Professor Jörg M. Fegert (Uniklinikum Ulm): Inklusion und

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Inklusion und Teilhabereform aus ärztlichpsychotherapeutischer Sicht
Jörg M. Fegert
Fachtagung in Berlin, 5. Juli 2016
„Schulbegleitung – Motor oder Bremse schulischer Inklusion?“
Offenlegung möglicher Interessenkonflikte
In den letzten 5 Jahren hatte der Autor (Arbeitsgruppenleiter)
– Forschungsförderung von EU, DFG, BMG, BMBF, BMFSFJ,
Ländersozialministerien, Landesstiftung BaWü, Päpstliche
Universität Gregoriana, Caritas, CJD
– Reisebeihilfen,
Vortragshonorare,
Veranstaltungsund
Ausbildungs-Sponsoring von DFG, AACAP, NIMH/NIH, EU,
Goethe Institut, Pro Helvetia, Adenauer-, Böll- und EbertStiftung, Shire, Fachverbände und Universitäten sowie
Ministerien
– Keine industriegesponserten Vortragsreihen, „speakers
bureau“
– Klinische Prüfungen und Beratertätigkeit für Servier, BMBF,
Lundbeck
– Mindestens jährliche Erklärung zu conflicts of interest
gegenüber
der DGKJP
und
AACAP
wegen
Komissionsmitgliedschaft
– Kein Aktienbesitz, keine Beteiligungen an Pharmafirmen,
Interessenkonflikte
Drittmitteleinnahmen nach Geldgebern
EU
DFG/SFB 4%
2%
Länderministerien Industrie
6%
3%
Stiftungen
13%
Jahr
Industrie
Stiftungen
Bundesmittel
DFG/SFB
EU
Länderministerien
Bundesmittel
72%
Gliederung
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für alle Kinder und
Jugendlichen
Teilhabe Menschenrecht
Konkrete Ausgestaltung?
… der Prozess zu mehr Teilhabe und Inklusion
Fazit
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben - uneingeschränkt
Kinder wollen dazugehören
sie wollen Gleichaltrige treffen und Freundschaften pflegen –
jeden Tag, auf dem Schulhof, nach der Schule, unterwegs
auf Klassenfahrten …
…. und zwar unabhängig davon, ob sie
- auf einen Rollstuhl angewiesen sind,
- seh- oder hörbehindert sind,
- chronisch erkrankt, entwicklungsverzögert oder geistig behindert sind,
- Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren und still zu sitzen,
- die „Zwischentöne“ in der Kommunikation mit anderen Menschen
verstehen und nachvollziehen können,
- ihre Gefühle nicht steuern können,
- sich schnell angegriffen fühlen und aggressiv werden
 alle Kinder und Jugendlichen, auch diejenigen, die behindert oder
von Behinderung bedroht sind bzw. unter psychischen Problemen
und Störungen leiden
Teilhabe
zentrales
Tagungsthema
Begleitete und
unbegleitete
minderjährige
Flüchtlinge
UNICEF-Tag 25.3.2017
aber auch: Armut verhindert Entwicklung und Teilhabe
KiGGS: sozioökonomischer Status, Lebensqualität
Erfassung von sozioökonomischem Status
Bildung eines Index aus Angaben der Eltern zu Bildungsniveau,
beruflicher Stellung und Haushaltsnettoeinkommen
 Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem
Status weisen häufiger einen mittelmäßigen bis sehr
schlechten allgemeinen Gesundheitszustand auf
Lampert, T. et al. (2014). Messung des sozioökonomischen Status in der KiGGS-Studie. Bundesgesundheitsblatt, 57:
762-770
KiGGS: Gesundheitliche Auswirkungen von Armut
Kinder aus armen Familien leiden häufiger an:
körperlichen Erkrankungen (z.B. Adipositas)
psychischen Erkrankungen (z.B. ADHS-Diagnose)
Quelle: KiGGS Survey, 2008
Medizinischer Fortschritt: Entsolidarisierung bei
„Behinderungsschicksal“ Soziale Risiken und seelische
Gesundheit
Integration versus Inklusion
„volle
und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und
Einbeziehung in die Gesellschaft“,
Artikel 3 UN-Behindertenrechtskonvention
Diversity Ansatz: „Achtung der
Unterschiedlichkeit von Menschen mit
Behinderung und die Akzeptanz dieser
Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt
und der Menschheit“
Artikel 24 „Education“:
2. (a) Personen mit Behinderung sollen nicht vom
allgemeinen Bildungssystem wegen ihrer
Behinderung ausgeschlossen werden
13. Kinder- und Jugendbericht, 2009
erster Kinder- und Jugendbericht mit dem expliziten Auftrag, die
Lebensbedingungen von Kindern mit Behinderung zu
berücksichtigen
Entscheidung der Kommission:
Lebenslage von Kindern und Jugendlichen mit
Behinderungen als Querschnittsthema
 keine Institutionenperspektive, sondern personenzentriert
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind in erster
Linie Kinder und Jugendliche mit Bedürfnissen, Problemen,
Entwicklungsaufgaben etc., wie sie alle anderen Kinder
und Jugendlichen auch haben
sie brauchen einen behinderungsbedingten
Nachteilsausgleich,
damit sie am gesellschaftlichen Leben
angemessen und uneingeschränkt teilhaben
können
(Inklusion)
Inklusion - gemeinsames Aufwachsen aller Kinder und
Jugendlichen als gesellschaftliches Ziel
Herausforderung, Verpflichtung und Aufgabe einer sozialen
Gemeinschaft, alle Menschen in vergleichbarer Weise von
Geburt an bis ins Alter am Leben in allen gesellschaftlichen
Bereichen aktiv zu beteiligen.
vs. Ausgrenzung, „Sonderbezirke“ für bestimmte Gruppen
von Menschen (Menschen mit Behinderung, mit
Migrationshintergrund, sozial Schwache etc.)
aber:
inklusives Aufwachsen als „Differenzierungsstrategie“
keine „Normalisierungsstrategie“
 Inklusion heißt auch Berücksichtigung des „Besonderen“
individuelle Förderung in einem inklusiven Setting
Teilhabe Menschenrecht
Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“
„Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden.“
(Art. 3 Abs. 3 S.2 GG)
Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“
„Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden.“
(Art. 3 Abs. 3 S.2 GG)
Definitionsmerkmal
Rehabilitations- und
Teilhaberecht
(§ 2 Abs. 1 SGB IX)
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche
Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als
sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen
Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind
von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung
zu erwarten ist.
Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“
„Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden.“
(Art. 3 Abs. 3 S.2 GG)
Definitionsmerkmal
Rehabilitations- und
Teilhaberecht
(§ 2 Abs. 1 SGB IX)
aber Reform BGG:
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche
Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als
sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen
Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am
Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind
von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung
zu erwarten ist.
Anpassung Behinderungsbegriff an die Definition der UN-BRK
(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung
seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer
eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeit.
(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts
nach Absatz 1 insbesondere
1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen
Entwicklung fördern und dazu beitragen,
Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen
grundlegende Haltung
Kinder- und Jugendhilferecht
(§ 1 Abs.1, Abs.3 Nr.1 SGB VIII)
Recht auf Teilhabe – in welchen Bereichen konkret
UN-Kinderrechtskonvention (1989):
4 Grundprinzipien
Recht auf Gleichbehandlung
Kindeswohl hat Vorrang
Recht auf Leben und
persönliche Entwicklung
Achtung vor der Meinung und
dem Willen des Kindes
Recht auf Teilhabe – in welchen Bereichen konkret
UN-Kinderrechtskonvention (1989): 4 Grundprinzipien
Recht auf Gleichbehandlung
Einzelrechte, in Gruppen einteilbar
Kindeswohl hat Vorrang
Versorgungsrechte
Recht auf Leben und
persönliche Entwicklung
Schutzrechte
Beteiligungsrechte
Achtung vor der Meinung und
dem Willen des Kindes
Kindliche Basisbedürfnisse und deren Berücksichtigung in der
UN-Kinderrechtskonvention
Basic Need
Liebe und Akzeptanz
Ernährung und Versorgung
Unversehrtheit, Schutz vor
Gefahren, vor materieller
emotionaler und sexueller
Ausbeutung
Bindung und soziale Beziehungen
Gesundheit
Wissen und Bildung
UN-Kinderrechtskonvention
Präambel, Art. 6;
Art. 12, 13, 14
Art. 27, Art. 26, Art. 32
Art. 16, Art. 19,
Art. 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40
Art. 8, 9, 10, 11;
Art. 20, 21, 22
Art. 24, 25, 23, 33
Art. 17;
Art. 28, 29, 30, 31
Recht auf Teilhabe – in welchen Bereichen konkret
UN-Kinderrechtskonvention (1989): 4 Grundprinzipien
Recht auf Gleichbehandlung
Einzelrechte, in Gruppen einteilbar
Kindeswohl hat Vorrang
Versorgungsrechte
Recht auf Leben und
persönliche Entwicklung
Schutzrechte
Beteiligungsrechte
Achtung vor der Meinung und
dem Willen des Kindes
Recht auf Teilhabe – in welchen Bereichen konkret
Ausgestaltung?
UN-Kinderrechtskonvention (1989):
4 Grundprinzipien
Recht auf Gleichbehandlung
Einzelrechte, in Gruppen einteilbar
Kindeswohl hat Vorrang
Versorgungsrechte
Recht auf Leben und
persönliche Entwicklung
Schutzrechte
Beteiligungsrechte
Achtung vor der Meinung und
dem Willen des Kindes
UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)
Übereinkommen und Zusatzprotokoll am 13. Dezember 2006 in
New York verabschiedet
– 3. Mai 2008 nach Ratifizierung durch 20 Vertragsstaaten in
Kraft getreten. Alle EU-Mitgliedsstaaten, bis auf Lettland,
haben die Konvention ratifiziert, 16 das Zusatzprotokoll
unterzeichnet
– UN-Behindertenrechtskonvention ist zwei Jahre nach
Unterzeichnung am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft
getreten
Betonung von Teilhabe in der UN-BRK
Art 3 Allgemeine Grundätze
c) volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft
und Einbeziehung in die Gesellschaft
Grundsätze von Teilhabe
a) […] Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, […]
Unabhängigkeit;
b) Nichtdiskriminierung;
d) Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit
Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil
der menschlichen Vielfalt [..];
e) Chancengleichheit;
f) Zugänglichkeit;
h) Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von
Kindern mit Behinderungen […].
Konkrete Ausgestaltung?
Inklusion und Chancen für faire Teilhabe?
„… um die
Chancengleichheit zu
gewährleisten, muss jeder
dieselbe Aufgabe
bewältigen: Klettern Sie auf
den Baum“
Inklusion bedeutet nicht gleiches Recht für alle,
sondern jedem die Förderung die er/sie benötigt
Ausgewählte zentrale Erkenntnisse aus dem 13. Kinder- und
Jugendbericht

In der Forschung gibt es kaum Daten über die
gesundheitliche Lebenslage von Kindern mit
Behinderung (Ausnahme ist der Bereich medizinischer
Diagnostik).

Die medizinischen Diagnosen sind in der Mehrzahl
„defizitorientiert“ („was geht nicht?“) und geben kaum
Einblicke in Ressourcen und Lebenslagen.
 Krankheit und Behinderung werden selten
unterschieden – gleichwohl bewegen sich auch
Heranwachsende mit Behinderungen auf einem Kontinuum
zwischen Gesundheit und Krankheit und Gesundheit steigt mit
besseren Teilhabe-Chancen!

Die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Jugendund Sozialhilfe für verschiedene Arten von Behinderungen ist
hinderlich für die richtige Hilfe zum richtigen Zeitpunkt.
Ausgewählte zentrale Erkenntnisse aus dem
13. Kinder- und Jugendbericht

Der Hilfebedarf wird häufig aus einer Angebots- und
Institutionenlogik heraus formuliert und nicht vom Bedarf
des Kindes oder Jugendlichen.

Die Praxis der Leistungsträger ist durch Abgrenzungen und
Zuständigkeitsverweis zwischen Sozialhilfe und
Jugendhilfe (und auch Krankenkassen) geprägt.
Komplexleistungen und Mischfinanzierungen spielen kaum eine
Rolle.

Es entstehen an den Schnittstellen der Systeme

Kindertagesstätten als Ausnahme: Hier haben wir es bundesweit
mit einem flächendeckenden Ausbau integrativer Angebote zu tun.
„Verschiebebahnhöfe“ und bisweilen „schwarze
Löcher“.
vielfältige Formen von Behinderung
individueller Zugang und spezifische Förderung zwingend
hohe medizinische Heterogenität der Ursachen unterschiedlicher
Formen von Behinderungen
ebenso wie zwischen den Kindern innerhalb der Gruppe einer
Form von Behinderung (stark unterschiedliche Verhaltensprofile)
„Ausrüstung“ für die erfolgreiche Bewältigung von
Entwicklungsaufgaben sehr knapp bemessen
(vergleichbar „Reiseschreibmaschine vs. Computer“)
 Förderungsansätze spezifisch (individuell und
behinderungsbezogen)
kleinschrittig, auf begrenzte Bereiche abgestimmt, mehr
Strukturen, angepasst an konkrete Interessen und Motivation
 gut durchdachte Hilfeplanung !
…. und unterschiedliche Verläufe in Bezug auf Behinderungs- /
Erkrankungsform
- progredienter Verlauf, Zunahme von Einschränkungen, z.B. bei
Mukoviszidose
- kontinuierlicher Verlauf, Einschränkung bleibt, unterschiedliche
Schweregrade, z.B. Autismus, geistige Behinderung
variabler Verlauf, Besserung möglich, z.B. ADHS, psychische
Störungen, Zustand nach Operation

unterschiedliche Hilfestrategien nötig zur erfolgreichen Anpassung
an die Gegebenheiten

Motivation, Optimierung
… und Kinder und Jugendliche lassen sich mit ihren Problemen
und Beeinträchtigungen nicht in Schubladen einsortieren
Kinder und Jugendliche
mit chronischen körperlichen Erkrankungen leiden häufig auch
unter psychischen Belastungen (psychiatrische Komorbiditäten)
mit geistige Behinderung leiden häufig auch unter körperlichen
Grunderkrankungen, haben ein deutlich erhöhtes
Erkrankungsrisiko für psychische Störungen oder für
neurologische Erkrankungen
mit einer psychischen Störung sind auch geistig behindert (z.B.
Kanner Autismus)
 Zuordnung von Kindern mit Mehrfachbehinderungen ist ein
„Problem“
 Kinder und Jugendliche mit körperlichen, seelischen
Problemen oder kognitiven Beeinträchtigungen „halten
sich nicht“ an die gesetzlichen und administrativen
Abgrenzungen
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – Wechselwirkung
zwischen Entwicklung und Erziehung
 alle Kinder und Jugendlichen
d.h. alle Kinder und Jugendliche mit Teilhabebeeinträchtigung
 in erster Linie Kinder und Jugendliche mit individuell
unterschiedlichen Bedürfnissen, die – entwicklungs- und
altersabhängig, dieselben Herausforderungen meistern müssen,
wie alle anderen Kinder auch
 alle Kinder und Jugendlichen, auch behinderte Kinder bzw.
sozial benachteiligte Kinder haben ein Recht darauf, dass
ihre Bedürfnisse im erzieherischen Bereich wahrgenommen
und adressiert werden
der erzieherische Bedarf ist gerade bei Kindern und
Jugendlichen mit seelischer, körperlicher oder
geistiger Behinderung erhöht
Diagnostik und Krankenversorgung für behinderte Kinder und
Jugendliche - Fallzahlen
Interkonferenzielle Unterarbeitsgruppe (UAG) der
Gesundheits- und Sozialminister/Jugendministerkonferenz:
2013 erhielten ca. 180.000 Kinder und Jugendliche mit
körperlicher und geistiger Behinderung sozialrechtliche
Eingliederungshilfen
In Folge der demographischen Entwicklung nimmt der Anteil
dieser Kinder tendenziell leicht ab
Anteil der Kinder nimmt zu, die aufgrund einer psychischen
Erkrankung von einer seelischen Behinderung bedroht oder
behindert sind
Insgesamt erfüllen derzeit ca. 1,5 % aller Kinder und
Jugendlichen Kriterien für eine Behinderung
Derzeitige gesetzliche Grundlagen in SGB XII und SGB VIII
§ 53 SGB XII und Eingliederungshilfeverordnung:
Verpflichtender Rechtsanspruch ist an das Kriterium „wesentliche Behinderung“
geknüpft
§ 35 a SGB VIII Rechtsanspruch an die Erfüllung der in Abs. 1, Satz 1, Nr. 1 und 2
genannten Leistungsvoraussetzungen gebunden: kein Verweis mehr auf die
Wesentlichkeit der Behinderung
Definition wesentliche Behinderung
nach Eingliederungshilfeverordnung
Anspruchsvoraussetzungen §35a SGB
VIII
Eine wesentliche Behinderung liegt
dann vor, wenn ein körperliches
Gebrechen eine Schwäche der
geistigen Kräfte oder eine seelische
Störung besteht und dadurch eine
wesentliche Einschränkung der
Teilhabefähigkeit entstanden ist.
Kinder oder Jugendliche haben Anspruch
auf Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für ihr Lebensalter
typischen Zustand abweicht und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist oder
eine solche Beeinträchtigung zu
erwarten ist.
Begriff der „wesentlichen“ Behinderung
Was spricht für und was spricht gegen die Verwendung des Begriffs
der „wesentlichen“ Behinderung im Entwicklungsalter?
Pro
Bestandswahrung (ärztlicher,
diagnostischer
Feststellungsautomatismus)
Abwehr von unberechtigten
sozialrechtlichen Ansprüchen
Beibehaltung der statistisch
definierten
Intelligenzabgrenzungen (Streit ICD10 vs. DSM-5 Definitionen)
Außenkriterium. Nennung in der
Eingliederungshilfeverordnung, also
Diagnose als Merkmal für
Wesentlichkeit.
Kontra
mangelhafte Überprüfung
geeigneter Hilfen im Einzelfall
Vorbeugungs- und
Frühinterventionsgedanke
(Gleichstellung der drohenden
seelischen Behinderung)
eine unwesentliche geistige
Behinderung kann es nicht geben
tatsächliche Feststellung der
Teilhabebeeinträchtigung im Einzelfall,
vgl. 2-stufige Behinderungsdefinition
und höchstrichterliche
Rechtsprechung
Unterschiede zwischen Feststellung des
Rechtsanspruchs in der Jugendhilfe und der Sozialhilfe
Weiterer Unterschied:
In der Sozialhilfe spielt bisher das Erfolgskriterium nach §
53 Abs. 1, Satz 1 SGB XII eine Rolle: Hilfen werden nur so
lange gewährt, wie die Aussicht besteht, dass die Aufgabe
der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.
Eine solche Einschränkung macht im Kindes- und Jugendalter,
also im Entwicklungsalter keinen Sinn
Hierzu Wiesner-Kommentar zu § 35 a SGB VIII:
„Gerade im Hinblick auf den Personenkreis von Kindern
und Jugendlichen kann es keinen vernünftigen Grund
für eine solche Leistungsbegrenzung geben, da damit
deren Entwicklungschancen verkürzt und das generelle
Ziel der Verbesserung der Teilhabe aufgegeben würde“.
(5. Auflage 2015, RZ 8).
Inklusion in Deutschland auf dem Prüfstand
Erster Staatenbericht der UN
Abschließende Bemerkungen im Mai 2015
UN-Fachausschuss formuliert insgesamt
29 Empfehlungen für über 60 Maßnahmen zu
fast allen in der UN-BRK enthaltenen
Menschenrechten und Staatenpflichten
„Wir können nicht zufrieden sein mit dem
Stand der Umsetzung in Deutschland.
Wie andere Vertragsstaaten haben auch
wir Hinweise erhalten, die mehr als
deutlich zum Handeln auffordern und
Misstände aufzeigen.“
Teilhabe und Inklusion aus der Perspektive der
Kinder und Jugendlichen
Zwei Klassifikationssysteme der WHO
Diagnose
ICD 10
International Statistical
Classification of Diseases
and Related Health
Problems
Individuelle
Teilhabebeeinträchtigung
ICF
International Classification
Functioning, Health and Disability
ICF der WHO
Biopsychosoziales Verständnis der Teilhabebeeinträchtigung
• Beschreibung von Kompetenzen, Ressourcen und Problemdimensionen
der individuellen Teilhabe
• Einbezug von (sozialen) Umweltfaktoren und persönlichen Faktoren
ICF der WHO: Überblick über Komponenten des
Funktionsniveaus
Body Functions
& Structures
Levels of
Functioning
Charakteristics
Positive aspect
(Functioning)
Negative aspect
(Disability)
Qualifiers:
First Qualifier
Body
(body parts)
Body function
Body structure
Activities
Individual
(person as a
whole)
Performanc of
individuals
activities
Contextual Factors
Society
Environmental factors
(external influence on
functioning) +
(life situations)
Involvement in
life
situations
Personal factors
(internal influence on
functioning)
Features of the
physical, social and
attitudinal world +
Attributes of the
person
Functional and
structural
integrity
Activity
Impairment
Activity limitation
Participation
Participation
restriction
Uniform Qualifier: Extend or Magnitude
Qualifiers:
Second
Qualifier
Participation
Localisation
Assistance
Subjective
satisfaction
Facilitators
Barriers / hindrances
Medizinischer Beitrag zur Hilfeplanung
- Einschätzung der
Teilhabebeeinträchtigung
- Aussage über Schwere der
Beeinträchtigung, umfassende
Einschätzung auf verschiedenen Ebenen
(multiaxial nach IDC-10)
- Häufig kennen Kinderärzte/psychiater ihre
Patienten und deren Familie schon länger,
begleiten sie über einen längeren Zeitraum
(z.B. auch bei Schulwechsel)
- Ärzte/Therapeuten können Familien auf
Hilfsangebote aufmerksam machen, ihnen
die Scheu vor „dem Jugendamt“ nehmen,
sie ggf. unterstützen
Teilhabebeeinträchtigung: Generelle Aspekte
zu beachtende Elemente (entsprechend von der WHO in der ICF verwendet):
– die Pervasivität, d.h., ob das Störungsbild in mehreren Bereiche
Auswirkungen hat, z.B. ob eine Funktionsbeeinträchtigung sich in der
Familie, in der Schule und auch in der Freizeit auswirkt, oder ob die
Funktionsbeeinträchtigung nur auf einen Bereich beschränkt ist. Die
Pervasivität trägt erheblich zum Ausmaß der Beeinträchtigung bei.
– die Intensität, d.h., ob das Störungsbild in einem (oder mehren)
Bereich(en) so stark ausgeprägt ist, dass die Stärke der
Funktionsbeeinträchtigung nicht mehr mit einer Teilhabe vereinbar ist. Das
bedeutet, dass z.B. auch bereits ein Bereich genügt, um eine
Teilhabebeeinträchtigung festzustellen, obwohl das Funktionsniveau in den
anderen Bereichen hoch und ausreichend sein kann.
– die Chronizität, d.h. die Dauer der Funktionsbeeinträchtigung. Für die
Chronizität liegt bereits in der Norm des §35a KJHG ein Kriterium vor, da
dort der Halb-Jahreszeitraum in der Regel vorausgesetzt wird
Teilhabebeeinträchtigung: Indikatoren und Einteilung
Individuelle Voraussetzungen:
– soziale Lebenslage
– Selbstpflegekompetenzen
– Kompetenzen der Familie
– Leistungsfunktionen des Kindes / Jugendlichen
– Leistungsfunktionen der Familie
Interaktionelle Voraussetzungen:
– Integration in die Familie
– Integration Kita / Schule / Arbeit,
– Integration in die Peer-Group,
– Integration in der Freizeit und
– Integration in den Sozialraum.
– Beziehungsqualitäten des Kindes / Jugendlichen
Teilhabekonzepte und Teilhabedimensionen
(Diewald et al. 2016 in Migrationsgutachten WissBeirat
Familienfragen)
•
Prozessualität der Teilhabe (Teilhabe muss
erreicht und aufrecht erhalten werden)
•
Teilhabe per se doppelseitig konstruiert
(muss von Betroffenen erwünscht, angestrebt und von der
Gesellschaft ermöglicht werden)
•
Teilhabe durch konkreten Handlungsbezug gut
operationalisierbar (Handlungsbereiche, Subsysteme,
Kommunikationsprozesse)
•
Teilhabekonzept beschreibt Status der Abgrenzung
(Barrieren) ebenso wie deren Überwindung und
Unterstützung bei der Überwindung Faszilitation
•
Entspricht der Tradition europäischer Demokratien in der
Verbindung von Rechten und Pflichten, d.h. dem Konzept
der voraussetzungsvollen staatlich-
gesellschaftlichen Vertragsgemeinschaft
… der Prozess zu mehr Teilhabe und Inklusion
Umsetzung der UN-BRK
Bundesteilhabegesetz (BTHG) auf dem Weg letzte
Woche im Kabinett
Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode (CDU, CSU und SPD)
… „darauf verständigt, die Leistungen an Menschen, die
aufgrund einer wesentlichen Behinderung nur
eingeschränkte Möglichkeiten haben, aus dem
bisherigen „Fürsorgesystem“ herauszuführen und die
Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht
weiterzuentwickeln.“
Grundsatz „Nichts über uns – ohne uns“
Wesentliche Ziele des Bundeteilhabegesetzes
Förderung einer inklusiven Gesellschaft
Selbstbestimmung und individuelle Lebensplanung von Menschen
mit Behinderungen
Eingliederungshilfe als modernes Teilhaberecht in dessen
Mittelpunkt der Mensch mit seinen behinderungsspezifischen
Bedarfen steht.
Verbindung und Verbesserung der Zusammenarbeit der
Eingliederungshilfe verbundenen Systeme
Verbesserung der Koordinierung der Rehabilitationsträger
 Weiterentwicklung des SGB IX angestrebt.
 Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe als
bedarfsdeckendes Leistungssystem strukturell in eine
„Eingliederungshilfe neu“ (Arbeitstitel)
Leistungen aus einer Hand
Umsetzung der UN-BRK: Vom Kind aus denken“
Reform des SGB VIII - Nicht nur „große Lösung“ sondern hin zu
einer inklusiven Jugendhilfe
Zusammenführung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche
im Leistungssystem des SGB VIII
individuelle Förderung
Nutzen bewährter Instrumente der Jugendhilfe,
(wie z.B. Hilfeplanung)
„Hilfen aus einer Hand“
Zusammenführung der Leistungsarten: Leistungskatalog (SGB XII
und SGB VIII)
„Förderung von Entwicklung (kindbezogen) und
Erziehung (elterliche Erziehungskompetenzen)
Wegfall des „Wesentlichkeitskriteriums“ als Voraussetzung für Hilfen
und Angebote
§ 35a SGB VIII als Modell / ICF (und damit weg vom
„Fürsorgeprinzip )
Inklusive Lösung
Diagnose
 Seelische Störung
 körperliche
Störung
 Geistige
Behinderung
Feststellbare
Förderdefizite
Individuelle
Teilhabebeeinträchtigung
Inklusive Lösung
Diagnose
 Seelische Störung
 körperliche
Störung
 Geistige
Behinderung
Feststellbare
Förderdefizite
Fascilitatoren
Individuelle
Teilhabebeeinträchtigung
 Barrieren
 Hinderungsgründe
Fazit
Interdisziplinäre Herausforderungen am Beispiel
Schulbegleitung
Schnittstellenprobleme und Zuständigkeiten
Jugendhilfe und Sozialhilfe
seelische Behinderung: Kinder- und Jugendhilfe
geistige / körperliche Behinderung: Sozialhilfe
„Zuständigkeitsgerangel“ (z.B. für Schulwegbegleitung,
Transport, Nachmittagsbetreuung)
 „Übergangsprobleme“
gerichtliche Einzelfallentscheidungen / diverse Rechtsexpertisen
(z.B. Kingreen, 2014; Kepert & Pattar, 2014)
neue, sehr unterschiedliche und zeitverzögert in Kraft
getretene Schulgesetze
Rechtsunsicherheit / Unsicherheit in der Finanzierungszuständigkeit
Übergangsphase mit Neuorganisation der Ämter
auch mit einer inklusiven Jugendhilfe bliebe:
Schnittstelle Schule und Kinder- und Jugendhilfe
Schnittstelle Medizin – Kinder und Jugendhilfe
Schnittstelle zum Erwachsenenalter
Inklusive Lösung /
geplanter
Gesetzentwurf
Individuelle Förderung
/Teilhabe
Zusammenführung der
Zuständigkeiten der
Leistungsträger
Abbau
Schnittstellenproblematik?
…… dennoch
©Inklusionsfakten.de
XXXV. Kongress der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
„Dazugehören“
Bessere Teilhabe für traumatisierte und psychisch belastete Kinder
und Jugendliche
22. – 25. März 2017
Ulm
Kongresszentrum CCU und Maritim Hotel Ulm
Kongresspräsident: Prof. Dr. Jörg M. Fegert
Wissenschaftlicher Kongresssekretär: PD Dr. Paul Plener
Politische und organisatorische Kongresssekretärin: Dr. Daniela Harsch
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/
Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm
Ärztlicher Direktor Prof. Dr. Jörg M. Fegert
Steinhövelstr. 5
89075 Ulm
www.uniklinik-ulm.de/kjpp
www.deutsche-traumastiftung.de
www.comcan.de
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