Leonore und Fidelio Um die Jahreswende 1803/04 nahmen Beethovens schon lange gehegte Pläne, eine Oper zu komponieren, endlich konkrete Gestalt an. Joseph Sonnleithner, damals Leiter des Theaters an der Wien (7), übersetzte und bearbeitete für ihn ein französisches Textbuch Léonore ou L’amour conjugal (1). Anfang 1804 begann Beethoven mit Notizen und Entwürfen. Erst im November 1805 fand die Uraufführung statt. Sie war ein Mißerfolg. Daraufhin überarbeitete und kürzte Beethoven die Musik und brachte die Oper nach vier Monaten, Ende März 1806, erneut heraus. In der revidierten Fassung wurde die Leonore zwar positiv aufgenommen; wegen eines Zerwürfnisses mit dem Intendanten zog Beethoven sie jedoch nach der zweiten Aufführung zurück. Dieser erste entstehungsgeschichtliche Abschnitt hat also bereits mehr als zwei Jahre von Beethovens bester Schaffenszeit (zwischen Eroica, Appassionata und Rasumowsky-Quartetten) in Anspruch genommen hat. Danach blieb die Oper lange Zeit liegen. Doch ist 1807 eine neue Ouvertüre, Leonore I (19), entstanden; offenbar war eine Wiederaufführung geplant. 1810 hat Beethoven die Ouvertüre von 1806, Leonore III (20), und einen Klavierauszug der Oper (13) drucken lassen. Erst nach acht Jahren, Anfang 1814, ergab sich wieder die Möglichkeit zu einer Aufführung. Für Beethoven war dies der Anstoß zur erneuten, nun sehr viel weitergehenden Umarbeitung (14-17). Durch sie wurde quasi aus der Leonore der Fidelio. Diese letzte Revision beanspruchte noch einmal fast ein halbes Jahr. Am 23.Mai 1814 wurde Fidelio zum ersten Mal gegeben. Das Beethoven-Haus besitzt einige sehr kostbare und aussagekräftige Dokumente zur Kompositionsgeschichte der Oper. Einen ersten Bereich der Ausstellung bildet die Vorgeschichte der Leonore. Zu sehen sind das Libretto von Jean Nicolas Bouilly in einem Exemplar von 1799 (1), das die unmittelbare Vorlage für den Text der Leonore war, und die erste Vertonung von Pierre Gaveaux (2). Gaveaux ließ die Partitur seiner Léonore, die in Paris sehr erfolgreich war, sogar drucken. Es ist anzunehmen, daß Beethoven die Komposition kannte. Die andere Vorgängerin, die italienische Leonora von Ferdinando Paer (3), hat er spätestens 1806 kennengelernt. Sie hat seiner eigenen Leonore übrigens lange Zeit den Rang abgelaufen. In welcher Weise Beethoven sich auf die Komposition vorbereitet hatte, zeigen zwei Manuskripten, in denen er Passagen aus Opern anderer Komponisten, vor allem von Mozart abgeschrieben hat (5, 6). Das eine enthält das gesamte Quartett „Non ti fidar, o misera“ aus dem I.Akt des Don Giovanni - und zwar von der ersten bis zur letzten Note, aber völlig ohne Instrumentalsatz. Beethoven schrieb nur die Singstimmen ab, sie jedoch immer mit sorgfältiger Textunterlegung. Warum tat er das? Man muß sich wohl vorstellen, daß er sich kompositorische Ideen - fremde und auch eigene - am besten vergegenwärtigen konnte, wenn er sie aufschrieb. So wie andere Komponisten alles am Klavier ausprobierten, so hat Beethoven, was er musikalisch erfahren wollte, notiert - nicht erst als er taub wurde, sondern schon als Lernender. Daß nun gerade Mozart sein Lehrer in der Umsetzung von Sprache in musikalische Deklamation war, überrascht nicht. Das Kapitel, mit dem Beethovens eigene Komposition beginnt, seine Skizzen und ersten Niederschriften sind im Beethoven-Haus unterrepräsentiert. Dafür werden die beiden einzigen erhaltenen autographen Manuskripte zur Fassung von 1806 gezeigt: der Marsch (10) und der 1.Teil von Florestans Arie „In des Lebens Frühlingstagen“ (11) - zwei grandiose Kompositionen. Die beiden Autographen sind Kleinodien, obendrein verblassend und brüchig, so daß man sie kaum noch abbilden, sondern nur noch im Original anschauen kann. Während Beethovens späterer Rivale auf dem Wiener Operntheater, Gioacchino Rossini, gelegentlich dieselbe Ouvertüre zu zwei verschiedenen Opern benutzte, schrieb Beethoven für seine einzige Oper gleich vier verschiedene Ouvertüren. Ausgerechnet für das instrumentale Vorspiel fand der Instrumentalkomponist Beethoven lange Zeit keine ihn befriedigende Lösung. 1840 führte Felix Mendelssohn Bartholdy in einem Konzert im Leipziger Gewandhaus alle drei Leonoren- und die Fidelio-Ouvertüre zusammen auf. Die Ouvertüre Leonore II erklang damals zum ersten Mal seit der Uraufführung im November 1805. Mendelssohn benutzte für sein Konzert die ausgestellte Partitur (18). Die aufgeschlagene Seite zeigt eine strittige Stelle: das Trompetensignal sollte ursprünglich zweimal gespielt werden; Beethoven strich jedoch das erste Trompetensolo und den folgenden kontemplativen Abschnitt durch und schrieb zur Verdeutlichung seiner Absicht das Verweiswort „vi = de“ über die Anschlußtakte. Daneben merkte Mendelssohn an (wie Beethoven mit Rotstift): „soll wohl bleiben? FMB“. Man nahm damals an, daß Beethoven diese Kürzung nur auf Druck seiner Freunde vorgenommen habe, weil die Oper bei der Uraufführung als zu lang empfunden worden war, und daß man sie folglich wieder rückgängig machen müßte. Die erste Leonoren-Ouvertüre (19) wurde erst in Beethovens Nachlaß entdeckt. Wie der Anlaß zu ihrer Komposition, so liegt ihre Herkunft insgesamt im Dunkel. Beethovens eigene Niederschrift ist verloren. Die ausliegende Abschrift ist die einzige authentische Quelle dieses Werkes. Die aufschlußreichsten Manuskripte sind Abschriften einzelner Stücke der Leonore, in die Beethoven 1814 die Änderungen für den Fidelio eintrug (14-17). Dazu überschrieb er die älteren Versionen meistens mit kräftigen, dicken, unwirschen Strichen. Man erkennt an den Handschriften leicht, was vorher dort stand und was Beethoven hineinkorrigiert hat. Das Interessante daran ist, daß man die Gründe für die Änderungen, Beethovens dramatische und musikalische Absichten meistens versteht - und zwar an den Manuskripten viel besser, als an den gedruckten Endversionen, weil man hier auch die Zwischenschritte, das Schwanken zwischen verschiedenen Lösungen, die spontane Änderung, die wieder rückgängig gemacht wird - auch Beethovens sehr suggestive Schreibweise vor Augen hat, die oft erkennen läßt, ob er eine Änderung unsicher oder entschieden ausführte oder ob er sich gar zornig von der früheren Version distanzierte, als sei sie gar nicht seine eigene. Diese Manuskripte bieten also ganz konkrete Einblicke in die Gedankenwelt des Komponisten Beethoven. 1814, bei der letzten Revision der Oper, begann Beethoven mit Korrekturen und kleinen Retuschen, ging allmählich zu immer gewichtigeren Änderungen über und gelangte am Ende, beim II.Finale, schließlich zur weitgehenden Neukomposition. Das reizvollste Zeugnis über die Qualen, die er bei der Umarbeitung litt, ist ein Brief an Friedrich Treitschke (22), seinen bereits dritten Librettisten, der in den Stoßseufzer mündet: „ich versichre sie lieber T.[reitschke], die oper erwirbt mir die Martirerkrone, hätten sie nicht sich so viele Mühe damit gegeben, und so sehr vortheilhaft alles bearbeitet, wofür ich ihnen ewig danken werde, ich würde mich kaum überwinden können – sie haben dadurch noch einige gute Reste von einem Gestrandeten Schiffe gerettet...“ (25). Mit seinem Dank an die gar nicht so bedeutenden Leistungen Treitschkes hat Beethoven ziemlich übertrieben. Vielleicht erklärt sich dies dadurch, daß er gerade das sorgfältig und sehr schön geschriebene, neue Textbuch bekommen, gelesen, durchgearbeitet und mit vielen skizzenartigen Notizen versehen hatte. Dieses handschriftliche Libretto (29) ist ebenfalls ein ganz exquisites Dokument der Ausstellung. Es überliefert nicht nur Beethovens erste Reaktionen auf die neuen Passagen, sondern auch seine Eigenmächtigkeiten gegenüber dem vorgelegten Text. Er hat offenbar an mehreren Stellen noch Änderungen verlangt, jedenfalls anderes vertont, als dort steht. Nach dem großen Erfolg der ersten Aufführungen des Fidelio im Frühling 1814 versuchten Beethoven und Treitschke, sich ihr „Urheberrecht“ zu erhalten, indem sie Partitur und Libretto nicht drucken ließen, sondern nur in Abschriften verkauften. Treitschke verschickte an die 20 Offerten an alle deutschen Operntheater (26). Doch das Unternhemen brachte nicht den erhofften Gewinn. 1841, am Ende seines Lebens, erzählte Treitschke, einige Theater hätten die Oper zwar bestellt, aber „viele andere zogen es vor, auf wohlfeilerem Wege, durch hinterlistige Abschreiber sich zu versehen... Dem Tondichter blieb kaum mehr - als ein reicher Lorbeerkranz, mir aber vielleicht ein kleines Blatt davon, und jedenfalls des Unsterblichen innigste Anhänglichkeit.“ Gar so schlecht kann indes auch der materielle Ertrag nicht gewesen sein, denn Beethoven, in finanziellen Dingen stets äußerst mißtrauisch, machte später mit der Missa solemnis noch einmal einen ähnlichen Versuch. Ein Effekt der Aktion war jedenfalls, daß nach dem Boom der Erstaufführungen die Partitur des Fidelio erst sehr spät, erst kurz vor Beethovens Tod zum ersten Mal gedruckt wurde - nicht von ihm selbst kontrolliert in einem Wiener, einem Leipziger oder im Verlag Schott, dem er seine letzten Werke anvertraut hatte, sondern in Paris, mit einem ins Französische zurück übersetzten Text (30). Leonore war damit noch einmal in ihr Ursprungsland zurückgekehrt. Helga Lühning Zeittafel Zur Entstehungsgeschichte von Leonore und Fidelio November 1792 Kurfürst Maximilian Franz schickt Beethoven zur Ausbildung nach Wien. Beethoven wird Schüler von Haydn, Albrechtsberger und Salieri. 1793 Der Librettist Jean Nicolas Bouilly (1763-1842), zwischenzeitlich revolutionärer Ankläger in Tour, wird angeblich Zeuge der Rettung eines Freundes. Der Vorgang regt ihn einige Jahre später zu einem Operntext Léonore ou L’amour conjugal an. 1794 Die französischen Truppen besetzen das Rheinland. Das Kurfürstentum Köln wird aufgelöst. Beethoven wird dadurch „arbeitslos“; er kann nicht mehr an den Bonner Hof zurückkehren. 19.Februar 1798 Am „Ier ventôse, an 6e de la République française“ wird Bouillys Léonore, vertont von Pierre Gaveaux im Théâtre Feydeau in Paris uraufgeführt. Das Stück ist sehr erfolgreich; es hält sich fast zwei Jahre auf dem Spielplan. Gaveaux selbst stellt den Florestan dar, Angélique Scio, die damals berühmteste Pariser Sängerin, ist die Léonore. In der Hoffnung auf überregionale Verbreitung läßt Gaveaux sogar die Partitur drucken. Zu weiteren Aufführungen kommt es jedoch nicht. 1800 Bouillys Erfolgsserie setzt sich mit Les deux journées (Der Wasserträger) fort. Komponist ist Luigi Cherubini, mit dessen Musik das Stück zu einer der bekanntesten Opern der Zeit wird. 1803/04 Um die Jahreswende, kurz vor Abschluß der Eroica, entschließt sich Beethoven zur Vertonung des Leonore-Stoffes. „ich habe mir nun geschwind ein altes französisches Buch bearbeiten laßen, und fange jetzt daran an zu arbeiten“ berichtet er Anfang Januar 1804 dem Musikschriftsteller Friedrich Rochlitz. 1804/05 Intensive Arbeit an der Leonore. 3.Oktober 1804 In Dresden kommt inzwischen die Oper Leonora ossia L’Amor conjugale von Ferdinando Paer heraus, die denselben Stoff in eine italienische Opera semiseria verwandelt. Sie bleibt lange Zeit die erfolgreichere Konkurrentin zu Beethovens Leonore. 26.Juli 1805 In Padua wird die L’Amor conjugale von Simon Mayr uraufgeführt, für die der Stoff auf ein Intrigenstück reduziert wurde. 13.November 1805 Napoleons Truppen besetzen Wien. Der Adel flieht; die Stadt ist in Aufruhr. 20.November 1805 Uraufführung von Beethovens Leonore/Fidelio im Theater an der Wien. (Der Titel wechselt von Anfang an.) „Eine neue Beethovensche Oper: Fidelio, oder die eheliche Liebe, gefiel nicht. Sie wurde nur einigemale aufgeführt und blieb gleich nach der ersten Vorstellung ganz leer. Die Melodien sowohl als die Characteristik vermissen, so gesucht auch manches darin ist, doch jenen glücklichen, treffenden, unwiderstehlichen Ausdruck der Leidenschaft, der uns aus Mozartschen und Cherubinischen Werken so unwiderstehlich ergreift...“, schreibt einer der Berichterstatter. 2.Dezember 1805 Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz, in der Napoleon einen entscheidenden Sieg über Österreich und Rußland erringt. 1805/06 Nach dem Mißerfolg der Uraufführung überarbeitet und kürzt Beethoven die Leonore. Stephan von Breuning, sein Bonner Jugendfreund, der seit 1800 ebenfalls in Wien lebt, ändert den Handlungsablauf und schreibt einen Teil der Dialoge neu. 29.März 1806 Die revidierte Leonore wird zum ersten Mal aufgeführt und hat Erfolg. Doch Beethoven überwirft sich mit dem Besitzer des Theaters an der Wien und zieht die Oper nach der zweiten Vorstellung zurück. 1807 Offenbar ist eine auswärtige Aufführung geplant, vermutlich in Prag. Beethoven schreibt für sie eine neue Ouvertüre (Leonore I), doch das Projekt kommt nicht zustande. Die Ouvertüre verschwindet ungespielt und kommt erst nach Beethovens Tod wieder zum Vorschein - wegen ihres weniger pathetischen Charakters als angeblich verworfene Frühfassung; deshalb als Nr.1 der drei Leonoren-Ouvertüren gezählt. Tatsächlich ist sie die zuletzt entstandene. 1810 Beethoven läßt die Ouvertüre Leonore III und den Klavierauszug der Oper drucken - sicherlich in der Hoffnung, dadurch seinem Werk zu einer Wiederaufführung zu verhelfen. Anfang 1814 Endlich ergibt sich wieder eine Möglichkeit zur Aufführung. Beethoven hatte vermutlich längst Pläne zur Umarbeitung der Oper gemacht. Jetzt kann er sie verwirklichen. 23.Mai 1814 Erste Aufführung des Fidelio. Die Resonanz ist überschwenglich. 16.September 1814 Eröffnung des Wiener Kongresses; Fidelio ist „die erste große Oper, welche in Gegenwart der Monarchen...zur Aufführung“ kommt. November 1814 Erste auswärtige Aufführung in Prag unter der Leitung von Carl Maria von Weber. Frankfurt, Berlin, Graz, Karlsruhe, Budapest, Hamburg, Kassel, Breslau und Weimar folgen bereits bis Ende 1816. Auch in Wien bleibt Fidelio die ganze Zeit auf dem Spielplan. Der Erfolg der Oper ist gesichert. November 1822 In Wien wird Fidelio/Leonore zum vierten Mal (nach 1805, 1806 und 1814) neu herausgebracht - zum ersten Mal ohne Revisionen Beethovens. Neu ist diesmal vor allem die Hauptdarstellerin, die erst 18jährige Wilhelmine Schröder, die nun für lange Zeit zur prägenden Persönlichkeit in der Rezeptionsgeschichte des Fidelio wird. August 1826 Ein halbes Jahr vor Beethovens Tod erscheint in Frankreich, im Ursprungsland der Léonore, die erste Partitur-Ausgabe des Fidelio - mit einem ins Französische zurückübersetzten Text. Die erste deutsche Partitur kam 1847 bei Simrock in Bonn heraus. Um 1900 wurde versucht, die Leonore der Uraufführung zu rekonstruieren; 1908-1910 erschien deren Partitur ebenfalls in Bonn. Die revidierte Leonore von 1806 wurde erst vor kurzem im Beethoven-Archiv zum ersten Mal rekonstruiert. Eine neue wissenschaftliche Ausgabe des Fidelio, ebenfalls aus dem Beethoven-Archiv, liegt der Aufführung des Europäishen Musikfestes zugrunde.