Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 Fall 22 Der Rentner A bittet seinen Nachbarn S, beim Tabakhändler B 20 Brasilzigarren, das Stück zu höchstens 2,- € zu kaufen; dabei geht A davon aus, dass die Zigarren ca. 1,- € pro Stück kosten. A erklärt dem S weiterhin, er wolle die Zigarren übermorgen bei seinem Freund B selbst bezahlen. Die Zigarren kosten mittlerweile 1,20 € pro Stück. S nimmt 20 Stück mit und erklärt, A werde übermorgen bezahlen. A sind die Zigarren nun zu teuer; deshalb schickt er den S mit den Zigarren zu B zurück. B verweigert die Rücknahme der Ware und verlangt Bezahlung. Zu Recht? Abwandlung A bittet seinen 15-jährigen Enkel (S), die Zigarren bei B zu erwerben. Dabei soll S nicht mehr als 1 € pro Stück ausgeben. Obwohl die Zigarren 1,20 € kosten, erwirbt S im Namen des A 20 Stück. Kann B von A oder S Bezahlung der Zigarren verlangen? Lösungshinweise Fall 22 A. Grundfall Anspruch des B gegen den A auf Bezahlung der Zigarren gem. § 433 II B kann Bezahlung von A verlangen, wenn zwischen ihnen ein wirksamer Kaufvertrag über die Zigarren zum Preis von 1,20 € zustande gekommen ist. Dann müssten zwei sich deckende Willenserklärungen, nämlich Angebot und Annahme, vorliegen. I. Das Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die mit Zugang wirksam wird und alle vertragswesentlichen Bestandteile enthält. Eine solche Erklärung liegt hier vor. Allerdings stammt sie nicht von A selbst, sondern wurde von S abgegeben. Eine Person (A) muss sich jedoch die Erklärung eines anderen nur dann zurechnen lassen, wenn dieser als Bote oder Stellvertreter gehandelt hat. S könnte hier als Vertreter des A gem. § 164 I gehandelt haben. 1. Dazu müsste der S eine eigene Willenserklärung abgegeben haben. a) An dieser Stelle ist der Vertreter vom Boten abzugrenzen. Denn während der Vertreter eine eigene Willenserklärung abgibt, übermittelt der Bote nur fremde Willenserklärungen, ohne auf deren Inhalt Einfluss zu nehmen. Maßgebend für die Frage, ob jemand als Bote oder Vertreter handelt, ist die Auslegung seines Verhaltens. Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 b) Hier: S hat bezüglich der Zigarren weder von A den Auftrag erhalten, eine bestimmte festgelegte Erklärung ohne Änderungen dem B zu überbringen, noch hat er B gegenüber sich so aufgeführt, als übermittle er lediglich einen Wunsch des A. Sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis stellt sich S nicht als Sprachrohr des A dar. S hatte vielmehr die Möglichkeit, selbständig über den Preis zu bestimmen, auch wenn ihm ein gewisser Höchstpreis (vgl. im Sachverhalt: „zu höchstens 2,- €“) eingeräumt war. S hat damit kein Angebot des A überbracht, sondern eine eigene Willenserklärung abgegeben. 2. Weiterhin müsste S im Namen des Vertretenen, d.h. des A, gehandelt haben. a) Der Stellvertreter darf nicht im eigenen, sondern muss im Namen des Vertretenen handeln, § 164 I 1. Durch dieses sog. Offenkundigkeitsprinzip soll dem Dritten erkennbar sein, wer sein Vertragspartner ist. Dass dies nicht die handelnde, sondern eine andere Person ist, muss der Erklärende dem Adressaten der Erklärung zu erkennen geben. Ein ausdrücklicher Hinweis auf das Handeln für einen anderen ist dabei nicht erforderlich, ausreichend ist es, wenn sich diese Tatsache aus den Umständen ergibt, § 164 I 2. b) Hier: S hat dem B erklärt, dass A die Zigarren zwei Tage später selbst bezahlen wolle. Daraus konnte B klar erkennen, dass S das Geschäft nicht für sich, sondern für den A schließen wollte. S handelte im Namen des A. 3. Als weitere Voraussetzung des § 164 muss dem S Vertretungsmacht eingeräumt worden sein und er im Rahmen dieser Vertretungsmacht gehandelt haben, d.h. er muss berechtigt gewesen sein, für den A den Kaufvertrag über die Zigarren zu diesem Preis abzuschließen. a) Vertretungsmacht kann auf gesetzlicher Vorschrift (gesetzlicher Vertreter) beruhen oder durch Rechtsgeschäft erteilt werden (Vollmacht, § 166 II 1). In Betracht kommt vorliegend allein eine rechtsgeschäftliche Vollmacht. b) Gem. § 167 I erfolgt die Vollmachtserteilung durch Erklärung des Vertretenen gegenüber dem zu Bevollmächtigenden (Innenvollmacht) oder dem Dritten, demgegenüber sich der Vertretene vertreten lassen will (Außenvollmacht). Eine dem S von A erteilte Vollmacht müsste daher S oder B gegenüber erklärt worden sein. Die Vollmachtserteilung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die nach § 167 II nicht formgebunden ist. In unserem Fall hat A dem S ausdrücklich die Vollmacht erteilt, für ihn Zigarren bis zum Preis von 2,- € pro Stück zu kaufen. c) Weiterhin müsste S bei Abgabe der Angebotserklärung im Rahmen seiner Vollmacht gehandelt haben. Dies ist hier der Fall. S bewegte sich bei einem Kaufpreis von 1,20 € im Rahmen der Vollmacht. 4. Das durch S abgegebene Angebot wirkte somit gem. § 164 I 1 für und gegen A. Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 II. Eine Annahmeerklärung des B liegt vor. Ergebnis: B hat gegen den A einen Anspruch auf Bezahlung der Zigarren gem. § 433 II. B. Abwandlung I. Anspruch des B gegen den A auf Bezahlung der Zigarren gem. § 433 II B kann Bezahlung der Zigarren von A verlangen, wenn zwischen ihnen ein wirksamer Kaufvertrag über die Zigarren zum Preis von 1,20 € zustande gekommen ist. Dann müssten zwei sich deckende Willenserklärungen, nämlich Angebot und Annahme, vorliegen. Ein Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die mit Zugang wirksam wird und alle vertragswesentlichen Bestandteile enthält; ein solches liegt hier inhaltlich vor (s.o.). Fraglich ist, ob S hier als Vertreter des A gem. § 164 I gehandelt hat. 1. Dazu müsste der S eine eigene Willenserklärung abgegeben haben, dies ist der Fall. 2. Weiterhin müsste S im Namen des Vertretenen, d.h. des A, gehandelt haben, auch dies ist der Fall. 3. Auch die Minderjährigkeit des S schließt die Wirksamkeit des von ihm geschlossenen Vertrages für/gegen A nicht aus, § 165. 4. Als weitere Voraussetzung des § 164 I 1 muss dem S Vertretungsmacht eingeräumt worden sein und er im Rahmen dieser Vertretungsmacht gehandelt haben, d.h. er muss berechtigt gewesen sein, für den A den Kaufvertrag über die Zigarren zu diesem Preis abzuschließen. In Betracht kommt vorliegend allein eine rechtsgeschäftliche Vollmacht (§§ 166 II 1, 167). a) Fraglich ist, ob S wirksam von A bevollmächtigt worden ist. aa) Die Vollmachtserteilung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die nach § 167 II nicht formgebunden ist. In unserem Fall hat A dem S ausdrücklich die Vollmacht erteilt, für ihn Zigarren bis zum Preis von 1 € pro Stück zu kaufen. bb) Allerdings ist fraglich, ob die Bevollmächtigung dem S gegenüber wirksam geworden ist. Grundsätzlich wird eine Willenserklärung einem Minderjährigen gegenüber erst wirksam, wenn sie dessen Eltern als den gesetzlichen Vertretern des Kindes (§§ 1626, 1629) zugeht, § 131 I, II 1. Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 Allerdings genügt der Zugang gegenüber dem Minderjährigen selbst, wenn die Erklärung für den Minderjährigen lediglich rechtlich vorteilhaft ist, vgl. § 131 II 2. Dies ist hier der Fall. Denn durch die Erteilung der Vollmacht erhält der Minderjährige lediglich eine günstigere Rechtsposition, da seine Handlungsmöglichkeiten erweitert werden. Nachteilig sind die von ihm geschlossenen Geschäfte nicht, da der Minderjährige selbst aus ihnen nicht verpflichtet wird und da er im Falle der Überschreitung seiner Vollmacht nicht haftet, vgl. § 179 III 2. b) Weiterhin müsste S bei Abgabe der Angebotserklärung im Rahmen seiner Vollmacht gehandelt haben. Dies ist hier nicht der Fall, da S Zigarren allenfalls für 1 €, nicht jedoch für 1,20 € kaufen durfte. S überschritt somit die ihm eingeräumte Vertretungsmacht. Seine Willenserklärung wirkt daher nicht gem. § 164 I 1 für und gegen A. Ergebnis: B hat gegen den A keinen Anspruch auf Bezahlung der Zigarren gem. § 433 II. II. Anspruch des B gegen den S auf Bezahlung der Zigarren 1. Anspruch des B gegen den S auf Zahlung der Zigarren gem. § 433 II. Ein Anspruch aus § 433 II kommt nicht in Betracht, da S keinen Kaufvertrag mit B abgeschlossen hat, sondern als Vertreter des A, wenn auch ohne Vertretungsmacht, aufgetreten ist. 2. Anspruch des B gegen den S auf Bezahlung der Zigarren gem. § 179 I B könnte gegen den S einen Anspruch auf Bezahlung der Zigarren gem. § 179 I haben. a) Dann müsste S als Vertreter ohne Vertretungsmacht einen Vertrag geschlossen haben. Dies ist der Fall. b) Der Vertretene müsste die Genehmigung des Vertrages verweigert haben. Eine solche Verweigerung ist eindeutig in der Zurückweisung der Zigarren zu sehen. c) S wäre damit vom Grundsatz her dem B wahlweise zur Erfüllung oder zum Schadensersatz verpflichtet. § 179 ist ein Fall einer verschuldensunabhängigen Garantiehaftung. d) In unserem Fall ist jedoch § 179 III 2 zu beachten. aa) S ist wegen seiner Minderjährigkeit in der Geschäftsfähigkeit beschränkt, §§ 2, 106. Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 bb) Damit haftet S nur dann, wenn er mit Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters gehandelt hat. Dies ist dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. Fehlt es an einer Zustimmung der Eltern, kommt eine Haftung des S nicht in Betracht. Haben die Eltern dem S ihre Zustimmung erteilt (z.B. durch die generelle Erlaubnis, für A Besorgungen zu machen), kann B von S die Erfüllung des Kaufvertrages verlangen (was hier sein Ziel ist, denn er verweigert die Rücknahme der Zigarren und verlangt deren Bezahlung). Ergebnis: B hat gegen den S keinen Anspruch auf Bezahlung der Zigarren. Literaturhinweise: WICHTIG!!!! Viel Stoff, sauber durcharbeiten!! Rüthers/Stadler, BGB AT, 17. Auflage 2011, §§ 29-32. Brox/Walker AT, 37. Auflage 2013, §§ 23-27. Leipold, BGT AT, 6. Aufl. 2010, §§ 22-27.