Denken die historische Existenzweise par excellence symbolisiert, und Rußland, das eine außergeschichtliche Realität symbolisiert, erfolgreich umgedreht werden kann, was auch 23 bei den frühen Slawophilen geschieht und später bei Tschaadajew selbst in seiner »Apologie eines Geisteskranken« anklingt. So betrachtet Iwan Kirejewski in seinem Aufsatz »Über den Charakter der Bildung Europas und ihr Verhältnis zur Bildung Rußlands" 3 , der 1852 erschienen ist und die gut zwanzigjährige Erfahrung der slawophilen Diskussionen widerspiegelt, die Nichtgeschichtlichkeit der russischen Existenz als besonderen Typus der christlichen Askese, die es Rußland erlaube, seinen inneren Besitz unangetastet zu bewahren. Die westliche Kultur betrachtet Kirejewski als Erbin des alten Roms, das alle Beziehungen zwischen Menschen allein auf der Ebene äußerer Rechtsnormen und die Wahrhaftigkeit des Denkens allein durch seine Unterordnung unter die äußeren Regeln der Logik definiere. Dementsprechend kenne die westliche Kultur entweder das Prinzip der äußerlichen Autorität, welches auf Tradition und Macht basiere, oder den ebenso äußerlichen individuellen Protest gegen diese Autorität. Das Prinzip der Autorität assoziiert Kirejewski mit dem Katholizismus und den atomisierten Individualismus mit dem Protestantismus sowie der Aufklärung. Die russische Orthodoxie beschreibt er dagegen weniger als eine bestimmte, zu den westlichen Glaubensbekenntnissen alternative Lehre, sondern vielmehr als eine Lebensweise, die deshalb nicht ans Licht der Geschichte getreten sei, weil sie ihre Ganzheitlichkeit bewahrt habe und nicht in äußerliche Formen zerfalle. Für den russisch-orthodoxen Menschen werde der Wunsch, auf seiner Wahrheit oder seinen Rechten zu bestehen, stets durch das Bestreben gemäßigt, das Band zu den anderen nicht zu zerreißen und den inneren Kontakt zu ihnen aufrechtzuerhalten. Deshalb erscheine auch die russische Geschichte so unbewegt und außerhistorisch, obwohl sie »voll inneren Lebens« sei. Kirejewski widerspricht damit nicht der Diagnose der kulturellen Situation Rußlands, die Tschaadajew gegeben hat, aber für ihn ist das Fehlen einer Orientierung an äußerem Recht,.Gesetz oder Wahrheit im russischen Leben ein Zeugnis für den inneren, nichtobjektiven, nichtformalen Charakter der russischen Kultur. Kirejewski denkt natürlich als Romantiker und Idealist, wenn er mit. den Begriffen »Organismus und Inneres« versus 24 »Mechanismus und Äußeres« argumentiert. Doch zugleich stellt ihn auch Hegels oder Schellings Lösung des Problems nicht zufrieden, weil in ihrer idealistischen Philosophie die organische, innere Synthese der gesamten historischen Vielfalt der kulturellen Formen von den Philosophen nur gedacht, nicht aber als reale, faktische Lebensweise in der Praxis verwirklicht wird. Kirejewski nimmt an, daß diese reale Synthese im Westen auch gar nicht geschehen könne, da das historische Leben dort abgeschlossen und seine vorreflektive Einheit zerfallen sei, was auch der deutsche philosophische Historismus selbst belege, der nur zu einer auf die Vergangenheit gerichteten historischen Reflexion fähig sei. Deshalb sei es vielleicht nur Rußland bestimmt, in der Wirklichkeit selbst diese Synthese zu vollziehen, zu welcher der Westen lediglich auf der Ebene des philosophischen Denkens fähig sei. Die Aussonderung Rußlands als des radikal Anderen in bezug auf die Vernunft, den Geist und die Weltgeschichte eröffnet Kirejewski so die Möglichkeit einer neuen Synthese, die über das Hegeische System hinausführt: der Synthese zwischen der die Geschichte beendenden philosophischen Betrachtung und dem rein materiellen, außerhistorischen und deshalb ebenso allgemeinen Existenztypus, den Rußland darstelle. Im Endergebnis müsse ein synthetisches, allgemeines Leben entstehen, und nicht nur ein synthetisches, allgemeines Denken. Da die russische Kultur damals in die europäisierten Oberklassen und das in seinen kulturellen Traditionen verhaftete russische Bauerntum gespalten war, bedeutete diese Endsynthese für Kirejewski auch die Überwindung der inneren Spaltung Rußlands selbst sowie der Spaltung in der Seele jedes einzelnen gebildeten Russen zwischen seiner europäischen Bildung und seiner russischen Lebensweise. Rußland erscheint hier als das Andere, als das Unbewußte des russischen Menschen, der mit einem europäischen Bewußtsein ausgestattet ist. Der Westen und Rußland müssen sich auch deshalb vereinigen, damit der russische Mensch die soziale und innerpsychische Repression überwinden und endgültige Ganzheit erlangen kann. Hatte im übrigen die Aufklärung im Westen unter der Parole 25 Befreiung von der Tyrannei des Ancien regime gewirkt, so begründete die russische absolutistische Regierung gerade durch den höheren Grad ihrer Aufgeklärtheit ihre Herrschaft über die immer noch unaufgeklärten russischen Massen, so daß die Aufklärung in Rußland vielfach mit politischer Gewalt und Machtmechanismen assoziiert wurde. Dieses Thema beschäftigt auch einen anderen Theoretiker des Slawophilentums jener Zeit, Alexej Chomjakow. In seinen historisch-theologischen Schriften proklamiert Chomjakow das berühmt gewordene Prinzip der Sobornost.4 Sobornost ist eine besondere vorreflexive Lebensbefindlichkeit derer, die an den ersten christlichen Konzilen (russ.: sobor) teilgenommen und die ersten Dogmen des christlichen Glaubens formuliert haben. Für Chomjakow liegt die letzte Wahrheit des Christentums nicht in diesen Dogmen, sondern eben in d e r Sobornost, also in jenem vorreflexiven Leben, aus dem diese Dogmen entstanden. In Chomjakows Sicht zerstörte die katholische Kirche im Westen die Sobornost dadurch, daß sie eigenmächtig das »filioque« zum Dogma erhob, welches in den .Konzilsbeschlüssen fehlte, und damit in einen äußeren Bezug zur christlichen Umgangs- und Lebensweise trat. Chomjakow kommt es dabei gar nicht so sehr auf das Dogma des »filioque« an, über dessen Wahrheit er keine Vorentscheidung treffen will, sondern vielmehr auf den von ihm der katholischen Kirche zugeschriebenen Beschluß, auf diesem Dogma bis hin zum Bruch mit der Ostkirche zu beharren. Der Anspruch auf Wahrheit entsteht nach Chomjakow immer aus der gewaltsamen Trennung realer Lebensbindungen und hat Repression und Entfremdung zur Folge, die nur dann überwunden werden können, wenn die einseitigen Ansprüche auf Wahrheit nicht allein in d e r Theorie, sondern im Leben selbst relativiert werden. Für Chomjakow sind Katholizismus und Protestantismus Symptome des Abfalls vom wahren Christentum gerade infolge ihrer Geschichtlichkeit, äußeren Bestimmtheit und Ausgesondertheit aus der christlichen Sobornost. Deshalb ruft er sie auf, sich wieder in gegenseitiger Liebe zu vereinen und ein neues Konzil einzuberufen, das alle ihre dogmatischen Streitigkeiten beilegen könnte. Für die reale Voraus26 setzung dieses Ereignisses hält Chomjakow wiederum die bestehende Russische Orthodoxie, die in ihrer Lebenspraxis den Geist der Konzile bewahrt habe. Rußland wird hier wie zuvor als rein materielle, außergeschichtliche Wirklichkeit verstanden. Doch jetzt befähigt es seine Außergeschichtlichkeit und seine Andersartigkeit in bezug auf die Geschichte des Weltgeistes wiederum dazu, das Christentum in seiner endgültigen Synthese zu verkörpern und ihm eine reale, lebendige Existenz zu geben, wozu die christlichen Glaubensbekenntnisse Europas, die bereits ihren Teilcharakter historisch offenbart haben, nicht mehr in der Lage sind. Im übrigen war Rußland nicht die einzige Zone, die aus den Schellingschen und Hegeischen geschichtlichen Synthesen herausfiel. Parallel zu den Philosophen des deutschen Idealismus stellte bereits Schopenhauer seine Theorie vom unbewußten kosmischen Willen auf, als dem nichtreduzierbaren Anderen und dem in bezug auf den dialektischen Prozeß der historischen Selbstreflexion Nichtobjektivierbaren. Schelling selbst begann in einer späteren Periode mit der Suche nach einem »positiven«, also nichtdialektischen Ausgangsprinzip, die auf die russische Philosophie besonderen Einfluß ausübte. Kierkegaard stellte die Frage nach dem einzelnen Menschen, der in der Hegeischen Nachgeschichte lebt, und kommt zur Idee der nichtreduzierbaren Existenz, die vielen Intuitionen des damaligen russischen Denkens nahesteht. Und schließlich entdeckte Marx eine ganze Klasse, das Proletariat, die nicht in das Hegeische System Eingang gefunden hat und das Prinzip der rein materiellen Existenz darstellt. Die Funktion dieser Klasse bestand nach Marx darin, auf der Ebene der Wirklichkeit selbst die idealen Synthesen der Hegeischen Dialektik zu realisieren oder zu materialisieren. Die strukturelle Ähnlichkeit mit dem russischen Denken ist hier ganz offensichtlich. Die russische Philosophie, hier verstanden als slawophil orientiertes Philosophieren über Rußland, erweist sich somit als Teil des allgemeinen Paradigmas der postidealistischen Philosophie in Europa nach der Krise des Schellingschen und Hegeischen Historismus. Dies war die Zeit der ersten Entdekkungen des Unbewußten als des nichtobjektivierbaren Ande27 ren, jenseits von Reflexion, Dialektik, Denken und Erkenntnis. Darüber hinaus verstand man im Licht dieser Entdekkung das Denken selbst als eine Funktion des Anderen - des Weltwillens, der Existenz, der ökonomischen Praxis usw. —, das sich deshalb nicht mehr selbst zu reflektieren und zu begründen vermochte, wie es noch kurz zuvor im deutschen Idealismus der Fall war. Rußland aus Tschaadajews und slawophiler Sicht kann daher als ein weiterer Name für das europäische postidealisti-' sche Unbewußte gelten. Doch in einer Beziehung unterscheidet sich die slawophile Behandlung des Anderen und des Unbewußten deutlich von der westlichen. Für die westlichen Autoren ist der Diskurs über das Unbewußte subversiv oder gar revolutionär hinsichtlich der bestehenden Ordnung, die auf den überkommenen Idealen des Wahren, Guten und Schönen beruht. Bei den allermeisten russischen Autoren bietet sich ein ganz anderes Bild. Tschaadajew selbst erkennt noch auf westliche Weise Rußland als gefährliches Unbewußtes — als Alternative zur hohen Kultur, ruft jedoch zugleich zur »Erziehung« Rußlands und zur Überwindung seiner reinen Materialität auf. Mit den Slawophilen aber beginnt das russische Denken dem russischen Unbewußten Eigenschaften des höchsten, mystischen Bewußtseins zuzuschreiben. Für die Slawophilen trägt nämlich das russische unbewußte, außerhistorische Leben ursprünglich die Garantie eben jener idealen Ganzheit in sich, die ihrer Meinung nach der Westen will, aber nicht erreichen kann. Im Gegenteil, das westliche rationale Denken bedrohe mit seiner ständigen Negativität und dauernden Kritik die Stabilität seiner eigenen kulturellen Werte, die nur durch ihre Integration in die russische Wirklichkeit bewahrt werden könnten. Da das eigene Land für die russischen Denker zum Träger des Anderen wurde und da sich dieses Land von Anfang an geographisch außerhalb des Westens befand, brauchten die Slawophilen die europäische Ordnung nicht zu zerstören, um das Terrain für ihr eigenes Wirken freizulegen. Sie befanden sich von Anfang an außerhalb Europas und wollten sich im Gegenteil mit ihm vereinigen, es in ihren eigenen Wirkungskreis einbeziehen und damit seine zerfallende Kul28 Das russische Denken reagierte, wie bereits gesagt, von Anfang an auf das Interesse am Anderen, Nichtwestlichen, Exotischen und Östlichen, das während der Romantik im Westen aufkam. Doch wie Tschaadajew bereits bemerkt hatte, gehört Rußland ebensowenig zum Osten wie zum Westen. Seine Kultur, die keine westliche ist, kann im Vergleich zur westlichen auch nicht als selbständig und originell aufgefaßt werden. Diese Unbestimmtheit des russischen Lebens interpretierten nun die russischen Slawophilen als ihre Universalität, die sich mit der Universalität des westlichen Denkens verbinden sollte, um diesem seine materielle Grundlage zu geben. Deshalb kritisierten Kirejewski und Chomjakow, die doch den Glauben an Rußland verkündeten, die russische Wirklichkeit überall dort, wo sie ihrer Meinung nach allzu russisch, allzu spezifisch und allzu individuell war. In diesem Sinne unterschied sich die Strategie der Slawophilen nicht so stark von der ihrer Gegner, der Westler, wie es scheinen mag. Diese waren wie Alexander Herzen oder Michail Bakunin in ihrer Kritik an Rußland bedeutend radikaler, bezogen aber als Vertreter der russischen Kultur genauso gern Opposition zu dem, was sie für Spießertum, Beschränktheit und konservative Lebensformen hielten, die dem Westen eigen waren. Die Theologisierung des Unbewußten wurde besonders später zur expliziten Standardoperation der russischen Philosophie, als sie die Strömungen des westlichen Denkens kennenlernte, die zum selben Paradigma gehörten wie sie selbst. Im weiteren möchte ich nur wenige Beispiele für diese Operation anführen. Wladimir Solowjow demonstriert als erster anschaulich den entsprechenden Mechanismus, wenn er die Synthese aus der Philosophie Schopenhauers, besonders der »Philosophie des Unbewußten« von dessen Schüler Eduard von Hartmann, und der Tradition des russischen Slawophilentums bildet. In seiner ersten großen Schrift von 1874, »Die Krise der westlichen Philosophie. Gegen die Positivisten«, übernimmt Solowjow im Grunde alle philosophischen Schlüsse Schopenhauers und Hartmanns, kritisiert sie aber wegen ihres negativen Charakters. Solowjow kann nicht zustimmen, daß das Unbewußte nur als eine blinde, unvernünftige, zerstörerische Kraft aufgefaßt werden solle, und sieht in ihm dagegen die höchste Orientierung für die Vernunft selbst.5 Er entwickelt des weiteren die Lehre von der umgewandelten Materie oder der göttlichen Sophia, die er mit Rußland assoziiert und die, vom westlichen freien Denken befruchtet, das »neue Wort« zur Welt bringen soll, das heißt den neuen Christus. 6 Sophia ist für Solowjow die materielle Welt, die jedoch nicht nur Objekt der wissenschaftlichen Erforschung seitens der Vernunft ist. Im Gegenteil, die Vernunft ist selbst materiell, selbst in der Sophijnost der Welt verankert, die sie nicht vollständig reflektieren kann. In dieser Beziehung figuriert Sophia als Name für das Unbewußte. Aber Sophia untergräbt nicht nur die Ansprüche der Vernunft, wie es das untreue westliche Unbewußte tut, sie dient im Gegenteil als einzige Garantie für die tatsächliche, materielle Erfüllung dieser Ansprüche. Solowjow kritisiert die frühen Slawophilen wegen ihrer unkritischen Identifizierung Rußlands mit der Orthodoxie und verweist darauf, daß die Orthodoxie eine rein byzantinische, in bezug auf Rußland äußerliche Religion sei. In ihrer Schärfe erinnert Solowjows Polemik gegen den russischen Nationalismus oft an die von Tschaadajew. 7 Die Sobornost der Slawophilen ersetzt Solowjow durch die Sophijnost: Der Kosmos selbst, nicht nur das russische Leben, ist für ihn nach den Prinzipien der christlichen Sobornost-Sophijnost organisiert. Dank Schopenhauers Philosophie vom Weltwillen schafft es Solowjow damit, teilweise die Provinzialität des slawophilen 29 30 tur stabilisieren. Auf der Suche nach dem, was sie mit Europa verbinden könnte, wendeten sich die Slawophilen natürlicherweise dem Christentum zu. Dabei verstanden sie das Christentum nicht als eine bestimmte Glaubenslehre unter anderen, sondern als die vorreflexive und außergeschichtliche Lebensweise der russischen bäuerlichen Massen. Man kann sagen, daß die russischen Denker das Unbewußte selbst theologisierten, ein Zug, der in dieser Form im Westen praktisch nicht anzutreffen ist, so daß sich hier die für das westliche Denken gewohnte Wechselbeziehung zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten vollständig verkehrt hat. Denkens zu überwinden und ihm philosophische Universalität zu verleihen. Schopenhauers Philosophie macht auch bei etlichen anderen russischen Autoren jener Zeit eine ähnliche Transformation durch. So begegnet uns bei Tolstoi das Schopenhauersche Thema des Verzichts auf den persönlichen Lebenswillen als Mittel zur Vereinigung mit dem universalen Willen oder dem Unbewußten nicht in der Form des Verzichts auf das Leben als solches, sondern als Verschmelzung mit dem unpersönlichen, rein materiellen, nicht zwischen Leben und Tod unterscheidenden Lebensalltag der russischen Bauernschaft. Schopenhauer beschreibt unter anderem die Zeit, die einen Augenblick nach dem anderen totschlägt, als Erschlagung des Vaters durch seinen Sohn, und ruft dazu auf, den Lauf der Zeit umzukehren und auf die Welt als solche sowie den Fortpflanzungsinstinkt zu verzichten, um zum unbewußten Ursprung des Weltwillens zurückzukehren. Nikolai Fjodorow reagiert auf diesen Aufruf mit seinem Projekt der »gemeinsamen Sache«, das ebenfalls auf den Beginn der Welt gerichtet ist. Doch bei Fjodorow verschwindet die Welt nicht, sondern wird in allen ihren historischen Phasen wiederhergestellt. Alle Generationen, die zuvor auf der Welt gelebt haben, sollen durch die Mittel der modernen Wissenschaft wieder auferstehen. 8 Eine ähnliche Rezeption erfährt Nietzsche um die Jahrhundertwende in Rußland. Schon Solowjow hält Nietzsches Übermenschen für eine Etappe auf dem Weg zum Gottmenschen. 9 Nietzsches Polemik gegen das Christentum und zugleich gegen die areligiöse, wissenschaftliche und moralistisch orientierte Zivilisation seiner Zeit vom Standpunkt des »Lebens selbst« aus erweist sich als dem traditionellen russischen Denken nahestehend. Dabei theologisieren die russischen Nietzscheschüler wieder sofort das nietzscheanische dionysische Leben. Sie verstehen Nietzsches Kritik am Christentum in erster Linie als Kritik am westlichen Katholizismus und Protestantismus, so daß Nietzsche für sie der »russischste« und zugleich der christlichste westliche Philosoph ist. Das dionysische Prinzip bei Nietzsche wird mit Solowjows ekstatischer »Sophijnost« oder dem »verwandelten Fleisch« assozi31 iert, so daß Mereschkowski, Berdjajew, Bulgakow oder Florenski die Möglichkeit erhalten, mit den bei Nietzsche entlehnten Begriffen vom Dualismus der beiden Prinzipien — des westlichen Apollinischen und des russischen Dionysischen — zu sprechen sowie von der Notwendigkeit ihrer höchsten Synthese. Bezeichnend ist zum Beispiel, daß Lew Schestow in seinem Buch »Die Lehre vom Guten bei Graf Tolstoi und Friedrich Nietzsche" 10 die rationalistischen Elemente in Nietzsches Lehre vom Übermenschen verwirft und diese Lehre ihrerseits als moralistisch bewertet, da sie aus dem Übermenschen ein abstraktes moralisches Ideal mache. Der wahre Inhalt von Nietzsches Philosophie ist nach Schestows Meinung die Suche nach Gott jenseits jeden Rationalismus und abstrakten Moralismus. Nur der Glaube verheiße die reale Umgestaltung der Wirklichkeit, verheiße die reale Erfüllung selbst der unerfüllbaren menschlichen Wünsche im Leben. Damit stehe der Glaube über jeder Kultur, die sich letzten Endes immer mit der Wirklichkeit versöhne. Diese Linie des russischen Denkens läßt sich leicht bis zu Michail Bachtin verfolgen. Für Bachtin ist jede im breitesten Wortsinn verstandene »Ideologie« nicht nur ein 'Heil der Kultur, sondern immer materialisiert und verkörpert, sie besitzt immer einen konkreten 'Präger. Dieses materielle Prinzip ist in bezug auf die Reinheit der Ideologie nicht zerstörerisch, sondern rettend, da das reine Denken sich nicht selbst begründen kann. Das Andere tritt für Bachtin weniger als Bedrohung auf, sondern eher als Chance, wirklich angenommen, gerechtfertigt und von außen bewahrt zu werden, das heißt wiederum theologisch. Bachtin stellt den Dialogismus und den Karneval dem »katholischen« Prinzip der äußeren monologischen Autorität und dem »protestantischen«, bürgerlichen, atomisierten, verschlossenen Individuum gegenüber. Dabei fällt die Negation der Verschlossenheit und Isoliertheit des Individuums im Dialog oder im Karneval mit der Behauptung dieses Individuums in der Einheit des »Volkslebens« zusammen, das im Sinne des Sofijnost verstanden wird, nämlich als mit dem ganzen kosmischen Leben zusammenfallend. Bachtin vollendet in mehrfacher Hinsicht das russische Denken des 19. und beginnenden 32 2o. Jahrhunderts, indem er viele seiner Grundmotive vereinigt. Außerordentlich interessant ist in diesem Sinne Bachtins Freudinterpretation, die am neuen Material die gewohnten Methoden des russischen Denkens in seiner Arbeit mit westlichen Konzepten des Unbewußten wieder anwendet. Das l'Veudsche »unverkörperte« Unbewußte wird wieder als abstrakt interpretiert. Zu seinem wahren Träger wird das reale Andere proklamiert, also der Psychoanalytiker selbst, der infolgedessen nur Teilnehmer am Dialog mit dem Kranken ist und seine analytische, wissenschaftliche, dominierende Position verliert." Spricht man über Bachtin, der auf die eine oder andere Weise in ein dialogisches Verhältnis zum Marxismus eintrat, so muß man anmerken, daß der russische Marxismus ebenfalls nicht vollständig außerhalb des russischen Denkens verstanden werden darf. Es geht nicht einmal nur darum, daß der russische Marxismus wieder zum Ziel hatte, im russischen Leben das zu realisieren, was im Westen nur theoretisch formuliert war, und dadurch zum Nukleus für die endgültige Welteinheil zu weiden. Und es geht auch nicht darum, daß viele russische Marxisten, wie zum Beispiel Bogdanow und seine Gruppe, vielfach theoretische Grundüberlegungen der russischen Philosophie übernahmen. Der orthodoxe stalinistische dialektische Materialismus selbst gibt bei näherer Betrachtung eine bestimmte Nachfolge des traditionellen russischen Denkens zu erkennen Vor allem ist die sich »dialektisch entwickelnde Materie« in gewissem Sinne eben jenes »verwandelte Fleisch« der russischen Philosophie, also nicht der Geist als Subjekt und nicht die materielle Welt als Objekt, sondern etwas Drittes, das von innen heraus ihre Gestalt materiell bestimmt. Und auch hier wird angenommen, daß diese materiell:: Kraft in bezug auf die menschliche Kultur nicht zerstörerisch ist, sondern ihr im Gegenteil die Lebensgrundlage gibt. Und weiter: Der »Dialektische Materialismus« ist keineswegs eine rein Sogische, rational organisierte Lehre, eine zusammenhängende monologische Rede. Im Gegenteil, dem Diamat liegt die Lehre von der Einheit und dem Kampf der Widersprüche zugrunde, die eben gerade die Möglichkeit der logisch nicht widersprüchlichen Formu33 lierung der Wahrheit vollständig verneint. Übrigens ist für Freud die gleichzeitige Annahme von Gegensätzen ein Kennzeichen des Traumes oder der spezifischen Logik des Begehrens, des Unbewußten beziehungsweise der Libido. Des weiteren proklamiert der Diamat die Praxis selbst als Kriterium, das Leben selbst in seiner Ganzheit, und nicht irgendwelche formalen, abstrakten oder, wie man damals sagte, metaphysischen Regeln des philosophischen Denkens. Die Argumentation des Diamat ist im Grunde rein negativ und gegen jeden Versuch einer selbständigen wissenschaftlichen oder philosophischen Welterkenntnis gerichtet, um den Theoretiker auf den Boden seiner eigenen Abhängigkeit von der Well und der Gesellschaft zurückzubringen. 12 Infolgedessen sind die Texte des Diamat bizarre Mosaike aus philosophischen Argumenten, Verweisen auf Partei- und Regierungsbeschlüsse zu anstellenden wirtschaftlichen und politischen Problemen, Urteilen über konkrete wissenschaftliche und soziologische Theorien und Werke der Kunst und Literatur, oder Beispielen aus dem Alltagsleben. Obwohl diese Schriften keinerlei von außen ident.ifizierbare logische Verbindung enthalten. haben sie doch eine Einheitlichkeit in Stil und Mentalität, die der Leser leicht erkennt. In bestimmter Hinsicht ist dieser Stil aus den Schriften der russischen Philosophie übernommen, die ebenfalls programmatisch in nichtphilosophischer, nichtmethodischer Manier geschrieben sind, um ihren lebensnahen, realen Charakter zu betonen. Aber natürlich orientiert sich der Dialektische Materialismus im Unterschied zur freien russischen Philosophie an der Legitimierung des Regimes in seinen spezifischen, historisch gewachsenen Formen. Und schließlich ist ein typischer Zug des sowjetischen Marxismus der Umstand, daß er den historischen Materialismus dem dialektischen Materialismus unterordnet, oder anders ausgedrückt, er ordnet das geschichtliche Leben der Menschheit dem kosmischen Leben unter. Insbesondere erweist sich die ganze Geschichte des Klassenkampfes als Teil des einen kosmischen Entstehungsprozesses der materiellen Welt. Die Dialektik ist dabei weniger die dynamische Beschreibung des Übergangs von einer Geschichtsetappe zur anderen, sondern vielmehr die statische Beschreibung des hierarchischen 34 Übergangs von einer Ebene des kosmischen Lebens zur anderen. So ist die Geistesgeschichte durch den inneren Aulbau des »kosmischen Lebens selbst« gewährleistet. Diese Beschreibung verweist mehr auf die neuplatonischen Lehren der Antike und auf die Naturphilosophie Schellings und Hegels als auf den westlichen Marxismus. Die spezifischen Transformationen, die der Marxismus in Rußland durchmachte, warten im übrigen noch auf ihre unpolemische Untersuchung, nachdem die Geschichte des Dialektischen Materialismus heute im Grunde abgeschlossen ist. Zum Schluß können wir sagen, daß das russische Denken zumindest seit 1 schaadajew vor die Krage nach seiner nationalen Identität, Selbständigkeit und Originalität gestellt ist und zugleich nichts wirklich Exotisches und Heterogenes im Vergleich zur westlichen Kultur aufzuweisen hat. Es beantwortete diese Frage stets damit, daß es Rußland als Ort. der Realisierung oder Materialisierung der westlichen Diskurse über das Andere interpretierte. Dabei wurden die historisch entstandenen Formen des russischen Lebens gewöhnlich der Kritik unterzogen und das wahre Rußland entweder in die vorgeschichtliche Vergangenheit oder utopische Perspektive verlegt, die nach dem Vorbild der entsprechenden westlichen Theorien des Anderen modelliert wurden. Diese Theorien wurden dabei so transformiert, daß sie ihren negativen, rein kritischen Charakter verloren und das Andere theologisierten, beziehungsweise dem Anderen zumindest einen positiven, affirmativen Anstrich gaben. Zugleich handelt es sich hier um eine ziemlich frühe Variante der Strategie, die viele historisch erfolglose Nationalkulturen oder soziale Subkulturen im 19. und 20. Jahrhundert benützten, um durch die Appropriation der verschiedenen Diskurse über das Andere eine eigene kulturelle Originalität und Identität zu modellieren. wieder vor der Krage, wie sie ihre nationale Identität und Originalität auf der theoretischen Ebene bestimmen und durch welche Selbstinterpretationen sie sich vor der vollständigen Auflösung im immer dynamischeren westlichen Umfeld schützen kann. Ein bestimmtes Interesse an poststrukluralistischen Diskursen über das Andere, den Körper, das Begehren usw. zeigt, daß das Ergebnis dieser Suche erneut nach alter Tradition des russischen Denkens ausfallen kann. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke Die Frage, in welchem Maße diese Strategie für die heutige russische Kultur aktuell ist, bleibt einstweilen offen, obwohl die gegenwärtige Situation in Rußland an Tschaadajews Zeiten erinnert. Nach der teilweisen Überwindung der äußeren, rein politischen Isolation von der internationalen kulturellen Situation in den letzten Jahren steht die russische Kultur 35 36