Wegleitung Impressum Texte: Dr. Sven Hanuschek Herausgeber: Strauhof Zürich Literatur Ausstellungen Präsidialdepartement der Stadt Zürich, Postfach, CH-8022 Zürich T +41/1/216 31 30 [email protected], www.strauhof.ch Für ausführliche Informationen wird auf folgende Publikationen verwiesen: Sven Hanuschek, Elias Canetti. Biographie, Carl Hanser Verlag, München 2005. 800 S. mit 25 Abbildungen. ISBN 3-446-20584-5, ca. Euro 29.90 (Deutschland) / Euro 30.80 (Österreich) / CHF 52.90 (Schweiz) Elias Canetti. Bilder aus seinem Leben. Herausgegeben von Kristian Wachinger. 176 S. mit 400 Photographien. ISBN 3-446-20599-3, Euro 24.90 (D) / Euro 26.70 (A) / CHF 46.20 (CH) Die Zitate folgen der Ausgabe der Werke im Carl Hanser Verlag (10 Bände, zusammen 4256 Seiten, Euro 280.- (D) / Euro 287.90 (A) / CHF 442.- (CH) ZBZ = Zitate aus dem in der Zentralbibliothek Zürich befindlichen Nachlass Elias Canettis (Die Ziffern beziehen sich auf die entsprechenden Archivschachteln.) 1. Teil: Daten zu Leben und Werk Elias Canettis 1905 25. Juli: Elias Jacques Canetti wird in Rustschuk (Ruse) an der bulgarischen Donaumündung geboren. Ältester Sohn des Kaufmanns Jacques Elias (Elieser) Canetti und von Mathilde, geborene Arditti, die gleichfalls aus einer Kaufmannsdynastie stammt. Die Sprache seiner Kindheit ist das alte Spanisch der Sepharden, Ladino. Canetti bleibt auch nach der bulgarischen Unabhängigkeit vom osmanischen Reich 1908 türkischer Staatsbürger. 1911 Umzug der Familie nach Manchester. Canettis zweite Sprache ist das Englische, er wird eingeschult und lernt lesen. 1912 8. Oktober: Plötzlicher Tod des Vaters. 1913 Übersiedlung nach Wien. Auf dem Weg dorthin verbringen sie die drei Sommermonate in Lausanne. Canetti lernt hier von der Mutter Deutsch. 1916 Aufgrund der immer schlechter werdenden Versorgungslage in Wien Zusammenbruch und Sanatoriumsaufenthalt Mathilde Canettis. Die Familie zieht nach Zürich. 1919 Mathilde Canetti kehrt nach Wien zurück, ihre jüngeren Söhne kommen in ein Pensionat in Lausanne. Elias Canetti bleibt allein in Zürich in der Villa Yalta, einem Mädchenpensionat, um weiterhin das Gymnasium besuchen zu können. 1921 Seine Mutter zwingt ihn, die Kantonsschule verlassen. Er soll seine letzten Schuljahre in Frankfurt am Main verbringen, im inflationsgeschüttelten Nachkriegsdeutschland. 1924 Abitur. Canetti geht nach Wien, nimmt das Studium der Chemie auf und betreibt ein umfassendes autodidaktisches Bildungsprogramm. 17. April: Besucht zum ersten Mal eine Vorlesung Karl Kraus’, unter dessen Einfluß er in den nächsten Jahren als verehrungsvoller Jünger steht. Auf dieser Veranstaltung lernt er Venetiana Taubner-Calderon kennen. 1927 6. Mai: Canetti bezieht ein Zimmer in der Hagenberggasse 47 in Hacking (XIII. Bezirk). Hier beendet er sein Studium, schreibt Die Blendung, Hochzeit und beginnt die Komödie der Eitelkeit. 15. Juli: Der Wiener ‚blutige Freitag’, „vielleicht seit dem Tode meines Vaters“ der „einschneidendste“ Tag in Canettis Leben: Auf einer Massendemonstration gegen ein skandalöses Gerichtsurteil – an der er teilnahm – wird der Justizpalast in Brand gesetzt; die Polizei schlägt die Demonstration blutig nieder. 1928 Juli – Sept.: Er verbringt den Sommer in Berlin. Mitarbeiter des Malik-Verlegers Wieland Herzfelde; er übersetzt drei Bände von Upton Sinclair und wird damit zum professionellen Literaten. 1929 14. Juni: Abschluß des Chemiestudiums, Promotion. 1930 Konzeption eines achtbändigen Zyklus von Romanen einer „Comédie humaine an Irren“. Canetti beginnt mit der Ausarbeitung des ersten Bandes, Die Blendung. 1931 Sept.: Canetti beendet Die Blendung. Unter dem Eindruck von Büchners Woyzeck beginnt er um die Jahreswende mit der Niederschrift des Theaterstücks Hochzeit. 1932 Hochzeit erscheint als Bühnenmanuskript bei S. Fischer in Berlin. 1934 Canetti beendet die Komödie der Eitelkeit. Drama in drei Teilen. Heirat mit Veza Taubner. Canetti gilt als staatenlos, Vezas jugoslawische Staatsangehörigkeit erlischt durch die Heirat. 1935 Veza und Elias Canetti ziehen in die Himmelstraße 30 nach Grinzing. 17. Okt.: Die Blendung erscheint im Reichner Verlag, auf 1936 vordatiert. 1937 15. Juni: Mathilde Canetti stirbt in Paris. Schwere psychische Krise Elias Canettis. 1938 12. März: Einmarsch deutscher Truppen in Österreich. Hitler proklamiert am 15. März auf dem Heldenplatz den „Anschluß“ mit einer triumphalen, bejubelten Rede. 2. Sept.: Veza und Elias Canetti müssen ihre Wohnung verlassen und werden in einer Pension einquartiert. 19. Nov.: Nach der „Reichskristallnacht“ (9./10.11.) fliehen die Canettis zu Verwandten nach Paris, von dort aus weiter nach London. 1941 Umzug nach Chesham Bois und Amersham; eine Park-Idylle, eine knappe Stunde von der Londoner Innenstadt entfernt. 1942 Canetti schreibt bis zu seinem Tod fast täglich „Aufzeichnungen“; Vorformen reichen bis in die Mitte der zwanziger Jahre zurück. Er beteiligt sich an einigen politisch-literarischen Vereinigungen von Emigranten. 1946 Die Blendung erscheint in London unter dem Titel Auto da Fé und wird ein großer Erfolg; amerikanische (1947) und französische (1949) Ausgaben folgen. Britische Staatsbürgerschaft. 1948 Zweite Ausgabe der Blendung im deutschen Sprachraum, bei Willi Weismann in München; das literaturkritische Echo bleibt zwiespältig. 1949 Auf Vermittlung Raymond Queneaus: „Grand Prix International du Club Français du Livre“. 1950 Die Erstausgabe der Komödie der Eitelkeit wird gedruckt, wegen des Bankrotts des Weismann Verlages aber nicht mehr ausgeliefert. 1952 Ausarbeitung des Dramas Die Befristeten. 1954 Dreiwöchige Reise nach Marrakesch als Begleiter eines Filmteams. In London schreibt Canetti „Aufzeichnungen nach einer Reise“ nieder, später als Die Stimmen von Marrakesch veröffentlicht. Canettis ziehen in die Thurlow Road 8 in Hampstead. 1956 5. Nov.: Uraufführung Die Befristeten durch die Oxford Playhouse Company unter dem Titel The Numbered. 1960 Canettis anthropologisches Hauptwerk Masse und Macht erscheint im Hamburger Claassen Verlag. Das öffentliche Echo ist bescheiden. Erst durch die englische Übersetzung Crowds and Power (1962) kommt es allmählich zur weltweiten Wirkung. 1963 1. Mai: Veza Canetti stirbt in einer Londoner Klinik. Okt.: Die dritte deutsche Ausgabe der Blendung erscheint im Hanser Verlag, seitdem Canettis Verlag. Zum ersten Mal ist der Roman im deutschen Sprachraum ein Erfolg. Dez.: Die Restauratorin Hera Buschor, die er Mitte der fünfziger Jahre in London kennengelernt hat, rettet Canetti aus einer Depression. Seit 1960 arbeitet sie im Kunsthaus Zürich; in den nächsten Jahren pendelt er zwischen der Thurlow Road und Buschors Wohnung in der Zürcher Englischviertelstrasse 71. 1964 Die Dramen Canettis erscheinen parallel in Einzelausgaben und in einem Band, Die Befristeten zum ersten Mal. 1965 Canetti publiziert erstmals einen Band Aufzeichnungen: Aufzeichnungen 1942-1948. 6. Febr.: Uraufführung der Komödie der Eitelkeit am Staatstheater Braunschweig. 3. Nov.: Uraufführung von Hochzeit am Staatstheater Braunschweig. Premierenskandal und anonyme Anzeige wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“. 1966 Erste österreichische Ehrung: Literaturpreis der Stadt Wien. 1967 10. Nov.: Deutschsprachige Uraufführung der Befristeten im Wiener Theater in der Josefstadt. 1968 Die Stimmen von Marrakesch erscheint. Im Mai erlebt Canetti die protestierenden Studenten in Paris. Großer österreichischer Staatspreis. 1969 Essay: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. 1970 Korrespondierendes Mitglied der Berliner Akademie und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. 1971 Heirat mit Hera Buschor in London. 1972 Geburt der Tochter Hera und Elias Canettis. Die Familie zieht in die Klosbachstrasse 88 in Zürich. Verleihung des Georg Büchner-Preises. Die gespaltene Zukunft. Aufsätze und Gespräche erscheint. 1973 Sammlung der bisher erschienenen Aufzeichnungen: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972. 1974 Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. 1975 Herausgabe der gesammelten Essays, Das Gewissen der Worte. Die Universität Manchester verleiht ihm den ersten Dr. h.c., für eine Lesung des Ohrenzeugen auf Schallplatte erhält er den Deutschen Schallplattenpreis. In den Siebzigern große Lesereisen durch ganz Europa. 1976 27. Jan.: Ehrendoktor der Ludwig Maximilians-Universität München; Dankrede: Der Beruf des Dichters. 1977 Im Frühjahr erscheint der erste Band von Canettis Autobiographie, die sofort zum Bestseller wird: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. 19. Dez.: Erster schweizerischer Literaturpreis: Gottfried Keller-Preis. 1979 Verleihung des Ordens „Pour le Mérite (Friedensklasse)“. 1980 Zweiter Band der Autobiographie: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921 – 1931. 1981 Canetti nimmt seinen letzten ‚normalen’ Literaturpreis an, den Kafka-Preis. 10. Dez.: Verleihung des Nobelpreises für Literatur, „für ein schriftstellerisches Werk geprägt von Weitblick, Ideenreichtum und künstlerischer Kraft“. Die kommenden Jahre lebt Canetti zurückgezogen, er verweigert Interviews und Autorenlesungen. 1985 Dritter Band der Autobiographie: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931 – 1937. 1987 Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985. 1988 29. April: Tod Hera Canettis. Elias Canetti löst seine Wohnung in London auf, um ganz bei seiner knapp sechzehnjährigen Tochter zu sein; er behält die englische Staatsbürgerschaft. 1992 Die Fliegenpein erscheint, der einzige frei komponierte Aufzeichnungsband ohne Nachweis der Entstehungsjahre. Als erster Band der zehnbändigen Gesamtausgabe erscheint Die Blendung, der letzte Band wird 2005 veröffentlicht. 1994 14. August: Elias Canetti stirbt in Zürich; er wird in einem Ehrengrab neben dem Grab von James Joyce bestattet. Nach seinem Tod erscheinen weitere Aufzeichnungsbände, die er noch selbst zusammengestellt hat: Nachträge aus Hampstead (1994), Aufzeichnungen 1992-1993 (1996), Aufzeichnungen 1973-1984 (1999). 2. Teil: Die Abteilungen der Ausstellung Raum 1 Elias Canettis Lebensgeschichte „Ich [...] verneige mich vor der Erinnerung, vor jedes Menschen Erinnerung. Ich will sie so intakt belassen, wie sie dem Menschen, der für seine Freiheit besteht, zugehört, und verhehle nicht meinen Abscheu vor denen, die sich herausnehmen, sie chirurgischen Eingriffen so lange auszusetzen, bis sie der Erinnerung aller übrigen gleicht. Mögen sie an Nasen, Lippen, Ohren, Haut und Haaren herumoperieren, soviel sie wollen, mögen sie ihnen, wenn es denn sein muß, andersfarbige Augen einsetzen, auch fremde Herzen, die ein Jährchen länger schlagen, mögen sie alles betasten, stutzen, glätten, gleichen, aber die Erinnerung sie sollen lassen stân.“ (Elias Canetti, Werke, Band VIII, 288f.) Wer war Elias Canetti? Die drei Bände seiner Autobiographie gehören zu den großen Erinnerungswerken der Weltliteratur, erzählen aber nur einen Teil seiner Lebensgeschichte. Sie läßt sich nun, um viele Stationen bereichert, neu erzählen: Mit der Hilfe vieler Freunde und Weggefährten Canettis; und mit Hilfe von Archivalien, besonders seines Nachlasses, der ein Vielfaches des gedruckten Werks umfaßt. Bei aller Begabung, persönliche Beziehungen zu knüpfen, blieb Canetti ein eigensinniger und widersprüchlicher Einzelgänger. Sein Werk steht quer zu den großen Strömungen der Literatur des 20. Jahrhunderts. Sein Leben, dem dieser Raum gewidmet ist, zeigt ein exemplarisches Schicksal jüdischer Emigration, das vom kleinen bulgarischen Rustschuk nach Wien, Berlin, London und Zürich führte. Rustschuk (1905-1911) „Alles was ich später erlebt habe, war in Rustschuk schon einmal geschehen“ (VII, 11) So heißt es in der Geretteten Zunge (1976). Die prägenden emotionalen Erfahrungen hat er in seiner Kindheit gemacht, Canetti erzählt von Eifersucht, Mordlust, der Faszination am geschriebenen Wort wie am mythischen Denken. Er wurde 1905 geboren, drei Jahre vor der Unabhängigkeit Bulgariens vom Osmanischen Reich. Rustschuk war zu dieser Zeit ein kleinstädtisches Wien mit der Vielfalt des k.u.k.Reichs. Seine Eltern wie ihre Kinder blieben türkische Staatsbürger; sie waren sephardische Juden, die Spaniolisch sprachen, und Deutsch, wenn ihre Kinder sie nicht verstehen sollten. Beide waren nach Wien orientiert, wo sie als Kinder wohlhabender Kaufleute zur Schule gegangen waren. Canettis erste Sprachen waren Ladino und das Bulgarisch der Dienst- und Kindermädchen. Manchester (1911-1913) „Zuhause im Kinderzimmer spielte ich meist allein. Eigentlich spielte ich wenig, ich sprach zu den Tapeten. Die vielen dunklen Kreise im Tapetenmuster erschienen mir als Leute. Ich erfand Geschichten, in denen sie vorkamen, teils erzählte ich ihnen, teils spielten sie mit, ich hatte nie genug von den Tapetenleuten und konnte mich stundenlang mit ihnen unterhalten. [...] Ihre Gesellschaft war mir die liebste, jedenfalls lieber als die der kleinen Brüder“. (Die gerettete Zunge, VII, 51) Vom Fluch des Großvaters Elias Canetti begleitet, ließen sich Jacques und Mathilde Canetti in Manchester nieder, ihr Sohn Elias hatte inzwischen zwei jüngere Brüder, Nissim (*1909) und Georg (*1911) bekommen. Sein Vater arbeitete als Textilkauf- mann bei Verwandten seiner Frau, beruflich sicher nach der privilegierten Situation in Rustschuk ein Abstieg. Elias Canetti wurde 1911 eingeschult, er lernte zusätzlich von einer englischen Nurse die neue Sprache; und er lernte mit großer Unterstützung seines Vaters lesen. Jacques Canetti starb unverhofft 1912. Schulzeit im Weltkrieg: Wien, Zürich, Frankfurt (1913-1924) „Wie soll ich die Art dieses Unterrichts glaubwürdig schildern? Ich weiß, wie es zuging, wie hätte ich es vergessen können, aber ich kann auch selbst noch immer nicht daran glauben.“ „Den Terror, in dem ich lebte, hielt sie für pädagogisch.“ (Die gerettete Zunge, VII, 86, 88) Canetti lernte 1913 Deutsch innerhalb von drei Monaten, unter der „Diktatur“ seiner Mutter: Sie sagte ihm einen deutschen Satz aus einer englisch-deutschen Grammatik vor, er mußte wiederholen, bis die Aussprache stimmte, dann erfuhr er erst und nur einmal die englische Bedeutung; und so fort, ein Satz nach dem andern. Er sollte die deutschen Sätze für sich wiederholen, tagsüber und ohne Buch, und wurde am nächsten Morgen unter Beschimpfungen abgefragt. Die Schulen – Wien, Zürich, schließlich bis zum Abitur 1924 in Frankfurt – boten dagegen trotz der Wechsel keine Schwierigkeiten für Elias Canetti; seine Erinnerungen an die Schulzeit sind fast durchweg positiv, für die Zürcher Jahre sogar begeistert. Anscheinend war er gerne Schüler, hatte nie Schwierigkeiten, Anschluß zu finden, von antisemitischen Anfeindungen blieb er bis auf die letzten Jahre weitgehend verschont. Wien: „Meine eigentliche Heimatstadt“ (1924-1938) „Ho vom Rücken meiner Mutter Spring ich in die beissende Welt Ho verschlafene todbittre Sonne Ein Wirbelwind geht durch mich und die Welt.“ (Vor 1928, ZBZ 1) Fünf Jahre lang, von 1924 bis zur Promotion 1929, studierte Canetti in Wien Chemie. In dieser Zeit lernte er seine spätere Frau Veza Taubner kennen, löste sich von seiner Mutter und knüpfte die ersten literarischen Verbindungen. Er besuchte regelmäßig, als devoter Verehrer, die Vorlesungen Karl Kraus’; durch einen mehrwöchigen Berlin-Aufenthalt 1928 und die Verbindung mit dem Malik-Verlag wurde er zum professionellen Schriftsteller. Der Brand des Justizpalastes 1927 beeindruckte ihn tief. In den nächsten Jahren sammelte er für ein großes Werk über die Masse; es entstanden sein großer Roman Die Blendung und die beiden Theaterstücke Hochzeit und Die Komödie der Eitelkeit. London (1939-1988) „Man wird, was man war erst ganz in der Emigration; man sollte in mehreren sukzessiven Emigrationen leben; überall als Fremder angesehen, nicht sehr erwünscht, zum Lernen in jedem Lebensalter gezwungen; so könnte man allmählich wirklich zum Weltbürger werden.“ (1.9.1942, ZBZ 6) Im Exil arbeitete Canetti vor allem an Masse und Macht, sein anthropologisches Hauptwerk erschien erst 1960. Die Kriegsjahre verbrachte er an der Peripherie Londons, im Grünen; seit 1948 lebte er wieder in der Stadt. Schon vor dem großen Erfolg der englischen Übersetzung der Blendung (1946), stärker noch danach wurde Canetti durch seine bezwingende Persönlichkeit bis in die 60er Jahre zu einem regel- rechten Guru in den Künstler- und Exilantenkreisen Hampsteads. Er hatte Freunde und Bekannte in allen Gesellschaftsschichten, vom Straßenkehrer in Amersham bis zu hohen Politikern und dem alten englischen Adel. Zürich (1963-1994) „Ich sage mir in einer Art von Rausch, dass ich so alt werden will wie Sophokles, 90 Jahre, und dass ich meine eigentlichen Werke in den kommenden Jahren schreiben werde.“ (26.11.1964, ZBZ 22a) Seit Mitte der 60er Jahre wird Canettis Werk vor allem durch die Autobiographie immer populärer, bis hin zur Verleihung des Nobelpreises 1981. Nach Jahrzehnten ohne öffentliches Echo werden seine Stücke aufgeführt, er ist ein Bestseller-Autor, ohne jemals Kompromisse eingegangen zu sein. Nach der Geburt seiner Tochter 1972 fliegt er nur noch selten nach Hampstead; er verbringt die meiste Zeit in Zürich, dem Paradies seiner Kindheit. Nach dem Tod seiner zweiten Frau löst er die Londoner Wohnung auf und übersiedelt endgültig in die Schweiz. „Den Tod in Frage stellen, bis er nicht mehr besteht. Aber nicht für mich allein nicht, das wäre furchtbar, ich will nicht überleben, ich will, dass alle überleben. Unsinn? Gewiss. Nur im Unsinn sind Fragen begriffen. Der Sinn versteint, er gehört in die Geologie.“ (17.7.1965, ZBZ) Knapp zwanzig Jahre vor seinem Tod hat Elias Canetti seiner fünfjährigen Tochter erklärt, was der Tod sei. Er hat damit seinen eigenen Tod in der Erzählung vorweggenommen: „Man schläft ein, sagt er zum Kind, aber man wacht nicht wieder auf. ‚Ich wach immer auf’, sagt das Kind fröhlich.“ (21.1.1977, ZBZ 21a; IV, 411) Canetti starb vermutlich friedlich und jedenfalls unverhofft in der Nacht vom 13. auf den 14. August 1994. Raum 2 Masse und Macht – Canetti und die Ethnologie „Jetzt sage ich mir, daß es mir gelungen ist, dieses Jahrhundert an der Gurgel zu packen.“ (IV, 245) Masse und Macht, 1960 erschienen, ist ein philosophisch-anthropologischer Großessay, an dem Canetti intensiv gut 20 Jahre lang gearbeitet hat, seine Pläne gehen noch weiter zurück. Das Werk argumentiert mit archaischen Phänomenen, mythischen Grundstrukturen, poetischem Urmaterial, die häufig ethnologisch übermittelt sind. Canetti nutzt die Feldarbeit und die Beschreibungen der Ethnologen, ohne ihre Deutungen zu übernehmen; dadurch werden seine Theoreme nie einsinnig, sondern behalten die Vieldeutigkeit eines Bildes. Zudem führt er seine Gedankengänge immer wieder auf elementare (auch animalische) Körperlichkeit zurück, über die schließlich jeder Leser verfügt und in der sich archaische Phänomene mit zeitgenössischer Befindlichkeit zusammenschließen. Masse und Macht wird so zu einem antisystematischen, dichterischen, an allen Ecken und Enden offenen Werk mit dem Anspruch, universelles Erkenntnisinstrument der menschlichen Bedingtheiten zu sein. Seit seinen Massenerlebnissen in den zwanziger Jahren hat Canetti für sein Buch gesammelt. Gedankengänge, die aus dem abgeschlossenen Werk vertraut sind, finden sich vereinzelt schon seit 1931. In diesem Jahr, nach der Lektüre von Suetons Caesarenbiographien und einem Werk über den Renaissancefürsten Filippo Maria Visconti, erweiterte er die Konzeption mit dem Ziel einer ebenso gründlichen Untersuchung der Macht. Im Exil, nach 1938, wurde sein anthropologisches Hauptwerk Masse und Macht zur vordringlichen Arbeit, der er sich in schrankenlosen Recherchen widmete. Er hat jahrzehntelang an diesen Buch geschrieben, als gäbe es keinen Tod; als gäbe es keine Zeit. Canettis wichtigste Anregungen waren seine Massenerlebnisse 1922 und 1927. Der Faschismus bzw. Nationalsozialismus in Italien und Deutschland, schließlich das halbe Jahr in Wien nach dem ‚Anschluß’ 1938 brachten ihn dazu, sich nur noch auf Masse und Macht zu konzentrieren – er wollte diese Vorgänge verstehen lernen. Sein Werk hebt sie auf eine allgemein anthropologische Ebene und wird nur selten explizit über die Schrecknisse des zwanzigsten Jahrhunderts; um diesen Abstraktionsprozeß leisten zu können, brauchte Canetti vor allem ethnologische und psychologische – meist psychiatrische – Literatur. Trotz einiger Rundfunkvorlesungen, die Canetti 1960 halten konnte, blieb die deutsche Erstausgabe zunächst weitgehend ohne Echo. Canetti war so deprimiert, daß er am Ende des Jahres an Selbstmord dachte. Gerettet habe ihn die Lektüre von Cesare Paveses Tagebuch Das Handwerk des Lebens (1952), „er starb für mich. Es ist schwer zu glauben: durch seinen Tod bin ich heute neugeboren.“ (V, 135f.) Nach der englischen Ausgabe wurde das Werk allmählich in seiner Originalität und Übertragbarkeit anerkannt. Raum 3 Canetti in Hampstead 1968 Hier wird folgender Film gezeigt: Hans-Christof und Rosemarie Stenzel, Das Porträt. Elias Canetti. NDR Norddeutscher Rundfunk, 1968, s/w, 45 Min. Raum 4 Wirkung. Nachlaß. Die Aufzeichnungen „Man stelle sich die Verheerung dieses Tempelbezirkes vor, den ein Mensch in sich trägt, wenn er eine Weile gelebt hat. Kein Archäologe könnte zu einer vernünftigen Auffassung der Anlage kommen.“ (Karl Kraus, Schule des Widerstands, VI, 130) Canettis Wirkungsgeschichte ist höchst ungewöhnlich; trotz seines frühen Meisterwerks Die Blendung galt er lange als Autor ohne Werk. Die frühen Stücke blieben lange ungedruckt, er arbeitete über Jahrzehnte an Masse und Macht und den Aufzeichnungen, ohne zu publizieren. Ein erfolgreicher Autor wurde er erst in den 60er Jahren, von seinen Büchern leben konnte er erst mit 65 Jahren. Seit dem Büchnerpreis 1972 rissen die Preise und Ehrungen nicht mehr ab, 1981 wurde ihm der Nobelpreis zugesprochen. Nur ein Bruchteil des geschriebenen Werks ist veröffentlicht, nur ein Bruchteil des Nachlasses ist einsehbar; die Auflagen, die Canetti über seinen Nachlaß verhängt hat, haben zu vielen überflüssigen Spekulationen geführt. Canetti hat seit 1931 kursorisch, seit 1942 beinahe täglich Aufzeichnungen geschrieben. Veröffentlicht hat er davon – im Schriftbild der Werkausgabe – rund 1000 Druckseiten. Das sind nur ungefähr zehn Prozent der niedergeschriebenen Aufzeichnungen. Canettis Nachlaßverfügungen schützen ihn selbst und andere Personen; aber sie verleiten auch zu Spekulationen und halten ihn und sein Werk kalkuliert auch postum aus außerliterarischen Gründen interessant. Die Ausstellung gibt einen Eindruck von der Dimension des Nachlasses und zeigt mehr oder weniger buchstäblich einige Verzeichnungsmöglichkeiten Canettis. Etwa 30 Schachteln in Canettis Nachlaß sind bis in den Sommer 2024 gesperrt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich Canettis Tod zum dreißigsten Mal jährt. Sie enthalten Korrespondenzen und Tagebücher, bilden sozusagen den erklärt ‚privaten’ Teil des Nachlasses. Alle anderen Schachteln (etwa 120) sind seit dem Sommer 2002 für die Forschung zugänglich: Amtliche Dokumente, frühe Entwürfe und Manuskripte, Gedichte, Aufzeichnungen aus 60 Jahren, Entwürfe, Varianten und Manuskripte des publizierten Werks, gesammelte Tagespresse. In Canettis Vermächtnisanzeige, unterschrieben am 6. Mai 1994, heißt es außerdem: „Was immer vor der Entstehung meines Romans ‚Die Blendung’ (1930-31) geschrieben wurde, hat für mich keine literarische Gültigkeit und darf nicht publiziert werden. Im Nachlass, soweit er an die Zentralbibliothek Zürich fällt, findet sich kein abgeschlossenes Werk von mir, dessen Publikation als solche ich wünsche. In den ersten zehn Jahren nach meinem Tod darf keine Biographie erscheinen. Die Bücher sollen Zeit haben, sich ohne die Kenntnis privater Umstände des Autors zu bewähren.“ (ZBZ 0) Raum 5 Bibliomanie – Die Blendung „Während einiger Jahre trug das Manuskript den Titel ‚Kant fängt Feuer’. Der Schmerz dieses Titels war schwer zu ertragen. Als ich mich widerstrebend zur Änderung entschloß, vermochte ich mich nicht ganz vom Feuer zu trennen. Aus Kant wurde Kien, die Entzündbarkeit der Welt, deren Bedrohung ich fühlte, blieb im Namen der Hauptfigur erhalten. Der Schmerz aber steigerte sich zum Titel ‚Die Blendung’. Er bewahrte, für niemand erkennbar, die Erinnerung an Simsons Blendung, der ich auch heute nicht abzuschwören wage.“ (Die Fackel im Ohr, VIII, 344f.) Canettis Roman Die Blendung (geschrieben 1931, veröffentlicht 1935), sein erstes Buch, ist eines der Hauptwerke der frühen Moderne, eine prophetische Schreckfratze kommenden Unheils. Canetti sah nach frühen Vorwürfen seiner Mutter aber auch für sich selbst eine Gefahr darin, ein weltfremdes, weltabgewandtes Leseleben zu führen. Insofern ist die Figur Kien auch ein Angsttraum des eigenen Lebens. Begeisterte, superlativische Tiraden über seine Leseerlebnisse gibt es jederzeit in Canettis Werk. Die Blendung erzählt in Form eines Triptychons (Ein Kopf ohne Welt – Kopflose Welt – Welt im Kopf) die Leidensgeschichte des hageren Privatgelehrten Peter Kien, eines weltfremden Büchernarren. Der Sinologe wird von seiner Haushälterin Therese Krumbholz dazu gebracht, sie zu heiraten, bald nach der grotesk komischen Hochzeitsnacht setzt sie ihn auf die Straße. Er irrt durch die Unterwelt, durch Straßen, Kneipen und Hotels. Der Wiener Odysseus, eher ein Don Quijote, wird von Fischerle, einem kleinwüchsigen Buckligen als jüdischem Sancho begleitet. Als Kien, der im Wahn glaubt, er habe seine Frau umgebracht, sie zusammen mit dem Hausbesorger Benedikt Pfaff trifft, stürzt er in den endgültigen Irrsinn. Kien haust eingesperrt im Souterrain-Verschlag des Hausbesorgers, in dem schon Pfaffs Frau und Tochter an dessen Brutalität gestorben sind. Pfaff lebt zusammen mit Therese unter dem Dach, in Kiens Wohnung. Georges Kien, ein erfolgreicher Psychiater, kommt zur Rettung seines Bruders. Er zahlt Pfaff und Therese aus der Wohnung hinaus und installiert Peter Kien wieder dort; vor seiner Abreise setzt er ihm noch die Idee einer brennenden Bibliothek als dessen schlimmsten Alptraum in den Kopf und verläßt ihn als geheilt. Im letzten Kapitel zündet Kien seine Bibliothek an und verbrennt sich in ihr. Raum 6 Akustische Masken. Der Dramatiker „Meine Dramen aber sind mir viel wichtiger, als irgendjemand weiss, ihre Zeit hat kaum begonnen, sie wird noch kommen, sie sind im innersten Zentrum meines Werks und ohne sie wird es niemand wirklich je erfassen können.“ (Canetti an Claudio Magris, 18.11.1971) Canetti hat behauptet, alles, was er schreibe, sei im Kern dramatischer Natur; und Dramatiker sei er geworden, so seine autobiographische Verkürzung, „weil ich mit meiner Mutter deutsche Dramen las. Sie hatte grosse Verachtung für Gedichte; die las ich also allein; sonst wäre ich Lyriker geworden.“ (3.9.1943, ZBZ 7) Als wichtigstes Element dramatischer Gestaltung sah Canetti die „akustische Maske“ an, eine Art individuelles Hörprofil, über das jeder Mensch unweigerlich verfüge und das sich der Dichter aneignen könne. Das Konzept der akustischen Maske wurde vor allem in den frühen Dramen Hochzeit und Komödie der Eitelkeit eingesetzt, auch in der Blendung. Canetti ist mit einer gewissen Berechtigung für sein ganzes Werk eine akustische Poetik zugeschrieben worden. Seine Empfehlung an junge Dramatiker: „Am besten ist es, man liest keine alten Dramen und verwendet die von allen Affen daran verschwendete Zeit zum Horchen, zum liebevollen Horchen.“ (November 1933, ZBZ 33)